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Wolfgang Schüssel

Was. Mut. Macht.

Bemerkungen und Bemerkenswertes

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1. Auflage

© 2020 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der SangBleu Republic

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz und Gestaltung: wir sind artisten

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich unter Verwendung einer Illustration von © Wolfgang Schüssel

Illustrationen: Wolfgang Schüssel

Autorenillustration: © Claudia Meitert / carolineseidler.com

Printed by Finidr, Czech Republic

ISBN 978-3-7110-0270-9

eISBN 978-3-7110-5295-7

Inhalt

Vorwort

01 Verschüttet 21. Februar 1945, Foggia – Wien

02 Frühe Mentoren 5. August 1956

03 Der Mensch ist, wie er Fußball spielt 1. Oktober 1958

04 Wie ein Hirtenhund die Herde umkreisen Juni 1961, Mariahilferstraße 88, Wien

05 Weltfreudigkeit 14. August 1957

06 Ohne Zivilcourage lebt die Freiheit nicht lange April 1965, Ballhausplatz

07 O heiliger Unsinn des Kirchenrechts 16. September 1974, Strohberggasse, Wien 12. Bezirk

08 Vom Umgang mit unerwünschten Fragen 12. Dezember 2017, Halle des Volkes, Peking

09 National-Hymnen, eigentlich zum Fürchten

10 Was macht einen guten Regierungschef aus? 9. Juli 2019

11 Unvergesslich 1960er-Jahre, Wiener Burgtheater, 1. Rang, Loge 13

12 Dein Cello ist wie eine Frau November 2002, Wien

13 David gegen Goliath Dezember 1979

14 Kind im Krankenhaus 16. März 1976

15 Leidenschaft Stadtpolitik 1976, Wien

16 Mozart-Müll? 2006, Salzburg

17 Wahlk(r)ämpfe

18 Ein Ziegelstein zum Geburtstag 6. Juni 2008

19 Vernunft und Ordnung

20 Sich bemühen 27. August 2011, Kloster Seckau

21 Drei Weltanschauungen

22 Nach Jerusalem Juli 1963, Grenze Syrien zu Jordanien

23 Die Buben von der letzten Bank 6. Mai 1979, Parlament, Wien

24 Feuer in der Hofburg 27. November 1992

25 Der kleine Prinz 24. April 1995

26 Zukünfte Österreichs 15./16. September 2018

27 Volkes Liebe Irgendwann im Jahre 1987

28 Kraftquelle Anfang Mai 1995, Ballhausplatz

29 Eine gemeinsame Währung Silvester 2001, Mitternacht, Kärntnerstraße

30 Auferstehung? 23. Februar 1996, Sarajevo

31 Geburt 30. Oktober 2016

32 Abschied von Simon Wiesenthal 21. September 2005

33 Gegen den Strich Jänner 2019, Tegernsee

34 Mutter Dezember 1997, Wien

35 Ein Cello namens Mara Mai 2002, Palais Liechtenstein

36 Hoffnung Djindjic März 2003, Belgrad

37 Sanktionen 31. Jänner 2000, abends vor dem Ristorante La Ninfea, Wiener Innenstadt

38 Warmes Radio, kaltes Fernsehen Jugendredaktion Radio, Wien 1967

39 Der Vorhang fällt August 1989, an der österreichisch-ungarischen Grenze

40 Utopien

41 Und reiß uns den Hass aus der Seele Sommer 1993, Illinger Alm, St. Gilgen

42 Die im Kreis laufen Februar 2011, Ruanda

43 Was sich Tochter Nina im Paradies wünscht

44 Lauter Uraufführungen 10. Mai 2015, Musikverein Wien

45 Vom Schwierigkeitsgrad

46 Seiltänzer

47 Ein Mann mit Ecken und Kanten: Jacques Chirac 26. September 2019

48 Schutzengel in Tibet Oktober 2010, Kailash

49 Kinder- und Jugendfotos 3. November 1964, Schwechat

50 Russland am Abgrund 17. September 1998, Moskau

51 Der Klang Europas 27. Jänner 2006, Salzburg

52 Schweizer EU-Angst 6. Dezember 1992, Bern

53 Geträumt 22. April 1995, Hofburg, Wien

54 Aufwärmen für die EU März 1994, Europaforum Lech

55 Feriengestaltung Sommer 1960, Obsteig, Tirol

56 Keine Karriere als Karikaturist 1966, Wien

57 Cartoons sind bildhafte Leitartikel

58 Sich zur Verfügung stellen

59 Arbeitsplatz Ballhausplatz April 1995 bis Anfang 2007

60 »Nine Eleven« 11. September 2001, Ballhausplatz

61 Tristan Mäuseschwanz rettet das Emmental Weihnachten 1996

62 Gefährlich leben lernen Februar 2012, München

63 Wer in der Sonne steht, wirft Schatten

64 Angela Merkel, die Ausnahme-Politikerin

65 Das zerstörte, trostlose Wien Februar 1947

66 Der Wille der Europäer: Richard Coudenhove-Kalergi und Paneuropa

67 Sei freundlich zu den Lebenden

68 Günther Nennings Literaturkoffer 2005

69 How not to privatize a bank Dezember 1996, CA

70 Notate

71 Brexit oder das Spiel mit der direkten Demokratie Ende 2019

72 Die Waffen mögen der Toga weichen 7. September 2011, Potsdam

73 Musik als Überwinderin von Konflikten 11. Juli 2012, Castel Gandolfo

74 Auf das Dach Europas 20./21. August 1985, Mont Blanc

75 Keine Nation hat das Monopol für Untaten

76 Verbotene Begriffe 7. März 2019

77 Der Lenker des väterlichen Wagens Nacht vom 10. auf 11. Oktober 2008, Lambichl bei Klagenfurt, Kärnten

78 Landminen und Schönheitschirurgen 1997, Kanada

79 Athos und Ökumene 12.–17. April 2007

80 Faszination Traum Frühling 2000

81 Kreativ erinnern – Gedenkjahr 2005

82 Spieglein, Spieglein an der Wand Mai 2016

83 Alles hat seine Stunde

84 Eine Seidenstraße in beide Richtungen

85 Kinderglück 1950er-Jahre

86 Hofpolizei Schottengymnasium Wien

87 Das zauberhafte Mädchen mit den langen blonden Haaren Juni 1969, Wien

88 Nicht alles

89 Eine Wirklichkeit jenseits unserer Erkenntnis

90 Provokantes Christentum

91 Rate oder stirb Frühling 1983, Paris

92 Ost-West-Duett von Madeleine und Yevgeny Juli 1997, Manila

93 Alois Mock oder ein europäischer Traum geht in Erfüllung 12. Juni 1994

94 Schostakowitsch und der Lärm der Zeit 2. August 2017, Salzburg

95 Das Leben eines Volksschülers 1950/51, Judenplatz

96 Robin Cook als Inspirationsquelle 1996

97 Quintus T. Cicero über Wahlkämpfe an seinen Bruder Marcus 64 v. Chr.

98 Unberechenbarkeiten

99 Stadtluft macht frei

100 Erste Begegnung mit Slobodan Milošević Juli 1988, Serbien

101 Gefährliche Heimat August 2011, Hallein

102 Manches Unrecht der Vergangenheit heilen 24. Oktober 2000

103 Wladimir Putin hängt seine Leibwächter ab 2001, St. Anton am Arlberg

104 Macht und Mut

105 Holt mich hier raus! Februar 2000, Ballhausplatz, Wien

106 Bäume setzen, unter deren Schatten wir niemals sitzen werden 2005, Lachtal, Steiermark

107 Projektionsfläche

108 Stadt des Kindes 1974–2008, Wien Penzing

109 Wien, Hauptstadt Europas 21. Mai 1955

110 Auseinanderdriften 2003

111 Ausgerechnet hier, den Sumperern zum Trotz 27. Oktober 1997

112 Teamplay 1. Juni 2019

113 Auf Knochen der Opfer Stalins sollte man nicht bauen dürfen April 2013, Jekaterinburg

114 Wer war Jörg Haider?

115 EU plus zehn 1. Mai 2004, Dublin

116 Radioaktiver Niederschlag Anfang Mai 1986, Südtirol

117 Christ sein als Künstler

118 Aus dem Schatten treten

119 Ach, Europa!

120 Merkwürdigkeiten

121 Mit dem Tod der anderen muss man leben

122 Kontrolle durch Schmerz oder durch Vergnügen? 1982, New York

123 Liberale versus illiberale Demokratie Juni 2019

124 Plädoyer für eine globale Wasseragentur

125 Hoffnung und Angst Sommer 2019

126 Herzkammern der repräsentativen Demokratie 1968–2011, Parlament, Wien

127 Ein Gründer der Volkspartei Karl Pisa, † 26. Oktober 2015

128 Das erste Konzert für Europa 25. Mai 2004, Schönbrunn

129 Mehr privat – weniger Staat Juni 1985, London

130 Der polnische Papst März 1996, Vatikan

131 Europäische Eigenheiten

132 Do the unexpected

133 Hinter dem Rücken von Cäsar September 1968

134 Der Totengräber Jugoslawiens 1998, Belgrad

135 Zeit des Wartens 14. Dezember 2018

136 Gott und die UNO Dezember 2010, London

137 Vorlieben einer Leseratte

138 Die Zukunft liegt vorne Salzburger Trilog

139 Freiheit 1968

140 Salzburger Festspiele 5. August 2019

141 Ein liberaler Diener seines Landes 4. März 2019

142 Ein Auftrag für Europa von Shimon Peres 3. September 2016, Villa d’Este, Italien

143 Freunde

144 Reiner Wein 11. Mai 2006, Wien

145 Übergänge Herbst 2018

146 Der Mehrwert Europas für Österreich

147 Auf Seide gemalt Oktober 2018, Paris

148 Panda & Co August 2001, Fuschl

149 Schwerter in Pflugscharen umschmieden

150 Macht und Loslassen

151 Leadership

152 Der estnische Merlin 2002, Estland

153 Erfolgreiche Oppositionspolitik 20. Mai 1976, Parlament

154 Tibet März 1998

155 Freiheit der Wissenschaft

156 Versailles und ein Prophet namens Keynes Oktober 2010

157 Die Stärke der Kleinen

158 Der Geschichte einen Sinn geben

159 »Trade wars are good and easy to win«

160 Schönheit denken

161 Populismus – Rinks & Lechts

162 Demokratie und Geo-Politik

163 Faszination Tarock

164 1989 – magisches Jahr

165 George Washington 1785

166 Lange Linien Vor 100 Jahren geschehen – bis heute prägend

167 Fehleinschätzungen 1989

168 Österreichische Identität 1956

169 Marc Aurel und der Traum vom Weltfrieden 13. März 180, Wien

170 Geburtsstunde der Umweltbewegung

171 Gespreizte Obrigkeit

172 Atomverhandlungen im Barockkloster – Der Melker Prozess 2001

173 Die deutsche Wiedervereinigung Gorbatschow, Thatcher, Mitterrand

174 Adam Fischer und die ungarisch-österreichische Philharmonie 1986

175 Spitzenkandidaten

176 Fragen eines lesenden Arbeiters Bert Brecht

177 Eric Kandel und das Wienerlied Dezember 2019, Wien

178 Von der Nützlichkeit politischer Basisarbeit 1979

179 Zuerst verstehen, dann entscheiden Interview mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, Süddeutsche Zeitung 10. November 2019

180 Metternich oder das Stützen morscher Gebäude Jänner 2000, Bundeskanzleramt Wien

181 Wir und der Osten

182 Mariss Jansons, der Orchesterflüsterer Dezember 2019

183 »Geh über die Dörfer« Dezember 2019

184 Hoffnung

185 Nachdenkliches

186 Pensionsreform und keine Sekunde Streik Mai 2003

187 Farbenspiele

188 Was heißt konservativ heute?

189 Der letzte Tag 31. Jänner 2020

190 Stalin, Hitler, Tito, Trotzki in Wien 1913

191 Beverly Hietzing

192 Es grünt so grün …

193 Ach, Amerika

194 Gaidar – Reformen, die wehtun

195 Die Visegrád Vier

196 Theo Waigel – Mister Euro

197 Wie verhandeln?

198 Dialog Europa-Russland

199 Wie der Red Bull Ring am Faschingsdienstag entstand 2003

200 Die Welt hält den Atem an Frühjahr 2020

Wem ich dankbar bin

Über den Autor

Nachweise

Vorwort

Vor einiger Zeit fielen mir in einer hervorragend sortierten Buchhandlung die Doppelmemoiren des französischen Diplomaten, Literaten und Theatermanns Jean Giraudoux in die Hände. Als alter Bücherwurm begann ich sie sofort zu lesen und konnte nicht mehr aufhören. Ein Kaleidoskop persönlicher Erinnerungen, Begegnungen, Tagebuchnotizen, Aphorismen, Splitter, Anekdoten. Scheinbar absichtslos durcheinandergewürfelt und doch entlang einiger Bögen klug konzipiert. Von der Kindheit ins Heute, vom Erwachsenen zurück in die Jugenderinnerungen und wieder in die Gegenwart – so entsteht der spannende Gesamteindruck einer vielfältigen Persönlichkeit und eines aufmerksamen Zeitgenossen.

Sollte ich Ähnliches versuchen?

Beim Ordnen einer Schachtel privater Unterlagen fielen mir dann ein paar alte Fotos und Briefe ungewollt als »Entscheidungshilfe« in die Hände. Das Ergebnis halten Sie in Händen.

Was ist dieses Buch? Sicher kein Blick in den Rückspiegel oder eine Balkonsicht auf die Bühne anderer. Kein Handorakel und keine Memoiren. Eher ein Kaleidoskop von Gedanken, Begegnungen, Aphorismen, Anekdoten. Bewegendes und Innehaltendes im Lärm unserer Zeit. Klänge und Stimmen. Erfahrenes und Versäumtes. Glückliches und Schmerzendes. Vor allem eine Vitaminpille für unruhige Tage (sie waren ja nie ganz ruhig), ein Impfstoff gegen Pessimismus und gegen den Grant. Wer lebt leichter – ein Optimist oder ein Pessimist? Versuchen Sie doch einfach, Possibilist zu sein.

Wir leben länger.

Wir leiden weniger.

Wir wissen mehr.

Für ein gutes Miteinander, ein erfülltes Leben, eine freie Gesellschaft, eine gut erhaltene Schöpfung. Das Ordnen einiger Schachteln privater Unterlagen, Fotos und Bücher half – das Ergebnis liegt vor Ihnen.

Was. Mut. Macht.

Frageform, Einstellung, Herausforderung. Jemand, der immer die gleichen Fragen stellt, wird nie neue spannende Antworten bekommen. Wer sich nie traut, Grenzen zu überschreiten, wird im Status quo stecken bleiben. Wer Macht nicht anstrebt oder einsetzt, kann auch nicht gestalten.

Aber ebenso gilt – wer keine Grenzen anerkennt, rücksichtslos agiert und sich selbstverliebt verwirklicht, sollte besser einen weiten Bogen um die Politik machen.

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Die Zeichnungen in diesem Buch stammen von Wolfgang Schüssel

01

Verschüttet

21. Februar 1945, Foggia – Wien

Am 21. Februar 1945 starten 500 Bomber der 15. US-Luftflotte aus Foggia in Apulien ihre Maschinen. Ziel der B-17- und B-24-Flieger ist Wien, unter anderem der Westbahnhof, von dem aus immer noch täglich ganze Containerzüge mit Ersatzwaffen an die Front geschafft werden. Wien ist nach Berlin die am stärksten verteidigte Stadt des Deutschen Reichs. In der Gauhauptstadt stehen seit 1944 sechs monströse Flaktürme zur Luftabwehr paarweise in einem Dreieck um die Innenstadt angeordnet, bestückt mit dutzenden Kanonen. Die meisten Piloten fürchten die Einsätze über Wien. Es gab in der Vergangenheit viele Abschüsse. Oft fliegen die Piloten daher ihre Ziele direkt an, entledigen sich ihrer Bombenlast und drehen dann blitzschnell ab, um die eigene Haut zu retten. Viele Bomben treffen deshalb nicht unbedingt das erwünschte Ziel – Gleisanlagen und Züge –, sondern fallen auf die umliegenden Wohnhäuser. 1945 finden die schwersten Luftangriffe auf Wien statt. Am 19. Februar zerstören alliierte Bomben den Tiergarten, von 3500 Tieren überlebt nicht einmal die Hälfte. Am 21. Februar sind die Bahnhöfe an der Reihe, aber auch Rathaus, Universität und Burgtheater werden schwer getroffen.

Als die ersten Flieger den Großraum Wien erreichen, beginnen die Sirenen zu heulen. Es bleiben den Bewohnern nur wenige Minuten, um einigermaßen sichere Luftschutzräume zu erreichen. In der Mariahilferstraße 88 drängen sich an diesem Tag etwa 50 Menschen im Kohlenkeller des Bundesmobiliendepots zusammen. Unter ihnen die 25-jährige Elfriede und ihre Mutter Franziska. Elfriede ist im fünften Monat schwanger. Plötzlich eine gewaltige Erschütterung und ein ohrenbetäubender Knall. Eine Bombe hat das Haus getroffen. Im Bericht der Stadtverwaltung heißt es später: »Teile des Gebäudekomplexes in der Mariahilferstraße 88 wurden beim Angriff vom 21. Februar 1945 von Bomben schwer getroffen. Ihnen fielen auch Menschenleben zum Opfer. Das Mobiliendepot hat zwei schwere Treffer erhalten, eine Bombe ist im Vordertrakt des Hauses in den Katastrophenschutz-Keller eingedrungen, hier sind vier Tote zu beklagen. Zwei Angestellte wurden verschüttet, sind jedoch gerettet worden.« Die gesamte Straßenfront des Hauses Mariahilferstraße 88 war eingestürzt. Es dauerte zwei oder drei Tage, bis alle Verschütteten, darunter auch meine Mutter Elfriede, ausgegraben werden konnten. Als Kind musste ich später oft in diesen Keller hinuntergehen, um Kohlen und Briketts für unseren Ofen zu holen – immer begleitet von einem unheimlichen Gefühl. Erst als mir viele Jahre später Mutter diese Geschichte erzählte, verstand ich, wie knapp wir damals dem Tod entgangen waren.

Wenn ich heute die zerstörten Häuserzeilen von Aleppo, Homs, Afrin oder Idlib sehe, erinnert mich dies an die zerstörten Teile Wiens, in deren Ruinen wir als Volksschüler noch herumkletterten, ohne uns der Gefahren überhaupt bewusst zu sein. 21 Prozent der Wiener Häuser und 90 000 Wohnungen wurden damals zerstört oder schwer beschädigt. Ich kann die heutige Todesangst derer nachempfinden, die beim Klang der Warnsirenen, der herannahenden Flieger und dem Fallen der Bomben nur hilflos in unzureichenden Verstecken ausharren müssen.

02

Frühe Mentoren

5. August 1956

Meine Tante, Oberstudienrätin Dr. Therese Schüssel, und ich haben eine Audienz beim Abt der Benediktinerabtei Seckau. Tante Risa ist Oblatin – sie hat das feierliche Versprechen abgelegt, ein christliches Leben in enger Verbundenheit mit dem Kloster Seckau und im Geist des Heiligen Benedikt zu führen. Ich bin elf Jahre alt. Ziemlich aufgeregt begleite ich Tante Risa, mein Jahreszeugnis habe ich mitgebracht. Abt Benedikt ist eine eindrucksvolle Persönlichkeit – groß, tiefe Stimme, autoritär. Er führt einen Konvent mit 40 Mönchen. Später wird er Erz-Abt von Beuron, dem Mutterkloster von Seckau und Konzilsvater beim II. Vaticanum.

Für mich ist es ein ganz besonderer Tag. Als Kind geschiedener Eltern konnte ich in den 1950er-Jahren nicht ohne Weiteres ins Schottengymnasium aufgenommen werden. Erst als sich Abt Benedikt für mich bei seinem Kollegen, dem Abt des Wiener Schottenstifts, persönlich verbürgte, durfte ich überhaupt zur Aufnahmeprüfung antreten. Damit nicht genug – solange Abt Benedikt in Seckau war, musste ich jedes Jahr zu ihm kommen und meine Schulzeugnisse vorweisen. Zum Glück hatte ich bis zur Matura immer Bestnoten (einen »Vorzug«), also hatte der Abt keinen Grund zur Sorge.

Immerhin: ein interessanter Fall von Mentoring.

03

Der Mensch ist, wie er Fußball spielt

1. Oktober 1958

Immer noch kann ich die Aufstellung des Wiener Sportklubs auswendig, der an diesem Tag im Europacup der Landesmeister Juventus Turin vernichtend 7 : 0 schlug: Szanwald (Tor); Jaros, Hasenkopf, Oslansky; Büllwatsch, Barschandt; Skerlan, Hamerl, Knoll, Hof, Horak.

Meine eigene Fußballkarriere blieb auf die unterste Wiener Liga und den Reichsbund begrenzt. In den frühen 1970er-Jahren hatte ich den Verein RSC Schotten gegründet. Schräg gegenüber meiner Wohnung in der Mariahilferstraße 88 befand sich praktischerweise das Haus des Österreichischen Fußballbundes (ÖFB), in dem Woche für Woche die nächsten Spiele vereinbart wurden. Später folgten einige Jahre im Vorstand der Austria Wien unter dem legendären Joschi Walter – immerhin brachte ich den ersten wirklichen Sponsorenvertrag mit den Tabakwerken zustande. In Anlehnung an eine damals beliebte Zigarettenmarke mit dem Namen der antiken Hauptstadt Ägyptens führte der Vertrag zu einer österreichisch-ägyptischen Namensänderung: Austria Memphis.

Ja, auch fünfzehn Minuten Fußballruhm sind noch aus dem Jahr 2005 zu vermelden. Als Geburtstagsgeschenk zu meinem Fünfziger wurde ich in Türnitz bei einem Freundschaftsspiel gegen Bayern München mit der Nummer 9 in den Sturm der Austria eingewechselt. Außer einigen kräfteraubenden Sprints, einem Foul, zwei akzeptablen Pässen und einem schönen Foto gelang mir nichts Bedeutendes. Aber in einem freundlichen Matchbericht der Tageszeitung Kurier hieß es am folgenden Tag: Die meisten Zuschauer hätten gar nicht gemerkt, dass sich unter die Austria-Profis der vergleichsweise betagte Vizekanzler gemischt habe, so schnell sei Schüssel gelaufen.

Bis heute ist die Marswiese im Westen Wiens, am Rande des Wienerwaldes, meine Fußballheimat. Wie einst der legendäre »Gschupfte Ferdl« einmal wöchentlich zur Tumser-Perfektions-Tanzstunde in Neu-Lerchenfeld seine grün-gelb gestreiften Socken, so zieht jeden Samstagvormittag unser FC Wirtschaft die Fußball-Packln (= Schuhe) an. Auf der Marswiese treffen sich so regelmäßig: ein Banker, Journalisten, ein Lehrer, ein Manager, ein Botschafter, ein Arzt, ein Bäcker, ein internationaler Startenor, ein Psychologe, ein Architekt, ein Physiotherapeut, Nerds, Berater, der Kanzler außer Dienst (so werden ehemalige Regierungschefs in Österreich genannt) und sein Schwiegersohn. Die »dritte Halbzeit« ist bei diesem sportlichen Ritual übrigens mindestens so wichtig wie das Spiel selbst.

Meine einfache Erkenntnis: Der Mensch ist, wie er Fußball spielt. Ich entschuldige mich an dieser Stelle bei allen, die ich im Lauf meiner bisherigen 68-jährigen Fußballkarriere gefoult habe. War keine Absicht!

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Einst ein Wunderteam … und heute?

04

Wie ein Hirtenhund die Herde umkreisen

Juni 1961, Mariahilferstraße 88, Wien

Heute ist mein 16. Geburtstag. Zu besonderen Anlässen kam manchmal mein Vater Ludwig auf Besuch. »Lutz« nannten ihn seine Schwester Risa und meine Mutter Elfriede. Geheiratet wurde im Krieg. Bald nach der Hochzeit hatte er sich davongemacht. Ich war damals drei Jahre alt und ziemlich verstört. Ich habe lange gebraucht, um die Trennung zu verstehen. Vielleicht rührt daher auch meine Neigung, immer wieder wie ein Schäferhund die jeweilige Herde – meine Familie, meine Teams (Fußball, Kammermusik, Bergsteiger und Tourengeher), meine Mann-/Frauschaft in der Politik – zu umkreisen und zusammenzuhalten.

Aber zurück zum Geburtstag. Nach dem Mittagessen beginne ich, meinen Vater intensiv über seine Rolle in der Nazi-Zeit zu befragen. Das Gespräch wird heftiger, drängender und persönlicher und endet mit der ersten Ohrfeige meines Lebens durch meinen Vater, der unmittelbar darauf einen starken Herzanfall erleidet.

Wir kamen nie wieder auf dieses Thema zurück.

05

Weltfreudigkeit

14. August 1957

Herbert Boeckl sitzt nachdenklich und zweifelnd vor seinen Fresken zur Apokalypse. Er arbeitet gerade am wohl bedeutendsten sakralen Gesamtkunstwerk der Moderne in Österreich. Der Abt von Seckau hatte den Künstler 1950 dazu gewonnen, die sogenannte Engelkapelle mit Fresken auszustatten.

»Abt und Mönche sind lieb. Ohne Worte spüren sie alles.

Der Abt meinte, dass für das Werk gefastet und gebetet wird, wie bei den alten Ikonenmalern.

Ich glaube, dass kaum eine Zeit wie die gegenwärtige, so um die Kräfte des Himmels gerungen hat.«

Herbert Boeckl

Pater Benedikt Roth stand ihm dabei als kongenialer Partner zur Seite. Ich durfte als zwölfjähriger Knirps manchmal bewundernd zu den Füßen des Meisters sitzen. Ich versuchte, seine Motive nachzuzeichnen. Neben den vier Evangelisten auf der Stirnwand faszinierte mich besonders die Figur des Christus als Weltenrichter. Er lächelt verhalten, wissend und hält triumphierend eine Sichel in die Höhe. Pater Benno erzählt, dass er den Künstler einmal darauf angesprochen und eine Deutung von Christus’ Lächeln erbeten hatte. Der Meister darauf im Kärntner Dialekt: »weil er gwunnan hot« (gewonnen hat).

Mich hat diese Antwort immer verblüfft. Wie kann es beim Weltgericht um Gewinnen oder Verlieren gehen? Außerdem störte mich die Zeichnung der zwei Verdammten und drei Geretteten. Gut, immerhin kommen 60 Prozent in den Himmel. Doch ist ein knapper 3:2-Sieg unseres Erlösers wirklich ausreichend, um in der Fußballsprache zu bleiben? Wir glauben doch an einen liebenden Gott, der selbst Mensch wurde und sein Leben hingab, um ALLE Menschen zu erlösen. Sicher kann die Nähe oder Ferne zu Gott nach unserem Leben (selbst-)bestimmend sein, aber die angsteinflößende Vorstellung eines Höllenschreckens findet sich nicht in den Evangelien.

06

Ohne Zivilcourage lebt die Freiheit nicht lange

April 1965, Ballhausplatz

Leopold Figl spricht im Radio zum zehnten Jubiläum des österreichischen Staatsvertrages: »Mit den Lebensmitteln, die heute jeden Tag in die Mistkübel geworfen werden, hätten wir 1945 die Versorgung der Millionenstadt Wien eine ganze Woche sichern können.«

Erstaunlich, dass Hollywood das unglaubliche Leben dieses Mannes nie verfilmt hat. Steven Spielberg hätte daraus einen Thriller machen können. Der junge Bauernbunddirektor sollte im Alter von 35 Jahren Kurt Schuschniggs Volksabstimmung gegen Hitler am 12. März 1938 organisieren. Enttäuscht musste er aufgrund der brutalen deutschen Drohungen im kleinsten Kreis um Schuschnigg die Absage zur Kenntnis nehmen. Einen Tag nach dem deutschen Einmarsch wurde Figl verhaftet. Sechs Jahre verbrachte er in verschiedenen Konzentrationslagern. Es folgten Auspeitschung, Folter, Einzelhaft, schließlich die Freilassung. Wegen Kontakten zu den Verschwörern des 20. Juli kam er abermals in Haft. In den letzten Kriegstagen saß er in der Todeszelle, in Erwartung der Verurteilung durch das Volksgericht.

Im Endkampf um Wien wurde er überraschend befreit und bald darauf von den Sowjets mit der Lebensmittelversorgung Wiens in dramatischer Lage betraut. Ein wahres Himmelfahrtskommando. An manchen Tagen gab es nur mehr ein Schwein und ein Rind für die ganze Wiener Bevölkerung. Die UNO bezeichnete Österreich als jenes Land der Welt, das am stärksten von Hungersnot bedroht sei.

Leopold Figl war einer der Gründer der Österreichischen Volkspartei (April 1945, Schottenstift), gleichzeitig Landeshauptmann von Niederösterreich und stellvertretender Regierungschef unter Karl Renner. Als Spitzenkandidat der ÖVP bei der ersten freien Wahl seit 15 Jahren errang er mit 49,8 Prozent der Stimmen und 85 Mandaten die absolute Mehrheit bei einer Wahlbeteiligung von 94 Prozent. Bildung einer Konzentrationsregierung aus ÖVP, SPÖ und KPÖ. Figl wurde zum ersten Bundeskanzler der Zweiten Republik ernannt. Er musste dem Druck der sowjetischen Besatzungsmacht standhalten. Rings um Österreich fiel ein Nachbarland nach dem anderen der kommunistischen Machtübernahme zum Opfer – Ungarn, Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien. Die Teilung Deutschlands wurde Realität, 1948 die Berlin-Blockade durch die Sowjets. Ende September 1950 dann in Österreich der Kommunistenputsch gegen das Preis-Lohn-Abkommen der Sozialpartner. Nur dem energischen Widerstand und Mut von Leopold Figl, Oskar Helmer, Franz Olah und Ferdinand Graf gelang es, Gewerkschaften und Bauern so zu mobilisieren, dass der von der Kommunistischen Partei (KP) geplante Generalstreik zusammenbrach.

Gegen den massiven Widerstand der Russen setzte Figl die Teilnahme Österreichs am Marshallplan durch. Österreichs Wiederaufbau nach dem Krieg ist vor allem dieser Hilfe zu danken. Bis heute wirken die US-Gelder im Rahmen des European Recovery Program (ERP-Fonds) und der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) nach. 1953 wurde Figl von den eigenen Parteifreunden gestürzt. Von Bundeskanzler Julius Raab bald als Außenminister zurückgeholt, war er gefeierter Held der Verhandlungen über den österreichischen Staatsvertrag. Im letzten Augenblick gelang es ihm, den von den Sowjets gewünschten Passus der Mitschuld Österreichs am Weltkrieg aus dem Vertragstext zu streichen. Später wurde er Landeshauptmann von Niederösterreich. Vor der gesamten Weltpresse gewann er eine Wette gegen Nikita Chruschtschow, dem Generalsekretär der KP der Sowjetunion, ob der russische oder niederösterreichische Mais ertragreicher sei.

Mut statt Anpassung, Menschen statt Zahlenkenntnis, Bürgernähe statt Imagepflege. Verantwortung statt Populismus. Leopold Figl hat das Zeug zum politischen Vorbild. »Ohne Zivilcourage lebt die Freiheit nicht lange«, rief er in der Radioansprache zum zehnten Jubiläum des Staatsvertrages.

07

O heiliger Unsinn des Kirchenrechts

16. September 1974, Strohberggasse, Wien 12. Bezirk

Es läutet an unserer Türe. Pater Heinrich kommt auf Besuch. Dieser junge Mönch war im Schottengymnasium für die Jungschar und KSJ (Katholische Studierende Jugend) verantwortlich. Gemeinsam hatten wir gegen einige Widerstände im Konvent den Keller der Schule ausgeräumt, zum Jugendzentrum ausgebaut und eine Schülerzeitung gegründet. Beides gibt es bis heute. Und nicht zuletzt hat Pater Heinrich die Kinder- und Jugendpsychologin Gigi und mich in der schlichten Studentenkapelle in der Wiener Ebendorferstraße getraut. Meine Frau Gigi richtet also eine kleine Jause. Nach einigen Wortwechseln kommt Pater Heinrich zur Sache. »Liebt ihr euch noch?« Mehrere ähnliche Fragen folgen. Wir bejahen natürlich, fragen uns aber doch, was dieses »Verhör« bedeuten soll. »Würdet ihr noch einmal heiraten, wenn ihr die Wahl hättet?«, beharrt er. »Ja, aber warum fragst du so insistierend?« Endlich rückt er mit der Wahrheit heraus. Als er uns am 8. August 1970 traute, habe er vergessen, die Erlaubnis des parochus loci, des zuständigen Pfarrers der Votivkirche, einzuholen. Womit die Trauung im Anfechtungsfall kirchenrechtlich ungültig gewesen wäre. Durch unser heutiges nochmaliges »Ja« sei dies nun nachträglich saniert und die Ehe gültig. Also hatten Gigi und ich vier Jahre lang in wilder Ehe gelebt, ohne es zu wissen. O heiliger Unsinn des Kirchenrechts! Davon gibt es einiges, vom Zölibat bis zur Verweigerung der Priesterweihe für Frauen, ökumenische Barrieren oder gewisse Dogmen, die heute nur mehr unter gewaltigen intellektuellen Verrenkungen verständlich zu machen sind. Das soll natürlich die historische und aktuelle Bedeutung der christlichen Religion in keiner Weise schmälern.

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Vom Umgang mit unerwünschten Fragen

12. Dezember 2017, Halle des Volkes, Peking

Nach einer Tagung des Club of Madrid, einer Organisation ehemaliger Regierungschefs oder Staatspräsidenten aus über 60 Ländern, in Guangzhou werden wir in einem Regierungsflugzeug nach Peking gebracht, wo uns Xi Jinping, der allmächtige Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) zu einer etwa zweistündigen Audienz mit Diskussion empfängt. Detailreiches Protokoll für Begrüßung, Gruppenfoto und »Diskussion«. Von jedem Kontinent soll ein ehemaliger Regierungschef beziehungsweise Präsident das Wort bekommen. Einer der designierten Sprecher fragt mich verstohlen, ob er das Thema Nordkorea anschneiden solle. Natürlich, antworte ich, dies sei doch eines der aktuellsten und drängendsten Probleme der Zeit. Warum überhaupt diese Frage? Die chinesische Seite hätte ihm bedeutet, so mein Gesprächspartner, es sei nicht opportun, heikle Fragen wie Tibet, Taiwan oder Menschenrechte anzusprechen. Meine Antwort, solche Fragen erst recht in einem sinnvollen Dialog aufzubringen, dürfte nicht sehr überzeugt haben. Diese heiklen Themen kamen nicht vor. Zum Glück sprang Ban Ki-moon, der ehemalige UNO-Generalsekretär aus Südkorea, in die Bresche und brachte Nordkorea zur Sprache. Und siehe da – Xi Jinping beteiligte sich sehr lebhaft und offen an dieser Diskussion, machte sich Notizen und ging auf jede gestellte Frage ein. Die Lehre daraus: Ignoriere das Geschwätz subalterner Hofschranzen, die jede eventuelle Irritation schon vorweg ausschalten wollen. Sei unerschrocken, nutze die Möglichkeit jedes Gesprächs, um relevante Probleme offen anzusprechen. Es lohnt sich immer.

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National-Hymnen, eigentlich zum Fürchten

Maria Rauch-Kallat hat vor einigen Jahren mit einer parteiübergreifenden Aktion erfolgreich eine Änderung des Textes der österreichischen Bundeshymne durchgesetzt. Nicht einmal männliches Dauerreden im Parlament konnte dies verhindern. Meine Gefühle waren zwiespältig. Einerseits verstehe ich natürlich das Anliegen, nicht nur die »Söhne, begnadet für das Schöne« zu besingen und damit über die Hälfte unserer Talente und Bürger, nämlich die Töchter, unerwähnt zu lassen. Erstmals in der Zweiten Republik gab es unter meiner Führung in einer Regierung (2004 bis 2006) gleich viele Ministerinnen und Minister. Andererseits ist es nicht unproblematisch, an einem historischen Text herumzufeilen. Besser wäre es gewesen, gleich eine zeitgemäße Sprache für unsere Hymne in Auftrag zu geben.

Auch die Europahymne braucht einen zeitgemäßen und verständlichen Text. Was soll denn das heißen – »deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt«? Also her mit einem EU-weiten Wettbewerb, der zur schönen Musik Beethovens mehr über das Lebensgefühl heutiger Europäer aussagt. Ähnlich Italiens Hymne: »Lasst uns die Reihen schließen, wir sind bereit zum Tod« und in einer anderen Strophe: »Der österreichische Adler hat schon die Federn verloren. Das Blut Italiens, das Blut Polens hat er mit dem Kosaken getrunken. Aber sein Herz ist verbrannt«. Die Franzosen haben’s auch nicht leicht: »Hört ihr auf den Feldern die wilden Soldaten brüllen? Sie kommen bis in eure Arme, um euren Söhnen und Gefährtinnen die Kehlen durchzuschneiden […] Marschieren wir, marschieren wir. Unreines Blut tränke unsere Furchen.« Warum Niederländer singen müssen: »bin ich von deutschem Blute« und »den König von Hispanien hab ich allzeit geehrt«, ist auch nicht ganz schlüssig. Griechen und Zyprioten sind mehrfach gefordert. Sie haben die längste Hymne der Welt mit 158 Strophen. Eine ziemlich martialische Hymne an die Freiheit: »Ich erkenn’ Dich an der Klinge deines Schwerts, der furchtbaren.«

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… Land der Berge, Ströme, Dome, Äcker,
Hämmer, Töchter-Söhne …

Eigentlich zum Fürchten, diese Nationalhymnen moderner europäischer Staaten.

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Was macht einen guten Regierungschef aus?

9. Juli 2019

Boris Johnson und Jeremy Hunt in der Fernsehdebatte um den nächsten britischen Premierminister. Ein spannendes Duell. Johnson, angriffslustig, unterhaltsam, um keine Pointe verlegen, eine Rhetorik wie ein Maschinengewehr. Hunt versucht immer wieder, seinen Kontrahenten mit Argumenten und Gegenfragen auf die Sachebene zurückzuzwingen. Am Ende werden beide gefragt, was ihnen am Gegner gefiel. Zuerst Johnson mit zynischem Unterton: »Die Fähigkeit von Hunt, seine Meinung zu ändern.« Und dann Hunt sarkastisch: »Die Kunst von Boris, gestellte Fragen mit Scherz und Witz vergessen zu lassen. Das mag zwar für einen Politiker ausreichen, nicht jedoch für einen Premierminister.«

In Österreich ist der Bundeskanzler rechtlich nur Primus inter Pares, der Vorsitzende des Kollegialorgans Ministerrat, ohne Durchgriffsrecht. Gleichzeitig ist er »Ressortchef«, steht also einer Ministerialbürokratie vor wie alle anderen Mitglieder der Bundesregierung. Und dennoch – in der österreichischen Realverfassung ist der Bundeskanzler Kopf, Gesicht und Herz einer Regierung. Die Bundesverfassung gibt keine Auskunft darüber, wie der Bundeskanzler im Alltag seine Aufgabe anpackt. Der Gestaltungsraum ist beträchtlich, mit spannenden Chancen und Herausforderungen, zugleich mit einer enormen Verantwortung.

Politik ist nach wie vor die faszinierendste Aufgabe unserer Zeit. Es geht um nicht weniger als Weichenstellungen für unsere Zukunft. Und diese Zukunft wird alles, was bisher möglich schien, in den Schatten stellen. Politik, von der Gemeindeebene bis zur Spitzenpolitik, ist es wert, dass sich die Besten dieser Aufgabe stellen. Menschen, die Zusammenhänge erkennen, Brücken bauen, Teams motivieren und heikle Balancen ausfindig machen. Und oft winzige Mauselöcher, Haarrisse in der Wand erkennen und für die Lösung schwieriger Konflikte und komplexer Probleme nutzen. Gefragt sind nicht vorrangig Spezialisten, Experten und Fachleute, sondern Persönlichkeiten mit Mut, Weitblick und Augenmaß. Ein Regierungschef sollte der Bevölkerung nicht sagen, was sie hören möchte, wohl aber vermitteln, was sie wissen muss. Gerade in unserer kurzatmigen Zeit ist der Blick auf längerfristig absehbare Entwicklungen wichtig. Nicht der Zeitungsaufmacher von morgen, die Umfrage des Monats oder die Regionalwahl im nächsten Quartal darf entscheiden, sondern die Perspektive jenseits des Tagesgeschäfts.

Natürlich soll ein Regierungschef die berechtigten »kleineren« Anliegen im Auge behalten, aber vor allem muss es ihm um das Wohl des Ganzen gehen. Die Mitte immer wieder zu finden, ist nicht einfach – beim Ausgleich zwischen den Generationen, für Nachhaltigkeit, in Verteilungsfragen, beim sorgfältigen Austarieren von Freiheit und Sicherheit. Vieles hat zu tun mit Kommunikation und Vertrauensbildung: die Bürger aufzumuntern in schwierigen Situationen, sie mitzunehmen, ja zu begeistern für eine tragfähige Vision von Österreich und Europa. Den Menschen reinen Wein einzuschenken, sie über kommende Gefahren zu informieren, ohne Panik oder Lethargie auszulösen. Den Musil’schen Möglichkeitssinn jeweils mit Wirklichkeitssinn zu versöhnen – das ist »Chefsache«.

Ehrliche Empathie, eine natürliche Rednergabe, ein gewinnendes Auftreten, Lernfähigkeit, Intellekt und Humor sind zweifellos hilfreich, aber längst nicht spielentscheidend. Der Mann oder die Frau an der Spitze muss lernen, damit zu leben, Entscheidungen einsam zu treffen, Druck, Verletzungen und Kritik zu ertragen. Die Parameter für weitreichende Entscheidungen sind keineswegs immer klar und offensichtlich. Führung ist daher immer von Zweifeln begleitet. Die Trennlinie zwischen Gefühl und Wissen ist meist unscharf, sie muss immer wieder aufs Neue abgesichert werden. Ich habe es mir daher zur Gewohnheit gemacht, Mitarbeiter oder Ratgeber mit der Frage zu konfrontieren »Glauben Sie es oder wissen Sie es?« Erstaunlich, was diese harmlos klingende Frage auslöst, wie hoch der »Glaubensanteil« ist im Verhältnis zum »Wissensanteil«.

Wie fühlen Sie sich in dieser Situation? Sind sie betroffen? Haben Sie sich geärgert, gefreut, getrauert? Mir fällt auf, wie häufig von Journalisten in Interviews die Gefühlsebene abgetestet wird. Es ist oft sehr schwer, auf dieser Ebene ehrlich und authentisch zu bleiben und überdies die richtigen Worte zu finden. Für mich persönlich war die schwerste Prüfung wohl die Trauerfeier für die 155 Opfer des furchtbaren Gletscherbahnunglücks in Kaprun im November 2000. Angesichts fassungsloser Eltern, Partner, Freunde der Verunglückten, darunter Angehörige von nahen Freunden in St. Gilgen, fehlen die Worte, versagt jeder Trost. Nichts als Leere und die brutale Frage »warum?«

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Unvergesslich

1960er-Jahre, Wiener Burgtheater, 1. Rang, Loge 13

Noch unter Maria Theresia wurde 1748 das »Theater nächst der Burg« errichtet, 1776 in das »Teutsche Nationaltheater« umgewandelt. Mit der skurrilen Auflage, alle gezeigten Werke mit einem versöhnlichen Ende, dem »Wiener Schluss« zu versehen. 1888 wurde dann das »k.k. Hoftheater« am Ring eröffnet. Der Mythos war geboren. »Der Ministerpräsident, der reichste Magnat konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne dass sich jemand umwandte, aber einen Hofschauspieler erkannte jeder Verkäufer und jeder Fiaker« (Stefan Zweig, Die Welt von Gestern).

Meine Tante Risa, Frau Oberstudienrätin Dr. Therese Schüssel, Professorin für Deutsch und Geschichte an der Lehrerinnenbildungsanstalt Hegelgasse, war stolze Besitzerin dreier Abonnements: Burgtheater, Staatsoper, Akademietheater. Auf einer ihrer zwei Karten durfte ich viele Jahre mitkommen. Das waren für einen Zehn- bis Achtzehnjährigen unvergessliche Erlebnisse. Linke Feststiege hinauf in den ersten Rang, von freundlichen Billeteuren das Programm des Abends entgegennehmen, es erwartungsvoll in der 1. Reihe der Loge 13 studieren, das Licht verglimmen sehen, während der Vorhang sich hebt. Heute noch höre und sehe ich die Stars von damals vor mir: Raoul Aslan als Ottokar von Horneck, Albin Skoda als Mephisto, Oskar Werner und Heinrich Schweiger als Gegenspieler in Anouilhs Beckett oder die Ehre Gottes. Inge Konradi und Josef Meinrad in vielen Nestroy-Stücken, Judith Holzmeister, Susi Nicoletti. Schiller, Goethe, Grillparzer, Hauptmann, Borchert, Ibsen. In verständlichen, nicht auftrumpfenden, manchmal ein bisschen angestaubten Inszenierungen. Bis heute unvergessen die grandiosen Bühnenbilder von Fritz Wotruba zu den griechischen Tragödien.

Viele Klassiker sind mir seit damals zu vertrauten Wegbegleitern geworden.

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Dein Cello ist wie eine Frau

November 2002, Wien

Ein paar Tage vor der für mich so wichtigen Parlamentswahl am 24. November 2002 wird mir ein Telegramm hereingebracht. Der Absender: Mstislaw Rostropowitsch. Der weltberühmte Cellist wünscht mir aus der Ferne von Herzen alles Gute für den Wahlausgang. Ich bin gerührt. Meine Partei gewinnt die Wahlen mit 42,3 Prozent und 79 von 183 Sitzen.