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Mitten ins Herz und unter die Haut

Lisa Radtke

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Band 2 zu

„Das Meer mit dir – eine junge Frau entdeckt sich selbst und die Liebe zu einer Frau“

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© 2019 – Papierfresserchens MTM-Verlag + Herzsprung-Verlag

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Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2019

Coverfoto: Jakob Holle

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-96074-039-1 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-085-8 - E-Book (2020)

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Inhalt

Prolog

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Epilog

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Prolog

„Sarah, wach auf!“, schrie Alice und rüttelte mich wach. Schweißgebadet schreckte ich hoch und rang nach Luft. Wieder hatte ich von der Entführung geträumt. Wieder hörte ich den Schuss, der in meinem Kopf widerhallte, und spürte, wie die Kugeln sich in mein Fleisch bohrten. Wieder hatte ich Josefs kalte blaue Augen gesehen. Und wieder sah ich zu Alice herüber, die neben mir lag und mit zitternden Lippen gegen die Tränen kämpfte.

Langsam ließ ich mich in mein Kissen fallen und versuchte, mich zu beruhigen. „Ich will diesen Scheiß nicht mehr träumen. Egal was ich mache, es geht einfach nicht vorbei“, wisperte ich in die Nacht.

Neben mir schluchzte Alice leise, die ich tröstend in meine Arme zog. „Ich halte das nicht mehr aus. Wir müssen etwas tun, es frisst mich innerlich auf.“ Sie zitterte am ganzen Leib und drückte verzweifelt ihr Gesicht in meine Brust. Es waren bereits zwei Monate vergangen und uns ließ das Geschehene einfach nicht los.

„Ich habe schon alles, was mich bedrückt, aufgeschrieben, und habe eigentlich gehofft, dass es besser wird. Stattdessen mache ich das alles immer wieder und wieder durch.“ Meine Stimme war ohne jegliche Betonung, fast schon gleichgültig, so ausgelaugt und leer fühlte ich mich.

Alice umklammerte mich noch fester und sah zu mir auf. „Bitte lass uns eine Therapie machen. Deine Mutter hat doch bereits einen guten Therapeuten für uns kontaktiert. Ich will endlich wieder eine ruhige Nacht mit dir haben.“ In ihrer Stimme schwang die blanke Verzweiflung mit.

Ich atmete tief durch und streichelte Alice’ Rücken. Ich gestand mir ein, dass ich um eine Therapie nicht herumkommen würde. Fast jede Nacht plagten mich die Albträume, die mir das Leben immens schwer machten.

Erschöpft rieb ich mir die Augen. „Wir rufen morgen beim Therapeuten an. Anscheinend führt ja kein Weg herum“, verkündete ich trocken. Alice drückte mich noch fester an sich. Ich spürte, wie erleichtert sie war, dass ich endlich diese Entscheidung traf. Ich konnte es einfach nicht mehr mit ansehen, wie sie darunter litt. Meine sonst so starke Alice zerbrach daran und ich war der Grund dafür. Sie hatte zwar auch Albträume, aber nicht in solchem Ausmaß, wie ich sie hatte.

„Danke“, flüsterte sie, als ich mein Handy suchte. Es war fünf Uhr in aller Herrgottsfrühe. Was war ich froh, dass wir Wochenende hatten.

Seit der Entführung hatten wir kaum noch geschlafen, wodurch unsere Arbeitsweise litt. Sam sah mich immer mit einem besorgten Blick an, wenn ich wieder mit unglaublich dunklen Augenringen ins Büro oder zur Berufsschule kam. Er wollte auch, dass wir endlich eine Therapie machten, und nutzte jede Gelegenheit, um mir diese schmackhaft zu machen. Genervt von seinen Belehrungen, fuhr ich ihn an, was er sich überhaupt einmischte. Ich war ständig gereizt und ging sofort an die Decke, meistens auch vollkommen unbegründet. Im Bruchteil einer Sekunde tat es mir leid und ich entschuldigte mich schnell. Er konnte nichts dafür, dass uns so etwas passiert war. Unsere Mütter hatten uns eine Liste von guten Therapeuten der Stadt gegeben und uns eindringlich gebeten, sie zu kontaktieren. Immer wieder hatte ich die Liste in der Hand, konnte mir aber nicht vorstellen, wie ein fremder Mensch mir helfen könnte, alles zu verarbeiten. Unzählige Male hatten Alice und ich uns darüber gestritten. Wie viele Tränen geflossen waren, konnte ich nicht sagen, zumindest waren es viel zu viele.

Alice setzte sich auf die Bettkante und band ihre Haare zusammen. „Ich gehe joggen. Mein Kopf platzt sonst noch“, informierte sie mich leise.

Ich stand auf und ging zu ihrer Bettseite. „Pass bitte auf dich auf. Ich will nicht, dass dir was passiert“, flüsterte ich, als ich ihr über den Arm streichelte.

Sie schob mich beiseite und zog sich an. „Ich passe immer auf mich auf“, brummte sie mir zu.

Ich seufzte deutlich hörbar. Die Albträume sorgten auch dafür, dass es in unserer noch so frischen Beziehung kriselte. Ich legte all meine Hoffnungen in diese verdammte Therapie. „Ich liebe dich“, hauchte ich ihr zu.

Sie drehte sich kurz zu mir um. „Ich liebe dich auch.“

Ich bekam einen Kuss auf die Wange gedrückt und sie verschwand aus der Tür. Sie hatte ihr Ventil für ihre Probleme gefunden, ich jedoch hing in der Luft und versuchte mich wieder auf das Zeichnen zu konzentrieren, was aber darin endete, dass ich den Stift durch die Wohnung warf und das Papier zerknüllte. Damals, als ich mich so verschlossen hatte, hatte das Zeichnen mir ungemein geholfen, meine Gefühle auszudrücken, doch jetzt herrschte in mir eine Unzufriedenheit und Unruhe, die ich einfach nicht zu Papier bringen konnte.

Lustlos trabte ich in die Küche, um die Kaffeemaschine einzuschalten, nur um mich danach vollkommen demotiviert unter die Dusche zu stellen. Ich zog den Vorhang zu und drehte das Wasser auf. Meine Gedanken kreisten um Alice, die wohl jetzt ziellos durch die Straßen joggte. Sie wirkte unruhig und betrübt, weil mich das Ganze so mitnahm. Eigentlich war ich doch ihre starke Schulter gewesen, an die sie sich anlehnen konnte, wenn es ihr nicht gut ging.

Jetzt war alles anders. Ich brauchte ihre ständige Zuwendung, selbst wenn es um einfache Dinge ging. Ich war schon froh, dass die äußerlichen Wunden verheilt waren und mich nur noch meine Narben an die Entführung erinnerten. Thea war bereits in Therapie und fühlte sich damit besser, was auch an der raschen Scheidung, die lief, lag. Nach unzähligen Gesprächen und Telefonaten mit ihrem jetzigen Ex-Mann hatte er der Scheidung zugestimmt und so konnte ein Eilverfahren veranlasst werden.

Ich wusste nicht, wie lange ich einfach dastand, als ich hörte, wie Alice die Tür aufschloss. Sie zog sich rasch aus und stand plötzlich mit mir unter dem heißen Wasserstrahl. Sie schlang ihre Arme um mich und küsste mich innig. Wir hatten momentan wirklich selten solche Momente wie diese. Umso mehr genoss ich es in vollen Zügen und presste meinen Körper an ihren. Alice stöhnte leise, als meine Hände zu ihrem Po herabglitten und ich fest zupackte.

„Seife mich ein“, befahl sie mir leise. Ihre Blicke sprachen Bände. Ich grinste und griff zu meinem Duschgel. Quälend langsam verteilte ich es auf ihrem Körper, womit ich sie nur noch mehr provozierte. Ich entlockte ihr ein Stöhnen nach dem anderen. Meine Hände verharrten eine Weile auf ihren Brüsten. Alice sah mich fordernd an, doch ich ließ sie zappeln und kostete den Moment aus. Als sie es nicht mehr aushielt, nahm sie meine Hände und führte sie über ihren Körper. „So ungeduldig“, lächelte ich, als sie sich umdrehte und an mich drückte.

„Du quälst mich. Schäme dich“, knurrte sie.

Ich schlang meine Arme um sie und küsste ihre nassen Haare. „Alles zu seiner Zeit“, entgegnete ich mit gedämpfter Stimme. Alice legte ihren Arm um meinen Hals und drehte ihren Kopf zu mir, sodass ich sie küssen konnte. Wie gerne hätte ich sie jetzt verwöhnt, doch mein Bauch schrie nach etwas Essbarem.

„Frühstück?“, fragte ich sie, während ich ihren um mich gelegten Arm streichelte. Sie nickte kurz und spülte sich ab.

Alice schaltete den Fernseher ein, während ich den Tisch eindeckte. „Cornflakes?“, rief ich über die Schulter. Als ich keine Antwort bekam, drehte ich mich um. Sie stand gegen den Türrahmen gelehnt und spielte mit ihrem Handy herum. „Engel? Cornflakes?“, fragte ich nochmals und schüttelte den Karton mit den Cornflakes. Sie sah kurz auf und nickte. Ich nahm ein zwei Schalen aus dem Schrank und stellte sie auf den Couchtisch.

„Ich habe am Montag ein Meeting mit dem neuen Zulieferer“, warf sie ein, als sie sich setzte und das Handy in die Sofaecke schmiss.

„Das heißt, ich darf dich wieder im Kostüm sehen?“, hakte ich nach – nicht ohne Hintergedanken zu haben. Durch das viele Joggen hatte sie unheimlich schnell Muskeln aufgebaut, die sich dezent auf ihrem Körper abzeichneten und mich schwach werden ließen. Wenn sie nackt vor mir stand, konnte ich mich einfach nicht an ihr sattsehen.

In der Firma wussten alle, dass wir ein Paar waren, was für mächtig Gesprächsstoff in der Kantine sorgte. Einige meinten, Alice wäre nur die Assistentin der Geschäftsführung geworden, weil sie mit der Tochter der Geschäftsführerin zusammen ist. Andere böse Zungen behaupteten, dass es nur Show sei. Wir ließen das bestmöglich an uns abprallen und konzentrierten uns auf das Wesentliche: die Arbeit. Alice besuchte mich oft im Büro oder bestellte mich aus banalen Gründen in ihr neues Büro. Sex hatten wir jedoch nie in der Firma, was sie ein wenig ärgerte, doch dafür war ich einfach zu gut erzogen worden. Gelegenheiten gab es mehr als genug – und Alice war ja nun auch nicht die fromme Katholikin aus dem Lehrbuch. Abgesehen davon hatte ich Angst, man könnte uns erwischen. Zeitweise war Alice’ Büro eher wie ein Bahnhof: Ständig kamen Mitarbeiter oder Abteilungsleiter zu ihr und stellten die Entscheidungen meiner Mutter infrage. Irgendwann war sie so genervt, dass sie sich kurzerhand im Büro einschloss und mit mir telefonierte.

„Damit du und der Vertriebsleiter um die Wette sabbern könnt? Träum weiter“, zischte sie.

Ich zog eine Schnute und fand mich damit ab. Alice bemerkte dies und streichelte mir über die Wange. „Ein andermal, okay?“, besänftigte sie mich.

„Ich mache dann Montag einen Termin für uns beim Therapeuten, wenn es für dich in Ordnung ist. Vielleicht bekommen wir zeitig einen“, murmelte ich müde und rieb mir die Augen. Selbst eine heiße Dusche brachte meinen Körper nicht in Schwung. Alice rückte zu mir herüber und lehnte sich an mich.

„Ich bin so froh, dass du endlich einer Therapie zugestimmt hast. Es wird uns helfen, da glaube ich ganz fest dran. So wie es jetzt ist, kann es einfach nicht weitergehen.“

Ich drückte sie an mich. „Wir haben schon so einiges geschafft, da sollte es an einer Therapie wirklich nicht scheitern. Außerdem vermisse ich den Sex mit dir sehr.“

Alice hob den Kopf und sah mich mit einer hochgezogenen Augenbraue an. „Sex ist jetzt ja wohl unser geringstes Problem, oder? Ich will erst mal wieder ordentlich schlafen können, ohne Angst zu haben, dass du jeden Moment hochschrecken könntest oder im Schlaf meinen Namen schreist“, gab sie vorwurfsvoll zurück.

Ich hob unschuldig die Hände und Alice setzte sich mit einer eleganten Drehung auf meinen Schoß. „Verstehe mich nicht falsch, Liebling. Ich vermisse doch auch unsere Liebeleien, aber momentan bin ich einfach nicht in Stimmung dazu“, seufzte sie, während sie mein Gesicht in ihre Hände nahm.

Ich legte meine Hände an ihre Hüfte und biss mir auf die Lippe. Mein Taktgefühl war immer noch unterirdisch schlecht. „Sorry. Es sollte nicht so klingen, als wollte ich nur Sex von dir“, rechtfertigte ich mich, ohne sie anzusehen. Sie hob meinen Kopf und in ihren Augen konnte man sehen, wie wenig Schlaf sie in den letzten Wochen gehabt hatte. Die Augenringe waren fast so dunkel wie meine Haare.

„Ich weiß, mein Schatz. Lass uns weiter frühstücken, sonst halte ich es nicht bis zum Mittagessen bei deiner Mutter aus“, warf sie ein und rutschte von meinem Schoß. Ich wandte meinen Blick zum Fernseher, wo eine ziemlich miese Quizsendung lief.

Es musste einfach klappen.

Meine Mutter begrüßte uns und herzte uns ausgiebig, so wie sie es immer tat. Irgendetwas in ihrem Blick war aber anders als sonst. Martin, ihr Lebensgefährte, und mein Bruder Marco spielten, wie in der letzten Zeit üblich, Videospiele. Thea, Alice’ Mutter, kam kurz zu uns herein und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Wie geht es euch?“, fragte sie vorsichtig nach, obwohl sie die Antwort kannte.

„Na ja, geht so. Das Übliche“, antwortete ich kurz und zuckte mit den Schultern. Thea legte ihre Hand auf meine Schulter und besorgt ihre Stirn in Falten. Ihre Augen waren voller Mitgefühl, das sie wohl für mich empfand.

„Wir haben uns entschlossen, eine Therapie zu machen“, warf Alice ein, die gerade ihre Jacke aufhing.

Mutti nahm mich in den Arm und drückte mich fest. „Endlich. Ich bin so froh, dass ihr diesen Schritt gehen wollt“, seufzte sie sichtlich erleichtert und zog Alice in die Umarmung hinein. Ich stand einfach nur da und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Mutti ließ uns langsam los und in ihren Augen flackerte die Begeisterung auf. „Ich habe Kuchen gebacken, ihr könnt schon mal ins Wohnzimmer gehen.“ Sie verschwand in die Küche und ließ Thea, Alice und mich im Flur stehen.

„Du machst das Richtige, Sarah“, sagte Thea aufmunternd, während sie meine Schulter tätschelte.

„Ich mache es für Alice und mich, sonst werden wir noch wahnsinnig. Es wird unserer Beziehung guttun“, entgegnete ich, als ich mich aufs Sofa fallen ließ. Alice lächelte mich an. Ein seltener Umstand: Dieses Lächeln war echt und sie schien glücklich zu sein, dass wir diesen Schritt gehen wollten. Es war anders als das Lächeln, das sie wie eine Maske bei der Arbeit aufsetzte.

Mutters Kuchen war so sündhaft gut, dass ich mir den Bauch so vollschlug, dass mein Magen völlig berechtigt rebellierte und unentwegt rumorte und kniff. Ich ächzte unter dem Piken und Kneifen und Alice – die sich darüber ein wenig belustigte – ging in die Küche, um mir Tee zu machen, der hoffentlich bald meine Schmerzen abklingen lassen sollte.

Martin und Thea erzählten von ihrer neuen Wohnung, aber ich hörte nicht zu. Am liebsten hätte ich mich schlafen gelegt, aber die Angst, wieder unter Albträumen zu leiden, hielt mich davon ab. Ich vermisste es, mit Alice im Bett zu liegen und wegzudösen.

Sie stellte mir einen Tee hin und reichte mir eine mollig warme Wärmflasche, die ich mir gleich auf den Bauch legte. „Waren deine Augen größer als dein Magen?“, feixte sie, als sie sich setzte und an mich lehnte.

„Anscheinend. Ich glaube, meine Hose platzt gleich“, grummelte ich und genoss die angenehme Wärme auf meinem Bauch.

Mutti kam dazu und grinste mich an. „Ich dachte eigentlich, dass Alice so verfressen ist, dass du aber jetzt daliegst und eine dicke Murmel hast, ist für mich ein gewöhnungsbedürftiger Anblick.“

Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Scherze auf meine Kosten, so etwas liebte ich ja.

„Vielleicht bin ich ja auch schwanger“, giftete ich sie an.

Sie brach in Gelächter aus und Alice grinste mich an. „Dir würde ein Babybauch sehr gut stehen“, warf sie ein und streichelte mir über den mit der Wärmflasche bedeckten Bauch. Ich schmunzelte in mich hinein und konnte mir nur schwer vorstellen, wie ich mit einer großen Murmel wohl aussehen würde.

Martin setzte sich zu mir an den Küchentisch und gab mir einen Brief. „Die Vorladung für deine Aussage.“ Seine Stimme war ruhig und gefasst. In mir verkrampfte sich alles. Mir war klar, dass ich irgendwann wieder alles durchkauen musste, was wir erlebt hatten, aber jetzt schien es mir mehr als unpassend. Zugegeben, jeder andere Zeitpunkt wäre ebenso unpassend gewesen wie der jetzige. Ich konnte mich schließlich nicht davor verstecken, also öffnete ich den Brief und las ihn mir durch.

„Dienstag? Wie lange liegt der Brief hier schon?“, krächzte ich und sah erschrocken zu Martin herüber.

Er zupfte an seiner Nase herum und war sichtlich peinlich betreten. „Eine Woche, vielleicht auch zwei“, murmelte er kleinlaut.

„Willst du mich verarschen? Seit gut zwei Wochen liegt das hier und ihr sagt mir nicht Bescheid?“, brüllte ich ihn an, sodass er kurz zusammenzuckte. Ich war außer mir vor Wut. Ich brauchte wenigstens ein paar Tage, um mich vorzubereiten, und Mutti und Martin konnten mich nicht mal kurz anrufen, um mich zu benachrichtigen? Das erklärte auch, wieso sie mich vorhin so unsicher angesehen hatte.

Alice kam in die Küche und sah mich entgeistert an. „Was ist denn hier los?“, fragte sie und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Ihre Blicke sprangen unruhig zwischen Martin und mir hin und her. Ich schob ihr die Vorladung herüber, die sie zögernd in die Hand nahm. Zaghaft faltete sie das Anschreiben auseinander und überflog es flüchtig.

„Dann können wir zusammen hinfahren.“ Sie sah mich mit ausdrucksloser Miene an und gab mir den Brief zurück.

„Was? Hast du etwa auch schon deine Vorladung?“ Ich wäre am liebsten über den Tisch gesprungen. Wieso war ich die Letzte, die von der Anhörung erfuhr? Verdammt, ich war doch noch gar nicht bereit. Ich knallte den Brief auf den Tisch und bedeckte mein Gesicht mit den Händen.

„Dir geht es sowieso total schlecht und ich wollte es dir schon längst sagen. ... Ich wollte doch nur Rücksicht nehmen“, rechtfertigte sich Martin, der aufstand und die Küche verließ.

„Hat ja super geklappt“, warf Alice nüchtern ein und wenige Augenblicke später spürte ich, wie sie sich neben mich setzte. Sie wollte mich trösten und mich ermutigen, doch ich wollte einfach nur irgendwas kurz und klein schlagen. Ich stand auf, ohne Alice eines Blickes zu würdigen, und verschwand in mein Zimmer. Ich ließ mich auf mein Bett fallen und starrte mutlos an die Decke. Meine Wangen glühten und langsam brach ein Strom von Tränen aus mir heraus. Ich machte mich ganz klein und weinte in mein Kissen hinein. Ich wollte das nicht. Reichte es nicht, dass ich schon mit diesen Albträumen zu kämpfen hatte? Jede verdammte Nacht hörte ich die Schüsse, die mich trafen und sich in meinen Körper hineinbohrten. Ich strich mir über die Narbe am Bauch und versuchte mich wieder zu beruhigen. Ich wünschte mir nichts mehr, als das dieser Mistkerl hinter Gittern käme und Alice und ich endlich wieder zur Ruhe kommen könnten, damit wir an unserer Beziehung, die momentan nur so vor sich hinplätscherte, arbeiten konnten. Sie hatte es nahezu perfektioniert die Starke zu spielen, nachts aber, wenn sie dachte, ich würde schlafen, drückte sie sich weinend an meinen Rücken und flehte mich leise an, endlich Hilfe zu holen. Es tat mir im Herzen weh, sie so zu erleben.

Ich hörte, wie die Tür knarrend aufging und sich jemand auf die Bettkante setzte. Trotzdem verharrte ich weiter in meiner Fötushaltung. Langsam schlangen sich Alice Arme um mich. „Liebling“, flüsterte sie mir ins Ohr, als sie sich an mich kuschelte.

Ich wusste nicht, was ich ihr sagen sollte und griff nach ihrer Hand, um sie auf mein Herz zu legen, dass wie wild schlug. „Ich habe Angst“, flüsterte ich in mein Kissen.

Sie vergrub ihr Gesicht in meine Haare und küsste mich sanft. „Die habe ich auch, aber wenn mein Vater seine gerechte Strafe bekommen soll, führt kein Weg an unseren Aussagen vorbei“, entgegnete sie mit ihrer sanften, einfühlsamen Stimme.

Ich drehte mich langsam zu ihr um und seufzte. „Womit habe ich eine so wundervolle Frau wie dich eigentlich verdient?“, flüsterte ich, als unsere Blicke sich trafen. Sie wurde ganz rot und ihre Lippen formten sich zu dem wohl schönsten Lächeln, das ich jemals gesehen hatte.

„Die Frage stelle ich mir schon seit knapp vier Monaten und ich habe immer noch keine Antwort darauf“, lächelte sie schüchtern. Diese Momente ließen mich ganz kurz vergessen, was wir alles schon in der so kurzen Beziehung durchgemacht hatten. Ich zog sie an mich und presste meine Lippen auf ihre. Alice legte ihre Hand um meinen Hals, als wollte sie, dass dieser Kuss niemals endet. Mehr brauchte ich eigentlich nicht. Nur ihre Liebe.

*

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Ein Schneeball klatschte mit voller Wucht an meinem Hinterkopf. Ich drehte mich um und sah das verschmitzte Lächeln von Alice. „Du kleines Biest!“, fluchte ich und stürmte auf sie zu. Sie kreischte, als ich sie in eine Schneewehe stieß und ihr Gesicht mit Schnee wusch.

„Ich gebe auf!“, rief sie und hob verteidigend die Hände. Lachend ließ ich von ihr ab und küsste ihre feuchte Stirn.

Unsere Ausbildung war beendet und wir genossen die kalten Wintertage bei einem Waldspaziergang. Wir konnten endlich mit dem Thema Entführung abschließen, waren aber trotzdem immer noch in Therapie, gingen aber kaum hin. Wir fühlten uns besser – vor allem ich – und waren froh, dass der Prozess gegen Alice’ Vater durch war.

Die ersten Therapiesitzungen waren für mich der blanke Horror gewesen und die Aussage bei der Polizei hatte sich als einzige Tortur herausgestellt. Jedes einzelne Detail hatte ich den Beamten unter Tränen und mit zitternder Stimme erläutert, was ich im Prozessverlauf noch mehrmals durchleben musste. Ich hatte wie ein Schlosshund geheult und selbst Alice konnte mich nur schwer beruhigen. Mehrfach musste der Prozess für einige Minuten unterbrochen werden, weil ich wie ein Häufchen Elend im Gerichtssaal saß und schluchzte. Nachdem mir Beruhigungstabletten verschrieben worden waren, konnten wir auch endlich wieder die Nächte durchschlafen. Niemals hätte ich geglaubt, dass man so ausgeruht sein konnte, wie ich es jetzt war. Die Stille des Waldes tat uns gut und wir beschlossen, öfter hier spazieren zu gehen. Einfach den Alltag Alltag sein lassen und abschalten können. Seitdem wir diesen Entschluss gefasst hatten, waren zwölf Monate ins Land gezogen. Der Wald war zu jeder Jahreszeit auf seine Weise wunderschön und hatte eine beruhigende Wirkung auf uns. Ein Kurzurlaub für unsere Seelen.

Ich half Alice hoch, doch sie zog mich auf sich und küsste mich sanft. „Sind wir jetzt quitt?“, fragte sie und zupfte mit unschuldigem Blick an meinem Kragen herum. Ihre Augen leuchteten im spärlichen Licht, das durch die hohen Tannen strahlte. Mein Bauch kribbelte bei diesem Anblick. Diese wunderschönen grünen Augen, die mich so glücklich ansahen und mir so viel Liebe schenkten, bedeuteten mir mehr, als ich es jemals hätte beschreiben können. Anderthalb Jahre war sie jetzt schon an meiner Seite und ich liebte sie immer noch wie am ersten Tag, mit dem Unterschied, dass unsere Beziehung ruhiger wurde, worauf ich ganz stolz war. Unser Start war ja mehr als aufregend genug gewesen.

Ich küsste ihre Wange und zog sie behutsam an mich. Alice schlang ihre Arme um mich und legte ihre Stirn auf meine. „Träumst du schon wieder vor dich hin?“, murmelte sie. Abrupt zog sie mir die Mütze vom Kopf und rannte den unbefestigten Weg entlang, tiefer in den Wald hinein. Seufzend sah ich ihr nach. Man hätte meinen können, sie wäre noch ein Teenager und hätte nur Flausen im Kopf, doch diese Frau war eine knallharte Geschäftsfrau geworden und hatte für die Firma schon den einen oder anderen Deal herausgeschlagen, während Sam mit mir im Buchhalterbüro verstaubte.

Ich ging ihr langsam hinterher.

„Ein bisschen schneller, Frau Fischer!“, rief sie mir entgegen und ich beschleunigte ihr zuliebe mein Tempo. Immer dieser Befehlston. Sie kam auf mich zugelaufen und sprang mir lachend in die Arme. Ich drückte sie an mich und atmete den süßen Duft ihres Parfüms ein.

„Ich will dich heiraten, mein Liebling“, flüsterte sie mir ins Ohr.

Ich grinste verlegen in ihren Mantel und streichelte ihren Rücken. Es war nicht das erste Mal, dass sie diesen Wunsch äußerte, den ich nie beantwortete. Sie sollte einen wunderschönen romantischen Antrag von mir bekommen, den ich bereits plante, doch dafür musste es erst wieder Frühling werden. „Erst einmal müssen wir wieder zurück zum Auto, mein Engelchen. Meine Füße sind nur noch Eisklötze“, wich ich aus. Ich setzte sie ab und musterte sie kurz. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Zopf gebunden. Ihre wunderschönen grünen Augen lächelten mir entgegen, ihre Nase war knallrot und ich spürte wieder dieses Kribbeln im Bauch.

„Na gut, dann lass uns zurückgehen“, seufzte sie, gab mir meine Mütze zurück, die ich schnell wieder aufsetzte, und nahm meine Hand.

Geschlagene drei Stunden waren wir unterwegs gewesen, und als ich endlich meine heiße Kaffeetasse in der Hand hielt und Alice ihren Kopf auf meinen Schoß legte, hätte ich nicht glücklicher sein können. Wir schauten uns ein russisches Märchen an, was mich in meinen Kindheitserinnerungen schwelgen ließ. Die Nachmittage mit meinen Eltern, die mit mir Kekse gebacken hatten, um sie danach gleich wieder aufzuessen. Die Besuche auf dem Weihnachtsmarkt, die meine Augen leuchten ließen. Die Bratäpfel, die Oma mit mir gemacht hatte. Verträumt streichelte ich Alice’ Hand, die auf ihrem Handy nachsah, wie das Wetter werden würde.

„Och nee, das soll morgen schon wieder tauen!“, schmollte sie und schob ihre Unterlippe vor.

„Das habe ich mir schon gedacht. Wir sind hier nun mal nicht in den Bergen, da bleibt das nicht so lange liegen“, versuchte ich, sie zu ermuntern, was kläglich scheiterte. Seufzend legte sie ihr Handy auf den Couchtisch und zusammen schauten wir das Märchen zu Ende.

Alice hatte ihre Wohnung den letzten Schliff mit unzähligen Bildern von uns gegeben. Eins davon war unser Bild von der Abschlussfeier unserer Ausbildung, auf dem wir um die Wette strahlten. Verträumt grinsend nahm ich es in die Hand und nippte an meinem frisch gekochten Kaffee. Mein blauer Anzug mit dunkelblauem Schlips und ihr dunkelblaues Chiffonkleid passten perfekt zusammen, obwohl wir uns nicht abgesprochen hatten, im Gegenteil, sie hatte mit Mutti ein riesiges Geheimnis darum gemacht. Ich durfte sie erst in dem Kleid sehen, als ich sie abgeholt hatte. Mir war bei ihrem Anblick alles aus dem Gesicht gefallen, als sie vor mir gestanden hatte, am liebsten hätte ich sie an Ort und Stelle geheiratet. Ihre hochgesteckten Haare hatten ihr wunderschönes Gesicht umspielt, und ich hatte wie versteinert vor ihr gestanden und keinen Ton herausbekommen.

„So sprachlos kenne ich dich gar nicht, mein Schatz“, hatte sie mich angelächelt und mir über die Wange gestreichelt, als sie auf mich zugekommen war. An ihrem Handgelenk hatte das Armband gebaumelt, das ihre Mutter ihr zum 19. Geburtstag geschenkt hatte. Ihre silbernen mit Strass besetzten Pumps hatten mich neben ihr etwas klein wirken lassen.

Martin, der an diesem Abend einen weißen Smoking trug, chauffierte uns zusammen mit Mutti und Thea, die beide ein schlichtes schwarzes Kleid trugen, zum Ball. Marco zog es vor, sich in seinem Zimmer zu vergraben, und hatte die ganze Nacht wohl hinter der Konsole verbrachte.

Als Alice ausstieg, zog sie problemlos alle Blicke auf sich und ich platzte fast vor Stolz. Ich nahm ihre Hand. Mein Herz sprudelte über vor Glück. Sam, der einen klassischen schwarzen Anzug mit Fliege trug, stand mit Tim am Eingang und rauchte. Wahrscheinlich war Sam wieder so nervös gewesen, wie bei seinem ersten Date. Ich winkte ihnen zu, hinter mir quietschte Mutti, als sie Sam sah, und rief ihn zu uns herüber. „Meine Güte, ihr beide seht umwerfend aus“, freute sie sich und betrachtete Tim eine Weile. Er trug einen cremefarbenen Anzug mit der dazu passenden Krawatte und schwarze Oxford Halbschuhe, die auf Hochglanz poliert waren. So hätte man ihn auch für einen Modekatalog ablichten können.

„Danke, Senta. Du siehst aber auch wundervoll aus“, gab er zurück und küsste ihre Wange. Sam musterte meine Frisur, die ich – wie fast schon üblich – nach hinten geföhnt und mit Unmengen an Haarspray fixiert hatte. „Du hättest dir auch mal was anderes einfallen lassen können“, mokierte er sich und warf seine Zigarette weg. Alice umarmte ihn und ich musste mir auf die Zunge beißen, um nicht loszulachen, als sie sich etwas zu ihm herunterbeugen musste.

Unsere Eltern gingen schon mal hinein, um sich gute Plätze zu sichern. Wir standen noch einen Augenblick draußen, bis Alice langsam nervös wurde.

„Hey, du bekommst mit Sam zusammen eine Auszeichnung, weil ihr mit 1,0 abgeschlossen habt. Da kann ich mit meiner 2,3 nicht mithalten“, witzelte ich, doch Alice fand das überhaupt nicht lustig.

„Super, wie du mich beruhigst, das baut ja auch überhaupt keinen Druck auf!“, keifte sie mich an. Sam und Tim kicherten über unsere sinnlose Diskussion, sodass sie sich zu den beiden umdrehte, die augenblicklich erschraken. „Es tut mir leid, aber ich bin verdammt noch mal nervös und brauche eigentlich einen Kurzen, damit ich überhaupt auf den Schuhen laufen kann“, schnaufte sie verzweifelt.

Sam grinste, zog aus seiner Tasche vier kleine Flaschen heraus und verteilte sie in unserer Runde. „Wehe, du nennst mich noch einmal Schnapsdrossel! So eine Idee kann auch nur von dir kommen“, giftete ich ihn grinsend an und öffnete das Fläschchen. Wir stießen an und kippten uns den nach Feige und Wodka schmeckenden Schnaps runter, der in meiner Kehle brannte. Was für ein ekelhaftes Zeug!

„Häschen, ich gehe schon mal hinein und versuche, den Rest unserer Bande zu finden“, sagte Tim schließlich und küsste Sam auf die Wange, bevor er von dannen zog.

Wir machten uns unterdessen auf den Weg zum Nebeneingang, wo bereits zwei Dutzend Mitschüler standen, alle in feinen Zwirn gekleidet. Wir gingen zu unserer Tutorin, die Herrn Fürst ersetzt hatte. Sie hatte ihre langen pechschwarzen Haare zu einem strengen Zopf gebunden und trug ein verdammt enges Kostüm, welches ihre Rundungen stark betonte. Der Unterricht mit ihr ähnelte eher einer Übungseinheit der Bundeswehr. Sie gab die Befehle und wir mussten springen. Ihre kalten blauen Augen musterten Alice und mich kurz. „Sehr schick. Kommt mit!“

Ich widerstand der Versuchung, zu salutieren, und trabte ihr mit Alice an der Hand hinterher. Sie führte uns in die erste Reihe und setzte Alice zu den anderen Bürokaufleuten. Ich seufzte, ging an das andere Ende der ersten Reihe und zog meinen Schlips zurecht, als ich mich gesetzt hatte. Langsam drehte ich mich um und sah, dass Tim, Mutti und die anderen nur fünf Reihen von uns entfernt saßen. Neben Tim saß Frau Fechtner, Sams Mutter, die sich herausgeputzt hatte. Sie lächelte mich an und ich winkte ihr zu.

Die Aula füllte sich allmählich, und als das Licht abgedunkelt wurde und unser Schulleiter an das Rednerpult trat, verstummte das Murmeln. Anfangs hörte ich ihm noch zu, doch nach der Zeit war ich so nervös, dass Sam, der sich zu mir gesetzt hatte, beruhigend seine Hand auf meine legte. Er zwinkerte mir zu und ich fühlte mich ein wenig besser. Alice wurde von Chrisy, die ich tatsächlich lieb gewonnen hatte, besänftigt. Sie tuschelten etwas und grinsten zu mir herüber. Chrisy trug einen schwarzen Anzug, der ihre sonst so vorlaute und freche Art ganz artig wirken ließ, wenn da nicht ihre zerzauste Frisur gewesen wäre. Es hätte mich auch gewundert, wenn sie zu brav hierhergekommen wäre.

Als unser Schulleiter und seine nachfolgenden Redner endlich fertig waren, wurden Alice und Sam auf die Bühne gebeten. Sam, ganz Gentleman, half Alice die Treppen hinauf, die darüber mehr als glücklich war. Sie nahmen die gelben Rosen, das Buch und ihre Abschlusszeugnisse breit grinsend entgegen. Als sie sich aus dem Staub machen wollten, zog der Schulleiter sie zurück und sie mussten noch für ein paar Bilder posieren. Alice setzte ihr schönstes Lächeln auf, während Sam wohl nicht wusste, was er mit seinem Gesicht machen sollte. Er grinste schief in die Kamera. Ich drehte mich zu Mutti um, die wie wild mit der Spiegelreflexkamera herumhantierte. Ich schmunzelte und machte mich bereit, gleich aufgerufen zu werden.

Als meine Tutorin meinen Namen nannte, gefolgt von den anderen Buchhaltern aus meinem Jahrgang, ging ich, so elegant wie es mir möglich war, auf die Bühne. Bloß nicht stolpern oder hinfallen, meine Mutter würde dafür sorgen, dass ich es niemals vergessen würde. Ich zwang mich zu einem Lächeln und schüttelte die Hand von mir unbekannten Personen und nahm mein Zeugnis entgegen. Mein Blick schweifte durch das Publikum und ich fand meine Liebste, die aufstand und uns – oder vielleicht sogar nur mir? – applaudierte. Ich strahlte sie an und sie warf mir eine Kusshand zu.

Ich stellte das Bild, das ich die ganze Zeit dämlich angegrinst hatte, wieder auf seinen Platz zurück. Diese Erinnerung würde auf ewig bleiben.

„Ich hätte dich am liebsten sofort geheiratet. Du siehst in Anzügen einfach zum Anbeißen aus“, flüsterte Alice mir ins Ohr, die wohl mit mir zusammen in Erinnerungen geschwelgt hatte. Sie schlang ihre Arme um mich und streichelte mir geistesabwesend den Bauch.

„So ging es mir mit dir auch“, seufzte ich.

Eine ganze Weile standen wir einfach nur so da.

Wir schreckten zusammen, als es an der Tür klingelte und Alice zur Gegensprechanlage ging. Tim trällerte irgendein Lied hinein und Alice grinste, als sie den Türöffner betätigte. „Wäre ich nicht lesbisch und er nicht schwul, hätte ich den auch genommen“, wisperte sie mir grinsend zu, bevor Tim und Sam gemeinsam in unsere Wohnung stolperten.

„Alice, mein Schatz, du siehst ja richtig prima aus!“, lachte Tim gut gelaunt und drückte sie an sich. In einer Hand hielt er eine Tüte aus dem Supermarkt hoch, die ich ihm abnahm. Als ich genauer hineinsah, wurde ich fast traurig. Es waren nur vier Sektflaschen.

Sam schob sich an Tim und Alice vorbei und gab mir eine weitere Tüte. „Ich habe an dich gedacht und dir ein paar Bier gekauft. Tim ist nun mal eine Tussi“, feixte er neckisch und deutete mit einem Kopfnicken zu seinem Freund herüber, der bereits Alice in ein Gespräch über eine Modellserie verwickelt hatte.

Als er mich sah, huschte er zu mir herüber. „Ach Sarah, Mäuschen, dich habe ich ja noch gar nicht begrüßt. Nettes Parfüm, ist das neu?“, fragte er ganz quietschig, als er mich an sich drückte.

„Das ist von Tom Tailor, eigentlich gehört es Alice, aber ich durfte es heute ausnahmsweise benutzen“, zwinkerte ich ihm zu.

Sam holte die Sektgläser aus der Vitrine und öffnete mit einem lauten Knall die Sektflasche, wobei sich die Hälfte des guten Tropfens auf unserem Küchenboden verteilt.

„Das musst du aber noch üben, mein Lieber“, grinste ich spöttisch und wischte den verschütteten Schaumwein auf. Sam zog eine Grimasse und befüllte vorsichtig die Gläser. „Was haben wir eigentlich zu feiern? Am Telefon habt ihr beide euch ja sehr bedeckt gehalten“, fragte ich.

Tim und Sam grinsten sich an und zeigten uns ihre linken Hände, auf deren Ringfingern etwas Silbernes schimmerte.

„Oh mein Gott, herzlichen Glückwunsch!“, quiekte Alice und umarmte die beiden gleichzeitig.

Sam und ich klatschten ab, wie wir es schon immer taten, wenn etwas wie am Schnürchen lief. „Als hätte ich es geahnt.“ Ich grinste über beide Ohren und umarmte die Jungs, als Alice sich von ihnen gelöst hatte.

Alice ging zu unserer Anlage und legte Musik auf. Tanzend kam sie zurück in die Küche und prostete uns zu. Tim tanzte mit Alice, sodass ich Sam fragen konnte, wer nun die Frage aller Fragen gestellt hatte.

„Es war total romantisch am Strand. Tim hatte mich dorthin gelockt und ein kleines Lagerfeuer gemacht. Als die Sonne fast untergegangen war, hat er mich gefragt, mit Kniefall und allem Tamtam“, erzählte er mit verliebt leuchtenden Augen.

Ich freute mich sehr für ihn. „Wenn ich überlege, dass du am Anfang voller Zweifel und Angst warst. Und wenn ich dich jetzt so sehe, bist du ein komplett anderer Mensch“, gab ich zu. Zusammen beobachteten wir unsere Partner, die ausgelassen tanzten. Ich beneidete Tim um seinen grazilen Hüftschwung und nippte am Sekt, der zu meiner Überraschung doch nicht so schlecht schmeckte, wie befürchtet.

Die Musik wurde ruhiger und wir spielten nach einigen Gläsern Sekt Poker. Mein Vorschlag, Strip-Poker zu spielen, wurde einstimmig abgelehnt. „Dafür sind wir noch nicht betrunken genug“, kam es von Tim. Ich hatte schon einige Chips gewinnen können, doch Sam und Alice waren mir dicht auf den Fersen. Sam schob seine wenigen Chips zusammen und versuchte nebenbei, mich unter den Tisch zu trinken.

Einige Runden später waren Sam und ich raus und Alice’ Pokerface trieb Tim in den Wahnsinn. Am Ende konnte Alice das Spiel für sich entscheiden und Tim raufte sich die Haare.

„Leg dich nicht mit einer Geschäftsfrau an“, tröstete ich ihn, während Alice die Chips wieder in die Verpackung stopfte. Ihre Lippen wurden von einem triumphierenden Lächeln umspielt. „Es war einfach nur Glück“, schlichtete sie bescheiden.

„Wenn es danach geht, habe ich mein Glück ja schon gefunden. Pech im Spiel, Glück in der Liebe“, warf Tim ein und sah zu Sam herüber, der seine Lippen spitzte, um seinen Verlobten zu küssen.

Ich wollte mir ein Bier holen und Alice folgte mir in die Küche. Sie schloss die Tür und drückte mich an den Kühlschrank. Ihre Küsse waren so fordernd und leidenschaftlich, dass ich ein leises Stöhnen nicht unterdrücken konnte. „Ist dir der Alkohol zu Kopf gestiegen, Engel?“, flüsterte ich ihr zwischen unseren Küssen zu, doch ich bekam keine Antwort. Sie griff mir in die Haare und biss mir in den Hals. Erregt von ihrer Gier krallte ich mich an ihrer Hüfte fest und zog sie dichter an mich. „Wir haben Gäste, das ist unhöflich“, versuchte ich, sie zu bremsen, was zu meinem Erstaunen funktionierte. Langsam löste sie sich und schüttelte ihre Haare zurecht. Ich strich meine Haare wieder nach hinten, öffnete den Kühlschrank und beugte mich zum Bier herab.

„Wenn ich könnte, wie ich wollte“, seufzte Alice theatralisch und nahm eine Sektflasche heraus, die ein paar Fächer über dem Bier lag. Sanft drückte sie ihren Venushügel gegen meinen Po. Miststück! Sie öffnete die Sektflasche – ohne einen Tropfen zu verschütten – und ging mit einem breiten Lächeln auf den Lippen zurück ins Wohnzimmer.

„Wann wollt ihr eigentlich mal ernst machen?“, fragte Tim, der schon leicht einen im Tee hatte.

Alice, die auf meinem Schoß Platz genommen hatte, sah mich fragend an. „Genau, Liebling, wann willst du mich endlich mal fragen?“, wiederholte sie die Frage und sah mich erwartungsvoll an.

Ich zuckte mit den Schultern. Ich hätte sie lieber heute als morgen gefragt, aber ich wollte es so romantisch wie nur möglich machen. Das hatte sie verdient ... und nicht so einen schnöden Antrag zwischen Tür und Angel. Ich nahm einen Schluck Bier.

„Ich hoffe, wir sind zu eurer Hochzeit eingeladen“, zwinkerte Alice Tim zu, als sie mit ihm zum wiederholten Mal anstieß.

„Wir wollen euch eigentlich etwas fragen ...“ Tim sah zu Sam herüber, der uns angrinste. „Wollt ihr unsere Trauzeugen werden?“

Alice quiekte aufgeregt herum, sprang von meinem Schoß und fiel Tim in die Arme. „Was ist das für eine Frage?“ Sie sah mich freudestrahlend an.

„Logisch!“, gab ich grinsend zurück und leerte mein Bier in einem Zug. Sam sah zu mir herüber und nickte in Richtung Küche.

Sam rauchte neben mir und ich fror mir auf dem Balkon meinen Allerwertesten ab. „Er will mich am Valentinstag heiraten“, sagte er schließlich, als er einen tiefen Zug von seiner Zigarette nahm.

„Das ist in noch nicht mal drei Monaten“, krächzte ich angeheitert. Die frische Luft ließ den Alkohol durch meinen Körper schießen. Ich wippte von einem Fuß auf den anderen, wobei ich mir ein wenig dämlich vorkam. Als Sam endlich aufgeraucht und den Kippenstummel achtlos vom Balkon geschnippt hatte, sah er mich ernst an.

„Meinst du nicht, dass es doch etwas zu schnell geht? Ich liebe ihn über alles, aber ich will es nicht so übers Knie brechen.“

Er schien mit sich selbst zu hadern, aber ich beschwichtigte ihn. „Ich finde das echt süß und romantisch von ihm. Du kannst ja noch mal mit ihm reden, wenn ihr wieder nüchtern seid.“ Ich drückte die Balkontür auf und fiel dabei fast hin. Verdammter Alkohol. Ich konnte mich noch gerade so an der Spüle abfangen und rappelte mich schnell wieder auf. „Komm, ein Bier trinken wir noch“, nuschelte ich Sam zu, der sich vor Lachen fast in die Hose gemacht hatte. Er schoss an mir vorbei und das Knallen einer Tür verriet mir, dass er im Bad war.

Ich holte die letzten zwei Bier aus dem Kühlschrank und stellte sie ein wenig zu schwungvoll auf den Couchtisch, wo Alice und Tim bereits am Notebook nach Locations für die Hochzeit suchten. Sie schraken kurz zusammen und sahen mich verwirrt an.

„’tschuldigung“, nuschelte ich und ließ mich auf das Sofa fallen.

Sam wankte aus dem Badezimmer zu mir herüber und setzte sich auf meinen Schoß. „Schätzchen, du wirst immer meine Nummer zwei im Leben sein“, lallte er und spießte mit seinem Zeigefinger fast mein Auge auf.

„Ich liebe dich auch, Sam. Meine Mutter würde sich bestimmt freuen, wenn du ihr Schwiegersohn wärst“, murmelte ich grinsend und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Alice und Tim sahen sich an und rollten fast synchron mit den Augen.

Nach einigen überschwänglichen Liebesschwüren zwischen Sam und mir verließen die beiden Verlobten uns und ich lag volltrunken auf dem Sofa.

„Liebling, komm duschen, du stinkst schlimmer als eine Brauerei“, maulte Alice und versuchte mich vom Sofa zu hieven.

„Warum bist du so gemein zu mir? Ich habe dein Parfüm aufgelegt, ich rieche verführerisch!“, lallte ich sie an und bekam kaum mehr die Augen auf. In meinem Kopf drehte sich alles. Es war wie in einem Kettenkarussell und die Fahrt wollte einfach nicht enden.

Als Alice mich endlich in die Wanne bugsiert und mich aus meinen Klamotten geschält hatte, drehte sie das Wasser auf und seifte mich ein. Ich lehnte mich an die Fliesen und grinste benommen vor mich hin. „Du bist echt hübsch“, nuschelte ich, doch Alice funkelte mich nur böse an.

„Ich habe dich schon oft betrunken erlebt, aber heute hast du echt den Vogel abgeschossen“, knurrte sie mich an und drehte das eiskalte Wasser auf. Schlagartig fühlte ich mich wieder fit im Kopf, doch dieser Zustand wollte nicht lange anhalten. Alice spülte mich ab und ich stieg ganz langsam aus der Wanne. Ich wurde unsanft trocken gerubbelt und ins Bett geschubst. Sie war wirklich wütend auf mich. Wortlos schmiss sie sich auf ihre Seite des Bettes und brummte mir ein „Gute Nacht“ zu. Ich kuschelte mich an sie und schlief – noch bevor ich antworten konnte – ein.

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