»Lass mich auch mal gucken«, sagte Elli und zog ihrer Zwillingsschwester Idi den Kalender weg.
»Toll, jetzt hab’ ich einen Strich übers ganze Blatt gezogen.«
»Macht doch nichts.«
Elli zauberte den Strich mit einem Lächeln weg.
»Herzlichen Dank«, grinste Idi. »So hätte ich das auch gerade noch geschafft.«
»Und schaffst du es, ihn dir zurückzuholen?« Kichernd ließ Elli den Kalender hoch in die Luft schweben. Vor dem offenen Fenster ihres Zimmers flog er von rechts nach links und wich Idis Händen immer wieder aus.
»Das wird mir jetzt zu blöd!« Idi schwang sich selbst in die Luft, schnappte sich den Kalender und flog mit ihm in der Hand zum Fenster hinaus.
»Hey, warte auf mich«, rief Elli ihr nach.
»Das hättest du wohl gern!« Idi schoss in den blauen Himmel hinauf. Im Nu konnte Elli sie nicht mehr sehen, aber sie hatte Idi nur für einen winzigen Moment aus den Augen verloren. Dann war sie ihr auch schon nachgeflogen und hatte sie eingeholt. Beim Fliegen hatte Idi gegen ihre Schwester keine Chance. Mit einem lässigen Schwung sauste Elli an Idi vorbei und tanzte ihr vor der Nase herum. Die Luft war Ellis Element, das wussten sie beide.
»Her mit dem Kalender!« Elli streckte ihre Hand aus.
»Hol ihn dir doch!«, schrie Idi übermütig und schmiss den Kalender so hoch sie konnte in die Luft. Leicht wie eine Feder und schnell wie der Blitz folgte Elli ihm und schnappte ihn sich. Dann wollte sie zu Idi zurückfliegen, aber die war verschwunden.
»Idi, wo bist du?« Elli blickte sich nach ihrer Schwester um, aber sie sah nur blauen Himmel und ganz vereinzelt ein paar Schäfchenwolken. Sie war viel höher geflogen, als sie gedacht hatte.
Unter sich konnte sie die ganze Stadt sehen. Vom Funkturm zum Fernsehturm und wieder zurück und dazwischen die Spree. Wie eine silbrig glänzende Schlange, die sich durch die Stadt schlängelt, sieht das aus, dachte Elli. Wie sehr sie es liebte, Berlin von oben zu sehen.
Aber heute konnte sie nicht in der Luft bleiben. Idi musste nachher noch mit ihrem Vater nach Hamburg zurückfahren. Bis dahin wollte Elli jede Sekunde mit ihr verbringen. Schnell flog sie zurück, bis sie das rote Dach des Hauses sehen konnte, in dem sie mit ihrer Mutter Matea und ihrer Tante Eva lebte. Klar, dort neben der Dachgaube saß Idi und winkte ihr zu.
Elli landete sanft neben ihr auf dem Dach und gab Idi den Kalender zurück: »Hier!«
»Wollen wir nun endlich die Tage zählen, bis wir uns wiedersehen?«, fragte Idi lachend.
»Unbedingt«, sagte Elli, die nicht mal außer Atem war. »Aber wo ist denn jetzt der Stift?«
Idi griff in die Luft und holte ein Tintenfass mit Feder hervor.
»Bist du auf einer Zeitreise?«, kicherte Elli. »Wie wäre es mit einem Kuli?«
»Ich weiß auch nicht, wo das herkam!«
Idi schüttelte fröhlich den Kopf, dass ihre strohfarbenen Haarsträhnen nur so um sie herumflogen, und ließ Tinte und Feder wieder verschwinden.
»Hier, der sieht doch gut aus, oder?« Jetzt hatte sie einen roten Filzstift in der Hand.
»Der ist super«, bestätigte Elli und griff nach ihm. »Schau mal, da sind Erdbeeren drauf. Der riecht bestimmt lecker.« Sie nahm die Kappe vom Stift und roch daran. »Hm, stimmt«, sagte sie. »Erdbeerduft …«
»Bist du dir sicher?«, fragte Idi und grinste unverschämt.
»Ja, klar«, sagte Elli und roch noch mal am Stift. »Igitt, was ist das denn jetzt?« Angeekelt starrte sie auf den Stift, auf dem jetzt statt der Erdbeeren ein kleines Stinktier zu sehen war, das ihr frech zuzwinkerte.
»Du …«, setzte Elli an und boxte ihrer Schwester in die Schulter.
»Das ist fürs Wegfliegen«, sagte Idi nur. »Jetzt riecht er wieder nach Erdbeeren, okay?«
»Okay«, lachte Elli. »Und los! Eins, zwei, drei …«, dann zählte sie leise weiter.
»Also noch elfmal schlafen bis zu meinem Geburtstag und …«
»… noch zwölf Mal schlafen bis zu meinem!«, ergänzte Idi.
»Dann sehen wir uns in elf Tagen! Ich bin so froh, dass Mama und Papa uns erlauben, dass wir zusammen feiern!«, seufzte Elli.
»Wird aber auch Zeit! Zum ersten Mal in elf Jahren! Da mussten sie einfach Ja sagen!«
»Frau Sauter hat zuerst Nein gesagt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, dann dürftest du am Freitag nicht mit mir in die Schule gehen«, fiel Elli ein.
»Das ist doch deine Klassenlehrerin, oder?«
»Leider.« Elli konnte ihre Klassenlehrerin nicht ausstehen. »Frau Sauter hat gesagt, Zwillinge würden nicht in die gleiche Klasse gehören. Aber dann hat Mama sie ganz lieb angelächelt und sie hat es erlaubt. Mama hat ein bisschen nachgeholfen, glaube ich.«
Idi kicherte. »Meinst du nachgezaubert?«
»Hey, was macht ihr denn da? Seid ihr irre?«
Elli und Idi blickten auf die Straße herunter. Vor dem Haus stand ihr bester Freund Philip, wie immer in seinem Fußballtrikot und mit einem Ball unterm Arm.
»Hey, Philip. Komm hoch! Es ist toll hier.« Idi winkte Philip zu.
»Pass auf!«, rief Philip von unten. »Sonst fällst du noch vom Dach! Ich komm jetzt hoch. Einer muss ja auf euch aufpassen.«
Elli und Idi tauschten einen Blick aus. Sie mussten sich anstrengen, nicht loszuprusten.
»Er passt auf uns auf«, kicherte Idi, als Philip im Haus verschwunden war.
»Wir müssen auf ihn aufpassen! Es ist steil hier. Nicht, dass ihm was passiert.« Typisch Elli, wie immer war sie ein bisschen vorsichtiger als ihre Schwester.
»Was sollen wir denn machen?«, fragte Idi und grinste übermütig. »Ihn festbinden?«
Elli überlegte. Als sie das erste Mal zusammen von diesem Dach geflogen waren, da hatten Mama und Tante Eva auf sie aufgepasst. »Schaffen wir das, hier einen Zauberraum für ihn zu machen?«, flüsterte sie Idi zu.
»Super Idee. Das versuchen wir!«, sagte Idi energisch. »Philip darf nichts passieren.«
»Tante Eva meinte, das könnten nicht alle Hexen«, wisperte Elli aufgeregt. »Weißt du noch? Das ist die hohe Kunst des Hexens, hat sie gesagt.«
Sie hörten, wie Philip im Haus die Tür zum Dachboden aufmachte und wieder zufallen ließ. Schon war er auf der kleinen Holztreppe zur Dachgaube.
»Gib mir deine Hand«, befahl Idi. Elli streckte ihre Hand nach Idis aus. Ihre Finger berührten sich und mit ihnen die Mondsteinringe, die sie immer trugen. Elli spürte die Wärme und die Kraft, die zwischen ihnen entstand. Von ihren Händen strömte sie in unsichtbaren Wellen aus, für den Bruchteil einer Sekunde wurde alles kalt, und Elli schloss die Augen.
Als sie sie wieder aufmachte, saß Philip neben ihr auf dem Dach mitten im Zauberraum, den die beiden für ihn erschaffen hatten.
Elli drückte Idis Hand. Sie beherrschten sie. Die hohe Kunst des Hexens. Sie konnten Räume aufbauen, in denen ihre Freunde sicher aufgehoben waren.
Ach, es ist einfach wunderbar, eine Hexe zu sein und die Elemente zu beherrschen, dachte sie.
Was sie wohl sonst noch alles zusammen zaubern könnten? So viel mussten sie noch herausfinden, es war noch nicht mal ein Jahr her, dass sie entdeckt hatten, dass Idi und sie magische Kräfte hatten, wenn sie zusammen waren.
Elli freute sich so sehr darauf, dass Idi gleich zu Beginn der Sommerferien mit ihrem Vater nach Berlin ziehen würde. Fast elf Jahre waren sie getrennt gewesen. Ihre Eltern hatten damals beschlossen, dass sie wie normale Kinder aufwachsen sollten. Aber seit Elli Idi letzten Sommer zufällig kennengelernt hatte, war allen klar geworden, dass Elli und Idi außergewöhnliche Mädchen und stinknormale Hexen waren.
»So, jetzt kann euch nichts mehr passieren!«, sagte Philip. »Jetzt bin ich da.«
»Super! Danke! Toll!«, sagten Elli und Idi wie aus einem Mund und blinzelten sich an Philip vorbei zu.
»Zwillinge«, sagte Philip und schüttelte den Kopf. »Was macht ihr da?«, fragte er dann und zeigte auf den Kalender.
»Die Tage zählen bis zu meinem Geburtstag«, sagte Elli.
»Und zu meinem«, fügte Idi hinzu.
»Und da müsst ihr zweimal zählen?«, fragte Philip und ließ eine Kaugummiblase vor seinem Gesicht zerplatzen.
»Natürlich nicht«, sagte Idi beleidigt. »Meiner ist ja nur einen Tag später.«
»Echt? Ich dachte, ihr seid Zwillinge. Wie geht das denn?«, wunderte sich Philip.
»Jetzt stehst du aber ganz schön auf dem Schlauch«, sagte Elli spöttisch.
»Elli ist am 21. Juni eine Minute vor Mitternacht geboren und ich am 22. Juni eine Minute nach Mitternacht. Ganz einfach«, erklärte Idi stolz.
Philip rieb sich die Reste von Kaugummi von der Wange und staunte: »Wow, darüber habe ich ja noch nie nachgedacht. Wenn Zwillinge an unterschiedlichen Tagen geboren sein können, dann könnten sie auch in unterschiedlichen Jahren Geburtstag haben. Die eine am 31. Dezember und die andere am 1. Januar. Oder in unterschiedlichen Jahrzehnten.« Er überlegte weiter und die Idee schien ihn immer mehr zu begeistern. »Oder in verschiedenen Jahrhunderten, wenn sie …«
»Wir haben es kapiert«, unterbrach Elli ihn.
»Zwei Partys, wie cool!«, sagte Philip.
»Die Party ist am Samstag. Weißt du doch«, sagte Elli.
»Und Freitag gehe ich zum ersten Mal mit in eure Klasse.« Idi strahlte Philip an.
»Cool«, sagte Philip wieder. »Seit wann dürft ihr eigentlich aufs Dach? Ist ganz schön hoch hier! Und echt steil.«
»Guckt mal, da kommt Noah!«, rief Elli, froh über die Ablenkung. Und wirklich, da balancierte ihr kleiner roter Kater leichtfüßig über den Dachfirst und lief dann schnell über die Schräge auf Elli zu. Glücklich, sie hier oben zu finden, sprang er auf ihren Schoß, drehte sich dreimal um sich selbst und machte es sich dann schnurrend gemütlich.
»Oh, Noah ist so süß!«, rief Idi begeistert und streichelte Noah auf Ellis Schoß. »Ob er wohl meine Rennmäuse mögen wird? Die ziehen auf jeden Fall mit mir nach Berlin!«
»Bestimmt!« Elli war sich sicher, dass sich alle ihre Tiere vertragen würden. Auch der Kater ihrer Mutter, Mihai, Tante Evas Kater Nero und Idis Rennmäuse Lina und Lura.
»Eigentlich müsste ich doch auch eine Katze bekommen«, überlegte Idi laut. »Irgendwann muss doch jede …«
Elli stieß ihr gerade noch rechtzeitig den Ellenbogen in die Rippen.
»Ich hätte lieber einen Hund«, sagte Philip, dem nicht auffiel, dass Elli und Idi bedeutsame Blicke wechselten.
Bei dem Wort »Hund« sprang Noah plötzlich von Ellis Schoß und landete mit einem Satz auf Idis Schulter.
»Huch!« Idi schrie vor Schreck auf. »Noah, was machst du denn da?«
»Hat der Angst vor Hunden?«, fragte Philip.
»Quatsch«, sagte Elli. »Schon gar nicht vor Hunden, die es noch nicht mal gibt.«
Aber Noah haute trotzdem ab. Er war von Idis Schulter gesprungen und verschwand hinter der Dachgaube.
»Wo will er denn auf einmal hin?«, wunderte sich Elli.
»Da, schaut mal! Da ist er! Im Nachbargarten!«, rief Philip einen Moment später. »Und Nero und Mihai auch.«
Er lehnte sich so weit vor, dass Elli glücklich über den Zauberraum war.
Sie schaute ebenfalls hinüber in den anderen Garten und sah ihre drei Katzen, die gebannt eine Stelle hinter dem großen Rosenstrauch zu beobachten schienen. Was daran so spannend war, sah Elli einen Augenblick später. Es waren zwei andere Katzen. Zwei Siamkatzen, die hoch erhobenen Hauptes und ohne Noah, Mihai und Nero zu beachten, durch den Garten flanierten.
»Wo kommen die denn her?«, wunderte sich Elli. »Die habe ich ja noch nie hier gesehen.«
»Da wohnt doch auch gar keiner in dem Haus, oder?«, fragte Philip.
Elli schüttelte den Kopf. »Ne, nicht das ich wüsste.«
»Aber Streunerkatzen sind die auf keinen Fall«, sagte Idi. »Schaut mal, die haben Halsbänder mit goldenen Knöpfen dran.«
»Stimmt«, sagte Elli. »Richtig vornehm sehen die aus.«
»Echt?«, fragte Philip verwirrt und rieb sich die Augen. »Ich seh nichts!«
Aber Idi gab Elli recht: »Vornehm und richtig eingebildet«, sagte sie, und dieser Meinung schienen sich auch Noah, Mihai und Nero anzuschließen, die den Garten gemeinsam wieder verließen.
»Komisch, wo die wohl hingehören?«, überlegte Elli.
»Saphira!«, schrillte es da plötzlich so laut, dass alle zusammenzuckten. Gefolgt von einem ebenso spitzen »Samira!«
Schnell wie der Wind, rasten die Siamkatzen durch den Garten zum Haus, sodass die Kinder sie vom Dach aus nicht mehr sehen konnten.
»Was war das …?«, setzte Philip an, aber Idi unterbrach ihn.
»Mist, da kommt Papa. Jetzt aber nichts wie runter vom Dach.«
»Aber schnell«, sagte Elli. »Du zuerst«, raunte sie Philip zu.
»Kommt nicht infrage«, widersprach Philip. »Frauen und Kinder zuerst.«
»Wir sind auf dem Dach von unserem Haus«, Elli konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, »nicht auf der Titanic.«
»Schnell jetzt«, sagte Idi. »Papa entdeckt uns gleich. Dann gibt es richtig Stress. Wer weiß, ob wir dann noch zusammen Geburtstag feiern dürfen.«
»Papa will nicht, dass wir auf dem Dach sind«, sagte Elli zu Philip, als ob man das erklären müsste.
»Klar«, sagte Philip nur und folgte Elli in die offene Dachgaube hinein. Hinter ihnen kletterte Idi gerade noch rechtzeitig vom Dach runter.
Als Thomas aus seinem Auto ausstieg und auf die Haustür zuging, sah er auf dem Dach nur noch einen kleinen roten Kater, der ihn von oben frech angrinste.