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ELEONORE BÜNING

Warum geht
der Dirigent so oft
zum Friseur?

Antworten auf die großen und
kleinen Fragen der Musik

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Die Texte im Buch sind erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

© Alle Rechte vorbehalten.

Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München – Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv: © Petr Vaclavek | Shutterstock

ISBN 978-3-7109-0099-0
eISBN 978-3-7109-5104-6

Inhalt

Vorwort

1Darf ich im Konzert einschlafen?

2Warum heißt die Ukulele Ukulele?

3Sollte man im Regen singen?

4Wie lang darf eine Fermate sein?

5Warum müssen sich Musiker verbeugen?

6Warum kiekst das Horn?

7Warum ist ausgerechnet die klassische Musik so klassisch geworden?

8Was ist ein Meisterwerk?

9Sind Wagners Meistersinger antisemitisch?

10Warum muss ein Wagner die Wagnerfestspiele leiten?

11Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur?

12Warum gibt es so wenige Dirigentinnen?

13War Richard Strauss ein Feminist?

14Wann ist es zu spät, mit dem Klavierspielen anzufangen?

15Was hat das hohe C, was das hohe D nicht hat?

16Warum zählt Luzifer immer nur bis dreizehn?

17Warum regen sich die Leute über neue Musik auf?

18Warum wollte der Schah an der Deutschen Oper Berlin die Zauberflöte hören?

19Wer braucht hundertfünfzig verschiedene Einspielungen der Goldberg-Variationen?

20Lieben Sie Brahms?

21Was machen Musiker eigentlich tagsüber?

22Sind Vögel musikalisch?

23Wozu braucht Schubert drei Nebensonnen?

24Wieso fangen zu Weihnachten alle plötzlich mit dem Singen an?

25Wie kommen die Glocken ins Klavier?

26Wem nützen und wer liest eigentlich noch Musikkritiken?

27Wie viel muss man überhaupt wissen über das, was man hört?

28Was ist so komisch an einem Scherzo?

29Was bedeutet das Hum-ta-ta bei Verdi?

30Warum machen die Leute so gerne Picknick bei klassischer Musik?

31Was ist und wie wird man eine Diva?

32Was finden Homosexuelle an der Oper so toll?

33Wozu gibt es Pausen in der Musik?

34War die Zwölftonmusik ein Holzweg?

35Gefährdet der Klimawandel die Vier Jahreszeiten?

36Warum war Händel für Beethoven der Größte?

37Warum schrieb Mozart so viele Werke in C-Dur?

38Wozu ist der Tusch gut und warum tuscht es immer drei Mal?

39Kann Musik krank machen?

40Warum lieben die Japaner Brahms, Bruckner und Beethoven?

41Kann man mit den Augen hören?

42Gibt es eine amerikanische Klassik?

43Wann darf man Klatschen und wann nicht?

44Was hat Musik mit Literatur zu tun?

45Warum essen die Hessen Handkäs mit Musik?

46Was ist und wie funktioniert ein Ohrwurm?

47Was unterscheidet die evangelische von der katholischen Kirchenmusik?

48Warum macht uns der Walzer melancholisch?

49Gibt es wirklich einen deutschen Klang?

50Macht die Pauke taub?

51Oper konzertant – wozu soll das gut sein?

52Warum singt das Kind im dunklen Wald?

53Warum tragen klassische Musiker einen Kummerbund?

54Warum machen Cellisten so seltsame Geräusche, vor allem die männlichen?

55Wie viele Opern schrieb Beethoven?

56Warum haben alle Neugeborenen Pianistenfinger?

57Gibt es dumme Musik?

58Dürfen Stardirigenten Privatjet fliegen?

Personenregister

Vorwort

In diesem Buch werden Fragen zur klassischen Musik beantwortet. Pausengesprächsfragen. Probenpausenfragen. So etwas. Manchmal kratzen sie ans Grundsätzliche, andere sind alltäglich, wiederum andere sehr speziell, einige vielleicht absurd. Die erste Frage, die sich ein Buch wie dieses gefallen lassen muss, lautet natürlich: Wen interessiert’s?

Das habe ich mich oft gefragt, fast jedes Mal, wenn ich aus Oper oder Konzert berichtet habe, in Rezensionen oder Reportagen. Nicht etwa aus Verzagtheit, weil der Kreis der Klassikinteressierten so gerne kleingeredet wird, sie als überaltert, elitär, verspießert und selbstgerecht hingestellt werden. Dieser „Silbersee“-Vorwurf ist eine Legende, die noch aus den Siebzigerjahren stammt. Statistisch betrachtet ist das Klassikpublikum sehr viel jünger als sein Ruf.

Etwas anderes ist es mit den neuen Wegen des Wissenstransfers im Zeitalter der Digitalisierung. Der Boom der Ratgeberkultur kommt mir geradezu unzeitgemäß vor. Können wir uns denn nicht alles, was wir wissen wollen, beispielsweise über vertikales Gärtnern oder über evangelische Kirchenmusik, jederzeit leicht selbst zusammengoogeln? Und warum googeln wir immer weiter, von Hölzchen auf Stöckchen, von der Ukulele über die Braut des Prinzen, bis wir bei den japanischen Katzenbabys landen? Ist das nur Ermüdung, Undiszipliniertheit? Quasi ein individueller Kollateralschaden bei noch unvollkommener Digitalisierungssozialisation, der sich in Zukunft vermeiden ließe? Oder hat es zu tun mit jenem alten, unstillbaren Wissensdurst, der den Menschen auszeichnet vor allen anderen Tieren? Dass wir uns, frei nach Sokrates, immer noch wünschen, mehr zu wissen, als wir wissen?

Im Zeitalter der Aufklärung gab es lediglich zwei Ratgeberbücher. Sie befassten sich mit Putzmitteln: Der Fleckenkünstler (1773) und Der vollkommene Fleckenkünstler (1797). Erst mit fortschreitender Arbeitsteilung blühte die Kunst der illustrierten Gebrauchsanweisung auf, und irgendwann schlug dann auch die Stunde der Ratgeber. Seither haben sich die Kummerkästen für praktische Lebenshilfe enorm variantenreich verbreitet. Eines der beliebtesten Formate stammt aus den Fünfzigerjahren, aus der Hörzu. Der Kasten hieß: „Fragen Sie Frau Irene“. Im wirklichen Leben hieß Frau Irene Walther von Hollander. So etwas wäre heute nicht mehr möglich. Die Glaubwürdigkeit des Influencers, legitimer Nachfolger der Fleckenkünstler von einst, gründet sich auf dem authentisch-inszenierten „Ich“, in absoluter Subjektivität.

In einer Zeitungskolumne ist die „Ich“-Form, anders als in Rezensionen und Reportagen, schon seit Längerem ausdrücklich erwünscht, denn journalistisch betrachtet ist der Kolumnist nichts weiter als „der Kapitän in der eignen Badewanne“ (wie die Journalistin Ulrike Meinhof es ausdrückte), mit festem Platz im Blatt und viel Narrenfreiheit. Eine Kolumne zu haben, in einer wichtigen Zeitung, ist ein großes Privileg. Ich habe eine, meine erste und einzige, seit dem Sommer 2015. Die Idee dazu hatte der Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Claudius Seidl, dem ich ewig dankbar dafür bin, was ich ihm seither ungefähr alle drei Wochen einmal sage. Es handelt sich um eine Ratgeber-Kolumne in der „Frau Irene“-Tradition, sie heißt: „Fragen Sie Eleonore Büning“. Der Name ist echt, an das „Ich“ hatte ich mich relativ schnell gewöhnt. Ansonsten aber hat diese Kolumne ein Eigenleben entwickelt, das, vom Kapitänsstandpunkt aus betrachtet, an Meuterei grenzt.

Die ersten drei oder vier Fragen kamen damals direkt aus der Redaktion. Danach hat sich ein Pool aus Leserfragen gebildet, gestellt und gemailt von allen möglichen Opern- und Konzertgängern, aber auch von Pianisten, Sängern, Freunden und Kollegen, in Pausengesprächen und Probenpausen. Dieser Pool wird nicht kleiner, egal, wie viele Fragen ich herausfische. Beunruhigend, aber schön. Es gibt Fragen, die, während ich versuche, sie zu beantworten, ganz von allein umkippen in eine ganz andere Frage. Auch hat der Fragenpool mich gelehrt, dass ich über Fragen, die mich nicht interessieren, überhaupt nicht schreiben kann. Das gibt Schiffbruch. Totale Blockade. Alles schon vorgekommen.

Und noch etwas: Weil die in diesem Buch abgedruckten Kolumnen zuerst in einer Zeitung standen, sind sie nicht zeitlos. Einige beziehen sich auf eine aktuelle Debatte, die sich inzwischen erledigt hat. Oder auch nicht. Das können Sie, wenn Sie wollen, jeweils am Datum ablesen. Es kommt außerdem vor, dass eine Frage wie die Fortsetzung einer Antwort auf eine andere Frage wirkt. Und es gibt, das habe ich erst beim letzten Redigat gemerkt, so etwas wie zufällige Leitmotive, die von einer Antwort in die andere mäandern, bei Fragen, die gar nichts miteinander zu tun haben. Sie können dieses Büchlein also von vorn nach hinten lesen oder von hinten nach vorn oder auch mittendrin anfangen. Das spielt keine Rolle. Sie können auch jederzeit wieder aufhören. Viel Spaß dabei.

1

Darf ich im Konzert einschlafen?

Selbstverständlich. Wo sonst? Mehr als die Hälfte der Menschen in der westlichen Welt leidet unter Schlafstörungen, Tendenz steigend. Eine Volkskrankheit. Wir leben, so nennt es der Schlafexperte Peter Spork, in einer »chronisch unausgeschlafenen Gesellschaft«, was extrem ungesund ist, für jeden Einzelnen, aber auch für Wirtschaft und Politik. Zurückzuführen ist dies auf die Erfindung der Elektrizität im neunzehnten Jahrhundert, was die Arbeitswelt veränderte, inzwischen aber auch die Tierwelt tangiert: Selbst die Amseln und Füchse in der Großstadt sind akut schlafgestört. Das nur nebenbei.

Die gleichfalls aus dem vorvorigen Jahrhundert überlieferte klassische Konzertform stellt eine archaisch-ritualisierte, vorindustrielle Situation her, wie geschaffen für die erste Einschlafphase: Eine Gruppe/Sippe trifft sich zu kontemplativem Nichtstun im Schutze einer abgedunkelten Höhle. Dabei wird, wohl nicht zufällig, episch-ausgedehnten Symphonien und lyrischen Sonaten, anders als rhythmusgeprägten Popmusiktiteln, eine beruhigende, wenn nicht sedierende Wirkung zugeschrieben. Also: Schlafen Sie! Der Musik macht das nichts aus. Die Musiker spielen eh weiter. Wenn Sie aufwachen, spielen sie, mit etwas Glück, wunderbarerweise immer noch. Allerdings sollten Sie nicht in den Tiefschlaf (»Delta-Phase«) und Ihrer Sitznachbarin auf den Schoß sinken. Auch Schnarchen, Schlafwandeln und dergleichen sind unerwünscht.

Das gilt gleichermaßen für den qualifizierten Theater- und Kinoschlaf. Aber es gilt nicht daheim für das Herdfeuer der Moderne, den Fernseher: Hier kann jeder nach Lust und Laune seine fünf Schlafphasen durchwandern, mit und ohne Nebengeräusch und auch mehrmals hintereinander, bis zum Morgengrauen. Noch gibt es gebührenpflichtige Schlafsender, die nicht von selbst abschalten, anders als beispielsweise, aus Kostengründen, Netflix und Co. Noch immer schauen viele beim individuellen Einschlafritual in ein Buch oder in die Zeitung von gestern. Und einige wenige beherrschen die Kulturtechnik des Konferenzschlafs.

Letzterer ist offenen Auges auszuführen, kurz vor Eintritt in die sogenannte »Alpha-Phase« der Schlafkurve, die auch zuständig ist für den Sekundenschlaf am Steuer. Das Erstaunlichste am Konferenzschlaf aber, der wiederum in aller Öffentlichkeit ausgeübt wird, ist, dass er in der Regel folgenlos bleibt.

Wieso fährt der Sekundenschläfer an die Leitplanke, aber der Konferenzschläfer wacht im richtigen Moment auf und sagt genau den Satz, auf den alle gewartet haben? Das Gehirn arbeitet weiter im Schlaf, so viel ist bekannt. Aber es arbeitet quasi auf eigene Rechnung. Wie überhaupt eine der interessantesten, noch ungelösten Fragen in der Schlafforschung lautet: Für wen schlafen wir eigentlich? Und wie viel kriegt der Schläfer noch mit von dem Schlafmittel, das ihn einschläferte? Im Falle des Konzertschläfers ist festzuhalten: Er kriegt viel mit. Manchmal mehr als die Wachenden. Denn das unbewusste Hören ist dem kognitiv gesteuerten, womöglich gar von einer Taschenpartitur auf den Knien unterstützten allemal hundertfach überlegen.

»Unbewusst« bedeutet freilich nicht »unwissend«. Es geht, ganz im Gegenteil, um einen Zustand oder vielmehr eine Haltung, einen momentweise offenen Durchgang: »Man gibt sich hin, man gibt sich auf, man lässt sich fallen« – so sagte es einmal der Filmkritiker Michael Althen, dem auch das schöne Zitat zugeschrieben wird: »Im Kino schlafen heißt dem Film vertrauen«. Andere Quellen nennen Jean-Luc Godard als Urheber dieses Satzes, der in Wahrheit aus einem Liebesfilm von Rudolf Thome aus den Achtzigerjahren stammt, in dem es noch Zigarettenautomaten gab und Hanns Zischler im Kino einschlief. Drei ungleiche Söhne hat Hypnos, der Gott des Schlafes, sie heißen Morpheus (Gestalt), Phobetor (Schrecken) und Phantasos (Einbildung). Er bringt sie alle drei mit, zum dritten Akt von Jean-Baptiste Lullys Oper Atys, damit sie gemeinsam in Terzen die allerherrlichste Einschlafmusik singen, die je komponiert worden ist. Der Fehler passiert dann erst später, beim Aufwachen.

27. Oktober 2019

2

Warum heißt die Ukulele Ukulele?

Zu dieser berechtigten Frage gibt es glücklicherweise gleich zwei Antworten, eine lexikalisch-mythologisch-wikipedische (siehe unten) und eine logisch-musikalisch-onomatopoetische. Sie haben die Wahl! Zunächst: Die Ukulele heißt, wie sie klingt. Nämlich ulkig. Der Klang einer Ukulele kann, je nach Größe, Holzsorte und Besaitung, mehr oder weniger niedlich oder nervtötend ausfallen, stupsnäsig oder ehrlich und flach, auf jeden Fall ist er immer liebens- und beschützenswert. Und auch ein bisschen straßenkötermäßig dreist, wie kleine Mädchen manchmal vorgeben, zu sein.

Wer könnte einer Ukulele etwas zuleide tun? Man muss sie einfach gernhaben! Hat nur vier Saiten, passt in jedes Handgepäck und beansprucht für C-Dur und für a-moll jeweils nur einen Finger, was jedes Sugarbaby im Handumdrehen erlernen und womit es sich dann bei einigen Herzensliedern schon ganz famos selbst begleiten kann; ja, wenn ihm jemand dann auch noch F-Dur (zwei Finger) oder sogar G-Dur und den Septakkord auf E (jeweils drei Finger) gezeigt hat, kann Sugar fortan jeden beliebigen Song der Weltliteratur performen, vom Brunnen vor dem Tore bis zur Bridge Over Troubled Water. Letztlich hat der Siegeszug der Ukulele dem alten hausmusikalischen Brauch des Selbersingens, der im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit schon fast verloren schien, wieder mächtig Auftrieb gegeben. Die Ukulele ist also ein Geschenk der Götter. Man sollte jedem Neugeborenen eine mit in die Wiege legen.

Auf Wikipedia indes wird verbreitet, dass die Ukulele auch ein Geburtsdatum besitzt, nämlich den 23. August 1879, jenen Tag, an dem die Ravenscrag in den Hafen von Honolulu segelte, mit vierhundertneunzehn portugiesischen Einwanderern an Bord, darunter etliche namentlich bekannte Musiker, Manuel Nunes, José do Espirito Santo, Augusto Dias und João Fernandes. Sie importierten allerhand europäische Zupfinstrumente, was die Bevölkerung von Hawaii so beeindruckte, dass sie sofort ein kleines hawaiisches Zupfinstrument (nach-) baute und es »Ukulele« taufte. Was wiederum, in der Landessprache, »hüpfender Floh« bedeutet.

Wieder andere Quellen berichten, dass »uku« auf Hawaiisch so viel wie »Geschenk« heißt und »lele« so viel wie »kommen«, aber auch, dass die namensgebende Patentante des Instruments die Ukulele spielende Schwester von König Lili’uokalani gewesen sei. Aus alledem kann man schlussfolgern, dass in den Ohren der Hawaiier das Wort »Ukulele« nicht halb so onomatopoetisch klingen könnte wie in den unsrigen, ja, vielleicht finden sie ihrerseits eher Klang und Name von »Harfe« oder »Hammerflügel« ulkig.

Die Harfe harft, die Orgel orgelt, die Bratsche bratscht, die Zither zithert und so weiter. Viele Musikinstrumente haben lautmalerische Namen. Nicht nur Ukulele, Didgeridoo, Kazoo oder Balalaika, auch Bongo, Gong, Kontrabass, Trommel oder Posaune. Beethoven fiel zum Klavier – alias Hammerflügel alias Fortepiano alias Pianoforte, einem Instrument, das sich seinerzeit so rasch und grundstürzend weiterentwickelte, dass man den Überblick verlieren konnte – eines Tages der schöne Name »Starkschwachtastenkasten« ein. Hätte auch von Oskar Pastior sein können. Oder von Kurt Schwitters. All das erklärt sich von selbst. Im Wunderreich der Lautpoesie gibt es aber auch Rätsel, die keine Erklärung haben. Wir hören den Namen, wissen auf Anhieb, wie das Ding klingt, aber nicht, was es ist. Zum Beispiel: der Bluntschli.

Der erste Bluntschli wurde vom Dichterkomponisten Georg Kreisler anno 1958 entdeckt. Er fand ihn in der Schachtel des Herrn Wachtel neben »a Birne und a Knopf«, außerdem lag da noch ein blauer Bleistiftspitzer. Wie Kreisler gleich erkennt, ist der Bluntschli, anders als die liebliche, stupsnäsige Ukulele, kein Götter-, vielmehr ein Danaergeschenk. Der Bluntschli ist »gefährlich, beschwerlich, entbehrlich«, er klingt gollumartig dunkel, glitschig, tückisch. Kann sein, der Bluntschli ist, wie Birne oder Knopf, jenseits des Klanglichen auch noch zu irgendetwas nützlich. Aber dann wird das wohl etwas Unheilvolles sein, vielleicht sogar, wie Jandls »schtzngrmm« und eingedenk O. W. Fischers etwas Weltkriegsartiges. Es ist also besser, nicht weiter nachzufragen. Was der Bluntschli ist, weiß bis heute kein Mensch. Gut so.

22. Oktober 2017

3

Sollte man im Regen singen?

Ja, unbedingt. Machen Sie das. Fangen Sie bei nächster Gelegenheit damit an. Jeder von uns kennt den guten alten Brauch des Singens in der Badewanne. Viele praktizieren ihn, andere singen wahlweise morgens unter der Dusche. Aber immer noch wagen es nur wenige Menschen, draußen im Regen zu singen, obwohl Singen nachweislich glücklich macht und das nasse Element stimulierend wirken kann auf die Stimmbänder, ganz unabhängig von der musikalischen Begabung dessen, der sich ihm aussetzt.

Begünstigt wird diese falsche Zurückhaltung offenbar auch durch eine gewisse Trägheit des Herzens der Filmschaffenden. Zum Thema Regen fällt ihnen nicht viel ein. Seit die Bilder laufen lernten, regnet es im Kino bei fast allen Beerdigungsszenen. Nasse Hosenbeine und schwarze Regenschirme sind die wohlfeilste, dümmste, aber leider auch häufigste Requisite für Tränen und Trauer, und es spricht Bände, dass Gene Kelly, als er 1953 gegen diesen, pardon, Strom schwamm, noch nicht einmal nominiert wurde für einen Oscar. Dabei steht Singin’ in the Rain bis heute ganz oben auf der Liste der besten Filmsongs aller Zeiten.

Jede Menge Regenschirme, aber nicht den Schatten einer Beerdigung zeigte Joris Ivens in seinem epochemachenden Dokumentarfilm Regen, den er 1928 in Amsterdam drehte. Das Klischee ist außer Kraft. Ein Stummfilm. Niemand singt. Menschen kommen nur stark angeschnitten und am Rande vor, man sieht sie aus der Vogelperspektive oder aber nur Beine und Füße, keine Gesichter, weder lachende noch weinende.

Trotzdem hat ein so scharfsinniger Komponist wie Hanns Eisler, der die Dummheit in der Musik aufspießte, wo immer er sie antraf, Jahre später, als er, ausgestattet mit einem Stipendium der Rockefeller-Stiftung, nachträglich eine Filmmusik zu diesem Ivens-Film schrieb, die alte Chiffre der Trauer wieder aufgegriffen. Die meisten seiner Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben für Streichtrio, Flöte, Klarinette und Klavier wirken zwar eher burlesk als triste. Natürlich tropft was ab und zu, es spritzt und plätschert, in traditioneller Tonmalerei. Eisler selbst aber erklärte, das Stück sei »gleichbedeutend mit vierzehn Arten, mit Anstand traurig zu sein«. Während er im November 1941 im Exil in Hollywood daran komponierte, marschierten gerade deutsche Truppen in die Sowjetunion ein. So steht also am Anfang der zwölftönigen Komposition programmatisch ein Anagramm, als eindeutiges und starkes Signal: eine achttaktig auskomponierte Lamentofigur, unter Verwendung der Tonbuchstaben A, Es, C, H – der Initialen Arnold Schönbergs, dem das Stück übrigens gewidmet ist.

Wassermusiken, lustige und traurige, politische und sentimentale, gibt es, seit es Musik gibt. Ungezählt die musikalischen Niederschlagsmengen von Händel über Beethoven und Chopin bis Eric Clapton. Jeder Tropfen macht Musik, viele Tropfen machen manchmal auch einfach nur Krach, und je nachdem wie viel Wasser herunterkommt, kann das teuer werden.

Etwa fünfzigtausend Euro gingen den Bach hinunter bei den diesjährigen Opernfestspielen in Heidenheim, als Nabucco ersatzlos ausfiel wegen eines plötzlichen Sommergewitters. Kurz zuvor gab es in Tanglewood, Massachusetts, mitten im ersten Akt der Bohème einen so phantastischen Wolkenbruch, dass eine Viertelstunde lang gar nichts mehr zu hören war vom Liebesjubel der kleinen Mimì. Immerhin, wir drinnen in dem offenen Landschaftskonzertsaal »The Shed« hatten, wie auch die Musiker, ein Dach überm Kopf und viel Spaß. Evakuiert wurden nur die feinen Leute mit den Picknickkörben auf den Wiesen drumherum. Anders bei den Bregenzer Festspielen: Hier spielt das Orchester sowieso sicherheitshalber im Saal. Der Sound wird übertragen. Aber draußen auf der Tribüne, bei der Carmen-Premiere voriges Jahr, sind alle hundsjammervoll nass geworden, eimerweise schüttete es von oben, hoch türmten sich die Wellen, grell zuckten die Blitze im Sekundenabstand, um die triefenden Sängerinnen und Sänger herum, die auf der Seebühne eisern weitersangen.

Abbruch? Unmöglich! Man ist hier erst ab der dritten Vorstellung gegen das Wetter versichert, hieß es. Die Policen für Premieren sollen einfach unbezahlbar sein. Es war aber eine Riesengaudi, ehrlich. Unvergesslich, diese Carmen. Lange hat die Habanera noch in uns nachgedieselt, als wir alle längst wieder trocken waren. Singen im Regen macht einfach glücklich. Man muss nicht einmal selber singen.

22. Juli 2018

4

Wie lang darf eine Fermate sein?

Solange der Atem reicht. Hoffentlich noch die halbe Ewigkeit. Kann aber auch mit einem Wimpernschlag vorbei sein. Früher gab es verbindliche Regeln. Unsereins hat im Musikunterricht noch Merksprüche auswendig lernen müssen wie: »Der Punkt verlängert die Note um die Hälfte ihres Wertes« oder: »Die Fermate verdoppelt den Notenwert«. Heutzutage, lieber Leser, ist Ihre Frage schon fast philosophischer Natur, jeder Musiker, jede Musikerin darf sie sich selbst beantworten, von Fall zu Fall.

Für alle Nichtmusikerinnen und Nichtmusiker: Eine Fermate ist eine Art Haltestelle (von italienisch »fermare« für »anhalten«). In älteren musiktheoretischen Schriften wird sie auch Corona (»Kranz««, »Krone«) oder point d’orgue (»Orgelpunkt«) genannt. Das Zeichen dafür sieht aus wie ein umgedrehter Smiley mit nur einem Auge. Es kann über einer Note, einer Pause, über einem Taktstrich oder einfach nur am Anfang oder Ende einer Musik stehen, also praktisch überall. Wer dieses Signal erreicht hat, der muss aussteigen und pausieren. Manchmal erwischt es alle, dann handelt es sich um eine Generalpause. Steht der einäugige Smiley in einem Solistenkonzert über einem Quartsextakkord, steigt nur das Orchester aus und der Solist fährt allein weiter. Man nennt dies auch »Kadenz« (zu Deutsch Fall, fallend). Anders als in einem Gedicht gibt es in einem Konzert aber keine weiblichen oder männlichen Kadenzen. Stattdessen: Dominantseptakkorde. Findet der Solist nach einem Weilchen zu einem solchen, darf das Orchester wieder mit einsteigen. Wie lange dauert das Weilchen? Tja. Genau das ist die Frage.

Kochs Musikalisches Lexicon von 1807 unterscheidet noch ein Dutzend Möglichkeiten, wo und wie Fermaten angewendet werden sollten. Aber bereits 1832 möchte sich Johann H. Göroldt in seinem Handbuch der Musik, des Generalbasses und der Composition zum Selbstunterricht, Kapitel 16, § 6, nicht mehr festlegen. Er schreibt: »Wie lang man eine Fermate machen soll, lässt sich nicht genau bestimmen, dieß hängt von der Beschaffenheit und dem Charakter des Stücks, so wie auch von dem Gefühle des Componisten ab, und von dem Geschmacke des Spielers.« Auch Dommers Musikalisches Lexicon von 1865 beruft sich beim Stichwort »Fermate« auf Gefühl und Wellenschlag: »Verschiedene Ursachen können den Tonsetzer zu solcher Unterbrechung des Flusses der Taktbewegung veranlassen. Der Ausdruck der Verwunderung, des Erstaunens, eine plötzliche Hemmung des Gefühlsstromes, überhaupt Empfindungen, deren Bewegung selbst einen kurzen Stillstand zu machen scheint oder die gleichsam durch völlige Ergießung momentan sich erschöpft haben …«