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Jakob Pietschnig

INTELLIGENZ

Wie klug sind wir wirklich?

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Ivar Text

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz und Gestaltung: wir sind artisten

ISBN 978-3-7110-0260-0

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INHALT

WO INTELLIGENZ PASSIERT

Eine kurze Hirngeschichte

Monsieur Tan und die Entdeckung des Sprachzentrums

»No longer Gage« – Das Gehirn als Sitz der Persönlichkeit?

Hirnkarte und Homunkulus

Auf die Größe kommt es nicht an – Weshalb wir gescheiter sind als Blauwale

Männerhirne sind größer – Frauen also weniger intelligent?

Zur Untersuchung von Geschlecht und Fähigkeiten

Kleinwagen versus Sportwagen – oder: Auf die Effizienz kommt es an

WAS INTELLIGENZ WIRKLICH IST

Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen

Teilleistungsschwäche, Teilleistungsstärke und die positive Kupplung

Die Zwei-Komponenten-Theorie

Die Theorie der multiplen Intelligenzen

Die CHC-Theorie

Was Intelligenz nicht ist

EQ. Die Emotionale Intelligenz

WIE MAN INTELLIGENZ MISST

Eine kleine Geschichte der Intelligenztests

Intelligenztest versus Schwachsinnsdiagnose – der Binet-Simon-Test

Die Entwicklung des Intelligenzquotienten

Der Army-Alpha- und der Army-Beta-Test oder weshalb uns bei Intelligenztests oft spontan Geografiefragen einfallen …

Allgemeine und spezielle Fähigkeitstests

ZWISCHEN GENIE UND WAHNSINN

Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein dafür viel mehr

Hochbegabung – Genie und Wahnsinn?

Die Terman-Studie

Das Drei-Komponenten-Modell: kognitive Leistungsfähigkeit, Leistungsmotivation und Kreativität

Die IQ-Klubs

Mein Kind ist hochbegabt – was jetzt?

IST INTELLIGENZ ERBLICH?

»Vom Vater hab ich die Statur, vom Mütterchen die Frohnatur …« (J. W. von Goethe)

Gregor Johann Mendel, Charles Darwin und das Prinzip der Vererbung

Francis Galton und die Vererbung der psychischen Merkmale

Anlage und Umwelt

Das Wissen um die Gene und das ethische Dilemma

DER FLYNN-EFFEKT – WIRD DIE MENSCHHEIT SCHLAUER?

Weshalb unsere Urgroßeltern vielleicht doch nicht dümmer waren als wir

Biologische Einflüsse

Mobilität und Heterogenität als Benefit?

Umwelteinflüsse

Wie sich Schule, Familiengröße und moderne Technologien auf unsere Intelligenz auswirken

Hybride Ursachen: die Kombination von Einflüssen der Biologie und der Umwelt

DER ANTI-FLYNN-EFFEKT – ODER WARUM MAN NICHT BEI JEDER SCHLECHTEN NACHRICHT IN PANIK VERFALLEN SOLL

Sättigung und Diminishing Returns

Vom Generalisten- zum Spezialistentum

Kann und soll man dem Anti-Flynn-Effekt entgegenwirken?

Was bedeutet der Flynn-Effekt im Alltag?

MYTHEN ÜBER INTELLIGENZ

Der Mozart-Effekt

Der Zehn-Prozent-Mythos

WAS WIR FÜR UNSERE INTELLIGENZ TUN KÖNNEN UND WAS WIR VERMEIDEN SOLLEN

Intelligenzfördernde Umwelteinflüsse

Die physische Umwelt

Soziale Faktoren

Bildung und Training

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VORWORT

»Ein hoher IQ gilt heute als Statussymbol«. Neulich habe ich diesen Satz in einer Fernsehsendung aufgeschnappt. Seitdem frage ich mich: Stimmt das? Oder dient das nur als Anreißer in der Infotainment-Welt?

Wahrscheinlich ist es eine Tatsache, dass wir uns von Natur aus gerne miteinander messen. Warum sollte das ausgerechnet bei der Intelligenz anders sein? Auch hier hat uns das Fernsehen einiges zu bieten. Und damit meine ich nicht nur die Dauerbrenner-Quizsendungen, die das Faktenwissen von Kandidatinnen und Kandidaten fordern. Mittlerweile werden in Formaten wie »Bin ich schlauer als …?« kognitive Fähigkeiten mittels mehr oder weniger seriösen Aufgabenstellungen direkt verglichen. Mehr noch – sie bieten sogar den Zuschauern die Möglichkeit, zu Hause live mitzumachen und sich über ein besseres Abschneiden als die Kandidaten im Fernsehen zu freuen oder über ein schlechteres zu ärgern.

Es fehlt aber auch nicht an kritischen Stimmen, wenn es um die Bedeutung und Erfassbarkeit der menschlichen Intelligenz geht. Tatsächlich wird von manchen das Konzept Intelligenz grundsätzlich abgelehnt.

Derlei Haltungen werden zumeist damit begründet, dass die Beurteilung einer Person aufgrund ihrer kognitiven Fähigkeiten ihrer Gesamtheit nicht gerecht würde, oder dass es andere Fähigkeiten gäbe, die doch viel wichtiger wären. Bei letzterem Argument werden dann oft Begriffe wie soziale Kompetenz oder emotionale Intelligenz als wesentlich wichtigere Eigenschaften angeführt.

Eindeutigkeit findet man bei diesem Thema selten. Oft hat ein und derselbe Mensch positive und negative Ansichten. Wer Intelligenz negativ bewertet, sollte sich ja eigentlich nicht über Aussagen über seine eigene Intelligenz beeindrucken lassen. Allerdings: Nennt man dieselbe Person doof, geht man lieber rechtzeitig in Deckung. Aber auch jemand, der Intelligenz grundsätzlich positiv bewertet, wird bei schlechtem Testergebnis urplötzlich andere Eigenschaften und Fähigkeiten wesentlich lieber gewinnen (»Soziale Kompetenz ist ja eh viel wichtiger«).

Diese Zweischneidigkeit rührt vermutlich von dem Umstand her, dass wir mit einer Zahl, also in unserem Fall mit dem Intelligenzquotienten, ein Werturteil verbinden. Und in manchen Fällen gefällt es uns, in anderen gar nicht. Menschen werden nun einmal nicht gerne (schlecht) bewertet. Und ganz besonders nicht, wenn es mit so etwas Ominösem wie einem IQ-Test geschieht. Denn was in so einem IQ-Test steckt, ist den Testkandidaten im Vorhinein klarerweise unbekannt. Sonst hätte der Test ja keinen Sinn. Und im Nachhinein fragen sie sich oft, warum gerade diese ihnen zur Bearbeitung vorgelegten Aufgaben Aufschluss über ihre Intelligenz geben sollten.

Sachlich betrachtet lässt sich gleich vorweg festhalten, dass IQ-Testleistungen schlecht für Wettbewerbe taugen, insbesondere weil sich die kognitiven Fähigkeiten über den Großteil des Lebens schlecht trainieren lassen; wo bleibt das Vergnügen am Wettkampf, wenn immer die gleichen gewinnen? Und schon gar nicht sollen IQ-Testleistungen als ein Urteil über den Wert einer Person angesehen werden. Testprinzipien und -ergebnisse von psychometrischen Intelligenztests, die auf der Höhe der Wissenschaft und mit äußerster Sorgfalt angewendet werden, sind jedoch äußerst nützlich und aus der heutigen Welt nicht mehr wegzudenken.

Als Wissenschaftler liegt mir mein eigenes Forschungsgebiet natürlich besonders am Herzen, und dieses will ich in den nächsten Kapiteln darstellen und vermitteln.

Als Intelligenzforscher möchte ich meine Begeisterung für das Thema teilen. Was Intelligenz ist, wie man sie erfassen kann und warum das so spannend ist, erzähle ich in diesem Buch und hoffe, dass die Begeisterung für das Thema ansteckend ist.

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WO INTELLIGENZ PASSIERT

Sie lesen also ein Buch über Intelligenz. Prinzipiell finde ich das natürlich großartig, denn sie spielt in allen Situationen des Lebens eine wesentliche Rolle, wie im Verlaufe dieses Buches erläutert wird. Bevor man allerdings über Intelligenz schreibt oder spricht, gilt es zunächst einzuordnen, wo Intelligenz passiert und welche biologische Basis sie hat.

Zunächst bleibt festzuhalten, dass Intelligenz ein Prozess ist, der grundsätzlich im Gehirn stattfindet. Das erscheint uns heutzutage selbstverständlich, und keine seriöse wissenschaftliche Quelle würde diese Annahme in Abrede stellen. Historisch gesehen ist dieser Konsens allerdings nicht so alt, wie wir das möglicherweise vermuten würden.

Eine kurze Hirngeschichte

Schon die alten Ägypter wussten um die 3000 Jahre vor Christus, dass Kopfverletzungen mit Sprachverlust einhergehen können. Insbesondere durch die oft vorkommenden Kriegsverletzungen infolge der zahlreichen bewaffneten Konflikte dieser Zeit, bekam man deutliche Hinweise darauf, dass Schädeltraumata die kognitiven Fähigkeiten von Menschen beeinflussen können. Trotzdem wurde in dieser Zeit das Gehirn als Sitz der geistigen Fähigkeiten noch nicht erkannt.

Die alten Ägypter sahen das Herz als den Sitz der Seele und damit auch als den Ort des Bewusstseins und Denkens an. Deswegen durfte bei der Mumifizierung im antiken Ägypten auch lediglich das Herz im Körper bleiben, während alle anderen Organe entfernt und getrennt beigesetzt wurden. Sie können sich vielleicht noch aus dem Schulunterricht an das wenig glamouröse Schicksal des Gehirns erinnern, das mittels eines dafür eigens hergestellten Hakens während des Einbalsamierens durch die Nase des Leichnams verquirlt wurde und anschließend dortselbst herausfloss.

Einerseits wurde die Rolle des Gehirns von den Ägyptern als Füllmaterial für den Kopf, das möglicherweise dazu geeignet war, etwaige Schläge als Kissen abzufedern, gesehen. Andererseits wurde vermutet, dass dort die Erzeugung von Nasenschleim stattfand. Wenn Sie sich die Konsistenz, Struktur und Farbe des menschlichen Gehirns sowie die räumliche Nähe zur Nase vor Augen halten, dann erscheint diese Vorstellung tatsächlich naheliegend. Wäre den alten Ägyptern die Bedeutung dieses Organs bekannt gewesen, wer weiß, ob es bei der Bestattung nicht doch eine respektvollere Behandlung erfahren hätte?

Im antiken Griechenland vermutete bereits um 400 vor Christus Hippokrates von Kos (460–370 v. Chr.), dass das Gehirn der Sitz der Intelligenz und Empfindungen ist. Dieser Prototyp des modernen Mediziners – immerhin sind auch Ärzte heutzutage an die ethischen Grundsätze des hippokratischen Eids gebunden – erkannte auch, dass das Krankheitsbild Epilepsie auf Prozesse im Gehirn zurückzuführen ist. Das war eine bedeutende Erkenntnis, denn die Priester dieser – aber auch späterer – Zeit schrieben dieses Leiden übernatürlichen Ursachen zu.

Während also Hippokrates bereits organische Ursachen annahm, wurde über weite Teile der folgenden beiden Jahrtausende die Ursache der Epilepsie in dämonischen Flüchen, Hexenzaubern oder göttlichen Prüfungen gesehen. Hippokrates sollte recht behalten, da, wie wir heute wissen, epileptische Anfälle auf eine akute elektrische Entladung der Nervenzellen in unserem Gehirn zurückgehen. Epileptische Anfälle entsprechen also einer Überaktivierung unseres Gehirns.

Aristoteles (384–322 v. Chr.), dem als Nachgeborenen die Erkenntnisse von Hippokrates schon bekannt hätten sein können, hat immerhin gewusst, dass die Hirnoberfläche schmerzunempfindlich ist. Daraus hat er abgeleitet, dass das Bewusstsein, Denken und die mentalen Fähigkeiten wohl kaum etwas mit dem Gehirn zu tun haben konnten. Er setzte wiederum auf das Herz als das Zentralorgan des psychisch-physischen Lebens und als Sitz der Empfindungen. Bezüglich des Gehirns hegte er die Vermutung, dass es sich um eine Art Kühlgerät für das Blut handelt.

So lösten in den vergangenen circa 2000 Jahren weniger richtige und richtigere Meinungen über das Zentralnervensystem einander ab. Man muss dabei allerdings festhalten, dass sozial, religiös oder hygienisch bedingte Obduktionsverbote über einen Gutteil der ersten beiden Jahrtausende nach Christus der medizinischen Wissenschaft im Weg standen. Es verwundert deswegen nicht, dass Erkenntnisse über den menschlichen Körper im Allgemeinen und das Zentralnervensystem im Besonderen während dieser Zeit nur verhältnismäßig langsam gewonnen wurden.

Wichtige Meilensteine auf dem Weg zu einem wissenschaftlichen Konsensus über die Bedeutung des Gehirns finden sich beispielsweise in den Arbeiten des englischen Anatomen William Harvey, der als erster den Blutkreislauf dokumentierte. Vor dieser Erkenntnis herrschte der Glaube, dass das Blut vom Körper ständig verbraucht wird und daher kontinuierlich neues Blut produziert werden muss. Nun ließ sich feststellen, dass ein und dasselbe Blut ständig durch den Körper zirkuliert und von dem Herzen als Pumpe in Bewegung gehalten wird. Diese neue Vorstellung vom Körper hatte Auswirkungen darauf, wie man sich die Funktionsweise des Gehirns zusammenreimte.

Insbesondere der französische Philosoph und Naturwissenschaftler René Descartes (1596–1650) war von dieser Erkenntnis beeindruckt und stellte sich das Gehirn als ein Geschwisterorgan des Herzens vor: Genauso wie das Herz Blut durch die Adern pumpt, könnte doch das Hirn eine andere Flüssigkeit durch die Nerven pumpen. Er sah also das Nervensystem als einen hydraulischen Kreislauf an, in dem das Gehirn Flüssigkeit durch die Nervenbahnen bewegt, sobald wir auf unsere Umwelt reagieren wollen. Obwohl er mit dem Prinzip der Hydraulik also danebenlag, ähnelte seine Vorstellung in gewisser Weise schon dem heute wissenschaftlich etablierten Prinzip der Reizleitung des Nervensystems.

Monsieur Tan und die Entdeckung des Sprachzentrums

Den entscheidenden Durchbruch, was die Erkenntnisse zur Funktion des Gehirns anging, erbrachte schließlich die Entwicklung der ersten Lichtmikroskope gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Nun konnten nicht nur Nervenbahnen, sondern auch Hirnzellen genau beschrieben werden. Zudem zeigte sich, dass diese Zellen imstande waren, Informationen durch elektrische Impulse durch den Körper zu leiten.

Ein Jahrhundert später vermuteten einige Wissenschaftler und Anatomen bereits die sogenannte funktionelle Lokalisation von Hirnarealen. Das heißt, sie nahmen an, dass diverse Bereiche des Organs Hirn auch unterschiedliche Aufgaben erfüllten.

Den ersten wissenschaftlichen Nachweis dafür lieferte der Chirurg und Anatom Paul Broca (1824–1880) durch die Entdeckung des motorischen Sprachzentrums. Den konkreten Anlass dazu gab einer seiner Patienten namens Leborgne, der unter dem Namen Monsieur Tan in Fachkreisen traurige Berühmtheit erlangen sollte. Der 51-jährige Mann litt unter den Spätfolgen einer Syphiliserkrankung und hatte seine Sprache fast gänzlich verloren. Lediglich die Silbe tan, die ihm später auch den Namen einbrachte, gab er von sich. Dennoch war er in der Lage, Sprachanweisungen Folge zu leisten. Sein Sprachverständnis war also offenbar von der Krankheit nicht gemindert. In der Medizin wird eine solche Symptomatik heute übrigens als Broca-Aphasie (Aphasie für Sprachlosigkeit) bezeichnet. Sie gibt den Hinweis auf eine massive Schädigung des Gehirns. 21 Jahre verbrachte Monsieur Tan in verschiedenen Krankenhäusern, aber Broca lernte ihn erst sechs Tage vor seinem Lebensende kennen. Trotzdem sollte er der wahrscheinlich wichtigste Patient Brocas bleiben. Broca, der schon länger Forschungen über die Lokalisation des Sprachzentrums im Gehirn nachging, fand bei der Autopsie des Patienten heraus, dass dessen vordere Hirnlappen geschädigt waren. Das geschädigte Hirnareal war deutlich eingegrenzt. Daher lag die Vermutung nahe, dass dort das Zentrum für die Sprachproduktion, das sogenannte motorische Sprachzentrum, das heute den Namen Broca-Areal trägt und als solches in jedem neuroanatomischen Lehrbuch zu finden ist, lokalisiert sein müsse.

Etwa zehn Jahre später beschrieb der deutsche Neurologe Carl Wernicke (1848–1905) dasjenige Gehirnareal, das für das Sprachverständnis zuständig ist. Außer Zweifel stand für den Wissenschaftler, dass eine Schädigung des Broca-Areals tatsächlich die Ursache der »Sprachlosigkeit« war. Dieses Faktum erklärte jedoch nicht, weshalb bei anderen Patienten, bei denen dieses Areal intakt war, ebenfalls eine – wenn auch andersgeartete – Sprachstörung vorlag: Sie konnten zwar sprechen, allerdings ergab das von ihnen Gesprochene keinen Sinn. Neologismen, also Neubildungen von Wörtern, und Wortverwechslungen waren bei ihnen gang und gäbe. Daraus zog Wernicke den Schluss, dass die Sprache in zumindest zwei Zentren verarbeitet werden müsse, wovon eines als motorisches Sprachzentrum – das Broca-Areal – ganz offenbar für die Sprachproduktion zuständig war, während das andere als sensorisches Zentrum das Sprachverständnis garantierte. Wenig überraschend wird Letzteres heute als das Wernicke-Areal bezeichnet. Ist die Leitung zwischen dem motorischen und dem sensorischen Sprachzentrum unterbrochen, kann der Betroffene weder sinnvoll sprechen, noch Gesprochenes verstehen.

»No longer Gage« – Das Gehirn als Sitz der Persönlichkeit?

Als der 25-jährige Phineas P. Gage am 13. September 1848 bei einer Explosion eine knapp einen Meter lange und drei Zentimeter breite Eisenstange in den Kopf bekam, konnte er nicht ahnen, dass dieses Ereignis in manchen Kreisen geradezu als Glücksfall gewertet werden würde, und das kam so: Gage hatte als Vorarbeiter einer Truppe Eisenbahnbauer in Vermont Schwarzpulver mit einer – jener besagten – Eisenstange in den Fels gestopft, um Letzteren zu sprengen, dabei aber den isolierenden Sand vergessen. Von seinen Arbeitern abgelenkt, bewegte er den Kopf vor das Bohrloch, als die Ladung plötzlich explodierte. Die Eisenstange schoss daraufhin durch seinen Kopf, das heißt, sie drang unterhalb des linken Wangenknochens hinter dem linken Auge in den Schädel ein, zerstörte den linken Präfrontallappen des Gehirns und durchstieß dann die Schädeldecke. Gage überlebte den schweren Unfall, und zwar bei vollem Bewusstsein. Er soll den genauen Vorgang sogar in sein Arbeitsprotokoll eingetragen haben, als er abtransportiert wurde. Er war zwar blind auf dem linken Auge, seine kognitiven Fähigkeiten waren jedoch kaum beeinträchtigt, und dies, obwohl die Eisenstange, nachdem sie seinen Kopf verlassen hatte, »mit Hirnmasse verschmiert« (»smeared with brain«) gewesen sein soll.

In anderer Hinsicht war Phineas Gage nach dem Unfall jedoch nicht mehr der Alte. Er war gewissermaßen vom Saubermann zum Draufgänger mutiert. Sein behandelnder Arzt, Dr. John Martyn Harlow, beschrieb den als zuvorkommend, ausgeglichen und höflich bekannten Gage jetzt als unbeständig, sprunghaft, respektlos und ausschweifend. Zudem litt Gage unter starken Stimmungsschwankungen und war kaum noch in der Lage dazu, Pläne für die Zukunft zu machen. Er hatte sich vom besten Vorarbeiter in eine geradezu unmögliche Person verwandelt.

Später soll er dann sogar zum Trinker und Herumtreiber geworden sein, ohne Ziel und mit oft wechselnden Anstellungen. Er war mit einem Wort »no longer Gage« (»nicht mehr der alte Gage«), wie seine Freunde und Verwandten sagten, so radikal war die charakterliche Veränderung, die sie an ihm wahrnahmen.

Wie das? Dass das Trauma die Ursache für die gravierende Persönlichkeitsveränderung war, lag auf der Hand. Offenbar – und das bestätigte sich im Laufe der nächsten Jahre auch – waren die Fähigkeit des vorausschauenden Handelns und die der Regulation der Gefühle im Frontalhirn angesiedelt. Eine Schädigung desselben führte dabei zu gravierenden Einschränkungen. Gage litt, wie wir heute wissen, an einem für eine Schädigung des Frontalhirns typischen Symptomenkomplex.

Der Schädel von Phineas Gage mit dem Loch drinnen und die Eisenstange, die Letzteres verursacht hat, sind auch heute noch im Warren Anatomical Museum der Harvard Medical School in Boston zu besichtigen. Der Arbeitsunfall schrieb also Geschichte und gab der Forschung einen entscheidenden Impuls. Dennoch: armer Phineas Gage!

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PHINEAS GAGE HAT SICH MIT DER NÄMLICHEN EISENSTANGE IM SONNTAGSANZUG PORTRÄTIEREN LASSEN. EIN- UND AUSTRITTSSTELLEN DERSELBEN LASSEN SICH JEWEILS UNTERHALB DES WANGENKNOCHENS UND ÜBER DEM PRÄFRONTALLAPPEN DES HIRNS FINDEN.

Hirnkarte und Homunkulus

Jahrhunderte hatte es gebraucht, bis das Gehirn dem Herzen seinen Rang als Organ des Geistes und als Sitz der Intelligenz ablaufen konnte. Wie es nun aussah, war es auch das Zentrum der Emotionen und als solches maßgeblich verantwortlich für die Persönlichkeitsstruktur.

Nach und nach hatte man herausgefunden – oft durch zufällige Befunde oder durch Unfälle wie im Fall von Phineas Gage –, dass bestimmte Hirnareale jeweils für unterschiedliche Aufgaben zuständig waren. Aufbauend auf den bisherigen Forschungsergebnissen, konnte so der deutsche Neuroanatom Korbinian Brodmann (1868–1918) seine Topografie des Gehirns erstellen.

Seine Hirnkarte wird auch heute noch zur groben Unterscheidung verschiedener Funktionsareale des menschlichen Gehirns, den sogenannten Brodmann-Arealen, herangezogen. Sie basiert dabei hauptsächlich auf der Analyse des Zellgewebes in der Großhirnrinde und trägt daher auch den Namen zytoarchitektonische Hirnkarte (zyto- steht für Zelle). Beispielsweise befinden sich das Broca-Areal in den Brodmann-Arealen 44 und 45 sowie das Wernicke-Areal in Brodmann-Areal 22.

Dem kanadischen Neurochirurgen Wilder Penfield (1891–1976) gelang es schließlich, sowohl für das motorische als auch das sensorische Feld der Großhirnrinde ein Körperschema zu konstruieren, das die einzelnen Körperteile in ihrer Zuordnung zu bestimmten Großhirnrindenfeldern zeigt. Das heißt, er versuchte zu zeigen, dass es für sämtliche sensiblen und motorischen Bahnen eine Punkt-zu-Punkt-Zuordnung zwischen dem Gehirn und der Körperperipherie gab. So kann das Gehirn etwa aus einer aktivierten Zellgruppe in der Großhirnrinde schlussfolgern, in welchem Körperabschnitt Schmerz auftritt (z. B. wenn mir ein Stein im rechten Schuh Schmerzen verursacht, dann sind dafür andere Hirnzellen zuständig, als wenn es der Stein im linken Schuh wäre). Das Ergebnis von Penfields Forschung ist der sogenannte Homunkulus, der innerhalb der Neurowissenschaften eine schematische Abbildung der funktionellen Zuordnung von Gehirnarealen zum Rest des menschlichen Körpers repräsentiert.

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DIE VERSCHIEDEN EINGEFÄRBTEN BEREICHE DER BRODMANN-HIRNKARTE BEDEUTEN EINE EINTEILUNG DER GROSSHIRNRINDE IN UNTERSCHIEDLICHE ARTEN VON ZELLGEWEBE.

Obwohl dies selbstverständlich nur eine sehr ungenaue und unvollständige Darstellung der tatsächlichen Beziehung zwischen dem Gehirn und den verbundenen Körperteilen ist, lässt sich ein massiver Unterschied zwischen verbrauchten Gehirnressourcen und zugeordneten Körperteilen bemerken: Beispielsweise braucht das Gehirn für den Betrieb der Hand wesentlich mehr Raum als für den Fuß.

Erst die Lichtmikroskopie machte es möglich, die Funktionsweise von Nervenzellen und die Orte der Hirnareale zu erkennen und zu definieren. Im späten 19. Jahrhundert etablierte sich schließlich die wissenschaftliche Ansicht, dass das Gehirn das eigentliche Zentrum des Denkens und Fühlens, also der Sitz der Persönlichkeit, ist. Das Herz hatte ein für alle Mal als Sitz der kognitiven Fähigkeiten ausgedient.

Eines Tages – ich war in der siebenten Klasse Gymnasium – ging im Flur meiner Schule das Gerücht, dass die Psychologie-Professorin der Parallelklasse einen Intelligenztest für die ganze Klasse vorgeben wollte. Meine Mitschüler und ich waren sofort Feuer und Flamme: Wir wollten das auch! Nachdem die ganze Parallelklasse den Test absolviert hatte, war die Stimmung gleich eine ganz andere. Skepsis kam auf. Denn viele hatten nicht so abgeschnitten wie erwartet. Man war sowohl vom eigenen Ergebnis – unangenehm – überrascht wie auch vom Ergebnis der anderen. Jener Mitschüler, der das beste Testergebnis erzielt hatte, löste besonders viel Verwunderung aus.

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DER HOMUNKULUS ZEIGT EINE SCHEMATISCHE FUNKTIONELLE ZUORDNUNG VON HIRNAREALEN ZU DEN JEWEILIGEN KÖRPERTEILEN.

Denn er war nie besonders aufgefallen, hatte sich weder schulisch noch als Person jemals außerordentlich hervorgetan. Nicht dass man ihn für minderbegabt gehalten hätte – aber dass er gleich der Allerbeste war … Da konnte was nicht stimmen! Der Test musste fehlerhaft sein. Denn wie gut kann ein Test schon sein, wenn einer wie der das beste Resultat hat? Jedenfalls haben uns die Ergebnisse noch einige Zeit lang beschäftigt.

Erst viel später, als ich schon Student der Psychologie war, wurde mir klar, dass der Test vermutlich nicht sehr aussagekräftig gewesen sein konnte, sondern eher von der Art, wie man sie heute allenthalben im Internet findet. Und aus professioneller Perspektive muss auch gesagt werden, dass ein solcher Test, weder angeordnet noch durchgeführt werden hätte dürfen, geschweige denn seine Resultate allen bekannt gemacht hätten werden dürfen. Denn solche Tests zu entwickeln, durchzuführen und zu bewerten ist gesetzlich ausschließlich den Psychologen vorbehalten. Es gehört nicht ins Berufsbild des Psychiaters und auch nicht des Psychotherapeuten.

Aber warum beschäftigt uns diese IQ-Zahl, dieser Intelligenzquotient, die ja letztlich das Testergebnis ist, so sehr? Weil sie meist gefühlt wie ein Stempel wirkt, wie ein Gütesiegel für die kognitiven Eigenschaften einer Person. Wie brisant das Thema ist, kann man an der Art ablesen, wie Menschen sich selbst bewerten, wie sie davon erzählen, oder auch gerade nicht. Wer bei einem Test deutlich positiv abschneidet, spricht gerne und oft darüber. Wer eher in den unteren Regionen landet, übergeht das Thema geflissentlich. Die Schallgrenze ist an dieser Stelle die Zahl 100, denn sie stellt den Bevölkerungsdurchschnitt dar.

Der Intelligenzquotient als Bewertungsparameter ist brisant. Warum? Weil hier eine objektive Vermessung mit dem individuellen Empfinden zusammentrifft. Daher nimmt es nicht wunder, dass sich kaum jemand unter der Schallgrenze von 100 einschätzt und dann nahezu gekränkt ist, wenn das Ergebnis vom Wunsch negativ abweicht. Geradezu beleidigt sind Eltern, deren Kinder nicht das von den Eltern ersehnte Ergebnis erreichen. Interessanterweise schätzen sich Menschen mit tendenziell hohem Wert realistischer ein als jene unter oder um 100. Und diejenigen, die ganz besonders hoch abschneiden, schätzen sich sogar tendenziell niedriger ein.

Ich persönlich bin zum Glück nie in diese Schere aus Mythos und Empirie geraten. Meine erste Berührung mit dem Thema ereignete sich in der Volksschulzeit. Da ich häufig unter Kopfschmerzen litt, wurde ich neurologisch untersucht und weiterführend getestet. Doch als unter Zehnjähriger hat mich die daraus resultierende Zahl nicht ernsthaft interessiert. Später, im Laufe des Psychologie-Studiums, habe ich einen Test gemacht, aber da war es wohl schon zu spät. Ob mein Ergebnis große Aussagekraft hatte, muss ich selbst in Zweifel ziehen. Denn schon damals wusste ich über die Prinzipien des Tests Bescheid, und mittlerweile beschäftige ich mich ja hauptberuflich mit der (Intelligenz-)Testkonstruktion.

AUF DIE GRÖSSE KOMMT ES NICHT AN – WESHALB WIR GESCHEITER SIND ALS BLAUWALE

In jahrhundertelanger Forschung hat sich das Gehirn als die Hardware für unsere kognitiven Fähigkeiten herausgestellt. Nun drängte sich eine andere Frage auf: Was machte ausgerechnet das menschliche Hirn so besonders? Immerhin wusste man ja nicht erst seit dem 19. Jahrhundert, dass auch alle anderen Wirbeltiere eines besaßen. Dantes Divina Commedia, Kants kategorischer Imperativ oder Einsteins Relativitätstheorie waren jedoch menschliche Errungenschaften. Sie legten die berechtigte Vermutung nahe, dass es sich bei den Menschen doch um die intelligentesten Lebewesen des Planeten handelte. Sie waren in jedem Fall auch die flexibelsten. Kein anderes Lebewesen reagierte so gekonnt und so schnell auf seine Umwelt wie der Mensch.

Wie ließ sich das nun mit den Eigenheiten unseres Hirnes erklären? Die Antwort darauf war nicht so einfach. Es lag die Vermutung nahe, dass die Größe des Gehirns eine Rolle für die Intelligenz seines Besitzers spielte. Und weil dies eine gar so bequeme Schlussfolgerung ist, begegnet sie uns im Laufe der Geschichte immer wieder. Als der Weimarer Bürgermeister Schwabe 1826 den Schädel von Friedrich Schiller im Kassettengewölbe des städtischen Friedhofs suchte, entschied er sich von 23 infrage kommenden Schädeln schließlich für den größten. Es konnte ja gar nicht anders sein, als dass ein solch eminenter Denker und Dichterfürst wohl mehr Raum im Kopf gebraucht hatte als einer von den weniger genialen Bürgern, die dort bestattet waren.

Johann Wolfgang von Goethe hat den vermeintlichen Schädel Schillers nach der Exhumierung für etwa ein Jahr lang in seinem Haus aufbewahrt und ihm das Gedicht »Bei Betrachtung von Schillers Schädel« gewidmet. Erst im Jahr 2008 stand schließlich fest, dass weder dieser später in die Weimarer Fürstengruft überführte Schädel noch die anderen in Schillers Sarg bestatteten Gebeine tatsächlich die von Schiller waren. Wahrscheinlich ist sein Sarg heute leer, weil sich die Kopfgröße (und damit auch aller Wahrscheinlichkeit nach die Hirngröße) Schillers nicht außergewöhnlich von den Kopfgrößen der anderen 22 exhumierten Weimarern unterschieden hat.

Bei einer systematischen Betrachtung von Unterschieden der Gehirngröße verschiedener Spezies wurde selbst vor Jahrhunderten recht schnell ersichtlich, dass der Mensch bestenfalls mit einem Platz im oberen Viertel des Größenrankings rechnen kann. An der Spitze stünde in diesem Fall der Blauwal. »Aber«, werden Sie einwenden, »der Blauwal ist ja auch viel größer und hat mehr Masse als der Mensch. Wenn man die Masse berücksichtigt, sieht das doch sicher ganz anders aus.« Und mit diesem Einwand haben Sie durchaus recht. Aus dieser Perspektive betrachtet schneidet der Mensch wesentlich besser ab als der Blauwal. Allerdings ist er wieder nicht Erster. Denn dort befindet sich die Spitzmaus. Und auf diese Weise können wir mit beliebig vielen Parametern dieses Spiel weiterspielen. Wir können uns die Fassungsvermögen verschiedenster Hirnstrukturen ansehen, diese wiederum für Größe oder Masse korrigieren oder auch ganz andere Größenmaße verwenden. Nur, es wird uns dadurch nicht gelingen, eine Rangliste mit dem Menschen an der Spitze zu erzeugen.

Erst 1973 schien das Problem endlich gelöst, als H. J. Jerison, ein Forscher aus Kalifornien, den sogenannten Enzephalisationsquotienten vorschlug. Durch die Formel EQ = Hirngröße in cm3/(0.12 × Körpergewicht in Gramm0.67) lässt sich tatsächlich eine Rangreihe erstellen, bei der der Mensch an der Spitze steht und die auch in weiterer Folge in etwa unseren Vorstellungen der Verhaltensflexibilität – das ist gewissermaßen das tierische Pendant zu der menschlichen Intelligenz – verschiedener Wirbeltiere entspricht.

Es war nur leider so, dass die Formel einen winzig kleinen Schönheitsfehler hatte: Weder die Werte 0.12 noch 0.67 waren theoretisch sinnvoll abgeleitete Zahlen, sondern sie hatten sich schlicht aus empirischen Ableitungen ergeben, gewissermaßen aus Zahlenspielereien, die zum Ziel gehabt hatten, das erwünschte Ergebnis zu erreichen. Tatsächlich war Jerison von dem erwünschten Ergebnis selbst ausgegangen und hatte dann so lange die unterschiedlichsten Zahlen- und Formelkombinationen ausprobiert, bis er eine gefunden hatte, die zu seinen Erwartungen passte.