Barbara und Mack Jones,

die meines Wissens

ausschließlich miteinander verheiratet sind.

 

 

 

 

ein Territorium, eine Frucht,

      ein Ebenbild

wie Athene entsprungen

 

      dem Kopf ihres Vaters:

vom gleichen Stamm,

      Spross und Brut;

 

eine Namensschwester, ein Wunschknochen –

      Getreue und Verräterin –

eingeboren und ganz anders,

 

      ein Stoff, eine Studie,

eine Geschichte, ein Halbblut,

      ein Kontinent, dunkel und fremd.

 

                Natasha Trethewey

~*~
Dana Lynn Yarboro

Das Geheimnis

Mein Vater, James Witherspoon, ist ein Bigamist. Er war schon zehn Jahre verheiratet, als er meiner Mutter zum ersten Mal begegnete. 1968 arbeitete sie am Einpacktresen von Davison’s in der Innenstadt, wo mein Vater sie bat, ein Tranchiermesser als Geschenk zu verpacken, das er seiner Frau zum Hochzeitstag gekauft hatte. Mutter sagte, ihr sei klar gewesen, dass zwischen einem Mann und einer Frau etwas im Argen liegt, wenn eine Klinge verschenkt wird. Ich sagte, das könne doch auch bedeuten, dass sie einander vertrauten. Ich liebe meine Mutter, aber wir sind oft unterschiedlicher Meinung. Jedenfalls wurde uns James’ Ehe nie verheimlicht. Ich nenne ihn James. Seine andere Tochter, Chaurisse, die, die bei ihm aufgewachsen ist, nennt ihn Daddy, auch heute noch.

Unter Bigamie stellen sich die meisten Leute, wenn sie denn überhaupt darüber nachdenken, eine primitive Praxis vor, etwas auf den Seiten des National Geographic. In Atlanta erinnern wir uns auch noch an eine Sekte der Back-to-Africa-Bewegung, die im West End mehrere Bäckereien betrieb. Manche bezeichneten sie als Kult, andere als kulturelle Bewegung. Jedenfalls waren einem Ehemann dort vier Ehefrauen erlaubt. Die Bäckereien haben mittlerweile dichtgemacht, aber die Frauen sieht man noch manchmal, wie sie, in prächtiges Weiß gewandet, ihrem gemeinsamen Ehemann mit sechs demütigen Schritten

Es ist schade, dass es keine treffende Bezeichnung für eine Frau wie meine Mutter Gwendolyn gibt. Mein Vater James ist ein Bigamist. So ist das. Laverne ist seine Frau. Sie hat ihn zuerst aufgetan, und meine Mutter hat die Ansprüche der anderen Frau immer respektiert. Aber war meine Mutter auch seine Frau? Sie ist im Besitz offizieller Dokumente und sogar eines einzelnen Polaroids, das beweist, dass sie mit James Alexander Witherspoon junior kurz hinter der Staatsgrenze zu Alabama vor einen Friedensrichter getreten ist. Doch sie lediglich als seine »Frau« zu bezeichnen wird der Komplexität ihrer Stellung nicht annähernd gerecht.

Es gibt andere Namen, ich weiß, und wenn sie angetrunken, wütend oder traurig ist, schmäht meine Mutter sich damit: Konkubine, Hure, Mätresse, Gefährtin. Es gibt so viele, aber sie sind alle unfair. Außerdem gibt es üble Wörter für jemanden wie mich, das Kind von jemandem wie ihr, aber diese Wörter sind in unserem Haus nicht erlaubt. »Du bist seine Tochter. Fertig.« Das traf vor allem auf die ersten vier Monate meines Lebens zu, bevor Chaurisse, seine eheliche Tochter, geboren wurde. Das Wort ehelich brächte meine Mutter sicher zum Fluchen, aber wenn sie das andere Wort hören würde, das sich in meinem Kopf festgesetzt hatte, würde sie sich in ihrem Schlafzimmer einschließen und weinen. Für mich war Chaurisse seine echte Tochter. Bei Ehefrauen zählt nur, wer zuerst da war. Bei Töchtern ist die Lage ein bisschen komplizierter.

 

Vielleicht war meine Mädchenzeit nicht die glücklichste. Aber bei wem ist sie das schon? Selbst Menschen, deren Eltern glücklich miteinander und mit niemandem sonst verheiratet sind, selbst diese Menschen erleben ein gewisses Maß an Kummer. Sie baden in alten Kränkungen, wärmen Streitereien wieder auf. Insofern habe ich etwas mit der ganzen Welt gemein.

Mutter hat weder meine Kindheit noch irgendeine Ehe ruiniert. Sie ist ein guter Mensch. Sie hat mich vorbereitet. Im Leben kommt es darauf an, Bescheid zu wissen. Deshalb sollte man meine Mutter und mich nicht bemitleiden. Ja, wir haben gelitten, aber wir waren uns immer sicher, einen entscheidenden Vorteil zu genießen: Ich wusste von Chaurisse, sie hingegen nicht von mir. Meine Mutter wusste von Laverne, aber Laverne glaubte, ein ganz normales Leben zu führen. Diese grundlegende Tatsache war uns immer präsent.

Wann fand ich heraus, dass mein Vater, obwohl ich Einzelkind war, nicht mein Vater war, also nicht mein alleiniger? Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß es vermutlich, seitdem ich weiß, dass ich einen Vater habe. Ich kann allerdings noch genau

Ich war ungefähr fünf und im Kindergarten, als die Kunsterzieherin, Miss Russell, uns aufforderte, Bilder von unseren Familien zu malen. Während die anderen Kinder mit Wachsmalkreide oder weichen Bleistiften malten, verwendete ich einen blauen Tintenroller und zeichnete James, Chaurisse und Laverne. Im Hintergrund stand Raleigh, der beste Freund meines Vaters; er war der Einzige aus seinem anderen Leben, den wir kannten. Ihn zeichnete ich mit der Wachsmalkreide in der Farbe »Haut«, weil er sehr hellhäutig ist. Das war vor vielen Jahren, aber ich erinnere mich noch genau daran. Ich legte der Frau eine Halskette um und verlieh dem Mädchen ein breites Lächeln mit lauter geraden Zähnen. An den linken Rand malte ich meine Mutter und mich, wir standen allein. Mit einem Filzstift schwärzte ich Mutters lange Haare und die geschwungenen Wimpern. Mein eigenes Gesicht versah ich nur mit einem Paar großer Augen. Eine freundliche Sonne zwinkerte uns allen zu.

Die Kunsterzieherin trat von hinten an mich heran. »Na, wen hast du denn da so wunderbar gemalt?«

Geschmeichelt lächelte ich zu ihr hoch. »Meine Familie. Mein Daddy hat zwei Frauen und zwei Mädchen.«

Sie neigte den Kopf und sagte: »Soso.«

Ich dachte mir nicht viel dabei, sondern freute mich darüber, wie sie wunderbar ausgesprochen hatte. Noch heute fühle ich mich geliebt, wenn ich es jemanden sagen höre. Am Ende des Monats brachte ich alle meine Bilder in einer Pappmappe mit nach Hause. James öffnete sein Portemonnaie, das immer voll mit Zweidollarscheinen war, um mich für meine Arbeit zu belohnen. Ich hob mir das Porträt, mein Meisterwerk, bis zum Schluss auf, weil es doch so wunderbar gemalt war und so.

Mein Vater nahm das Blatt vom Tisch und hielt es sich nah vor die Augen, als versuchte er, eine geheime Botschaft zu

»Hast du deiner Erzieherin gesagt, wer das auf dem Bild ist?«, fragte James.

Ich nickte langsam, hatte aber das Gefühl, dass ich lieber lügen sollte, obwohl mir nicht klar war, warum.

»James«, sagte Mutter, »lass uns aus einer Mücke keinen Elefanten machen. Sie ist noch ein Kind.«

»Gwen«, sagte er, »es ist wichtig. Guck nicht so ängstlich. Ich bringe sie doch nicht raus hinter den Schuppen.« Dann kicherte er in sich hinein, doch meine Mutter lachte nicht.

»Sie hat nur ein Bild gemalt. Das machen Kinder so.«

»Geh in die Küche, Gwen«, sagte James. »Ich werde mit meiner Tochter reden.«

Meine Mutter fragte: »Warum kann ich nicht hierbleiben? Sie ist schließlich auch meine Tochter.«

»Du bist die ganze Zeit mit ihr zusammen. Du sagst mir immer, ich würde nicht genug mit ihr reden. Also lass mich reden.«

Mutter zögerte und gab mich dann frei. »Sie ist nur ein kleines Kind, James. Sie weiß noch nicht Bescheid.«

»Vertrau mir«, sagte James.

Sie ging aus dem Zimmer, aber ich glaube, sie hatte Sorge, dass er etwas sagen könnte, das mich für den Rest meines Lebens verletzen und beschädigen würde. Ich konnte es in ihrem Gesicht sehen. Wenn sie aufgebracht war, mahlten ihre Kiefer ein unsichtbares Kaugummi. Nachts konnte ich hören, wie sie im Schlaf mit den Zähnen knirschte. Es klang wie Schotter unter Autoreifen.

»Dana, komm zu mir.« James trug eine dunkelblaue Chauffeuruniform. Seine Mütze musste im Wagen geblieben sein, aber auf seiner Stirn war der Abdruck des Hutbandes zu sehen. »Komm her.«

»Dana«, sagte er, »du hast doch keine Angst vor mir, oder? Du hast doch keine Angst vor deinem Vater, oder?«

Er klang betrübt, aber ich verstand es als Prüfung. »Nein, Sir«, sagte ich und trat mutig einen Schritt vor.

»Nenn mich nicht Sir, Dana. Ich bin nicht dein Chef. Wenn du das sagst, komme ich mir vor wie ein Aufseher.«

Ich zuckte mit den Achseln. Mutter hatte mir gesagt, dass ich ihn immer mit Sir anreden sollte. Plötzlich streckte er die Arme nach mir aus und hob mich auf seinen Schoß. Während er mit mir redete, blickten wir beide nach vorn, sodass ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.

»Dana, ich kann nicht erlauben, dass du solche Bilder malst wie im Malunterricht. So was kann ich nicht erlauben. Was hier in diesem Haus zwischen deiner Mutter und mir passiert, ist eine Angelegenheit zwischen Erwachsenen. Ich liebe dich. Du bist meine Kleine, und ich liebe dich, und ich liebe deine Mama. Aber was in diesem Haus vor sich geht, muss ein Geheimnis bleiben, okay?«

»Ich habe das Haus doch gar nicht gemalt.«

James seufzte und ließ mich leicht auf seinem Schoß wippen. »Was in meinem Leben, in meiner Welt passiert, hat mit dir nichts zu tun. Du darfst deiner Erzieherin nicht erzählen, dass dein Daddy eine andere Frau hat. Du darfst ihr nicht erzählen, dass ich James Witherspoon heiße. Atlanta ist wie ein Dorf, hier kennt jeder jeden.«

»Deine andere Frau und dein anderes Mädchen sind ein Geheimnis?«, fragte ich.

Er hob mich von seinem Schoß, sodass wir uns ins Gesicht sehen konnten. »Nein. Das verstehst du falsch. Dana, du bist ein Geheimnis.«

Dann tätschelte er mir den Kopf und zog an einem meiner

»Willst du sie nicht in die Tasche stecken?«

»Ja, Sir.«

Dieses eine Mal sagte er mir nicht, dass ich ihn nicht so nennen solle.

James nahm meine Hand und ging mit mir zum Abendessen in die Küche. Auf dem kurzen Weg durch den Flur schloss ich die Augen, weil ich die Tapete nicht mochte. Sie war beige mit einem weinroten Muster. Als die Tapete sich an den Rändern zu lösen begonnen hatte, war mir vorgeworfen worden, ich hätte daran geknibbelt. Ich hatte es beharrlich abgestritten, aber Mutter hatte James davon berichtet, als er zu seinem wöchentlichen Besuch kam. Er hatte seinen Gürtel abgenommen und ihn mir auf die Beine und den Rücken geklatscht, was meine Mutter irgendwie zufriedenzustellen schien.

In der Küche deckte meine Mutter schweigend den Glastisch mit Schüsseln und Tellern. Sie trug ihre Lieblingsschürze, die ihr James aus New Orleans mitgebracht hatte. Vorne drauf war eine Languste, die einen Pfannenwender schwang, und darunter stand: Pass auf, dass ich dich nicht vergifte! James nahm seinen Platz am Kopf des Tisches ein und rieb mit der Serviette die Wasserflecken von seiner Gabel. »Ich habe sie nicht angerührt, ich bin nicht mal laut geworden. Oder?«

»Nein, Sir.« Es war die Wahrheit, aber ich fühlte mich anders als noch vor ein paar Minuten, als ich mein Bild aus der Mappe gezogen hatte. Meine Haut war noch dieselbe, aber durch eine Pore hatte sich eine Veränderung eingeschlichen und sich an den zerbrechlichen Teil in meinem Innern geheftet. Du bist das Geheimnis. Das hatte er mit einem Lächeln gesagt und mir mit dem Finger auf die Nase getippt.

Meine Mutter kam zu mir, fasste mich unter den Armen und

»Alles in Ordnung?«

Ich nickte.

James aß und strich Honig auf ein Brötchen, weil es keinen Nachtisch gab. Dazu trank er ein großes Glas Cola.

»Iss nicht zu viel«, sagte meine Mutter. »Du wirst gleich noch mal essen müssen.«

»Bei dir schmeckt’s mir immer, Gwen. Ich sitze immer gern an deinem Tisch.«

 

Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, dass meine Zahnlücken das Problem waren, aber ich beschloss, mir ein gefaltetes Stück Papier hinter die oberen Zähne zu schieben, um das rosa Loch in meinem Lächeln zu verdecken. Eigentlich stammte die Idee dazu von James, der mir mal erzählt hatte, wie er als kleiner Junge die Löcher in seinen Schuhsohlen mit Pappe gestopft hatte. Das Papier in meinem Mund saugte sich voll, und die Spucke ließ die blauen Linien verlaufen.

Mutter ertappte mich dabei, als sie in mein Zimmer kam und sich quer über mein Bett mit der lila karierten Tagesdecke legte. Das tat sie gern; sie legte sich auf mein Bett, während ich spielte oder Hefte ausmalte, und sah mir zu, als wäre ich eine Fernsehsendung. Sie roch immer gut, nach blumigem Parfüm und manchmal nach den Zigaretten meines Vaters.

»Was machst du denn da, Petunia?«

»Du sollst mich nicht Petunia nennen«, sagte ich, zum einen, weil ich den Namen nicht mochte, und zum anderen, weil ich ausprobieren wollte, ob ich mit dem Papier im Mund sprechen konnte. »Petunia ist ein Name für Schweine.«

»Eine Petunie ist eine Blume«, sagte meine Mutter. »Eine sehr hübsche.«

»Das soll ein Witz sein, ein hübscher Name für ein Schwein, verstehst du?«

»Witze sind aber eigentlich lustig.«

»Es ist lustig. Du hast nur schlechte Laune. Was machst du denn da mit dem Papier?«

»Ich versuche, mir Zähne zu machen«, sagte ich, während ich den durchweichten Streifen zurechtrückte.

»Warum?«

Das erschien mir offensichtlich, als ich mich und meine Mutter in dem schmalen Spiegel über der Kommode betrachtete. Natürlich wollte James mich lieber geheim halten. Wer liebt denn schon ein Mädchen mit einer klaffenden rosa Zahnlücke? Keins der Kinder in meiner Kindergarten-Lesegruppe sah so aus wie ich. Meine Mutter würde das bestimmt verstehen. Jeden Abend verbrachte sie eine halbe Stunde damit, vor einem Vergrößerungsspiegel ihre Haut zu untersuchen und Cremes von Mary Kay aufzutragen. Wenn ich sie fragte, was sie da tat, sagte sie: »Ich arbeite an meinem Aussehen. Ehefrauen können sich gehen lassen. Konkubinen müssen auf sich achten.«

Wenn ich jetzt daran zurückdenke, bin ich mir sicher, dass sie getrunken hatte. Auch wenn ich mich nicht an alle Einzelheiten erinnere, weiß ich, dass etwas außerhalb des Spiegelbilds ihr golden perlendes Glas Asti Spumante gestanden hat.

»Ich arbeite an meinem Aussehen.« Ich hoffte, sie zum Lächeln zu bringen.

»Dein Aussehen ist perfekt, Dana. Du bist fünf; du hast wundervolle Haut, glänzende Augen und schönes Haar.«

»Aber keine Zähne«, sagte ich.

»Du bist ein kleines Mädchen. Du brauchst keine Zähne.«

»Doch«, sagte ich leise. »Doch.«

»Wofür? Um Maiskolben zu knabbern? Dir wachsen neue Zähne. Auf dich wartet noch jede Menge Mais, versprochen.«

Mutter hatte auf meinem Bett gelegen wie eine Göttin auf einer Chaiselongue, aber nun schoss sie hoch. »Welches andere Mädchen?«

»Das andere Mädchen von James.«

»Du kannst ihren Namen ruhig aussprechen«, sagte Mutter.

Ich schüttelte den Kopf.

»Doch, das kannst du. Sag ihn einfach. Sie heißt Chaurisse.«

»Hör auf«, sagte ich, weil ich Angst hatte, dass der Name meiner Schwester einen schrecklichen Zauber entfalten würde – so wie der Ausspruch »Bloody Mary« das Wasser in einem Topf rot und dickflüssig machte.

Mutter erhob sich vom Bett und kniete sich vor mich, damit wir gleich groß waren. Als sie mir die Hände auf die Schultern legte, wehte ein Hauch Zigarettenrauch aus ihrer Mähne. Ich griff ihr ins Haar.

»Sie heißt Chaurisse«, wiederholte meine Mutter. »Sie ist ein kleines Mädchen, genau wie du.«

»Aufhören, bitte, bitte«, flehte ich. »Sonst passiert noch was.«

Meine Mutter drückte mich an sich. »Was hat dein Daddy neulich zu dir gesagt? Verrat mir, was er gesagt hat.«

»Nichts«, flüsterte ich.

»Dana, du darfst mich nicht anlügen, okay? Ich erzähle dir alles, und du erzählst mir alles. Nur so kommen wir klar, Schatz. Wir müssen uns austauschen.« Sie schüttelte mich ein bisschen. Nicht so, dass es mir Angst machte, aber kräftig genug, dass ich ihr meine volle Aufmerksamkeit schenkte.

»Er hat gesagt, ich wäre ein Geheimnis.«

Meine Mutter schlang die Arme um mich, kreuzte sie hinter meinem Rücken und ließ ihr Haar wie einen magischen Vorhang um mich herum fallen. Den Geruch ihrer Umarmungen werde ich nie vergessen.

Am nächsten Morgen sagte meine Mutter, ich solle das grün-gelbe Kleid anziehen, das ich sechs Wochen vorher – noch ohne Zahnlücken – für das Foto beim Schulfotografen getragen hatte. Sie frisierte mein Haar mit glatten Bändern und steckte meine Füße in steife, glänzende Schuhe. Dann stiegen wir in den alten Buick meiner Patentante, den meine Mutter sich für den Tag geliehen hatte.

»Wo fahren wir denn hin?«

Mutter bog von der Gordon Road ab. »Ich will dir etwas zeigen.«

Ich wartete auf weitere Informationen und schob die Zunge in die glitschige Lücke, wo vorher meine schönen Zähne gewesen waren. Sie sagte nichts weiter über unser Ziel, sondern forderte mich auf, an meiner Aussprache zu arbeiten.

Ich sprach meiner Mutter die Wörter nach, die auf -at endeten – hat, mat, bat –, und dann waren wir schon da. Wir standen vor einem kleinen rosa Schulgebäude mit grünem Rasen. Weiter die Straße hinunter lag der John-A.-White-Park. Wir blieben lange im Wagen sitzen, während ich ihr weiter Wörter heruntersagte. Ich machte es gern. Dann zählte ich von eins bis hundert und sang schließlich »Frère Jacques«.

Als eine Gruppe Kinder auf den Hof der kleinen Schule strömte, hob meine Mutter einen Finger, damit ich mit dem Singen aufhörte. »Kurbel dein Fenster runter und schau raus«, sagte sie. »Siehst du das pummelige kleine Mädchen in Jeans und rotem T-Shirt? Das ist Chaurisse.«

Ich entdeckte das Mädchen, das meine Mutter beschrieb, in einer Schlange mit anderen Kindern. Chaurisse sah damals absolut durchschnittlich aus. Ihr Haar war vorn zu zwei kurzen Puscheln und hinten zu festen kurzen Zöpfen gebunden. »Sieh sie dir an«, sagte meine Mutter. »Sie hat kaum Haare. Und wenn

Ich sagte: »Sie hat alle Zähne.«

»Noch. Sie ist kaum jünger als du, also wackeln sie bestimmt schon. Aber es gibt etwas, was man nicht sieht. Sie wurde zu früh geboren, deshalb hat sie Probleme. Der Arzt musste Plastikröhrchen in ihre Ohren einsetzen, damit sie sich nicht immer entzünden.«

»Aber James liebt sie. Sie ist kein Geheimnis.«

»James hat eine Verpflichtung ihrer Mutter gegenüber, und das ist mein Problem, nicht deins. Okay? James liebt dich genauso wie Chaurisse. Wenn er bei Verstand wäre, hätte er dich lieber. Du bist klüger, besser erzogen und hast schöneres Haar. Aber du bekommst nun mal die gleiche Liebe, und das geht auch in Ordnung.«

Ich nickte, während sich Erleichterung in meinem Körper ausbreitete. Meine Muskeln lösten sich. Sogar meine Füße entspannten sich und fügten sich nun locker in meine hübschen Schuhe.

»Bin ich ein Geheimnis?«, fragte ich meine Mutter.

»Nein«, sagte sie. »Du bist etwas Unbekanntes. Das kleine Mädchen da weiß nicht mal, dass es eine Schwester hat. Du weißt alles.«

»Gott weiß alles«, sagte ich. »Gott hält die ganze Welt in seinen Händen.«

»Das stimmt«, sagte meine Mutter. »Genau wie wir.«

Eine Art schleichender Liebe

Es war keine Liebe auf den ersten Blick, zumindest nicht bei meiner Mutter. Als sie meinem Vater begegnete, hatte sie nicht das Gefühl, dass eine besondere Chemie zwischen ihnen bestünde oder sich der Rhythmus ihres Herzens veränderte. Es war Liebe, das schon, aber sie war nicht wie vom Blitz getroffen. So eine Liebe hatte zu ihrer ersten Ehe geführt, die nur neunzehn Monate gehalten hatte. Was sie mit meinem Vater erlebte, war eher eine Art schleichender Liebe, die einsickert, ohne dass man es merkt, und plötzlich ist man Familie. Sie sagt, eine Liebe wie die mit meinem Vater sei von Gott gestiftet und nicht von der Welt, also auch nicht an die Gesetze des Bundesstaats Georgia gebunden.

Dagegen kann man schlecht etwas einwenden.

 

Einpackmädchen war nicht der Job, von dem sie geträumt hatte, wobei Jobs generell nicht zu den Dingen gehörten, von denen sie träumte. Meine Mutter hatte nur von der Ehe geträumt, und ihre kurze Bekanntschaft damit hatte sie enttäuscht. Einen neuen Traum zu entwickeln war mehr als ein flüchtiges Vorhaben, aber sie hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.

In ihrer Kindheit galt all ihr Sehnen ihrer Mutter. Flora, meine

Zu der Zeit, als James bei Davison’s auftauchte, war meine Mutter nicht nur mutter-, sondern auch vaterlos. Mein Großvater hatte sich von ihr losgesagt, weil sie ihren Ehemann, Clarence Yarboro, verlassen hatte. Das Problem war nicht nur, dass ihr Vater für den von Clarence arbeitete und seine Stelle auf dem Spiel stand, sondern auch, dass meine Mutter in die Fußstapfen ihrer Mutter Flora getreten war. Im Rückblick, sagt sie, waren die Gründe, Clarence zu verlassen, nicht ausreichend, um eine Ehe aufzugeben, aber schon ihre Gründe, ihn zu heiraten, waren nicht überzeugend gewesen. Mutter sagt, sie habe ihn geheiratet, weil er attraktiv und reich war – der jüngste Sohn einer Familie hübscher Bestatter – und weil er sie in der achten Klasse zum Ball eingeladen hatte. Fünf Jahre später war sie seine Frau. Sieben Jahre später war sie geschieden, lebte in einem Wohnheim und verliebte sich in einen verheirateten Mann. Acht Jahre später kam ich zur Welt.

 

Als meine Eltern sich begegneten, war Dr. Martin Luther King junior gerade einen Monat tot, und ein grauer Schleier lag über allem. Mutter war zum Spelman College gegangen, wo man Dr. King aufgebahrt hatte, aber die Schlange war sehr lang, und sie sah eigentlich keinen Sinn darin, dort zu stehen, und war wieder aufgebrochen. Zurück am Einpacktresen hatte Mutter

James kam eines Nachmittags an den Tresen, als sie gerade besonders reumütig war, nicht so sehr, weil sie ihre Ehe weggeworfen hatte, sondern eher, weil sie überhaupt geheiratet hatte.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?«, fragte sie. Er trug eine Chauffeuruniform und hatte die Mütze unter den Arm geklemmt wie ein Offizier. Sie nannte ihn Sir, weil sie alle männlichen Kunden so anzureden pflegte, und sie achtete besonders darauf, dass die schwarzen Kunden bei Davison’s diesen Ausdruck des Respekts vernahmen. War Dr. King nicht genau dafür gestorben?

Mutter war hübsch, dessen war sie sich bewusst. Keine Schönheit wie Dorothy Dandridge oder Lena Horne, aber doch so bezaubernd, dass es auffiel. Ihrer Meinung nach hatte sie das

Als James ihr das elektrische Tranchiermesser über den Tresen zuschob, bemerkte Mutter den blitzenden Ehering und dachte an Willie Mae, die keine Skrupel hatte, Zeit mit verheirateten Männern zu verbringen – solange sie schworen, nicht glücklich zu sein. Sie fragte meinen Vater, welches Geschenkpapier es sein dürfe, und kam zu dem Schluss, dass er Willie Mae nicht genügen würde, weil die eine Vorliebe für hübsche Männer hatte: helle Haut, helle Augen und gewelltes Haar.

»Du wärst ganz verrückt nach meinem Exmann gewesen«, hatte Gwen mal zu ihr gesagt, während Willie Mae das Glätteisen durchzog, das ölig zischte.

»Ist er noch zu haben?«

Mutter hatte gekichert und an ihrer Zigarette gezogen, dann den Qualm mit einem feuchten Handtuch eingefangen. »Er war unsere ganze Ehe über zu haben.«

»Mädchen«, sagte Willie Mae, »ich will dir ja nicht vorschreiben, wie du dein Leben zu führen hast, aber du musst schon eine ziemlich anspruchsvolle Lady sein, wenn du einem guten Mann den Laufpass gibst, nur weil er sich hin und wieder anderweitig vergnügt hat.«

»Es war nicht nur das«, sagte meine Mutter. »Und wer ist hier

»Wenigstens hattest du einen Mann, den du verlassen konntest«, sagte Willie Mae.

 

Der Mann mit dem Tranchiermesser fragte: »Könnten Sie festliches Papier nehmen?«

Mutter fragte: »Ein besonderer Anlass?«

»Ja, Ma’am«, sagte er.

Über das »Ma’am« musste sie lächeln. »Für wen ist es?«

»Meine Frau.«

Mutter lachte und bedauerte es sofort. Der Mann vor ihr wirkte peinlich berührt, und hinter ihm standen Weiße in der Schlange.

»W-was ist?«

»Entschuldigen Sie, Sir«, sagte sie, und es tat ihr wirklich leid. »Es ist nur so, dass die meisten Männer ihren Ehefrauen etwas Romantischeres schenken. Parfüm zum Beispiel.«

Er sah zu dem Messer. »Das ist ein g-gutes Geschenk. Es hat dreiundzwanzig Dollar gekostet.«

»Ja, Sir«, sagte sie. »Ich werde es Ihnen einpacken. Wir haben gerade ein hübsches Blümchenpapier reinbekommen.«

»Moment.« Er nahm das Messer wieder an sich. »Ich h-hab’s mir anders überlegt.« Er strebte zur Rolltreppe, mit der Mütze immer noch unter dem Arm.

Die nächste Kundin war eine Weiße, die einen Babystrampler für ihre schwangere Schwester gekauft hatte.

»Männer«, sagte die Kundin. »Wer begreift schon, was in ihren Köpfen vor sich geht?«

Mutter wusste, was die weiße Dame meinte, aber sie konnte nicht mit ihr über einen schwarzen Mann lachen, selbst wenn sie nur darüber lachte, dass er ein Mann war.

»Es ist ein gutes Messer«, sagte meine Mutter und riss ein Rechteck Blümchenpapier von der Rolle. »Ich hab’s nicht böse gemeint.«

Er sagte nichts, aber sie sah, wie sein Hals anschwoll, während sie das Papier ausrichtete und die Klebestreifen zusammenrollte, damit sie beidseitig hafteten.

Dann überreichte Mutter ihm das Geschenk, das mit einer doppelten Schleife nun so hübsch aussah, dass sie sich fragte, ob sie es nicht übertrieben hatte. Sie stellte sich vor, wie seine Frau die Bänder löste und etwas Luxuriöses erwartete, aber sie beschloss, dass das nicht ihr Problem war.

»Und das«, stieß er hervor und reichte ihr eine kleine Schachtel mit Parfüm.

»Das wird Ihrer Frau gefallen«, sagte Mutter. »Das wird sie liebend gern vor ihren Freundinnen aus der Tasche ziehen.« Sie hatte das Gefühl, zu viel zu reden, aber dieser seltsame Mann starrte sie an, und irgendjemand musste ja etwas sagen. Sie wickelte das Parfüm in verführerisches rotes Papier und verwendete ein schlichtes goldenes Band. »Sehen Sie sich das an. Das hat ein bisschen Feuer.«

Sie schob es ihm über den Tresen zu, aber er schob es zurück.

»E-e-e-s …« Er brach ab und versuchte es wieder. »D-d-d …« Er verstummte.

»Stimmt was nicht? Soll ich sie beide im gleichen Papier einwickeln?«

Seine Schulter zuckte kurz, dann sagte er: »Das ist für Sie.«

Mutter blickte zu ihrer linken Hand, an der sie ihren Ehering trug, obwohl ihr Mann Clarence schon seit einem Jahr

Meine Mutter las jede Woche das Life-Magazin; sie wusste also, dass der Rest des Landes die freie Liebe und ungepflegte Haare feierte, aber sie bewunderte die jungen Leute, die sich so gehen ließen, keineswegs. Sie sah sich eher in der Rolle einer Mrs Parks oder Ella Baker. Würdevoll und anständig wie eine Perlenkette.

»Bitte nehmen Sie’s«, sagte er und stupste das rote Geschenk wieder in ihre Richtung.

Und sie nahm es an. Nicht nur, weil es ein schönes Geschenk war; sie hatte das goldene Parfüm schon wiederholt bewundert und sich heimlich etwas davon auf die Schläfen getupft. Mutter sagt, sie habe vor allem seine Bemühungen zu schätzen gewusst – dass er sein Stottern besiegt hatte, um ihr dieses Geschenk zu machen. »Vielen Dank, Sir.«

»Nennen Sie mich nicht Sir. Ich heiße James Witherspoon. Sie haben nichts von mir zu befürchten. Ich wollte Ihnen nur etwas schenken.«

Meine Mutter rechnete die nächsten anderthalb Wochen damit, dass James Witherspoon auf der Rolltreppe auftauchte. Sie teilte Willie Maes Einschätzung, dass Männer nichts ohne Grund taten. Das Parfüm war teurer als das Tranchiermesser gewesen. Wenn er mehr für sie ausgab als für seine Frau, würde er wiederkommen.

»Manche Männer«, sagte Willie Mae, »würden sogar wiederkommen, wenn sie dir nur eine Pfefferminzpraline geschenkt hätten. Mit Geld kauft man sich Gesellschaft, und das wissen sie.«

(Die reizende Willie Mae, die ich Auntie nannte, war Trauzeugin bei der illegalen Hochzeit meiner Eltern, vier Monate nach meiner Geburt. Sie war meine Patentante und unglaublich lieb zu mir, als ich ein kleines Mädchen war. Sie starb kurz nachdem

Aber Mutter hatte nicht das Gefühl, dass James Witherspoon sie kaufen wollte. Sie hatte den Eindruck, dass er sie aus irgendeinem Grund einfach mochte. Es war eine schöne Vorstellung, gemocht zu werden. Von einem verheirateten Mann gemocht zu werden war nichts Schlimmes. Es war auch nichts Schlimmes, ihn ebenfalls zu mögen, wenn es denn beim Mögen blieb.

Nachdem ein Monat vergangen und er nicht zurückgekehrt war, bedauerte Mutter, dass sie ihn nicht stärker ermutigt hatte, als er ihr das Parfüm, das in seiner feurigen Verpackung farblich an ein französisches Bordell erinnerte, hinübergeschoben hatte. Sie bedauerte, so lange auf seinen Ehering gestarrt zu haben, ein schlichtes goldenes Exemplar mit Rankenmuster, und sie kam sich dumm vor, weil sie ihren eigenen Ring noch trug – ebenfalls ohne Stein, weil ihr Exmann den Diamanten wieder an sich genommen hatte; er stammte von seiner Mutter, deshalb durfte sie ihn nicht behalten. Jetzt fragte sie sich, warum sie den Ring noch trug.

Sie fragte sich auch, warum sie die wichtigen Ereignisse des Weltgeschehens nicht kümmerten. Zum Beispiel der Vietnamkrieg. Sie hatte Jungen gekannt, die darin umgekommen waren. Und dann war da immer noch Dr. King, der kalt in der Erde lag. Auch wenn Willie Mae nicht von einem Hund gebissen worden war, war sie in Birmingham gewesen, als die Deutschen Schäferhunde auf Schwarze losgelassen wurden. Und wo hatte Mutter gesteckt, als all das passierte? Sie hatte eifrig geübt, eine Ehefrau zu sein.

 

Ende des Sommers, als sie gerade dort arbeitete, wo James sie drei Monate zuvor zurückgelassen hatte, tauchte er schließlich wieder vor ihr auf. »Ich wollte nur Hallo sagen.«

»Würden Sie einen Kaffee mit mir trinken?«

Sie nickte.

»Ich bin v-verheiratet«, sagte er. »Ich bin v-v-verheiratet. Ich bitte Sie nur um einen K-Kaffee. Es ist eine lange Geschichte. Mein Leben ist eine lange Geschichte.«

»Meins auch.«

Sie erklärte sich bereit, ihn nach Feierabend zu treffen. Sie strich sich über das Haar an den Schläfen, das sich durchs Schwitzen kräuselte. Es war an der Zeit, dass Willie Mae sich ihrer annahm, deshalb band Mutter sich das Haar zu einem öligen Koten im Nacken. Den ganzen Abend über sagte sie zu ihm: »Bitte entschuldigen Sie mein Aussehen.« Und er versicherte ihr, dass sie gut aussah. Ihr gefiel, dass er nur sagte, sie sehe gut aus, und nicht so tat, als wäre sie an diesem Tag wunderschön. Sie schätzte die Aufrichtigkeit daran, und die Aufrichtigkeit hatte nichts Kränkendes. Sie sah gut aus; sie genügte; es war ausreichend.

Meine Mutter stand am Bordstein der Peachtree Street, wo fünf Straßen aufeinandertrafen, nahe dem Plastikunterstand, an dem sie normalerweise auf den Bus wartete. Willie Mae, die Schreibkraft bei einer Versicherung war, wäre schon an Bord und säße direkt hinter dem Fahrer, denn sie stammte aus Alabama und war dort ein Jahr lang zur Arbeit gelaufen, um Rosa Parks zu unterstützen, die sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz für einen Weißen zu räumen.

Als eine Limousine neben ihr am Straßenrand hielt, fühlte sich Mutter nicht angesprochen. Sie stand da, blickte über das Dach des viertürigen Cadillac hinweg und hielt nach James Ausschau. Sie überlegte, ob sie sich auf die andere Straßenseite begeben sollte, damit er sie leichter fand. Als sie gerade auf die Uhr sah, stieg er auf der Fahrerseite aus und hob kurz den Finger an die Mütze.

Da hatte er schon die Fondtür erreicht und geöffnet. Er lächelte, sagte aber nichts. Mutter fasste sich an ihr ungewaschenes Haar und strich es an den Rändern glatt. Sie blickte die Straße entlang und hielt nach ihrem Bus Ausschau, der mit Willie Mae in der ersten Reihe augenblicklich um die Ecke biegen musste, aber da war nur der normale Verkehr aus Studebakers, Packards und anderen Bussen. Sie machte einen gezierten Schritt auf die offene Autotür zu; das Innere sah samtig aus, ein warmes Hellbraun, wie Erdnussbutter. Sie setzte sich vorsichtig hin und zog ihren Rock zurecht, sodass er glatt über ihren Hüften lag. »Danke«, sagte sie.

»Madame«, sagte er. Dann stieg er vorne ein und fuhr los.

Meine Mutter studierte seinen Hinterkopf, den akkurat vom Friseur gestutzten Haaransatz. Aus den Lautsprechern knisterte Klassik; das Sirren der Geigen machte sie nervös.

»Möchten Sie gern zu Paschal’s?«, fragte er.

»Nein«, sagte sie. »Da kann ich nicht hin. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich nicht dorthin.«

»Das liegt ganz bei Ihnen«, sagte er.

Im Wagen hing der schwere Duft des Parfüms, das er ihr geschenkt hatte; falls er es wiedererkannte, ließ er es sich nicht anmerken.

»Erzählen Sie mir von sich«, sagte er.

»Ich weiß nicht«, sagte Mutter. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sie können sagen, was Sie wollen.«

Es war seltsam tröstlich, mit seinem Hinterkopf zu reden. So ähnlich stellte sie es sich vor, mit einem Priester zu sprechen. Willie Mae ging jede Woche zur Beichte. Mutter war versucht, sich ihr anzuschließen, aber sie wollte nicht so tun, als wäre sie katholisch. Sie log nicht gern.

Er fuhr weiter, aber meine Mutter sagte nichts mehr. Sie wollte raus aus dem Wagen. Das war das Gute am Gespräch mit einem Priester – man sagte, was man zu sagen hatte, und dann durfte man gehen. Aber jetzt saß sie in diesem Cadillac fest, und langsam wurde ihr vom Duft ihres eigenen Parfüms übel. »Ich glaube, ich möchte jetzt aussteigen.«

Ohne sich umzudrehen, sagte James: »A-aber wir haben noch gar nicht Kaffee getrunken.«

»Mir geht’s nicht gut.«

»Ich weiß, ich bin verheiratet«, sagte James. »Ich verlange nichts von Ihnen, wofür Sie sich schämen müssten. Ich möchte nur mit Ihnen Kaffee trinken. Ich war noch n-n-nie mit einer Frau Kaffee trinken oder zu Abend essen.«

»Außer mit Ihrer Frau«, sagte Mutter, die den Sarkasmus in ihrer Stimme sofort bedauerte. »Es geht mich nichts an. Tut mir leid.«

»N-n-noch nicht mal mit ihr«, sagte er mit einer Traurigkeit, die mit den Händen zu greifen war. »Es ist eine lange Geschichte.«

»Mein Leben ist eine lange Geschichte«, sagte meine Mutter.

»Meins auch«, sagte mein Vater.

Dann kicherten sie beide darüber, dass ihr Gespräch wieder am Ausgangspunkt angelangt war. Sie sah es als einen Kreis vor sich, einen Kinderball, vielleicht sogar als die ganze Welt.

Ein paar Bemerkungen über Frühreife

Obwohl mein Vater eher klein war und seine Brillengläser dick wie eine Scheibe Weißbrot, hatte er etwas Aufrechtes an sich, das ihm Respekt verschaffte. Selbst nachdem alles passiert war, blieb ihm das erhalten. Die Wertschätzung, die ihm entgegengebracht wurde, hatte viel damit zu tun, dass er einmal im Atlanta Journal und zweimal in der Daily World als einheimischer Unternehmer porträtiert worden war. Die Fahrzeugflotte von Witherspoon-Limousinen war klein – drei Wagen und zwei Fahrer: er selbst und Raleigh Arrington, sein Adoptivbruder und bester Freund. Ich könnte wahrscheinlich an meinen Händen abzählen, wie viele Male ich meinen Vater normal gekleidet gesehen habe, nicht als Fahrer. Aber das war nichts, wofür man sich schämen musste. Schließlich war er sein eigener Herr. Wenn man eine Uniform samt Mütze tragen muss und für Weiße arbeitet, trägt man ein Kostüm. Dann ist man nicht besser als ein Affe, der in ein rotes Jäckchen mit goldenen Litzen gesteckt wurde. Doch wenn einem die Firma gehört und man sich die Uniform selbst in einem Katalog ausgesucht und auch noch in der passenden Größe bestellt hat, sodass nichts gekürzt oder herausgelassen werden muss, sieht die Sache natürlich anders aus.

James war ein gelassener Mann und Herr über seine Gefühle. »Der Schlüssel zum Leben«, erklärte er mir einmal, »ist es, die Höhen und Tiefen zu vermeiden. Es sind die Gipfel und die Täler, die dich fertigmachen.« Er tat gern so, als wäre sein ausgeglichenes Gemüt die Folge einer philosophischen Neigung, aber ich wusste, dass er jegliche Leidenschaft vermied, weil sie ihn stottern ließ und zum Freak machte. Wer James einmal erlebt hat, wenn ihn das Stottern im Griff hatte, wusste, wie sehr es ihn kränkte. Sein Gesicht und sein Hals schienen anzuschwellen, als würden die Worte darin feststecken, so schmerzlich und tödlich wie Sichelzellen. Und dann brach mit einem Zucken, einem Krampfen oder Stoß endlich der vollständige Satz hervor.

 

Meine Eltern stritten sich eigentlich nicht. Wenn’s hochkam, hatten sie einen »Wortwechsel«, wie meine Mutter es nannte. Auseinandersetzungen waren selten – wegen James’ gemäßigtem Naturell und weil schlicht keine Zeit für Zank und Streit war. James aß nur einmal die Woche bei uns, und ein oder zwei Mal im Jahr blieb er über Nacht. Wenn wir ihn in unserer Stadthauswohnung empfingen und er an unserem Tisch Platz nahm, behandelten wir ihn wie den Gast, der er war. Er bekam Cola zum Essen, wir sprachen ein Tischgebet wie am Sonntag und ließen ihn sogar im Wohnzimmer rauchen. Meine Aufgabe war es, ihn mit sauberen Glasaschenbechern zu versorgen. Er sagte, seine Frau Laverne verbanne ihn zum Rauchen immer auf die Veranda, sogar bei Regen.

Mutter stritt nie um ihrer selbst willen. Es ging »immer um Dana Lynn«. Bevor mein Vater sich weigerte, ihre Forderungen zu erfüllen, bestand er stets darauf, dass er mich liebte. Es gab eine Zeit in meinem Leben, als das fast genug war.

»Es ist eine Frage der Fairness, James«, sagte meine Mutter dann, womit sie mir signalisierte, dass aus einer Unterhaltung ein »Wortwechsel« geworden war. Ich konnte sehen, wie der Hals meines Vaters ein bisschen anschwoll, als sich die Worte zu seiner Verteidigung dort stauten.

 

Ich bin kein besonders anmutiger Mensch. Ich bin auch kein Trampel, aber bei meinem Anblick denkt bestimmt niemand: »Diese Hüften sollten sich wiegen« oder »Diese Zehen sind für Pirouetten gemacht«. Ich will mich nicht schlechtmachen. Meine Mutter würde sagen: »Sich selbst abzuwerten ist nicht attraktiv.« Nicht laut sagen würde sie indes, dass Menschen in unserer Lage es sich nicht erlauben können, ein schlechtes Bild abzugeben. Wenn ich sage, dass ich keine geborene Tänzerin

Wie sich herausstellte, wurden die Ballettstunden für mich eher kein Genuss. Ich hatte mir vorgestellt, dass ich ein lavendelfarbenes Tutu tragen würde und sich rosa Bänder meine Unterschenkel hinaufschlängelten. Stattdessen landete ich in einem stickigen Raum im Obergeschoss des YMCA, in einen Trikotanzug gequetscht, dessen Farbe an Mullbinden erinnerte, und zwang meine nackten Füße in unmögliche Positionen.

Als ich ungefähr zehn war, fing meine Mutter an, darauf zu drängen, dass ich zusätzlichen Unterricht in den Naturwissenschaften erhalten solle. Ich war voll dafür, weil ich Biologie mochte, wir an meiner Schule aber nicht experimentieren konnten. Am letzten Schultag des Jahres teilte meine Lehrerin Handzettel aus, auf denen die Saturday Science Academy an der Kennedy Middle School beworben wurde. Meine Mutter sagte, sie würde meinen Vater nach dem Essen am Mittwoch um die dreißig Dollar für die Anzahlung bitten. Zur Vorbereitung bürstete ich mir die Haare am Ansatz glatt und zog eine kurzärmlige Hemdbluse an, in der ich schlau aussah, wie ich fand. Außerdem klemmte ich mir einen Bleistift hinters Ohr.

Abends aßen wir wie immer zusammen am Küchentisch. Dann schlug meine Mutter James vor, ins Wohnzimmer zu gehen, um das Tick-Tack-Quiz zu gucken und sich einen Cream Sherry schmecken zu lassen. Er lächelte und bedankte sich, als meine Mutter ihm das Glas reichte.

»James«, sagte sie, »ich möchte, dass Dana in den Genuss zusätzlichen Unterrichts in den Naturwissenschaften kommt.«

James nahm einen kleinen Schluck Sherry. Seinem Hals war die Mühe beim Schlucken anzusehen.

»Das habe ich nie behauptet.«

»Gut«, sagte meine Mutter. »Denn das ist sie.«

Ich saß mit meinem Bleistift hinter dem Ohr zu seinen Füßen und versuchte, mich sehr aufrecht zu halten.