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Heldinnen

Neue Kurzgeschichten

Tina-Maria Urban

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.herzsprung-verlag.de

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© 2018 – Herzsprung-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Clara Lucia Felbauer

Coverbild: Tina-Maria Urban

ISBN: 978-3-96074-038-4 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-067-4 – E-Book

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.de

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Inhalt

Von Gordons und Leibchen (Sandra)

Einmal Zusammenreißen, bitte! (Sandra)

Pokerface (Angie)

Black Lace On Sweat (Laura)

Schon mal mit Ein- und Ausschalten probiert? (Michi)

Warteschleife (Karin)

Das erste Mal (Yvonne)

Endstation Sehnsucht (Steffi)

Ein paar Worte statt großer Torte (Vivi)

Darum in die Ferne schweifen ... (Sarah)

Ganz ohne Lachkrampf (Betti)

Afterwork Mojito (Alexa)

Geschirrarrangements (Irene)

Valentin (Lexa)

Über die Wichtigkeit von Modalverben (Gabi)

Feige Vanille (Jessie)

Zuhause (Bianca)

Spaziergang (Petra)

Heldinnen (Chrissie)

Oder auch nicht ... (Tamara)

Sternzeichen Apfel (Mira)

Dieser Tag (Sophie)

Danksagung (Tina)

Glossar: Österreichisch-Deutsch

Die Autorin

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„Always remember

You are braver

Than you believe

Stronger

Than you seem

Smarter

Than you think

And twice as beautiful

As you’ve ever imagined.“

(Dr. Seuss)

Für all jene Frauen, die sich selbst suchten,

Glaubten, sich gefunden zu haben,

Um dann festzustellen, dass es gar nicht sie waren.

Innegehalten haben.

Geschaut, gestaunt, geweint, gelacht haben.

Und erneut begonnen.

Gebt niemals auf.

Tina

*

Von Gordons und Leibchen (Sandra)

Manchmal

kann ein einziger Fehler

einen ganzen Text urinieren.

Gordon Bleu mit gemischten Salat stand da in Kreideschrift auf der Schiefertafel vor dem Gasthaus. Sandra merkte, wie sie das Schild anstarrte und langsamer wurde. Sie bekämpfte den innerlichen Zwang, die Fehler zu korrigieren. Als sie auf Höhe der Tafel war, blieb sie kurz stehen.

„Lass mich raten“, Jenny sah sie grinsend an, „da geht etwas gar nicht?“ Sandra schaute ihre beste Freundin an und schüttelte nur schweigend den Kopf. Sie wollten doch nur ein Geburtstagsgeschenk für Michi besorgen, die immerhin runde 40 wurde. Und nicht einmal bei so einem Unterfangen gelang es ihr, die Rechtschreibpolizei in ihrem Hirn auf Urlaub zu schicken. Sandra seufzte.

„Nein“, dachte sie bei sich, „einfach weitergehen. Du kannst das“, und zwang sich an der Tafel vorbei. Doch bereits nach drei Schritten war der gute Vorsatz dahin, schnell drehte sie sich um und sprang förmlich zurück zu diesem Verbrechen an der deutschen Grammatik. Mit dem Zeigefinger machte sie aus dem G des armen, aufgeweichten Cordon bleu wieder ein C, und mit dem Kreiderest auf ihrem Finger malte sie sorgfältig ein m bei gemischtem. Cordon bleu mit gemischtem Salat stand da nun. Sie besah sich ihr Werk und grinste zufrieden.

Jenny lachte. „Besser?“, fragte sie.

Sandra nickte und erwiderte: „Oh ja, sonst hätte ich den ganzen Tag mit diesem Zucken unterm linken Auge herumlaufen müssen.“ Der neurotische Aussetzer war ein kleiner Spleen, der ihr tatsächlich einmal von ihrer besten Freundin attestiert worden war. Vermutlich hatte es sich nur um eine Koinzidenz mit einem zur gleichen Zeit entdeckten Rechtschreibfehler in einer anderen Speisekarte gehandelt – faschierte Leibchen. Mit e. Gehackte T-Shirts also. Igitt. Jenny und sie hatten das Bild des Augenzuckens beim Anblick von linguistischen Unvollkommenheiten jeglicher Art dennoch beibehalten, als Running Gag sozusagen.

Ja, sprachlich talentiert zu sein, hatte durchaus Vorteile. Gute Noten in den Sprachfächern, eine gewählte Ausdrucksweise und eine steile Karriere als Übersetzerin zum Beispiel. Doch wie bei jedem Segen gab es hier auch die Kehrseite der Medaille. Also den Fluch. Sandra konnte Rechtschreibfehler so gar nicht ertragen, und als sie einmal von einer an sich durchaus interessanten Verehrerin ein SMS erhalten hatte mit dem Inhalt Ich weis das du gern Filme schaust. Magst du mit mir ins Kino?, war sie nur mit Mühe über das höchst unweise weis hinausgekommen, beim falsch gebrauchten das war dann Schluss gewesen. Also kein Kino.

„Wer weiß – jaaa, mit scharfem ß, weil davor ein Zwielaut ist – was ich mir mit meinem Tick schon alles verbaut habe?“, fragte Sandra ihre Freundin, als sie weiter die Straße hinuntergingen.

„Gar nichts“, antwortete diese, ohne zu zögern, „das bist eben du. Intelligent und gebildet. Und das ist gut so. Wissen macht sexy.“

„Aber die Frau hätte mir den Himmel auf Erden bereitet, mich auf Händen getragen und angebetet.“ Sandra seufzte lautstark. „Warum kann ich über diese sprachlichen Kleinigkeiten nicht einfach hinwegsehen?“

„Weil du eben zur körperlichen auch eine gewisse geistige Reibefläche brauchst. Ich verstehe das. Schließlich hab’ ich auch diese Tschiantifreunde, die in die Pizzeria Tschesolo fahren um Knotschi zu essen und sich nachher Schtratsiatellaeis bestellen“, Jenny rollte mit den Augen, „und übrigens hätte dich der Platz auf dem Podest nicht lange glücklich gemacht, glaub mir.“

Sie bewunderte Sandras Talent und mochte es nicht, wenn diese es als Makel betrachtete. Außerdem amüsierte sie sich darüber, dass Sandra nichts entging, keine Aufschriften mit apostrophierten Jean’s und Video’s, kein noch so kleiner Schnitzer auf Konzertankündigungen, in Zeitungen oder auf Speisekarten. Natürlich verstand sie, dass Sandra manchmal ein bisschen darunter litt, denn ihr ging es ähnlich, sie lebten nun einmal in einer Zeit der Sprachvernachlässigung. Sandra reagierte allerdings wirklich besonders empfindlich diesbezüglich. Dennoch war Jenny der Meinung, dass die positiven Seiten deutlich überwogen, und sie ließ keine Gelegenheit aus, der anderen das mitzuteilen.

Diese war offenbar über das verweichlichte Cordon bleu hinweg, denn sie sah Jenny gerade mit dem ihr eigenen schelmischen Blick an und fragte: „Kennst du das Eichendorff-Gedicht mit dem Frühling?“

Jenny schüttelte den Kopf.

Sandra begann zu deklamieren: „Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte. Süße, wohlbekannte Düfte streifen ahnungsvoll das Land.“

„Okayyy“, wunderte sich Jenny, „wie kommst du denn jetzt darauf?“

„Na ja“, erwiderte Sandra, „ich hab’ mir gerade überlegt, dass Cordon bleu auf Deutsch blaues Band heißt. Wenn wir also den Eichendorff ins Französische übersetzen würden, würde im französischen Frühling ein Cordon bleu durch die Lüfte flattern.“

Die Frauen lachten, und Jenny hängte sich bei Sandra ein, während sie auf die Mariahilfer Straße abbogen.

„Apropos Essen, ich habe ziemlichen Hunger. Sollen wir uns irgendwo was genehmigen?“, fragte sie.

„Oh ja, gern. Liegt fast auf der Hand, was es sein soll, oder? Wir gehen eh so selten gutbürgerlich essen.“ Sandra hatte ein breites Grinsen im Gesicht.

„Wenn ich gutbürgerlich schon höre“, Jenny verdrehte die Augen, „was wäre eigentlich schlechtbürgerlich? Aber die Idee ist fein, gehen wir auf ein blaues Band.“

Gesagt, getan.

Kurze Zeit danach saßen sie auf abgewetzten, braunen Kunstlederbänken vor schwarz-weißen Marmortischchen in einem traditionell wienerischen Kaffeerestaurant, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, und wo sie – ebenso der Tradition gemäß – erst einmal ignoriert wurden, bis der unfreundlich-grantige Kellner geruhte, sie eines Blickes zu würdigen und dann im Zeitlupentempo auf sie zuzuschleichen.

„Guten Tag, die Damen“, und er hielt ihnen gnadenhalber die Speisekarte hin.

„Ein kleiner Apfelsaft mit Leitungswasser“, bestellte Sandra und nahm die Karte.

„Für mich einen schwarzen Tee mit Zitrone, bitte“, ergänzte Jenny, die stets fror, „und wir teilen uns ein Cordon bleu. Da sind eh Pommes frites dabei?“

Der Kellner wirkte erschüttert, ja sogar in seiner Berufsehre gekränkt. Die leichte Verschnupftheit, wenn etwas infrage gestellt wurde, was doch bitteschön der Tradition entsprach und „immer scho so g’wes’n ist“, war eine Reaktion, die Wiener Kellner außerordentlich gut beherrschten.

„Selbstverständlich, Gnädigste, bei all unseren Hauptgerichten ist eine Beilage inkludiert“, entgegnete er etwas von oben herab, um dann halb sarkastisch nachzusetzen, „benötigen Sie auch einen zweiten Teller?“

„Nein, danke“, antwortete nun Sandra schlagfertig, „ich esse direkt aus der Hand. Wenn Sie bitte auch Ketchup bringen wollen.“

Der Kellner befand sich nun irgendwo zwischen Irritiertheit und Indigniertheit, und Jenny kam ihm zu Hilfe.

„Doch, bitte, das wäre sehr aufmerksam. Vielen Dank.“ Er entfernte sich, irgendetwas Unverständliches murmelnd.

Das Café war gut frequentiert, doch Sandra war schon seit geraumer Zeit eine Frau aufgefallen, die zwei Tische weiter die Speisekarte studierte (nachdem sie ihr von besagtem Kellner gönnerhaft gebracht worden war).

„Du-huuu“, raunte sie Jenny zu, „schau mal da rüber.“

„Wohin soll ich schauen?“, fragte Jenny nach, und Sandra machte eine beschwichtigende Geste.

„Nicht so laut, spinnst du? Dort“, und ihr Finger deutete Jenny unter dem Tisch die Richtung an, „die Frau mit dem Rollkragenpullover.“

Jenny sah zwei Tische weiter und wusste, wen Sandra meinte. Die Beschriebene – oder eigentlich Be-deutete – trug Brille, schwarze Jeans und einen grauen Rollkragenpullover. Sandra liebte Rollkragenpullis. Sie bezeichnete sie gern als „die Reizwäsche der Intellektuellen.“

Die Intellektuelle rief nach dem Kellner, welcher sich tatsächlich auf den Weg machte.

„Gnädigste haben gewählt?“, fragte er.

„Ja, bitte bringen Sie mir eine Frittatensuppe und danach den gebackenen Camembert. Und ein paar Anmerkungen hätte ich noch“, sie schlug die Speisekarte auf und tippte zielsicher auf eine Stelle, „Camembert schreibt sich nicht mit n, sondern mit m’, bei Ihrem Boeuf Stroganoff fehlt ein f. Also entweder mit zwei f für die deutsche Version, oder aber mit v hinten für die französische.“

Sie blätterte um und sprach weiter. „Mozzarella hat zwei Z, nicht nur eines. Zwei Z, zwei L. Und Mayonnaise – na ja, da fange ich erst gar nicht an zu buchstabieren. Aber lassen Sie mir einfach die Speisekarte da, ich korrigiere sie Ihnen schnell durch. Also einmal die Frittatensuppe, die im Übrigen korrekt geschrieben ist, und danach den Camembert, bitte.“ Sie kramte in ihrer Handtasche und holte einen Stift und einen Zettel zum Vorschein. Der Kellner war so perplex, dass er einfach Richtung Küche ging. Die Frau machte sich an die Korrektur der Speisekarte.

Sandra starrte die Schreibende an. Jenny war nicht entgangen, dass ihre Freundin die Szene mit steigender Aufmerksamkeit beobachtet hatte.

„Los, geh hinüber, sprich sie an“, flüsterte sie ihr zu und stieß ihre Freundin mit dem Ellenbogen, um ihre Aussage zu untermauern.

„Meinst, ich sollte ...?“ Sandra klang unsicher.

„Wer, wenn nicht du? Und wen, wenn nicht sie?“ Jenny nickte aufmunternd in Richtung der noch immer schreibenden Frau.

„Du hast recht.“ Sandra erhob sich langsam und ging hinüber. Sie postierte sich vor dem Tisch der anderen, die aufhörte zu schreiben, den Kopf hob und die Frau vor ihrem Tisch ansah.

„Entschuldigung, aber wir haben was zugleich ... äh ... gemeinsam! Wir haben was ... etwas ... gemeinsam“, stotterte sie.

„So?“ Die Frau sah sie interessiert an.

„Ja.“ Sandra warf einen Blick auf die Speisekarte, die offen vor auf dem Tisch lag und tippte dann auf eine Stelle, sah der Frau in die Augen und sagte leise: „Es gehören zwei F in Malakoff.“

*

Einmal Zusammenreißen, bitte! (Sandra)

Unendlich strecken, ewig dehnen,

jede Faser nur noch Sehnen.

Zerreißt es dich?

Etwa noch nicht?

Luzifer, gib mehr Gewicht.

Sonja saß auf der Couch und spielte gedankenverloren mit dem Karamellpopcorn in der Schüssel neben sich. Sie liebte Karamellpopcorn, eigentlich. Nur heute wollte es ihr einfach nicht schmecken. Gar nichts wollte ihr schmecken. Auch nicht der gelbe Muskateller, 2012, ein ausgezeichneter Jahrgang, den sie für einen besonderen Anlass aufgehoben hatte. Genau genommen hatte sie ihn erst eine Woche später öffnen wollen, zu Liesis Geburtstag. Und ganz romantisch hatte sie geplant, einen Ring im Weinglas zu versenken.

Tja, das hatte sich wohl erübrigt. Aber so was von. Liesi war vor zwei Wochen nach Hause gekommen, um ihr zu eröffnen, dass sie gehen würde. Sie sei noch nicht soweit und wolle alleine sein. Mit sich. Sich selbst finden. Und schauen, was da käme. Nein, sie wolle keine Beziehung mehr mit ihr. Sonja war aus ihrer geborgenen, kuscheligen Burg Wolkenfels gefallen und mit Karacho mitten ins emotionale Death Valley gestürzt. Als sie eine Woche später ihre Sachen von Liesi geholt hatte, lag auf dem blitzsauberen Vorzimmertisch nur ihr Schlüssel. Ihre Sachen waren so fein säuberlich in Sackerln geräumt und so perfekt geschlichtet, dass es wie ein gelungenes Tetrisbild aussah. Garantierter Aufstieg in den nächsten Level. Sie hatten alles gemeinsam ins Auto hinuntergetragen und eingeräumt, während ein reißender Strom an Schmerz, Ohnmacht und Trauer die letzten Funken Hoffnung in Sonja erbarmungslos ertränkt hatte.

Die kommenden Tage hatte sie mühevoll von einem in den nächsten gelebt, sich mit Arbeit eingedeckt. Göttin sei Dank war im Mai viel zu tun im Cateringbereich, die Messen boomten um diese Zeit und die Dienste waren beliebt, weil das Ende der Arbeitszeit genau eingegrenzt werden konnte. Durch die vielen Eindrücke auf den verschiedenen Messen war sie abgelenkt, doch die Abende waren schwer. Und traurig. Ihre Freundinnen taten ihr Möglichstes, um sie aufzufangen und ihre Einzelteile wieder zusammenzusetzen. Ein Stück weit gelang ihnen das auch immer wieder.

An Abenden wie diesem jedoch kämpfte Sonja mit allem. Mit dem Alleinsein, den enormen Gefühlen in sich – und mit ihrem Leben. Sie begann zu weinen, zog die Nase hoch und überlegte. Eine Strategie musste her. Irgendwen anrufen. Das wäre doch eine Idee. Sie griff nach ihrem Smartphone, wischte durch die Kontakte. Liesi hatte es immer „total scharf“ gefunden, wenn sie mit ihren rotlackierten Nägeln das Display ihres Telefons gestreichelt hatte. Sonja schluchzte und vermisste den Arm der anderen um ihre Hüfte, ihre leise Stimme in ihrem Nacken, die „du bist so scharf“ flüsterte. Sie fuhr sich mit dem Ärmel ihres Shirts über die Augen und versuchte, sich auf die Liste ihrer Kontakte zu konzentrieren.

Beate? Nein, die hatte ja endlich wieder Besuch von ihrem Fernbeziehungsfreund, da wollte sie nicht stören.

Gabi? Hm. Die hatte sie erst gestern angerufen. Und den Tag davor.

Tante Gerda. Warum eigentlich nicht? Die Schwester ihres Vaters hatte ihr gesagt, sie könne sie immer und jederzeit anrufen. Sie beschloss, es zu versuchen.

„Hallo, Sonja“, meldete sich Tante Gerda, „wie geht’s dir denn?“

„Geht so“, und Sonja merkte, wie belegt ihre Stimme klang.

„Na geh, du darfst dich nicht so reinsteigern“, kommentierte Tante Gerda ihre Stimmlage, „was soll denn ich sagen, ich war 44 Jahre mit dem Hansi zusammen.“ Hansi, ihr Lebensgefährte, war im vorigen Jahr gestorben. Zugegeben, das war schlimm. Aber dieser Hinweis half Sonja gerade nicht im Geringsten.

„Tante, weißt du, es ist nicht so, dass ich dasitze und mir denke, oh, Schmerz und Trauer sind so etwas Feines, da steigere ich mich doch eine Runde hinein. Das kommt einfach, überrollt mich und quetscht mir die Luft aus der Lunge. Und das Blut aus dem Herzen“, wagte Sonja den Versuch einer Erklärung, „es tut so weh.“

Ihre Tante reagierte prompt. „Reiß dich zusammen, Mädchen, du musst ein bisschen Rücksicht nehmen auf deine Mama, die kränkt sich so, wenn’s dir so schlecht geht.“

Sonja wurde wütend. Und lauter. „Ich werde dir jetzt mal was sagen, Tante. Es geht hier weder um dich und dein Schicksal, so traurig das sein mag, noch um meine Mutter und deren Kummer. Es geht hier und jetzt ausschließlich um mich und wie ich mich fühle. Ich will keine Rücksicht mehr nehmen auf alle anderen.“

Ihre Tante schwieg, ob vor Entsetzen oder weil sie tatsächlich versuchte, Sonja geistig und emotional zu folgen, konnte ihre Nichte nicht sagen.

Es interessierte sie in dem Moment auch nicht.

„Tatsache ist, dass einige Menschen mit emotionalen Themen leichter fertig werden als andere. Und dass die einigen die anderen dann oft nicht verstehen, weil sie sich so hineinsteigern. Du sagst, ich solle mich zusammenreißen. Weißt du, wenn ich mit einem gebrochenen Bein durch die Gegend gehen würde, würdest du mich fragen, ob ich wo dagegen gelaufen bin – oder eigentlich wogegen ich genau gelaufen bin – und würdest mich sofort zum Arzt schicken. Wenn ich aber mit einer gebrochenen Seele durch die Gegend gehe, fragst du mich das nicht. Obwohl beides genau gleich schlimm ist.“

„Aber Mädchen“, warf Gerda nun doch ein, „das bringt ja nichts. Das musst du abschließen und nach vorn schauen.“

Sie hatte nichts verstanden. Sonja beschloss, es noch einmal zu versuchen. „Wenn ich die Möglichkeit hätte, mich auf Befehl zusammenzureißen, dann würde ich es tun. Zeig mir den Schalter, den ich umlegen muss, und ich würde ihn mit dem größten Vergnügen umlegen. Zeig mir den Bestellservice, der Zusammenreißen liefert, am besten direkt und frei Haus, und ich bestelle sofort. Einmal Zusammenreißen, mit alles und scharf, bitte. Das geht so nicht. Nicht bei mir. Hast du dir schon mal überlegt, was zusammenreißen überhaupt heißen soll? Reißen geht immer nach außen, du kannst nur auseinanderreißen. Etwas zusammenzureißen ist de facto unmöglich, also ist auch die Forderung, reiß dich zusammen, unmöglich umzusetzen. Der Schmerz ist da, da kann ich mich nicht wieder raussteigern, nicht zusammenreißen, weil er mich eben auseinanderreißt – durch ihn muss ich durch. Ja, ich bin tausendmal mehr als Schmerz. Aber jetzt gerade ist er da. Und will gespürt werden.“

Ihre Tante seufzte. „Was soll ich mit dir machen, Sonja?“

„Du musst mich nicht verstehen, Tante. Du musst nicht nachvollziehen oder nachempfinden können, wie es mir geht oder was in mir vorgeht. Aber wenn du mir helfen willst, frag mich doch einfach, was du für mich tun kannst. Frag mich, ob ich etwas brauche.“

Die Ältere schwieg. Schwieg relativ lange. Plötzlich fragte sie leise und unsicher: „Brauchst du etwas?“

Sonja bemerkte, wie ihre Augen feucht wurden. Sie bemerkte, wie die Wut nachließ und eine Stelle im Hals eng wurde. Sie schluckte und drehte die Augen nach oben, blinzelte, um nicht zu weinen. „Ich weiß nicht“, antwortete sie dann.

„Kann ich etwas für dich tun?“ Die Stimme ihrer Tante klang mitfühlend.

Sonja war berührt.

„Lass mich nachdenken. Magst du herkommen? Ich glaube, ich möchte gern einen Kuchen backen. Vielleicht ein veganes Bananenbrot, da habe ich ein gutes Rezept. Und wir könnten Kaffee trinken“, sagte sie dann.

„Natürlich“, ihre Tante klang erleichtert, „ich fahre gleich los, gib mir eine halbe Stunde. Kaffee und Kuchen klingt nach einer guten Idee. Ich bringe Tee auch mit. Und wenn du magst, erzählst du mir, wie das ist ... mit einer gebrochenen Seele.“

Sonja schluckte erneut, dann sagte sie leise: „Danke, Tante.“

*

Pokerface (Angie)