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CATHY
HUMMELS

MEIN UMWEG
ZUM GLÜCK

Sei mutig, echt und einzigartig

Mit Olaf Köhne und
Peter Käfferlein

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Die Ausführungen auf den Seiten 115-123 und die Texte im Anhang wurden abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Dr. Sebastian Fischer.

Die Zitate aus Mindfuck. Warum wir uns selbst sabotieren und was wir dagegen tun können (München 2011) wurden abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Autorin Petra Bock.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing München - Salzburg, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Minion Pro, Futura light

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt

Umschlagmotiv: Thomas Dashuber, München

ISBN 978-3-7109-0113-3

eISBN 978-3-7109-0117-6

Für meinen Sohn Ludwig

Weil du mir jeden Tag zeigst,
wie kostbar das Leben ist.

Inhalt

1Sei mutig, echt und einzigartig

2Wie alles losging

3Und dann starb Gargamel

4Als mir die Luft wegblieb

5Voll das Girl, aber bloß keine Tussi

6Shitstorm 0.0

7Angst ist kein guter Ratgeber

8Mit sechzehn änderte sich alles

9Panikattacken

10Du bist nicht allein!

11Und dann erblickte ich das Licht der Medien

12From Hit to Shit – willkommen im Jahr 2014

13Weitermachen, auch wenn’s schwerfällt

14Influencer ist keine Krankheit – was mach ich da eigentlich?

15Eine für alle

16Und immer wieder im Shitstorm

17Babybrei und roter Teppich

18Von 0 auf 100 und zurück auf 0

19Auch ein Umweg führt zum Glück

Danke

Anhang

1.Wie finde ich (m)einen ambulanten Psychotherapeuten?

2.An wen kann ich mich wenden, wenn ich Opfer digitaler Gewalt geworden bin?

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Sei mutig, echt und einzigartig

Im Lauf des Entstehungsprozesses dieses Buches stellten sich mir eine Reihe grundsätzlicher Fragen. Was wollte ich eigentlich erzählen und an wen wollte ich mich richten? Was sollten die Leserinnen und Leser mitnehmen aus einem Buch von Cathy Hummels? Und vor allem fragte ich mich: Inwieweit war ich zu dem Zeitpunkt bereit, Dinge preiszugeben, die ich bis dahin noch nie öffentlich erzählt hatte? Wollte ich diesen Schritt tatsächlich wagen? Irgendwann im Lauf des Jahres 2020 war es so weit, aus der Idee wurde ein Plan, und was ich mir einmal vornehme, das packe ich auch an. Die Zeit war reif. Für mich, für dieses Buch.

Am 31. Januar 1988 kam ich als Catherine Fischer in Dachau zur Welt; ich war immer schon die Cathy oder, wie mein Bruder mich heute noch nennt, Kathel. Seit Juni 2015 bin ich verheiratet, mein Mann und ich haben einen Sohn, Ludwig, er ist inzwischen auch bald schon drei Jahre alt. Ich pendele – derzeit (denn das kann sich wieder ändern) – zwischen München und Dortmund. Mein Lebensmittelpunkt aber liegt eindeutig in Bayern, allein schon wegen meiner Heimatverbundenheit. Ich habe Wirtschaftswissenschaften an der TU Dortmund studiert und arbeite heute als Unternehmerin und Moderatorin. Und ich bin eine sogenannte Influencerin.

Influencerin – viele konnten sich unter diesem Begriff lange nichts vorstellen, kein Problem, ging mir, ehrlich gesagt, nicht anders. Alles in allem würde ich von mir behaupten, dass ich in meinen mehr als dreißig Lebensjahren eine ganz Menge erlebt habe.

Mir »followen« bei Instagram mittlerweile weit mehr als eine halbe Million Userinnen (vornehmlich) und User. Das ist ein schöner Erfolg, mit dem aber auch eine Portion Verantwortung einhergeht. Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter. Von meinen Followern erhalte ich unmittelbar Feedback auf das, was ich poste. Wir befinden uns in einem ständigen Austausch, als Influencerin fährt man also nicht auf der Einbahnstraße. Meine Community ist ehrlich, unterstützt mich, kritisiert mich hier und da aber auch. Sie bestärkt mich, gerade auch immer wieder in einem Punkt: in der Art und Weise, wie ich mit Anfeindungen, die ich erlebe, umgehe. Und sie ermutigt mich darin, weiterhin einfach mein Ding zu machen. Gleichzeitig denke ich und sage das auch meinen Followern: Genau das solltet ihr auch tun. Niemand von euch sollte sich verstecken, nur weil sie oder er anders ist oder nicht dem Mainstream entspricht. Ganz ehrlich, ich will gar nicht Mainstream sein. Wollte ich auch nie. Ich möchte nicht so sein, wie alle anderen sind. Ich glaube, wenn sich jeder ein bisschen mehr zutraut, würden sich viele der Probleme, die wir mit uns herumschleppen, in Luft auflösen.

Als vor ein paar Jahren der erste große von vielen Shitstorms (davon werde ich noch berichten) gegen mich losbrach, gab es kaum einen Tag, an dem die Presse nicht über mich herfiel und sich über mich lustig machte. Am Ende aber wendete sich das Blatt. Das wiederum hatten mir viele nicht zugetraut. Manch einer hätte sich über mein Scheitern gefreut. Mir jedoch war es irgendwann völlig wurscht, was andere über mich sagten, schrieben, tuschelten. Mir ist wichtig, von dem überzeugt zu sein, was ich tue. Und genau hier soll dieses Buch ansetzen. Ich möchte meine Leser, vor allem Mädchen und junge Frauen, darin bestärken, mehr auf sich zu schauen und weniger auf das, was andere über einen denken. Genau das aber fällt vielen schwer, so wie es übrigens auch mir früher schwerfiel. Sie lassen sich zu schnell unterkriegen, sie werden gemobbt und angefeindet und verlieren ihr Selbstvertrauen. Am Ende isolieren sie sich komplett. Ich kenne das. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nur noch traurig ist und nicht weiß, wie man aus diesem Strudel wieder herauskommt. Wer dieses Buch liest, soll daraus etwas für sich mitnehmen können: Motivation, Freude und Mut zu mehr Selbstbewusstsein. Ich möchte weitergeben, was mich meine Erfahrungen gelehrt haben, und hoffe, dass andere dadurch ein bisschen lernen, mit Konflikten besser umzugehen und nicht vorwiegend ihre Schwächen zu sehen, sondern ihre Stärken. Und vielleicht erkennt manch einer von euch, dass eine vermeintliche Schwäche eure wahre Stärke ist!

Wichtig ist mir auch, alles mit einer Portion Humor anzugehen und sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Humor kann befreiend wirken, er hilft, eine neue Sichtweise auf die Dinge zu entwickeln. Wenn ihr beim Lesen meines Buches mal schmunzeln müsst, mal nachdenklich seid oder auch mal eine Träne verdrückt, dann würde ich sagen: Mission erfüllt! Ich möchte euch dort abholen, wo ihr selbst gerade vielleicht nicht weiterwisst, verunsichert seid oder euch klein fühlt. Klar, ich bin keine Psychologin, aber ich werde euch von meinen Erfahrungen erzählen.

Übrigens, wer hofft, in diesem Buch etwas über meinen Mann zu erfahren, den muss ich an dieser Stelle enttäuschen. Hier geht es um mein Leben und um meinen Weg bis zu dem Punkt, an dem ich heute stehe. Natürlich spielt mein Mann, ebenso wie mein Sohn, eine zentrale Rolle in meinem Leben. Aber den Weg, den ich hier beschreibe, bin ich allein gegangen. Ich bin selbst für mein Glück verantwortlich und mache es auch von niemandem (mehr) abhängig.

Lange Zeit war ich mir selbst mein größter Feind. Ich stand mir im Weg. Litt unter Prüfungsangst, in der Schule, beim Abitur, an der Uni – ich wollte viel, manchmal zu viel, alles, bloß nicht versagen. Ohne Selbstvertrauen versank ich immer tiefer in einem Strudel. Letztlich ist es mir gelungen, mich daraus zu befreien und mich mit mir selbst zu versöhnen, zu lernen, mich zu akzeptieren. Heute kenne ich mich. Wie aus dem Ich, meinem Feind, mein bester Freund wurde, auch davon werde ich ehrlich berichten. Die Schwere, die ich durchlebte, ist ausschlaggebend dafür, warum ich so bin, wie ich bin. Manchmal denke ich, wie wohl alles gekommen wäre, wenn ich mit fünfzehn oder sechzehn unbeschwerter gewesen wäre. Vielleicht wäre mir die dunkle Phase meines Lebens erspart geblieben. Wer weiß das schon. Ich will nicht klagen; ich bin dankbar dafür, wie mein Leben verlaufen ist, und nur wer mal unten war, der weiß, wie man es schafft, aufzustehen und weiterzugehen. Und genau dazu möchte ich euch ermutigen: Habt Selbstvertrauen. Geht euren Weg. Verfolgt eure Träume. Seid stark und seid schwach. Seid mutig, echt und einzigartig.

2

Wie alles losging

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Der dreißigste Geburtstag ist für die meisten eine wichtige Wegmarke. Mit dreißig ist man irgendwie erwachsen, oder sollte es sein, ist im Leben angekommen. Ausreden zählen nicht mehr. Meinen runden Geburtstag feierte ich ganz groß in München, mit meiner Familie, Freunden, die mich seit vielen Jahren begleiten, mit Menschen, die mich auf meinem bisherigen Weg unterstützt haben. Ich wurde dreißig und ich wurde auch Mutter – gab es einen besseren Grund für eine Party?

Mein Fest hatte ein Motto: Rot und Glitzer. Ich wollte die Liebe feiern, und die Farbe der Liebe ist nun mal Rot, und der Glitzer, na ja, der war das kleine, aber feine i-Tüpfelchen obendrauf. Ich habe es ja immer schon gern ein bisschen glitzern und glamouren lassen, meine Familie kann davon ein Lied singen.

Die Gäste erfüllten den Dresscode mit Bravour. Mein Vater trug ein cooles rotes T-Shirt, meine Mutter eine rote Federboa. Die beiden sind seit 1982 verheiratet, darauf können sie wirklich stolz sein. Ich bin es jedenfalls. Sie sind, auch wenn jede Ehe Höhen und Tiefen durchschreitet, für mich das beste Beispiel, wie erfüllend eine lebenslange Beziehung sein kann. Und deswegen fand ich es besonders toll, dass sie gemeinsam mit mir feierten und sich dem Motto entsprechend in Schale schmissen.

Meine Kindheit war sehr behütet. Gemeinsam mit meinem Bruder Sebastian und meiner Schwester Vanessa wuchs ich in Unterschleißheim auf, einer Kleinstadt im Norden Münchens, und ich weiß noch, wie frei und leicht das Leben sich damals anfühlte. Wir drei haben immer etwas mit anderen Kindern unternommen, meine Mutter achtete darauf, dass wir viele andere Gleichaltrige um uns hatten, am liebsten spielten wir natürlich draußen. So etwas wie Langeweile jedenfalls gab es nicht. Und wann immer sich eine Gelegenheit ergab, packten uns unsere Eltern ins Auto und wir fuhren in die Berge, im Winter zum Skifahren, im Sommer zum Wandern. Meine Eltern waren begeisterte Camper, in den ersten Jahren haben wir gezeltet, später hatten wir einen Wohnwagen und wir verbrachten die Urlaube mit Freunden meiner Eltern auf Campingplätzen.

In den Sommerferien fuhren wir oft für mehrere Wochen an die Adriaküste ins damalige Jugoslawien. Aus dem Fernsehen kannten wir natürlich die alten Karl-May-Filme und waren begeistert, auf dem Weg ans Meer durch wilde »Westernlandschaften« zu fahren, dort, wo damals Winnetou gedreht worden war. Aus Kindersicht fühlten sich die Sommerferien an wie eine Ewigkeit. Der Gedanke, irgendwann sind die sechs Wochen rum und die Schule geht wieder los, der war unvorstellbar. Kroatien war immer wieder ein einziges großes Abenteuer. Später verbrachten wir die Ferien auch in Italien, weil wir Kinder uns mal einen Sandstrand wünschten. Meine Eltern bevorzugten zwar die Steinstrände der Adria, aber meine Geschwister und ich waren in der Überzahl und das ein oder andere Jahr konnten wir unseren Willen durchsetzen.

Zu Kroatien entstand damals, trotz der harten Kieselsteinstrände, eine innige Liebe. An der Küste von Posedarje in der Nähe von Zadar kauften wir vor ein paar Jahren ein Ferienhaus, hier finde ich Ruhe, wenn ich dem Alltagsstress mal entfliehen möchte, hier gebe ich auch Yoga-Retreats. Ein bisschen ist mir – auch dank der schönen Kindheitserinnerungen – Kroatien zur zweiten Heimat geworden.

Bei allen unseren Unternehmungen, seien es wochenlange Familienurlaube oder Tagesausflüge mit Tante und Cousinen, war meine Mutter eigentlich immer die treibende Kraft. Mein Vater, der beruflich sehr eingespannt war, überließ die Organisation gerne seiner Frau, er kümmerte sich im Gegenzug um Ausrüstung und Verpflegung. Ihr mangelte es auch nie an Ideen, mit welchem kleinen Abenteuer sie uns mal wieder überraschen könnte.

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Meine Mutter, Marion Fischer, gebürtige Messmann, kam 1961 in München zur Welt. Ihre Eltern wohnten in Unterschleißheim, damals war der Ort noch mehr Dorf als Stadt, ein Krankenhaus gab es nicht, nur einen Arzt. Kindheit und Jugend verbrachte meine Mutter in Unterschleißheim, dort lebt sie, mit meinem Vater, bis heute. Eigentlich wäre sie gern mal woanders hingezogen, aber das ergab sich irgendwie nie.

Das Thema Rollenverteilung von Frau und Mann war für meine Mutter und ihren Werdegang immer ein ganz zentrales. Denn auf gar keinen Fall würde sie – wie ihre eigene Mutter und viele andere dieser Generation – später irgendetwas in Richtung Hauswirtschaft machen. Das Modell Mann, Kind und Haushalt, no way, sagte sich meine Mutter. Mann, Kind, Haushalt und Job, ja, das unbedingt. Sie wollte ihr eigenes Geld verdienen, auf eigenen Beinen stehen und von niemandem abhängig sein.

Um beruflich voranzukommen, wäre sie am liebsten aufs Gymnasium gegangen, aber der Rektor riet ab, schlimmer noch, er warnte gar, das Gymnasium sei nicht die richtige Lehranstalt für Mädchen. Das sei wenig sinnvoll, denn sie bekämen Kinder und das war’s, meinte er. Was für ein moderner, weitsichtiger Pädagoge … Meine Mutter durfte also nicht aufs Gymnasium wechseln, eine weiterführende Schule ließ sie sich aber nicht verbieten und bewarb sich heimlich an der Realschule. Dafür benötigte sie die Unterschrift ihrer Eltern, und die bekam sie auch, aber das ganze Prozedere hat sie letztlich allein durchgezogen.

Ich bewundere sie dafür, wie sie ihr Ding gemacht hat. Meine Mutter war schon immer eine taffe Frau. Dem Realschulabschluss folgte eine Banklehre, anschließend erwarb sie an der BOS die fachgebundene Hochschulreife, um an der LMU in München Steuerrecht und Revisions- und Treuhandwesen studieren zu können. Als Studienschwerpunkt entschied sie sich für Steuerrecht, um sich später mit eigenem Büro niederlassen zu können. Denn zu dem Zeitpunkt war die Familiengründung in vollem Gange. Mein großer Bruder Sebastian war schon auf der Welt, und meine Mutter nahm ihn gelegentlich mit zu den Vorlesungen. Nach der Uni machte sie wie geplant ihren Steuerberater und ging in die Selbstständigkeit.

Die Entscheidung für Familie plus Karriere, sagt sie heute, sei goldrichtig gewesen, und sie würde es jederzeit genauso wieder machen. In dieser Beziehung ist meine Mutter Vorbild für mich. »Nur« den Haushalt zu managen, wäre für sie auch schon deswegen nie infrage gekommen, da sie der Meinung war, der Job einer Hausfrau und Mutter werde gesellschaftlich zu wenig wertgeschätzt. Schon als Kind hatte sie sich in den Kopf gesetzt, sich nicht mit den typischen Mädchen-Dingen abspeisen zu lassen. Dass die Jungs in der Schule werken und basteln durften, während die Mädchen stricken mussten, das sah die kleine Marion nicht ein. Sie bestand darauf, das zu tun, was sie tun wollte, und nicht das, was andere für sie entschieden hatten. Zum Beispiel wollte sie auch Fußball spielen – und natürlich durfte sie auch das nicht. Für Mädchen gab es damals noch nicht mal einen Fußballverein!

Alfred Fischer, mein Vater, ist ein waschechter Münchner. Von Beruf Bauingenieur, aus Berufung Musiker. Seine Kindheit unterschied sich fundamental von der meiner Mutter. Hier die Messmanns, eine eher kleinbürgerliche Handwerkerfamilie in Unterschleißheim, dort die großbürgerliche, wohlhabende, aber auch – vor allem für damalige Zeiten – eher unkonventionelle Familie Fischer/Sieber in München.

Seine Mutter, meine Oma Hildegard Fischer, war Modedesignerin, und ihr Mann, Großvater Ludwig Sieber, ein bekannter Architekt in Nürnberg und München. Die beiden waren nie verheiratet und zum Zeitpunkt von Papas Geburt auch längst schon kein Paar mehr, vermutlich passte ein Kind auch gar nicht in ihr Leben. Ich mag darüber nicht urteilen, nachvollziehen kann ich ihre Entscheidung, das eigene Kind nicht selbst großzuziehen, sondern wegzugeben, nicht.

Mein Großvater arbeitete in den USA, als mein Vater – ein klassischer »Betriebsunfall« – in München zur Welt kam. Sein Beruf als Architekt brachte es mit sich, dass er mal hier, mal da lebte und Häuser für eine sehr reiche Klientel entwarf. Mein Vater war fast zwei Jahre alt, als sein Vater nach Deutschland zurückkehrte. Weil auch meine Oma berufstätig war, verbrachte der Kleine sein erstes Lebensjahr bei den Eltern seiner Mutter. Als gelernte Schneiderin und Schnittdirektrice hatte sich Hildegard im Modedesign spezialisiert. Sie arbeitete mit angesehenen Geschäftsleuten ihrer Branche zusammen und war beispielsweise mit Willy Bogner befreundet. Sie liebte die Modewelt und führte ein modebewusstes Leben. Für ihren Sohn hatte sie in jungen Jahren wenig Zeit. Damals hatte man es als ledige Mutter aber auch alles andere als leicht. Sie musste sich selbst durchs Leben schlagen. Schließlich wurde mein Vater krank. Vielleicht lag es an einer zu einseitigen Ernährung, das weiß niemand mehr so genau, die Ärzte diagnostizierten Tuberkulose bei ihm. Er brauchte professionelle Hilfe und kam für ein Jahr in ein Sanatorium in den Bergen, nach Achatswies. Man überlegte hin und her, wie man nach der Genesung des Kindes weiter vorgehen würde und ob es nicht das Beste wäre, ihn in ein Heim zu geben. Gott sei Dank kam es anders. Der Vater seines Vaters sprach ein Machtwort und er kam zu seinen Großeltern väterlicherseits. Jetzt hatte er endlich und zum ersten Mal ein richtiges Zuhause und blühte auf. Leider starb der Großvater, kurz bevor mein Vater eingeschult wurde. Danach war seine Oma die alleinige Erziehungsberechtigte. Seinen Großeltern ist er bis heute unendlich dankbar, nur durch sie sei etwas aus ihm geworden.

Trotzdem waren diese Kindheitsjahre sicherlich keine leichten für meinen Vater, er hat sich aber nie beklagt, für ihn war es »normal«. Im Alter von elf oder zwölf Jahren bekam er seine erste eigene Gitarre und fing an, Musik zu machen. Die Musik war seine Rettung, sein Weg, sich zu emanzipieren. Das finde ich ganz stark von ihm, und darauf kann er stolz sein. Er ist Autodidakt, brachte sich alles selbst bei. Unterricht war damals leider keine Option, obwohl er ihn sehr gern genommen hätte. Er war durchaus erfolgreich, spielte in München in einer Band, mit der er auf Veranstaltungen, Familienfesten und Hochzeiten auftrat. Mit der Musik verdiente er sein erstes eigenes Geld – er war ein richtiger Rock ’n’ Roller und tanzte auch gern Rock ’n’ Roll. Und dennoch entschied er sich, auf ein anderes Pferd zu setzen als nur auf die Musik, und studierte parallel Ingenieurwesen. Für diese Stärke und seine lebensbejahende Art bewundere ich meinen Vater.

Die Musik begleitet ihn bis heute. So ganz hat sie ihn nie losgelassen, und das ist auch gut so. Vor etwa zwei Jahren fing er wieder an, mehr zu spielen, und tat sich mit einem Akkordeonspieler zusammen. Gemeinsam treten die beiden auf, ihr Repertoire reicht von volkstümlicher Musik über Rock ’n’ Roll bis hin zu Schlagern. Eigentlich spielen sie alles, was die Leute hören möchten. Besonders hat mich gefreut, als mein Vater bei meiner Hochzeit spielte. Das hatte ich mir gewünscht. Gemeinsam mit seinem Freund Harry, der Keyboard spielt, übte er im Vorfeld wie wild, da die Songs nicht zu ihrem üblichen Repertoire zählten. Als wir nach dem Standesamt auf der Dachterrasse des Bayerischen Hofs ankamen, spielten sie »In the Mood« von Glenn Miller. Und kurz darauf »Ganz in Weiß« (das war der Vorschlag meiner Mutter, mein Vater hat es ja eher mit Rock ’n’ Roll und Swing). »Das hast du aber schön gedichtet«, meinte ich zu meinem singenden Vater. Meine Mutter musste lachen: »Schön wär’s, dann hätten wir ausgesorgt.« »Swinging Safari«, »Que Sera« oder »Mamor, Stein und Eisen bricht« – ihre Darbietungen verliehen der Feier einen persönlichen Touch. Später kam dann auch noch eine professionelle Band zum Einsatz.

Ich muss mir ein wenig auf die eigene Schulter klopfen, denn nachdem ich meinen Vater zum Spielen auf unserer Hochzeit animiert hatte, entflammte das Musikfieber wieder in ihm und er begann, seine große Leidenschaft zu reaktivieren. Bis heute hält die Spielfreude an, was ich natürlich toll finde.

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Meine Eltern – frisch verliebt!

Meine Eltern lernten sich sehr jung kennen. Mama war achtzehn, Papa zweiundzwanzig Jahre alt. Sie lebte in Unterschleißheim, ging in Freising auf die Realschule und sehnte sich als Dorfkind nach dem Duft der großen weiten Welt. Sie wollte partout keinen Freund aus Unterschleißheim, lieber einen aus München oder von noch weiter weg. Jemanden, der ihren Horizont erweitern konnte. Eines Tages nahm eine Freundin sie mit zu einer Party, zu der auch Jungs aus München kommen sollten. An diesem Abend lernte sie meinen Vater kennen. Er war der Auserkorene und nach kurzer Zeit wurden die beiden ein Paar.

Die beiden studierten noch eine Zeit lang parallel, wobei Papas Ingenieursstudium schon weiter fortgeschritten war. In den Semesterferien nahm er Jobs an, um Geld für die junge Familie zu verdienen, während meine Mutter mit meinem Bruder zu Hause blieb. In dieser Zeit war sie dann »nur« Hausfrau. Bis heute betont sie, wie sehr sie diese Zeit genossen hat, wohlwissend, dass sie nach zwei, drei Monaten zurück an die Uni gehen und wieder etwas lernen würde. Wenn sie eine Klausurphase hinter sich gebracht hatte, freute sie sich wiederum auf ihre Familienzeit. Es waren zwei Leben, die sie nebeneinander führte und die ihr beide gleich wichtig waren. Sie sagte immer: »Wenn irgendwas im Job passiert, wird die Familie da sein und Halt geben.« Heute leitet sie ein eigenes Steuerbüro und ist auch mir beruflich eine große Hilfe. Wenn sie in ihrer Kanzlei einen komplizierten oder besonders herausfordernden Fall abgeschlossen hatte, berichtete sie uns zu Hause stolz von ihrem Erfolgserlebnis. Gleichzeitig wäre das ohne die Familie für sie nur halb so viel wert.

Nach dem Studium an der TU München arbeitete mein Vater kurz bei einer bekannten Münchner Bauunternehmung, um dann sein Referendariat beim Freistaat Bayern abzuleisten. Schlussendlich landete er bei einem Münchner Unfallversicherungsträger und arbeitete dort als Technischer Aufsichtsbeamter. Ein festes Grundeinkommen in der Familie war also gesichert. Für meine Mutter war das wichtig, da sie zu dem Zeitpunkt darüber nachdachte, sich selbstständig zu machen. Die Stelle meines Vaters gab ihnen Sicherheit. Meine Eltern konnten hier und da ein bisschen auf Risiko fahren, hatten aber immer die Sicherheit des Beamtengehalts. 2021 geht er in Pension, weil er sich mehr um die Familie kümmern möchte und weil es, wie er sagt, »irgendwann mal reicht«. Er ist jetzt dreiundsechzig, sein Vater war fünfundsechzig, als er an einem Herzinfarkt starb, und seine Priorität heute ist es, seine Zeit sinnvoll für die Familie zu nutzen und auch zu genießen. Ich selbst hatte als Kind einen engen Draht zu meinen Großeltern, und genau das wünsche ich mir auch für meinen Sohn.

Rückblickend betrachtet haben sich meine Eltern von Beginn an einfach perfekt ergänzt: Während meine Mutter als junge Frau der Enge ihrer Herkunft entfliehen wollte, suchte mein Vater das genaue Gegenteil. Ihm gefiel die Idee einer beständigen Familie, weil er genau das als Kind nie erlebt hatte. Für kurze Zeit wohnten sie in einer Mietswohnung in Moosach. 1982 heirateten sie, und als meine Mutter mit meinem großen Bruder schwanger wurde, zogen sie zurück nach Unterschleißheim. Ihre Eltern hatten dort in den Siebzigern ein Dreifamilienhaus gebaut, das Dachgeschoss wurde renoviert, und nach Sebastians Geburt zog die Kleinfamilie dort ein. Meine Mutter war nicht allzu froh darüber, wieder in Unterschleißheim gelandet zu sein, mein Vater hingegen fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben rundum wohl und heimisch. Meine Mutter hatte den Absprung aus der Heimat vielleicht nicht geschafft, aber sie hatte erreicht, wonach sie sich immer gesehnt hatte: frei zu sein, unabhängig und gleichzeitig familiär eingebettet.

1992, als alle drei Kinder da waren, kauften meine Eltern eine Doppelhaushälfte in Unterschleißheim, in der sie bis heute leben. Damals entstand eine neue Siedlung für junge Familien mit Kindern. Für mich und meine Geschwister war diese Siedlung das Paradies. In der Früh standen wir auf, gingen raus in den Garten und spielten mit den Nachbarskindern.

Mein Bruder Sebastian ist viereinhalb Jahre älter als ich, und meine kleine Schwester Vanessa und ich liegen zwei Jahre auseinander. Zu meinem großen Bruder hatte ich immer ein besonders inniges Verhältnis. Das hat sich bis heute nicht geändert. Ich habe ihn bewundert, egal, was er machte, ich fand alles toll. Ich wollte so sein wie er und wich ihm nie von der Seite. Einmal waren wir wieder im Skiurlaub, und Sebastian besuchte natürlich einen Skikurs einige Altersklassen über mir. Er war zehn und ich sechs, die kleine sture Cathy wollte aber unbedingt in seinem Kurs mitfahren. Weil ich schon ziemlich sicher auf den Brettern stand, hatte der Skilehrer nach langem Betteln ein Einsehen – und mein Bruder mich wieder an der Backe.

Sebastian tat oft genervt, aber ich glaube, eigentlich fand er es gar nicht so schlecht, der angehimmelte »große Bruder« zu sein. Es gab ein Bruder-Schwester-Ritual. Wir gingen auf den Trödelmarkt, um unser Taschengeld aufzubessern, und verkauften alte Sachen, die wir zu Hause nicht mehr gebrauchen konnten. Es gab verschiedene Märkte in der Nähe, beim Bahnhof in Unterschleißheim zum Beispiel oder beim McDonald’s um die Ecke. In Sachen Verhandlungen war mein Bruder eher vorsichtig und verkaufte zum Vorteil der Käufer, während ich immer die knallharte Geschäftsfrau gab, die tendenziell einen zu hohen Verkaufspreis für die angebotenen Produkte ansetzte. Wir machten alles zu Geld, was uns unter die Hände kam: altes Spielzeug, Kleidung, Bücher oder auch Dinge, die wir bei unseren Großeltern aus dem Keller ausgegraben hatten, wie beispielsweise eine alte Brotschneidemaschine oder Teppiche. Der Flohmarkt war für mich gleichzeitig eine Schatztruhe, weil ich als passionierte Schlümpfe-Sammlerin nach den kleinen blauen Figuren Ausschau halten konnte. Meistens mit Erfolg.

Aktionen wie der Flohmarktverkauf machten unheimlich Spaß und ich war auch ziemlich einfallsreich. Um die Zeit bis zum nächsten Termin zu überbrücken, kam ich auf die Idee, einen kleinen Shop in unserer Straße aufzubauen, um ein bisschen Geld zu verdienen. Damals gründete ich sozusagen mein erstes Business zusammen mit einer Freundin: Für fünf Mark wuschen wir die Autos der Nachbarn. Ich war die treibende Kraft und für die Akquise verantwortlich, ging von Nachbarstür zu Nachbarstür und holte die Aufträge ran. Für die fünf Mark schufteten wir aber auch richtig, wienerten die Autos stundenlang, von innen, von außen, ließen keine Ecke aus. An einem guten Tag schafften wir auf diese Weise drei Wagen und waren abends um fünfzehn Mark reicher. Wir fühlten uns wie Krösus.

Mit siebzehn fing ich an, richtig zu arbeiten. Ich suchte mir Jobs im Einzelhandel und verkaufte Klamotten bei Pharo, später bei Closed und Diesel. Was auch nötig war, denn ich war nie der Spartyp, sondern gab das Geld, das reinkam, mit vollen Händen sofort wieder aus. Hier ein Wohnaccessoire für mein Zimmer, da ein Kleidungsstück, dann Schminke, Lippenstift – die schönen Dinge, die ich mir vom Taschengeld allein nicht kaufen konnte. Andere legten ihr Geld zur Seite, mein Bruder zum Beispiel, auf die Idee kam ich erst gar nicht.

Das Verhältnis zu meiner Schwester war ganz anders als zu meinem Bruder. Große Schwester, kleine Schwester. Wenn sie mich nachmachte und mir meine Sachen wegnahm, was kleine Schwestern halt gerne so machen, wurde ich zickig, das konnte die ältere Schwester gar nicht leiden. Jeder, der Geschwister hat, kennt das sicherlich. Als Sandwichkind, was ich ja bin, hat man es nicht immer leicht. Das älteste Kind hat sowieso seine Privilegien, dem jüngsten Kind stehen alle Türen offen, weil die älteren Geschwister sie über Jahre in etlichen Diskussionen geöffnet haben. Ich, als die Mittlere, hing dazwischen. Bei uns war es so, dass mein großer Bruder stets der Vorzeigesohn war. Er war extrem ehrgeizig. Ich wollte immer so sein wie er. Weil ich aber ein Mädchen war, durfte ich viele Dinge nicht machen, die ihm erlaubt waren. Da er als Kind und Jugendlicher (wie heute auch noch) eher introvertiert, vorsichtig und nicht so der Partytyp war, wurde er von meinen Eltern geradezu ermuntert, auf Partys zu gehen, und sie hatten auch kein Problem damit, wenn er länger wegblieb oder irgendwo übernachtete. Bei mir waren meine Eltern wesentlich strenger, ich musste darum kämpfen, abends länger wegbleiben zu dürfen. Das empfand ich schon einmal als unfair. Gleichzeitig wurde meiner kleinen Schwester, dem Nesthäkchen, später das erlaubt, was mir verboten worden war oder worum ich lange hatte betteln müssen. Sie durfte sich mit dreizehn ein Bauchnabelpiercing stechen lassen, ich erst mit fünfzehn oder sechzehn, und das nach einem langen Kampf mit meinen Eltern.

Ich fühlte mich immer ein wenig als Zwischenstation und die Lorbeeren meines Kampfes für mehr Rechte erntete eigentlich meine Schwester. Cathy boxte den Weg frei. Meiner Ansicht nach ist unsere Familie aber nur ein Beispiel für die meisten Dreierkonstellationen bei Geschwistern. Sandwichkinder haben es meiner Meinung nach immer etwas schwerer. Andererseits werden sie für das Leben stark gemacht. Ich für meinen Teil lernte damals, mich richtig durchzusetzen und mich so zu behaupten. Da bietet die Position des mittleren Kindes hervorragende Trainingsmöglichkeiten. Trotzdem litt ich unter dieser Position, das wurde mir erst später gewusst. Rückblickend verstehe ich, dass viele Verhaltensmuster, die ich heute habe, auf meine Kindheit zurückzuführen sind. Beispielsweise hatte ich lange Zeit das Gefühl, mich für alles rechtfertigen zu müssen. Für das, was ich tue, was ich sage oder wie ich entscheide. Und ich kämpfe immer für das, was ich möchte, obwohl ein Kampf oft gar nicht erforderlich ist.