EVELYN BERCKMAN

 

 

Skrupellos

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 83

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

SKRUPELLOS 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Es ist die Stimme eines Kidnappers. Sie wird über alle englischen Rundfunksender verbreitet. Auf Tonband war eine telefonische Unterredung zwischen dem Kidnapper und dem Vater des entführten und inzwischen ermordeten Kindes aufgenommen worden. Wer kann der Polizei Hinweise geben?

Vor der Telefonzelle, aus welcher der Mörder sprach, hatte eine alte Frau gewartet. Obwohl ihre Beschreibung nur vage und ungenau ist, versucht die Polizei, den Mörder zu stellen. Wird es ihr gelingen, den skrupellosen Unhold in eine Falle zu locken?

 

Evelyn (Domenica) Berckman (*18. Oktober 1900; †18 September 1978) war eine US-amerikanische Autorin von Kriminal- und Schauer-Romanen.

Der Roman Skrupellos erschien erstmals im Jahr 1960; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1963.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   SKRUPELLOS

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Mrs. Gertrude Maryk, fast achtundsiebzig Jahre alt, hatte Kummer. Ihre Enkelin, Trudy Merrick, fast achtzehn Jahre alt, hatte Sorgen. Kummer und Sorgen waren der einzige gemeinsame Nenner zwischen den beiden Frauen. Ansonsten waren sie nicht nur durch Alter, Herkunft, Sprache und Milieu, sondern auch durch die ganze Weite einer Stadt, die zwischen ihnen lag, voneinander getrennt - eine geistige, physische und geographische Kluft, wie sie krasser kaum denkbar wäre.

Das finstere Gewölk, das über der Alten und der Jungen lastete, war im Wesentlichen das gleiche, wenn auch seiner Art nach noch so verschieden. Sorgen der Jahre hier wie dort, unentrinnbarer Kummer des alten, unentrinnbarer Kummer des jungen Menschen, und in beiden Fällen erst einmal unheilbar. Allein mit sich selbst hatten die alte Mrs. Maryk und die junge Trudy, ohne sich anderen anzuvertrauen, endlos ihre Probleme gewälzt und waren beide zu der gleichen Schlussfolgerung gelangt: Es sei nichts zu machen, denn nur der Ablauf der Zeit könne Hilfe bringen, und die Zeit vergehe viel zu langsam.

Schließlich bestanden zwischen den beiden Blutsverwandten, die einander gleichzeitig so fremd waren, eine letzte Ähnlichkeit und eine letzte Verschiedenheit. Die Ähnlichkeit lag darin, dass sie beide - die eine kaltblütig, die andere fieberhaft - auf die Errettung warteten. Die Verschiedenheit lag darin, dass die eine der Gefahr entgegenrannte und die andere vor ihr weglief.

 

In dieser späten Phase ihres hohen Alters hatte Mrs. Maryk allzu oft zu spüren bekommen, dass das Räderwerk ihres Lebens allmählich abzulaufen begann. Sie hatte das Ganze von Herzen satt und sehnte sich nur noch nach dem Ende. Mit unerschöpflicher Erfindungskraft entdeckte ihr Körper immer neue Wege, die dem Grab entgegenführten. Kaum merkte er, dass der eine Weg durch die ärztliche Wissenschaft versperrt war, machte er sich daran, einen neuen Zugang zum Nichts zu erschließen. In der Klinik hatte man sich in recht allgemeinen Redewendungen über den Zustand ihres Herzens geäußert, ihr allerlei Medikamente gegeben und ihr strenge Weisungen erteilt, sie möge jede Anstrengung vermeiden, mit ihren Kräften haushalten und so weiter. Brav hatte sie die Pulver und Pillen in Empfang genommen, ohne zu erwähnen, dass sie nicht die geringste Absicht habe, die Weisungen zu befolgen. In ihrer sanften, wortkargen Art war sie eine äußerst eigensinnige alte Frau. Aber die Diagnose Herzleiden war ihr geradezu ein Trost und eine innige Hoffnung, während ihre Finger an dem Rosenkranz entlangglitten, dessen braune Kugeln durch den vielen Gebrauch lauter unregelmäßige Kanten erhalten hatten. Mit wechselnden Stoßgebeten, aber unbesieglicher Halsstarrigkeit erflehte sie die Gnade eines schnellen Endes, um nur ja nicht die unsäglichen Erniedrigungen und Leiden einer langwierigen Todeskrankheit ertragen zu müssen.

Diese alte Frau, um die es sich handelt, war nach Abstammung, Charakter und finanzieller Lage ein Niemand, eines jener obskuren Geschöpfe, die zu Millionen umherlaufen, und deren Geburt und Tod selbst in ihrer eigenen Welt kaum die Oberfläche kräuseln. Äußerlich war sie der langen Reihe biederer tschechischer Bauern nachgeraten, von denen sie herstammte: klein und stämmig, mit blauen Augen, hohen Backenknochen und vierkantigen Zügen slawischen Gepräges. Von Tag zu Tag schrumpfte sie immer mehr zusammen, und doch verblieb ihr gleichsam ein Echo früherer Kraft und Gesundheit, wie dem verwelkten Apfel der zarte Duft seiner Reife. Inmitten all der hässlichen Härte der Industriestadt, an deren Peripherie sie wohnte, war unauslöschlich etwas Bäuerisches an ihr haften geblieben, obwohl sie sich schon vor Jahren einen anständigen schwarzen Mantel und ein Hütchen zugelegt hatte und nie mehr, nicht einmal, wenn sie einkaufen ging, ein Kopftuch trug.

Die Anonymität ihres Lebens passte vorzüglich zu der eigenartigen Anonymität der Gegend, in der sie hauste. Am Rand eines weiten, öden, trockengelegten Sumpfgeländes gelegen, auf dem sich früher einmal eine Anzahl, jetzt schon fast zur Gänze gesperrter Betriebe befunden hatte, war dieses Viertel ein Teil einer für die Betriebsangestellten geplanten Mustersiedlung gewesen. Zwei Straßenzüge billiger, kleiner Häuser, die, solange sie neu waren, fälschlich einen netten und erfreulichen Eindruck machten, waren angelegt und besiedelt worden. Dann aber - im Gefolge einer jener wirtschaftlichen Umwälzungen, die der großen Mehrzahl so unverständlich sind - war die riesige Fabrik, die so solide und dauerhaft ausgesehen hatte wie der Fels von Gibraltar, nach einem anderen Staat gezogen: Das Siedlungsprojekt hatte man kurzerhand in seinem halbfertigen Zustand fallen lassen. Binnen einem Jahr folgten andere Betriebe dem Beispiel des Giganten, bis auf dem gesamten, enormen Gelände nur noch zwei kleinere Werkstätten zurückblieben. Gegenwärtig war nur etwa die Hälfte der »vorbildlichen« Häuser, die sich beeilt hatten, aus den Fugen zu gehen, noch bewohnt - natürlich von Leuten, die keine andere Wahl hatten.

Dieses gottverlassene Viertel war das Milieu, in dem Mrs. Maryks Leben sich immer langsamer in den immer engeren Kreisen von Heim, Markt und Kirche bewegte. Sie hatte ein paar Bekannte, aber keine Freunde. Ihren Sohn bekam sie so oft wie nur möglich zu sehen, ihre Schwiegertochter und ihre Enkelkinder fast nie. Im Grunde genommen kannte sie niemanden und ging auch nirgends hin. Weder bewusst noch unbewusst hatte sie Kontakt mit den Menschen und Ereignissen der Außenwelt. Da sie sogar in der Muttersprache eine halbe Analphabetin war, konnte sie Englisch nur mit großer Mühe lesen und verstand das meiste nicht. Zeitungen bekam sie eigentlich nur zufällig zu sehen und entbehrte sie nicht. Sie besaß auch kein Radio.

Angesichts dieser Isolierung war es fast nicht zu glauben, dass eine Frau wie Mrs. Maryk - alt, unbekannt, kränklich und von Natur aus zurückhaltend - im Brennpunkt der Kindesentführung Wilmer stehen und das grelle Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit des Landes auf sich lenken sollte. Das war natürlich weder ihre Schuld noch ihr Verdienst. Von Anfang an war ihr der blinde und böse Zufall behilflich - bei diesem Anlass noch böser als sonst, aber vielleicht, schließlich und endlich, doch nicht gar so blind.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Trudy Merrick blickte in ihre nächste Zukunft und sah sie auf eine lange Strecke hin im Dunkel liegen - oder zumindest in einem schweren Schatten, dem Schlagschatten einer Gestalt, die regungslos dort stand, immer ein und dieselbe und immer allein. Darüber wurde sie sich klar, als sie in ihrem Schlafzimmer saß, das die geschickten Hände ihrer Mutter in ein gemütliches und behagliches Nest verwandelt hatten, mit einer Fülle bunter Rüschen an allen erdenklichen Ecken und Enden. Trudys ganzes Leben, von der Wiege bis in die Backfischjahre, war durch Rüschen in den ihrer jeweiligen Altersstufe angemessenen Pastellfarben geschmückt gewesen. Inmitten all dieser Farbenpracht lief es ihr plötzlich kalt über den Rücken, dann zuckte sie zusammen: Sie erinnerte sich wieder, wie es gewesen war, als sie zum ersten Mal einen Kollegen aus der Kunstgewerbeschule zu sich nach Hause eingeladen hatte. Bei diesem Gedanken wurde ihr geradezu mulmig zumute, sie hätte diese Erinnerung am liebsten für ewige Zeiten aus ihrem Gedächtnis ausgelöscht, aber ein kleiner Teufel zwang sie, immer wieder daran zu denken und sich auch nicht die kleinste peinliche Einzelheit zu ersparen. Bilder dieser Art tauchten auf: Wie sie zusammen mit Bob Straker nach Hause gekommen war, wie erfreut er ausgesehen hatte, als sie ihn durch den gepflegten sonnenbeglänzten Garten führte, wie stolz sie gewesen war, als sie seine Miene sah. Schmerzlich runzelte sie die Stirn und flüsterte vor sich hin: »Du dumme Gans!«, bevor sie die weiteren Ereignisse Revue passieren ließ gleich einem abscheulichen Film, von dem sie den Blick nicht abwenden konnte.

Ihre Mutter hatte sie an der Haustür empfangen, hochgewachsen und derbknochig, elegant gekleidet wie stets, mit ihrem üblichen gleichsam frischgestriegelten Aussehen. Ihre Anwesenheit war an und für sich eine Ausnahme von der Regel. In all den Jahren, in denen Trudy früher mit den Nachbarskindern verkehrte, hatte sie sich nie um sie gekümmert, abgesehen davon, dass sie sie streng ins Spielzimmer verbannte und stets einen Überfluss an Leckerbissen für sie bereit hielt. Nun aber, da dieser Fremdling aus höheren Regionen, aus der Kunstgewerbeschule erschien - ein fast schon erwachsener Freund Trudys - hatte sie sich offenbar verpflichtet gefühlt, sich besonders anzustrengen. Und sie hatte sich angestrengt. Wenn Trudy zurückdachte, schauderte sie wieder. Wenn sie uns bloß in Ruhe gelassen hätte! dachte Trudy. Mehr wäre nicht nötig gewesen: - uns nur in Ruhe lassen... Weit entfernt davon, sie nicht zu stören, hatte Mrs. Merrick das Ruder an sich gerissen. Sie besaß die Wucht und Stoßkraft einer mittleren Lawine und war ungefähr ebenso leicht zu bezwingen. Im Nu war die Lunchbar in einem üppigen Flor schöner Leckerbissen erblüht, und auf Mrs. Merricks Aufforderung hatten Trudy und Bob die hohen Hocker an der einen Seite erklommen, während sie sich ihnen gegenüber niederließ. Mit diesem Augenblick begann die gespenstische Szenenfolge, deren Spuren seither Trudy das Dasein vergällten: die unaufhörlichen Heiterkeitsausbrüche der Mama, ihre von lautem Gelächter und verschmitzten, vielsagenden Blicken begleiteten Anspielungen, welche die beiden jungen Leute sozusagen verkuppeln wollten, die stumm und unglücklich nebeneinander hockten, während Bobs Lächeln immer dünner wurde und schließlich erlosch, bis er nur noch ein unbeholfener Klotz mit brennend roten Ohren war und ab und zu ein »Ja, gnädige Frau« oder ein »Nein, gnädige Frau«, murmelte, und dann - dann der allerschlimmste Moment, der Höhepunkt des Unerträglichen, als Mrs. Merrick - in der klaren Einsicht, dass ihr der Erfolg, zu dem ihre Bemühungen sie berechtigt hätten, versagt blieb - ihre Jovialität auf die brüskeste Art, dass es geradezu knallte, einfach fallen ließ und Bob mit einem finsteren Blick musterte, der deutlicher als alle Worte zu sagen schien: Was ist denn mit dir los, du eingebildeter kleiner Lümmel? Wir sind dir nicht gut genug, nein...?

»Oh, du lieber Gott!«, flüsterte Trudy. Immer wieder zuckte sie unwillkürlich zusammen. Dann verscheuchte sie gewaltsam jene Bilder aus ihrem Kopf und begann abermals die Zukunftsaussichten im Lichte dieser ersten Erfahrung zu erwägen. Was mit Bob passiert war, könnte sich jederzeit wiederholen, wenn sie Freunde oder Freundinnen ins Haus brachte - vor allem Freunde (wie ein Instinkt ihr warnend zu verstehen gab). An Bob hatte ihr nicht viel gelegen, er war nicht ihr Typ. Wie denn aber, wenn er ihr gefallen hätte? Angenommen, sie wären sogar drauf und dran gewesen, sich ineinander zu verlieben. Wäre seine Liebe, wäre die Liebe irgendeines Mannes einer ersten Begegnung solcher Art gewachsen gewesen? Heftig schüttelte sie den Kopf und schämte sich ihres Verrats, der ihr wie ein Stein auf dem Herzen lastete. Abgesehen von ihrem ungewöhnlich reizvollen Aussehen besaß Trudy die Denkweise und den Wortschatz eines durchschnittlichen Teenagers.

Es wäre ihr nie eingefallen, ihre Mutter als ordinär, großmäulig oder aufdringlich zu bezeichnen. Aber sie musste zugeben - wieder mit jenem Gefühl eines Treuebruchs -, dass schon allerlei dazu gehörte, ihre Mutter zu verdauen, und dass man so heldenhaften Mägen nicht alle Tage begegnet. Plötzlich sah sie sich in Gedanken mit einem Schwertschlucker verheiratet und fing hysterisch zu kichern an. Dann legte sich ihr wieder der schwere Stein aufs Herz. Im Handumdrehen verfiel sie aus dem Lachen in schwarze Verzweiflung. Wenn jemand sich in sie verliebte, war es unvermeidlich - wer immer es sein mochte -, dass seine Angehörigen eines Tages fragten: Wer ist sie? Wo stammt sie her?

»Das ist ja aus einem Kostümfilm!«, sagte sie mit matter Selbstironie. »Alter Plüsch.« Aber der Spott verblasste sogleich vor dem schrecklichen Verdacht, dass dieser alte Plüsch in den Kreisen, in denen du gern dein Leben verbringen möchtest, noch immer recht angesehen ist. An dir hängt ein unsichtbarer Faden, den verfolgen die Leute, und dort, wo er endet, findet man deine Herkunft, und was man dort gefunden hat, hat erschreckend viel damit zu tun, was man von dir hält, wenigstens zu Anfang. Und gleich am Ausgangspunkt ihres eigenen Lebens hatte sie den Mühlstein gespürt, der ihr um den Hals hing, den Stein des Anstoßes, der ihr künftiges Glück gefährdete...

Ein wenig später in der Küche...

»Warum bringst du nicht mal abends einen netten Jungen mit nach Hause?«, sagte Mrs. Merrick mit ihrer schrillen Stimme. »Nicht so einen wie neulich den Bob, den kleinen Schnösel, sondern einen, den man noch nicht auf Eis gelegt hat, um Himmels willen! Du musst doch in der Schule auch nette Burschen kennenlernen«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu. »Wenn nicht, dann weiß ich wirklich nicht, warum wir so viel Geld hinausschmeißen.«

Ich werde mich hüten, dachte Trudy, noch einmal jemanden einzuladen. Ihr Entschluss war dreifach gehärtet. Ich werde mich hüten...

Mrs. Merrick setzte ihre Strafpredigt fort. »Du siehst gut aus, und ich schneidere dir die schönsten Kleider, die ein Mädel in deinem Alter sich nur wünschen kann - also was machst du bloß mit deiner Zeit? Glaubst du, du kannst dich einfach auf deine vier Buchstaben hocken, und die Männer werden angelaufen kommen? So geht es in dieser Welt nicht zu, das weißt du genauso gut wie ich. Ach, du lieber Gott!«, rief sie weinerlich aus, als ihr eine andere Möglichkeit einfiel. »Wirst du auch so ein Karpfen werden wie dein Papa, dem noch nie in seinem Leben etwas Spaß gemacht hat? Das hätte mir gerade noch gefehlt, Jesus Maria! Einer in der Familie reicht mir!«

Nie, dachte Trudy und stellte sachte und präzise den Thermostat des Bügeleisens ein. Nie wieder werde ich jemanden in dieses Haus einladen...

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Die Kindesentführung war von ihren ersten Anfängen an durch seltsame Abweichungen von dem üblichen Muster solcher Verbrechen gekennzeichnet. Erstens einmal waren die Wilmers weder reich noch auch nur besonders wohlhabend. Welche Maßstäbe man auch anlegen mochte, so waren sie doch nie mehr als immer zahlungsfähig gewesen. Freilich wohnten sie in einem guten und teuren Viertel, aber nur dank einer Laune des Zufalls, weil es ihnen gerade noch gelungen war, den Bauvorschriften ein Schnippchen zu schlagen: Ihre unansehnliche Villa war auf allen Seiten von großen Häusern umgeben, die zum Teil einen hochherrschaftlichen Charakter hatten. Fred Wilmer, ein Kleinunternehmer, würde alle Hände voll zu tun haben, um überhaupt ein Lösegeld aufzutreiben. Bisher war noch keine Summe genannt worden - so weit war die Angelegenheit noch nicht gediehen.

Auf das Verschwinden des Kindes folgte der übliche Tumult. Von jeder ersten Zeitungsseite, von jedem Fernsehbildschirm blickte einem das hübsche, lausbübische Gesicht mit den schwarzen Augen und dem Grübchen-Kinn entgegen. Auf den Brustbildern war die mit Fransen besetzte Cowboyjacke zu sehen, ein besonders imposantes Stück, das Jonny zu seinem fünften Geburtstag, drei Wochen und zwei Tage zuvor, geschenkt bekommen hatte. Nach dem ersten Tamtam setzte eine Art Windstille ein, eine Pause, als hielte das Land den Atem an, während es auf das erste Signal der Kindesräuber wartete. Als dieses erste Signal nach etwas über vierundzwanzig Stunden kam und jeder Quadratmillimeter des halb analphabetischen Briefes auf billigem Papier mit den schärfsten Methoden moderner Kriminaltechnik untersucht wurde, war das Ergebnis gleich Null. Die Formulierung der Nachricht - dass die Kidnapper anrufen würden - schien auf eine nicht bodenständig amerikanische Herkunft des oder der Schreiber hinzudeuten, aber man fragte sich, ob nicht dieser fremdländische Einschlag nur vorgetäuscht sei. In Erwartung des Anrufs, dessen Zeitpunkt nicht näher bestimmt war, wurden alle möglichen Vorbereitungen getroffen und ein komplizierter Apparat in Gang gebracht, dessen Auslösungsmechanismus so exakt bemessen war wie der einer hochexplosiven Sprengstoffladung. Unablässig drehten sich die Spulen der Tonbandgeräte, welche die Leitung bewachten. Sonderagenten waren Tag und Nacht auf dem Posten, um dem Anruf sogleich nachgehen zu können. In jedem Polizeidistrikt standen Funkstreifenwagen bereit, um sich mit gellenden Sirenen auf das ausfindig gemachte Telefon und das gesichtslose Wesen zu stürzen, das sich lange genug aus seinem Schlupfloch hatte hervorwagen müssen, um sich durch den Klang seiner Stimme ans Messer zu liefern. Alles wurde sorgsam arrangiert - mit einem unbegrenzten Aufwand an Zeit, Geld und Umsicht. In endlosen Besprechungen auf höchster Ebene zermarterten sich die Experten das Gehirn, um sämtliche Eventualitäten mit- einzuberechnen, die krassesten und die fadenscheinigsten. Nichts geschah. Nichts und wieder nichts. Die qualvolle Wartezeit schleppte sich hin, vierundzwanzig Stunden, sechsunddreißig Stunden lang...

Die zweite Variation des gewohnten Ablaufs kam am dritten Tag, als die Angelegenheit plötzlich aus einem öffentlichen Ereignis zu einem Geheimnis wurde - einem mit dreifachen Sicherungen umgebenen Geheimnis. An einem erbärmlichen Septembermorgen kam bei strömendem Regen ein Parkwächter namens Neil Monahan, dessen Runden auch einen allgemein zugänglichen Golfplatz umfassten, an einem Gehölz vorbei, das an den Golfplatz grenzte. Als er zufällig einen Blick in das dornige und äußerst dichte Gestrüpp warf, sah er dort etwas Helles mitten im Grün liegen. Er blieb stehen und glaubte, einen verirrten Golfball vor sich zu sehen. Er überlegte lange, ob es der Mühe wert sei, sich wegen einer so bescheidenen Lockung durch das nasse Dickicht zu zwängen. Dann aber sagte er sich, er würde bestimmt den ganzen Tag lang an den Ball denken, der einen knappen Meter entfernt war und den er nur hätte aufzuheben brauchen. Wie ein Elefant ging er gegen die grüne Mauer los und zertrampelte jeden Widerstand mit seinen kräftigen Beinen, die in Ledergamaschen steckten. Der Gegenstand, als er ihn aufhob, erwies sich nicht als ein Golfball, sondern als ein Fransenbesatz, der von einem Cowboyanzug stammte und sauber und neu aussah. Von düsteren Ahnungen erfüllt, eilte Monahan über den durchweichten, öden Golfplatz zu dem Telefon in seiner Bude.

Die Insassen der beiden Bereitschaftswagen, die auf den Alarm hin angerast kamen, entdeckten binnen einer Viertelstunde das flache Grab, nicht weit von der Stelle, wo der Fransenbesatz die Aufmerksamkeit des Parkwächters erregt hatte. Das Opfer war erwürgt worden, und die Obduktion (ein Teilergebnis lag schon nach zwei Stunden vor) ließ darauf schließen, dass man dem Kind einen Faustschlag oder eine heftige Ohrfeige versetzt hatte. Aber lange bevor diese oder sonstige Auskünfte zur Verfügung standen, war eine dringendere Aufgabe zu erledigen, nämlich, die Eltern zu benachrichtigen. Dieses Vergnügen wurde - und da gab es kein Entrinnen - dem Kriminal-Captain zuteil, der den Fall bearbeitete, einem Mann namens Thomas Helm. Er galt als sehr jung für den Rang, den er bekleidete. Groß und vierschrötig, mit derben Zügen und stahlblauen Augen, sah er aus wie der Prototyp des Polizeibeamten. Aber mochte auch sein Äußeres im Rahmen seines Berufs alltäglich sein - seine Fähigkeiten waren keineswegs alltäglich.

Mit jeder Faser seines Wesens vor der Pflicht zurückschreckend, die ihm bevorstand, holte Helm zwei Polizeiärzte heran, da er das Gefühl hatte, ihre Dienste würden nötig sein, und befahl mit finsterer Miene, in den Villenvorort zu fahren, in dem die Wilmers wohnten. Als er die kleine Veranda betrat, wurde die Eingangstür von innen aufgerissen, und der Vater des Jungen stand vor ihm. Jede Falte in Fred Wilmers Gesicht, jeder Muskel an seinem Körper verriet, wie er blindlings hingestürzt war, um die Tür zu öffnen. Verstört blickten seine Augen, entsetzt und fragend. Seine grauen Lippen bewegten sich lautlos wie die Schalen einer Auster. Ein paar Schritte hinter ihm sah Helm die Frau stehen mit zerrauftem Haar und irrem Blick. Aber wie die beiden dastanden und ihre Besucher anstarrten, sah Helm etwas in ihren Gesichtern Vorgehen, nicht so sehr einen Wandel des Ausdrucks, sondern eine jähe Leere: Die Hoffnung erlosch wie eine ausgeblasene Kerze, und dann war tote Finsternis. Ohne dass er ein Wort gesagt hatte, ohne dass er sich den Kopf zerbrechen und nach den behutsamsten Phrasen suchen musste, war es geschehen.

Sie wussten Bescheid.

 

Eine Weile später befanden sich Helm und einer der Ärzte zusammen mit Fred Wilmer im Badezimmer zu ebener Erde. Mrs. Wilmer lag oben zu Bett, mit Beruhigungsmitteln vollgestopft, unter der Obhut des zweiten Arztes.

Die beiden Hauptpersonen und die Polizeibeamten hatten die ersten schlimmen Augenblicke hinter sich - den ersten Einbruch des Albtraums ins tägliche Leben, die entwürdigende Hysterie, das Nein-Nein-Geschrei, als könnte man das Geschehene dadurch, dass man es ablehnt, zur Umkehr zwingen und ungeschehen machen. Dann, nach der Tobsucht, die Erschöpfung und der unvermeidliche Kollaps, eine dumpfe Lähmung, unterbrochen durch neue Krämpfe, die sie packten, wie der Terrier eine Ratte packt, die er zu Tode schüttelt. Der kleine Waschraum bot kaum Platz genug für Fred Wilmer, Helm und den Arzt. Im Wohnzimmer warteten der dem Captain unterstellte Kriminalleutnant Bender und drei weitere Beamte. In den vier Wänden des Badezimmers war ein seltsamer Kampf im Gange - ein ungleicher Kampf: Wille gegen Wille - der eine hellwach, frisch und unbarmherzig, der andere wirr und matt, wie der eines vergifteten Tiers, das seinen Quälgeistern entwischen möchte. Fred Wilmer war ganz still geworden. Seine Augen waren stumpf und umwölkt. Die meiste Zeit saß er in sich zusammengesunken da, während Helm auf ihn einredete. Nur ab und zu sprang er plötzlich auf, beugte sich vor und übergab sich heftig, schmerzhaft würgend aus leerem Magen. Er nahm das Peinliche mit einer sonderbaren Gleichgültigkeit hin, als hätte er selbst irgendwie mit den Vorgängen gar nichts zu tun. Dann setzte er sich wieder, und Helm fuhr fort, auf ihn einzureden.

Helm war übrigens auch nahe daran, sich zu übergeben. Bis ins Mark hinein verspürte er einen so gründlichen Abscheu vor seinem Tun, dass er am liebsten Wilmers Beispiel gefolgt und dem würgenden Brechreiz nachgegeben hätte. Er durfte ja dieses verstümmelte Geschöpf nicht in Ruhe lassen, er durfte ihm nicht erlauben, sich mit seinem Gram in einen einsamen Winkel zu verkriechen, er musste es festhalten, während er es mit Bitten, Argumenten und Vernunftgründen geißelte, um gewaltsam in sein Bewusstsein einzudringen und ihm das Ja zu erpressen, das er hören wollte oder vielmehr brauchte und das er zu erzwingen entschlossen war.

Wilmer saß unbeweglich da, ließ den Wortschwall über sich ergehen und zurückprallen. Er schien nicht sehr gut zu hören oder zumindest den Sinn der Worte nicht zu erfassen. Mit aufmerksam zur Seite geneigtem Kopf runzelte er ab und zu die Stirn, als bemühte er sich, das Gesagte zu begreifen. Helm war schon ziemlich erschöpft, aber seine Geduld war größer. Er war bereit, im Notfall das Ganze noch hundertmal durchzukauen.

»Hier steht, dass er Sie zu Hause anrufen wird«, wiederholte er wie eine festgefahrene Grammophonplatte, einen Zettel schwenkend - den zweiten Erpresserbrief, der vor knapp einer Stunde zugestellt worden war. »Er wird Sie heute um zwölf Uhr mittags anrufen. In einer halben Stunde ist es zwölf. In einer halben Stunde wird er hier anrufen, um mit Ihnen zu sprechen. In weniger als einer halben Stunde, in etwa sechsundzwanzig Minuten, wird er ans Telefon gehen, um mit Ihnen zu sprechender Mann, der es getan hat.«

Mit pedantischer Ausführlichkeit, als ob er es mit einem Schwachsinnigen zu tun hätte, hämmerte er auf den Mann mit dem leeren Blick und den tauben Ohren los.

Mühsam fuhr er fort, schon etwas heiser vor lauter Müdigkeit: »Dieser Anruf ist unsere einzige Chance, ihn zu erwischen. Er weiß nicht, dass wir die Leiche gefunden haben. Niemand weiß es außer Ihnen und uns. Niemand wird es erfahren, solange wir es nicht bekanntgeben, und wir werden es solange nicht bekanntgeben, wie wir ihn zappeln lassen können. Begreifen Sie das nicht, Wilmer, begreifen Sie es nicht? Wilmer, hören Sie doch zu... Wilmer!«

Es war wie ein Ruf ins Leere, so wie damals (dachte Helm), als er narkotisiert worden war und im Ruheraum durch die Stimmen geweckt wurde, die ihn beim Namen riefen, um ihn ins Bewusstsein zurückzurufen.

»Solange er nicht weiß, dass wir die Leiche gefunden haben, wird er versuchen, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, solange er mit der Möglichkeit rechnet, das Lösegeld einzustecken. Wenn er nicht auf das Geld verzichten will, muss er sich auf irgendeine Weise mit Ihnen in Verbindung setzen, das ist doch sonnenklar, nein? Ist es nicht sonnenklar? Können Sie meinem Gedankengang folgen, Wilmer, ja?«

Er musste eine Pause machen, weil ihm die Stimme versagte und nur noch ein Krächzen aus seiner Kehle kam.

Dann, heiser und hartnäckig: »Deshalb kann ich nicht jemand anderen ans Telefon schicken. Möglicherweise kennt der Kerl Ihre Stimme. Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, dass er Ihre Stimme nicht kennt, wir wissen es nicht. Deshalb gibt es nur einen Menschen, der mit ihm sprechen darf, wenn er anruft.«

Es war schiere Furcht, die Helm eine Sekunde lang verstummen ließ, bevor er weitermachte. »Nur einen Menschen, Wilmer, nur einen einzigen Menschen - nämlich Sie...«

In der Totenstille, die nun eintrat, wartete Helm fast verzagt: War es ihm gelungen, den Zugang zu dem Hirn dieses Mannes zu finden, der vorübergehend von jeder Verbindung mit seinen Mitmenschen abgeschnitten war? Keiner sagte etwas, keiner rührte sich. Vier Augen waren auf den tauben, stummen, verhärmten Mann gerichtet und suchten eifrig nach einem Zeichen der Reaktion oder des Verständnisses. Und als ein Zucken durch den leeren Gesichtsausdruck des Mannes ging, stürzte sich Helm wie ein wildes Tier auf sein Opfer und drückte es gleichsam gegen die Wand, um ihm das Messer in die Brust zu stoßen.

»Sie sind der einzige Mensch, der in Betracht kommt«, sagte er, draufloshämmernd. »Wenn der Mann anruft, Wilmer, müssen Sie mit ihm sprechen, und Sie dürfen sich nicht anmerken lassen, dass Sie wissen, was mit dem Jungen geschehen ist. Sie dürfen sich nicht verraten.« Er variierte seine Ermahnungen, mit einem Gefühl der Übelkeit in der Magengrube. »Er darf nicht ahnen, dass Sie wissen, was passiert ist. Das kleinste Versehen, und er ist weg - für immer, und dann ist die Chance, dass wir ihn eiwischen, wie eins zu einer Million. Aber wenn Sie es fertigbringen, Wilmer, ihn zappeln zu lassen, ihn am Telefon festzuhalten, bis wir dem Anruf nachgegangen sind, dann haben wir vielleicht eine Chance - vielleicht die einzige Chance, ihn auf der Stelle zu schnappen. Hören Sie, was ich sage? Hören Sie mich, Wilmer?«

Deutlicher wurde das zögernde Erwachen in Wilmers Zügen, aber es war nur der Übergang aus einem Albtraum in einen anderen. Langsam wandte er sich zu Helm. Das Entsetzen in seinem Blick wurde von einem noch größeren Grauen überschattet, als blickte er in die Tiefen der Hölle.

»Ich - ich soll«, stieß er hervor, »mit - mit ihm sprechen? Nachdem«, seine Stimme wurde schrill vor maßloser Verwunderung, »nachdem...«

Helm ließ nicht locker. »Es ist unsere einzige Chance. Ich sage Ihnen, es ist unsere einzige Chance. Sie wollen doch, dass wir ihn erwischen, ja? Dass wir ihn finden, ja? Dann müssen Sie uns die Chance dazu geben. Sie sind der einzige Mensch, Wilmer, der uns diese Chance geben kann - der einzige...«

»Oh, mein Gott!«, murmelte der andere fast unhörbar und schloss die Augen. Wieder dröhnte die Stille in dem engen Badezimmer. Helms Blick aber wich keine Sekunde lang von dem blinden, schlaffen Gesicht. Sowie die Augenlider zuckten und sich wieder aufwärts bewegten, war er zur Stelle, um zuzuschlagen.

»Einverstanden?«, fragte er erbarmungslos. »Wenn das Telefon klingelt, Wilmer - werden Sie uns helfen? Werden Sie mit ihm sprechen?«

»Ich kann nicht«, seufzte der andere und wackelte mit dem Kopf. »Ich kann nicht.«

»Doch!«, betonte Helm. »Weil es unvermeidlich ist... Sie werden mit ihm sprechen, damit wir ihn schnappen können. Sie werden es tun, damit wir...« Er war bereit, endlos weiterzumachen, verstummte aber ganz plötzlich. Wilmer, wie er so dasaß, sah noch kleiner, stumpfer und wehrloser aus denn je, aber in seinen Zügen ging etwas vor. Er versuchte, sich ein wenig aufzurichten. Sein Blick war voller Verzweiflung. Seine Lippen verzogen sich, als ob sie Galle kosteten.

»Ich - ich werde es versuchen«, murmelte er, machte aber den Eindruck, als erfasste er kaum, was er sagte.

»Gut!«, erwiderte Helm recht mutlos, weil er wusste, wie zweifelhaft der scheinbare Sieg war. Er durfte sich nicht sonderlich auf das Versprechen dieses Bundesgenossen verlassen, der offenbar einem Zusammenbruch nahe war. Aber die Zeit schrumpfte immer mehr zusammen, rückte ihnen auf den Leib. Die Mittagsstunde, die Stunde des Anrufs, war nur noch elf Minuten entfernt.

»Gut«, wiederholte Helm und winkte befehlend dem Arzt, der sich sogleich Wilmer näherte. Aber während der Arzt die passive Körperhülle mit seinen gesamten Mitteln behandelte - mit dem Herzstimulans, der Dextrose-Lösung zur Bekämpfung des Schocks, den Salztabletten, die er Wilmer in den Mund steckte -, setzte Helm, ab und zu mithelfend, keinen Moment lang mit seinen dringenden, verzweifelt detaillierten Weisungen aus.

»Sagen Sie ihm, dass Sie ihn schlecht verstehen«, predigte er unermüdlich. »Aber nur nicht übertreiben! Damit dürfen Sie ihm nicht mehr als einmal kommen, es sind olle Kamellen, er fällt Ihnen nicht drauf rein. Er wird Unrat wittern und sofort abhängen. Aber vergessen Sie nicht: Jede zusätzliche Sekunde, die Sie ihm abluchsen können, verbessert unsere Chancen, verringert unser Handicap. Die zwei zusätzlichen Sekunden, die Sie irgendwie herausschlagen, sind vielleicht unser Haupttreffer. Vielleicht hängt es von diesen beiden Sekunden ab, ob wir ihn schnappen oder ob er uns entwischt. Es ist bitter, Wilmer, aber Sie werden es schaffen, ich weiß, Sie werden es richtig machen.«

»Ja«, flüsterte Wilmer apathisch. Der Arzt schlug sein Gesicht und seinen Hals mit ausgewrungenen Kaltwassertüchern, und er schwankte unter den Schlägen hin und her.

»Denn Sie dürfen nicht vergessen, dass der Mann vor Aufregung zittert...«, immer lauter und trockener knarrte die Erschöpfung in Helms Stimme, »seine Nerven sind kaputt, er hat solche Angst, dass er sich in die Hosen macht. Ohne den Jungen ist sein Plan ohnedies schon halb gescheitert. Während er dasteht und mit Ihnen telefoniert, überlegt er sich: Weiß man Bescheid? Sicher weiß man Bescheid. Wilmers Stimme klingt merkwürdig. Oder nicht?... So denkt er, Wilmer, während er am Apparat steht und Blut schwitzt. Er muss sich aufspielen, vergessen Sie das nicht, Wilmer - er muss so tun, als könnte er den Jungen jederzeit vorführen - genauso, wie Sie Komödie spielen und so tun, als ob Sie es glaubten.«

In jäher Panik hielt er inne. Er befürchtete, er sei zu weit gegangen. Aber Fred Wilmer sagte nur abermals: »Ja.« Seine Gesichtsfarbe hatte sich gebessert. Er sah jetzt mehr wie ein lebender Mensch aus als wie eine Wachspuppe. Der bestürzte Blick war klarer geworden, war aber noch immer völlig leer. Helm, der im Begriff war, den Mund zu öffnen, klappte ihn wieder zu. Was hatte es jetzt noch für einen Zweck? Er hatte diesen halbtoten Gaul bis zum Äußersten vorangepeitscht. Jetzt hieß es nur noch warten, stumm warten und beten, Wilmer möge seine Kräfte sammeln, um der schweren Prüfung gewachsen zu sein. Helm aber bezweifelte, dass der Mann es durchstehen würde, und machte sich auf das kleine Sterben gefasst, das man Enttäuschung nennt. Wilmer war völlig gebrochen. Es würde ein reines Wunder sein, wenn er sich nicht verriete.

In diesem Augenblick zuckte Helm heftig zusammen. Zwei grausam spitze Nadeln stachen ihn gleichzeitig in den Magen und ins linke Handgelenk. Er brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass es Einbildung und doch keine Einbildung war.

Draußen im Korridor, kaum einen Meter entfernt, klingelte das Telefon.

 

 

 

 

  Viertes Kapitel

 

 

Obwohl der Anruf seit zwölf Uhr mittags erwartet worden war (jetzt waren es drei Minuten mehr), hatte er eine unsagbare Schockwirkung und nagelte die drei Menschen in der Haltung fest, die sie zufällig in diesem Augenblick eingenommen hatten. Dann kam ein zweiter Schock - zumindest wurde es so empfunden: die Schnelligkeit, mit der Fred Wilmer ans Telefon eilte. Im Bruchteil einer Sekunde - während die beiden anderen noch Mund und Augen aufsperrten - war er aufgesprungen, stürzte in den Korridor hinaus und griff nach dem Hörer. Aus einem überirdischen Quell strömten neue Kräfte in diesen Leib, der noch vor kurzem ein Wrack gewesen war, unfähig, zu denken, unfähig, sich artikuliert zu äußern. Jetzt strafften sich seine schlaffen Züge, die Entschlusskraft verratend, über die er wohl in normalen Zeiten verfügte. Seine bisher so fadendünne, verzweifelte Stimme klang klar und fest.

Dann begann der groteske Dialog über eine Leitung, an der ein Dutzend fremder Ohren klebten. Jedes einzelne Wort wurde auf dem rotierenden Band registriert, während ein fieberhafter Fahndungsprozess einsetzte.

»Hallo!«, begann Fred. »Ja, hier spricht Wilmer... Ja, ich verstehe - jawohl - Ich höre nicht, was Sie sagen... Zu schnell. Sie sprechen zu schnell. Sprechen Sie lauter... Welche Straße? Ich habe es nicht richtig gehört... Nein, nein, ich bemühe mich nur, Sie richtig zu verstehen... Nein, sprechen Sie weiter!... Wann?«

Offenbar war es bereits nach genau siebenunddreißig und einer halben Sekunde (nach dem Sekundenzeiger auf Helms Armbanduhr) zu Ende, und in jedem Herzen - nur nicht in dem des Vaters - saß die gleiche hoffnungslose berufliche Einsicht: nicht genug Zeit. Die Frist reichte fast bestimmt nicht aus, und sollte sie dennoch ausreichen, dann nur dank einer Laune des Zufalls, einem Wunder. In diesem Moment, als die Hoffnung erlosch, kam Wilmer mit etwas Unvorhergesehenem - einer Improvisation, die seinem Hirn entsprungen war.

»Der Junge!«, rief er laut in die Muschel. »Wie geht es dem Jungen?... Sicher? Er war ein wenig erkältet...«

Er verstummte mit einer Plötzlichkeit, die nicht weniger erschütternd war als der erste Aufschrei des Telefons. Er stand da und starrte den Hörer an. Vor den Blicken der anderen schrumpfte er zusammen und wurde aus einem Mann wieder zu einer leeren Hülle.

»Er hat abgehängt«, sagte Fred Wilmer dumpf.

 

»Vielleicht haben Sie es geschafft!«, sagte Helm begeistert. Er entriss Wilmer den Hörer, ließ sich hastig mit der Funkzentrale der Stadtpolizei verbinden und nahm Meldungen entgegen, die allem Anschein nach nicht allzu entmutigend waren. »Vielleicht haben Sie es geschafft«, sagte er abermals zu Wilmer, der in einen Sessel gesunken war, so apathisch wie zuvor. »Man hat festgestellt, wo der Anruf herkam. Vielleicht hat man ihn schon gefasst.« Seine Lippen strafften sich über den Zähnen, ein Lächeln wie die Grimasse eines mit Strychnin Vergifteten, und seine Augen waren harter, grauer Marmor. »Bald werden wir es erfahren. Und das Tonband ist unterwegs. Sie haben es geschafft, Wilmer. Sie haben ihn solange festgehalten, bis man herausbekommen konnte, von wo aus er sprach. Als Sie sich nach dem Jungen erkundigten... Diese zwei zusätzlichen Sekunden sind entscheidend gewesen. Jetzt werden wir sehr bald Bescheid wissen, sehr bald.« Er hatte sich wieder ans Vorderfenster gestellt. Seine Blicke hingen gierig an dem Mann im Funkstreifenwagen, der vor dem Radio saß. Stille trat ein, geladen mit der Unerträglichkeit des Wartens. Endlose Sekunden schlichen bedächtig vorbei - sechzig, hundertzwanzig, drei Minuten, vier Minuten, fünf...

Wieder schrillte das Telefon. Alle bis auf Wilmer zuckten zusammen. Mit drei Sprüngen hatte Helm das Zimmer durchquert.

»Ja?«, sagte er. Es war ein kaum artikulierter Laut tief in der Brust. Fast sofort aber veränderte sich sein Aussehen, obwohl er eigentlich keinen Zoll breit von seiner eifrig lauschenden Haltung abwich. Die linke Hand hielt den Hörer umkrampft. Aber die Zuschauer sahen, wie er innerlich zusammenzuckte, wie die Kraft verströmte. Seine Augen wurden trüb.

»Okay«, sagte er nach einer Weile, dann abermals »Okay«, ein- bis zweimal, und legte auf. »Nichts!«, sagte er mit tonloser Stimme, die jeder Neugier einen Riegel vorschob. Seine Bewegungen, wie er ein Paket Zigaretten aus der Tasche zog, eine herausnahm und anzündete, waren blind und automatisch. Niemand wagte ein Wort zu äußern, und nach ein paar Zügen sagte er mit der gleichen tonlosen, welken Stimme: »Beinahe haben Sie es geschafft, Wilmer - beinahe, aber nicht ganz. Es kann sich nur um ein paar Sekunden gehandelt haben.«

Wilmer nickte träge, ausdruckslos, fast uninteressiert. Helm, der nicht recht wusste, ob er auch nur zugehört habe, musste ihn bei der Schulter packen und rütteln, während er die Stimme recht beträchtlich erhob.

»Nun der nächste Schritt, Wilmer!«, sagte er langsam, nachdrücklich und mit übertriebener Präzision. »Man ist mit dem Tonband hierher unterwegs, und wir werden es Ihnen Vorspielen. Sie werden die Ohren spitzen wie noch nie in Ihrem Leben. Ich spreche zu Ihnen, Wilmer, hören Sie zu? Wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass dem Mann Ihre Stimme bekannt sein könnte, besteht eine ebenso große Chance, dass Sie seine Stimme kennen. Am Telefon haben Sie sie nicht wiedererkannt, nein? Sie haben nichts gemerkt, nicht das geringste, nein?«

Der andere schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er mit der Stimme eines Greises. »Nichts...«

»Das ist nicht unbedingt entscheidend«, betonte Helm. »Wir werden das Band Zentimeter für Zentimeter, Silbe für Silbe durchkauen. Wir werden es laut einstellen, wir werden es leise einstellen, wir werden es mit verschiedenen Geschwindigkeiten laufen lassen. Wer weiß, vielleicht kommt dabei etwas heraus - ein einzelner Laut, ein einzelnes Wort, das Sie an etwas erinnert - man kann nie wissen. In ein paar Minuten haben wir es hier, dann werden Sie es sich anhören.«

»Schön« ,sagte Fred Wilmer. »Ich werde es mir anhören.«

Helms Lieutenant, der daneben stand, zuckte die Achseln. »Verstellte Stimme«, murmelte er. »Wird wohl verstellt gewesen sein.«

»Ach, was Sie nicht sagen?«, erwiderte Helm im schneidenden Falsett und sah seinen Untergebenen an. »Ich wäre nie auf den Gedanken verfallen, die Stimme könnte verstellt gewesen sein.«

»Ja«, warf Wilmer unerwarteterweise ein, aus seinem Brüten erwachend. »Ich habe es gemerkt, als ich mit ihm sprach.«

»Okay, wir werden es trotzdem versuchen...«, begann Helm und verstummte jählings. Draußen rührte sich etwas, ein Auto hielt, schnelle Schritte liefen die Stufen zur Veranda hinauf. »Da kommt es«, sagte Helm, »da kommt es.«

Die Tür sprang auf, ein Mann brachte ein Gerät - ein Tonbandgerät, das ihnen mit einer Geschwindigkeit geliefert wurde, wie nur ein Wagen sie leisten konnte, der das Rote Meer des Verkehrs mit seiner heulenden Sirene zu spalten vermag.

»Stellen Sie es hierher«, sagte Helm gierig. »Und schieben Sie den Tisch dicht heran. Einschalten! Alles fertig? Dann - los!«

Mit leisem Surren begann das Band von der flachen Spule abzurollen. Die paar Sekunden, die nun folgten, schienen ewig zu dauern, eine gähnende Leere, bis endlich die erste Stimme ertönte:

 

Hallo.

Ist dort Wilmer, Mr. Fred Wilmer?

]a, hier spricht Wilmer.

Wir verlangen fünfzehntausend. Haben Sie gehört? Fünfzehntausend Dollar.

la, ich verstehe - jawohl.

Alte Scheine, kleine. Fünfer und Zehner, in einem verschnürten Paket.

Ja.

Hören Sie gut zu - ich werde es nicht wiederholen.

Ich höre nicht, was Sie sagen.

Passen Sie auf, machen Sie keine Zicken. Wollen Sie Ihr Kind wiederhaben, ja oder nein?

Zu schnell, Sie sprechen zu schnell. Sprechen Sie lauter.

Sprechen Sie mir nach... Bonticou Street -

Welche Straße? Ich habe es nicht richtig gehört.

Versuchen Sie schon wieder, Zicken zu machen?

Nein, nein, ich bemühe mich nur, Sie richtig zu verstehen.

Schön, ich rufe wieder an.

Nein, sprechen Sie weiter!

Besorgen Sie zuerst das Geld. Ich rufe wieder an.

Wann?

Bleiben Sie zu Hause, halten Sie sich bereit.

Der Junge! Wie geht es dem Jungen?

Gut.

Sicher? Er war ein wenig erkältet... (Sehr leise.)

(Aufgelegt...)

 

»Nein«, wiederholte Fred Wilmer, »es sagt mir nichts. Es erinnert mich in keiner Weise an einen Menschen, den ich je in meinem Leben gekannt hätte. Ich kann nichts heraushören, nicht das geringste.«

Inzwischen hatten sie das Band zwanzigmal mit wechselnder Geschwindigkeit und Lautstärke ablaufen lassen und jedes Mal eine gründliche Diskussion geführt. Der eigentliche Dialog, mit der Stoppuhr gemessen, dauerte genau achtundfünfzig und eine halbe Sekunde, das erregte Gespräch, das auf jede Wiederholung folgte, etwa drei bis vier Minuten - bevor wieder das gierige, gespannte Schweigen folgte, wo alle regungslos dasaßen und ihre Aufmerksamkeit auf das metallische Orakel richteten, dessen Offenbarungen immer dieselben waren, gerade nur soundso viel und nicht mehr. Dazu kam, dass die Meinungsverschiedenheiten, die nach jedem Ablauf entstanden, keiner auch nur einigermaßen akzeptablen Einigung zuzustreben schienen. Die Stimme selbst zum Beispiel: nicht hoch, nicht tief, nicht eben sehr leise. Alle wussten, dass sie verstellt war - aber auf welche Weise?

»Er hat nichts im Mund gehabt, das ist mal sicher«, sagte jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt, und alle waren sich darüber einig, dass er sich nichts in den Mund gestopft und auch nichts, kein Taschentuch (zum Beispiel) vor den Mund gehalten hatte. Dann richtete man das Augenmerk auf das raue Timbre der Stimme, und der Polizeiarzt, der meistens stumm zuhörte, warf die Bemerkung ein, er würde eher von einem Keuchen als von einem Krächzen sprechen.

»Als ob der Mann an chronischen Atmungsbeschwerden litte«, sagte er vorschlagsweise. »Bronchien oder Lunge. Es könnte eine Berufskrankheit sein, die behandelt werden muss.«

»Kliniken«, sagte Helm sofort zu seinem Lieutenant. »Fragen Sie in allen Kliniken und bei allen Privatärzten nach. Vielleicht ist das ein Anhaltspunkt.«

»Auch ein Gewächs an den Stimmbändern würde diese Wirkung haben«, erläuterte der Arzt. »Und der Stimme einen gepressten Ton verleihen. Oder sonst ein Defekt im Kehlkopf.«

»Wenn ihm was Ernsthaftes fehlt«, sagte Helm mit einem wölfischen Grinsen, »hoffe ich zu Gott, dass ich ihn rechtzeitig erwische.« Plötzlich wandte er sich wieder an Wilmer. »Für wie alt würden Sie ihn halten? Jung? Mittel? Haben Sie irgendeinen Eindruck bekommen, als Sie mit ihm am Telefon sprachen?«

»Vielleicht«, erwiderte der Automat mit seiner Schlafwandler-Stimme. »Um die Vierzig. Wohl kaum über fünfzig - nicht so alt...«