GEORGIUS JO BARNAIS

 

 

Der Tod im Theater

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 85

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

DER TOD IM THEATER 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Dreiundzwanzigstes Kapitel 

Vierundzwanzigstes Kapitel 

Fünfundzwanzigstes Kapitel 

Sechsundzwanzigstes Kapitel 

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

 

 

Das Buch

 

Hart ist das angeblich so schöne Künstlerleben im Paris der 1950er Jahre, weil die Konkurrenz groß ist. Es gibt nur wenige Gewinner, die von den nicht vom Glück Begünstigten beneidet und gehasst werden. Der junge Bariton Jo Barnais ist ein solcher Pechvogel, der sich mehr schlecht als recht von Auftritt zu Auftritt durchschlägt, obwohl er die Szene genau kennt.

Der Tenor Camille Manola steht hingegen auf dem Zenit seiner Karriere, wird ständig gebucht, ist reich und ein Idol der Massen. Nach zwei Jahren Abstinenz kehrt er unter großem Medienrummel auf die Bühne zurück. Ob seine Sangeskunst gelitten hat, kann nicht festgestellt werden, denn noch vor dem ersten Ton trifft ihn eine Kugel in die Kehle...

 

Georgius Jo Barnais (eigentlich Georges Guibourg - *03. Juni 1891; †08. Januar 1970) war ein französischer Schriftsteller, Sänger, Komponist und Schauspieler.

Der Roman Der Tod im Theater erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung folgte 1964. Der Roman wurde 1987 im Rahmen TV-Série-noir verfilmt.

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   DER TOD IM THEATER

 

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Ich saß im Parkett.

Darum kann ich aus eigener Sicht erzählen, wie sich alles zugetragen hat.

Wenn ich sage: »Aus eigener Sicht«, dann ist das nur eine Redensart, denn ich hatte einen jener scheußlichen Klappsitze hinter einer Säule...

Überhaupt: Das Theater du Châtelet! Zweifellos stammt es noch aus dem Siebziger Krieg... Da stehen die verdammten Säulen mitten im Parkett... Hat man das Pech, dahinter zu sitzen, muss man sich drei Stunden lang den Hals verrenken, um etwas zu sehen...

Na, über den schlechten Platz will ich nicht weiter schimpfen, denn ich war froh, überhaupt eine Karte bekommen zu haben...

Bourgade, der Chorleiter, hatte sie mir besorgt. Zur öffentlichen Generalprobe.

Nicht, dass mich das illustre Publikum besonders beeindruckt hätte, aber ich hatte einen Hintergedanken...

Ich sagte mir: Vielleicht würde sich unter den Zeitungsleuten doch noch einer finden, der meine Anwesenheit erwähnte.

Eigentlich wäre es angenehm, wenn ich morgen im Figaro oder im Petit Pausiert lesen könnte:

»Ferner sah man... den und den und... den Bariton Jo.«

Wenn man zu den kleinen Fischen gehört, so wie ich, muss man sich auf jede Chance stürzen. Die Stars haben ihren Reklamechef, der dem lieben Publikum täglich ihren Namen serviert. Ich gehöre zu denen, die selbst dafür sorgen müssen, dass eine Zwei-Zeilen-Notiz über sie erscheint. Das ist nicht immer so leicht wie man glaubt. Vielleicht habe ich nur deshalb eine so harte Haut, weil ich auf dem Weg nach oben nichts wie Püffe einstecken musste. Wer nicht an der Spitze steht, der wird herumgestoßen wie ein Punchingball. Das gilt fürs Theater genau wie für jeden anderen Beruf.

Aber ich will mich weder über meine Branche auslassen, noch über meine Sorgen. Ich bin keiner von denen, die sich beklagen. Zuerst habe auch ich Rosinen im Kopf gehabt wie jeder andere. Aber das hat sich schnell gegeben. Heute kann ich mit Stolz sagen, dass ich trotz meiner Jugend ein Zyniker bin. Hartgesotten wie ein Osterei. Mir macht keiner was vor. Weder das Publikum noch die Kollegen, noch die Welt im allgemeinen. Schade! Mit Illusionen lebt es sich hübscher. Aber man kann sich nicht aussuchen, wie man lebt. Ich hätte an diesem Abend lieber ein schickes Mädchen ausgeführt - ich habe eine Schwäche für Mädchen - aber Pflicht geht vor. Wer Karriere machen und im Figaro erwähnt werden will, muss auch Opfer bringen können.

Ich kam frühzeitig, weil es an solchen Abenden immer Leute gibt, die auf der Lauer liegen, um sich nach dem Klingelzeichen auf einen leeren Platz zu stürzen.

Das Theater war überfüllt. Es war die vierte Operette von Jean-Jacques Brines, dem gefeierten Komponisten südamerikanischer Musik. Der Erfolg stand von vorneherein fest: ganz große Klasse.

Außerdem hatten sie noch einen Knüller.

Das Wiederauftreten des schönen Tenors Camille Manola nach zweijähriger Abwesenheit.

Damit ist bereits gesagt, dass im Zuschauerraum die Damenwelt vorherrschte.

Eigentlich zum Lachen, denn jeder weiß, dass Manola sich aus Frauen nichts macht.

Erzählen sie das aber einer Frau? Sie glaubt es ihnen doch nicht. Sie bildet sich höchstens noch ein, man sei auf den schönen Tenor eifersüchtig.

Auf den Rängen saßen sie in Massen, die Milchmädchen auf Ausgang, parfümiert nach Nimm-mich-oder-ich-sterbe, die Flasche zu fünfzig Franc im Einheitspreisladen. Und wie sie schon alle zappelten, in Erwartung des schönen Manola. Sie waren ebenso bereit, ihm ihre Bewunderung, wie auch die Blumen, die sie sich in den Busen gesteckt hatten, entgegenzuschleudern.

Ich lachte vor mich hin. Nicht, dass mir das Lachen vom Herzen kam. Wenn man ein Bariton ist - schon schlecht, denn Tenöre sind gefragter - und mit Zähnen, Fäusten und Tritten darum kämpfen musste, bis man als zweite Besetzung beim A. B. C. angelangt war, kann man über einen Dreistern-Tenor nur aus Bitterkeit lachen. Vielleicht ist auch eine Dosis Neid dabei, ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Ich bin jung, ich bin ungeduldig, und das Warten auf den Erfolg kann einen umbringen. Dabei setzt auch der beste Charakter ein paar Rostflecke an.

Es gibt schon ein paar Sänger, vor denen ich den Hut abnehme, aber für den aufgeblasenen Manola habe ich nichts übrig. Die Phasen seines Auftritts sah ich voraus.

Alles sah ich voraus... alles, bis auf das, was wirklich geschah.

Erst im zweiten Bild sollte Manola erscheinen.

Die Ouvertüre erhielt den üblichen Applaus. Der erste Aufzug verlief ziemlich ruhig. Dekorationen und Kostüme wurden gebührend bewundert. Mehr nicht.

Schließlich weiß jeder im Voraus, was an einer Revuetheater-Operette dran ist.

Revue in zwölf Bildern.

Zehn davon zum Ärger des Helden, der erst im zwölften seine seit dem dritten Bild angeschwärmte Schöne in die Arme schließen kann. Und das nach einer Reise um die Welt und elf Kostümwechseln!

Kein anstrengendes Stück! Man kann dabei an etwas anderes denken.

Das tat ich auch.

Das erste Bild war eben beendet. Ein zündender Rhythmus erklang. Der Komiker vor dem Vorhang machte seine Possen. Keiner lachte... Bedrückend!... Alles erwartete den Auftritt des berühmten Startenors...

Endlich ging der Vorhang wieder auf...

Fabelhafte Antillenlandschaft...

Im Vordergrund eine Riesentreppe, die zu einem Palast führt. Möchte nur wissen, wo der Regisseur auf den Antillen solch ein Prachtstück gesehen hat? Es war hervorragend.

Ich konnte mir den Clou vorstellen:

Sicher sollte Manola in eleganter Marineoffiziersuniform die Treppe herunterkommen... Klarer Fall...

Ich hatte mich nicht getäuscht.

Schon bildeten Tänzer und Tänzerinnen Spalier. Trompeten und Posaunen schmetterten.

Da!... Manola!

Sieghaft auf der obersten Stufe... Beifall umbraust ihn. Toben, Schreien, Brüllen.

Er aber, unverändert schön, zeigte selig lächelnd sein makelloses Gebiss.

Eine alte Schachtel im ersten Rang warf ihm Kusshändchen zu...

Endlich entschloss er sich, herunterzukommen.

Er setzt seinen Fuß auf die erste Stufe... noch eine... noch eine...

Plötzlich hält er an. Sein Blick erstarrt, er öffnet den Mund, streckt die Arme vor, spuckt Blut und kollert kopfüber die Treppe herunter.

Im Zuschauerraum, auf der Bühne, alle waren erstarrt...

Er war soeben von einer 22-mm-Kugel am Kehlkopf getroffen worden...

Aber das stellte sich erst später heraus.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Einen Augenblick lang war ich froh über meinen Klappsitz hinter der Säule. Er befand sich rückwärts im Parkett. So konnte ich notfalls als einer der ersten hinauskommen.

Denn ich sah das Durcheinander voraus, das bald entstehen würde.

Im Parkett und in den Rängen herrschte Bestürzung und Panik.

Das Orchester war verstummt. Die Musiker waren aufgesprungen und versuchten, über die Rampe zu schauen. Die Frauen heulten, jammerten und kreischten mitfühlend.

»Was hat er denn...?«

»Das ist ja furchtbar...«

»Ein Blutsturz...?«

Und ähnlichen Unsinn, der in solchen Fällen eben gesagt wird.

Auf der Bühne war das Personal zusammengelaufen. Tänzerinnen, die in der ersten Reihe Spalier gestanden waren, um Manola an der Treppe in Empfang zu nehmen, wischten sich das Blut von den Kostümen. Tänzer liefen kopflos hin und her. Die Primadonna riss den Mund auf. Kurz, alles schien verrückt.

Plötzlich, auf eine Anordnung aus den Kulissen, fiel der Vorhang.

Ein graumelierter Herr, sichtlich bewegt, trat vor. Es war der Intendant.

»Meine sehr verehrten Damen und Herren«, sagte er, »unser großer und allseits beliebter Star ist soeben von einem schweren Unwohlsein befallen worden, dessen Ursache uns nicht bekannt ist. Wir sehen uns daher genötigt, die Premiere auf einen späteren Termin zu verlegen. Die Karten behalten ihre Gültigkeit. Die Wiederaufnahme der Vorstellungen wird durch die Zeitungen bekanntgegeben.«

Dann fügte er hinzu: »Ich bitte den diensttuenden Arzt dringend, in das Regiezimmer zu kommen... Danke.«

Daraufhin entstand ein unbeschreiblicher Wirrwarr.. doch ich hatte mich bereits über eine Sesselreihe geschwungen und befand mich schon an der Tür. Das ging so schnell, dass die Zuschauer mich für den Arzt halten mussten... zu blöd!

Drei Minuten später war ich draußen.

Von Natur aus bin ich nämlich neugierig.

Ich hatte mir gesagt: »Warum nicht einen Rundgang durch die Kulissen machen, um zu sehen, was los ist?«

Ich wollte wissen, was dem schönen Camille Manola zugestoßen war. Und wenn nur, um einer der ersten zu sein, der Bescheid wusste, wenn die Geschäftsleute aus meiner Gegend mich am anderen Tag fragten:

»Na, was ist denn passiert?«

Auf dem Place du Châtelet holte ich erst mal tief Luft, denn trotz allem hatte ich bei der Sache, wie jedermann, einen Schock abgekriegt. Komisch, wo ich doch ein abgebrühter Mensch bin. Aber vielleicht bin ich eben nicht ganz so perfekt wie ich immer dachte.

Nachdem ich die Avenue Victoria überquert hatte, präsentierte ich mich am Bühneneingang an der Rue Eduard Colonne. Ich dachte, ich würde ohne Schwierigkeit auf die Bühne kommen. Aber der Portier stand mit einem Polizisten vor der Tür und sie ließen keinen herein.

Da erschien, wie gerufen, mein Freund Bourgade!

»Ich möchte hinein«, sagte ich ihm.

»Komm mit«, meinte er lakonisch.

Auf diese Weise gelang es mir, bis zum Regiezimmer vorzudringen.

Der Arzt war schon da.

Manola lag ausgestreckt auf einer Couch.

Das ganze Ensemble schwirrte auf der Bühne herum. In seiner liebenswürdigen Art schrie der Regisseur:

»Mund halten! - Ruhe!«

Man wusste noch immer nicht, was passiert war.

Alle Chefs waren versammelt: Kapellmeister, Verwalter, Inspizient, Chorleiter, Ballettmeister...

Plötzlich wurde es still. Als ahne man etwas Furchtbares, Endgültiges...

In der Tat. Der Arzt näherte sich, sah den Verwalter an und sagte kühl und einfach:

»Er ist tot. Von einer Revolverkugel aus kurzer Entfernung getroffen. Die Kugel hat den Kehlkopf durchschlagen.«

Alles erstarrte. Was? Ermordet? Revolverkugel? Aber wer hat geschossen? Von wo aus? Von der Bühne? Aus dem Zuschauerraum Aber wer denn? Wer?

Ich muss gestehen, so was hatte ich aufs erste nicht vermutet. Wie die meisten hatte ich geglaubt, dass es ein Blutsturz sei, dass der schöne Tenor vielleicht an einem Lungenleiden gelitten hatte, das er zu verbergen suchte, oder dass ein Stimmband gerissen war. Doch nie hätte ich an einen Mordanschlag gedacht.

Der Arzt fuhr fort: »Man muss sofort die Polizei alarmieren, nichts berühren, den Toten liegen lassen. Nur der Gerichtsarzt kann sagen, aus welcher Richtung geschossen wurde und ungefähr aus welcher Entfernung.«

Allgemeine Bestürzung. Nicht, weil Manola besonders beliebt gewesen wäre, sondern weil jeder sofort begriff, dass er kein Double hatte, dass man einen anderen Star würde suchen müssen, um seine Rolle zu übernehmen, dass man große Tenöre an einer Hand abzählen konnte und dass es mindestens noch einen Monat dauern würde, bis die Vorstellungen anlaufen könnten... Ein Monat Pause...! Ohne Gage! Wegen »höherer Gewalt!«

Sie warfen böse Blicke in Richtung des Leichnams... Niemand regte sich auf, dass Manola eigentlich ein junger Bursche war und sich vielleicht noch gern ein paar Jahre lang auf dieser Welt vergnügt hätte. Von Bedauern keine Spur. Im Gegenteil, es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre die Maulerei losgegangen: »Schämst du dich nicht, uns das einzubrocken?«

Ich wusste genug und machte kehrt. Bei Lipp, wo ich zu Abend essen wollte, würde ich mit meinen Neuigkeiten sicher der Mittelpunkt sein.

Ich bin, wie gesagt, darauf angewiesen, Eindruck zu schinden. Beim Theater geht es nicht anders. Die einen fahren mit amerikanischen Straßenkreuzern, die anderen lassen sich ihren Salon Picassos tapezieren. Bei mir langt es nicht für solche Scherze. Deshalb habe ich mir meine eigene Masche zurechtgelegt: die eiskalte, aber große Schnauze! Die gebräuchliche Note der minderbemittelten Jugend von heute. Manchmal staune ich selbst, wenn ich mir zuhöre. Nun, diesmal hatte ich wirklich was zu erzählen.

Ich wollte gehen. Da klopfte mir draußen im Flur jemand auf die Schulter. Es war Lambert, der mit leichtem Spott bemerkte: »Nicht so eilig, kleiner Bariton, warte einen Augenblick, wir gehen ein bisschen zusammen...«

Lambert ist eins der Asse aus der Maison Poulaga (Pariser Polizeipräsidium, Kriminalabteilung).

Vor drei Jahren lernte ich ihn kennen. Kein sturer Bulle, eher ein guter Kerl. Aber darauf kann man sich nicht verlassen.

»Schon bei der Arbeit?«, meinte ich schmunzelnd.

»Ja«, erwiderte er. »Ich habe den Eindruck, das ist eine Sache, die sie mir anvertrauen werden... Dabei könnte ich deine Unterstützung brauchen, Jo...«

»Nur langsam«, sagte ich. »Ich bin kein Denunziant. Außerdem bin ich nicht bei der Kriminalpolizei. Jedem das seine. Der Fisch geht auch ohne mich ins Netz.«

»Mag sein«, fuhr er mit süß-saurer Miene fort. »Aber du warst doch im Zuschauerraum, mein Junge? Vielleicht kennst du sogar den Verbrecher? Oder hast ihn gesehen? Wer weiß, ob du es nicht selbst warst, der den Kollegen beseitigen wollte? Mir scheint, du hast es recht eilig gehabt, die Leiche zu besichtigen?«

Wie denkt er sich denn das? Mir trat der kalte Schweiß auf die Stirn. Schon sah ich mich als Opfer eines Justizirrtums.

»Sei nicht albern«, sagte ich. »Man könnte es dir am Ende glauben.«

Darauf fing er an zu lachen, nahm mich beim Arm: »Beruhige dich, Jo. Hab keine Sorge. Komm mit! Wir heben einen. Nur musst du dich eben damit abfinden, dass du mir hilfst. Du kennst dich ja im Künstlermilieu aus. Schließlich ist es doch keine Schande, einen Verbrecher zur Strecke zu bringen!«

Er zwinkerte mir zu: »Sonst könnte es vielleicht doch passieren, dass ich dich für verdächtig hielte und hinter Schloss und Riegel setzte... Nur so, zu meinem Vergnügen.«

Ich gab mich geschlagen.

»Einverstanden«, sagte ich.

 

 

 

 

  Drittes Kapitel

 

 

Diesen Lambert habe ich auf komische Weise kennengelernt.

Mit meinem richtigen Namen heiße ich Joseph Beauharnais. Außer dem Finanzamt weiß das aber kein Mensch. Als Künstlernamen hatte ich Jo Barnais gewählt.

Macht sich gut auf den Plakaten.

Vor etwa fünf Jahren sang ich in einem großen Vorstadtkino. In Nogent-sur-Marne.

Während der Vorstellung hatte man mir meine Brieftasche geklaut. Nicht, dass sie ein Vermögen enthalten hätte... Es war nicht toll... Da bin ich immer vorsichtig, denn in unserem Beruf gibt es so manchen, der auf die schiefe Bahn gerät.

Aber meine Papiere waren drin: Kennkarte, Wählerkarte, Bühnenausweis... Ich saß also auf dem Trockenen.

Was tun? Nach der Nachmittagsvorstellung ging ich zur Polizei. Aber die Kriminaler haben was anderes zu tun, als kleine Taschendiebe zu suchen. Kaum, dass sie mit den großen Gangstern fertig werden, die Millionenwerte an Geld und Schmuck einkassieren.

Trotzdem hatte ich fünf Minuten lang an ein Wunder geglaubt. Der Schreiber wollte meine Personalien wissen, einige Angaben über Verdachtsmomente. Er ließ mich ein großes Formular unterschreiben... und dann, addio. Ich hörte nichts mehr von der Sache.

Vor drei Jahren, als ich in einem Kino der Rue Oberkampf gastierte, kommt so ein dicker Bursche mit lustiger Miene in meine Garderobe, der nach mir gefragt hatte. Es war Lambert.

Der Mann war mir unbekannt.

»Tag, Beauharnais«, sagte er.

Kein Mensch nennt mich bei meinem richtigen Namen. Ich sah mir ihn aufmerksam an und dachte bei mir: Wer ist denn das? Daraufhin machte er die altgewohnte Bewegung des Kriminalisten: Er hob seinen Rockaufschlag und zeigte die Marke. Dann sagte er frostig:

»Kriminalpolizei.«

Ich verstand noch immer nichts.

Aber besagter Lambert ließ das Gespräch nicht einschlafen.

»Na, Beauharnais«, fährt er im gleichen, trockenen Ton fort, »man amüsiert sich also mit Villeneinbrüchen in Le Havre?«

Ich muss ihn ziemlich blöd angeschaut haben, denn er brach in schallendes Gelächter aus, klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Hier bringe ich Ihnen Ihre Brieftasche, mein Junge...«

Tatsächlich - er reichte mir mein Eigentum.

Eben wollte ich ihm danken und um eine Erklärung bitten. Aber er ließ mich nicht zu Worte kommen.

»Mein Lieber«, meinte er, »Ihr Glück, dass Sie den Diebstahl sofort gemeldet haben. Ihre Brieftasche wurde nämlich in einem der Zimmer einer Villa in Le Havre gefunden, die gerade von einer Gangsterbande aufgesucht worden war. Man hat sofort im Register nachgesehen. Kein Beauharnais und nichts dergleichen. Aber die Kripo ist helle. Ein Kamerad konnte sich noch an Ihre Anzeige erinnern. War damals gerade auf dem Kommissariat und der Name fiel ihm auf. Natürlich hatte auch er an einen Seitensprung der schönen Josephine geglaubt! Kurz und gut, die Akte wurde aufgetrieben. Im Rex, dem großen Kino von Le Havre, war ein Maschinenfritze namens Brouillot, der seit einiger Zeit unter Beobachtung stand. Vor fünf Jahren war er ausgerechnet in dem Kino in Nogent beschäftigt gewesen, in dem Ihnen die Brieftasche geklaut worden war. Da man ihn ohnehin wegen Diebstahls von Seidenwaren im Auge behielt... nahm man den Kerl so ganz auf die leise Tour nach der Vorstellung mit. Dank der Spezialmethoden unseres Hauses gestand er gleich und überließ uns eine komplette Liste seiner Komplicen. Ihren Zaster hat er selbstverständlich geklaut, aber die Papiere sind noch da. Anscheinend hat er sie benutzt, um heiße Ware zu kaufen. Nun wissen Sie alles, mein Bester.«

Dann fügte er hinzu: »Ist das nicht eine Runde wert?«

Und ob... Ich war hocherfreut...

Nach der Vorstellung traf ich ihn wieder und wir gossen gemeinsam einen hinter die Binde. Abends war er wieder da, um den Film zu sehen und vor allem -wie er mir sagte-, um meine Gesangseinlage zu hören.

Anscheinend gefiel ich ihm gut.

Ich hatte allerdings ein Bomben-Repertoire.

Schmalzige Tangos, ein lustiges Walzerlied und zum Schluss Eifersucht - einen meiner größten Erfolge.

Unter uns gesagt: ich muss mich innerlich totlachen, wenn ich loslege:

 

»Zwei Ochsen sind in meinem Stall,

Zwei weiße Ochsen, rotgefleckt...«

 

Denn ich sehe wahrhaftig nicht aus wie ein Bauer, in meinem Smoking nach letztem Schrei von Barclay!

Aber so was merkt ja das Publikum nicht.

Die guten alten Lieder aus der guten alten Zeit werden meist den pseudo-literarischen Ergüssen, von denen man doch nichts versteht, vorgezogen.

Also, Lambert kam abends wieder.

Nach der Vorstellung tranken wir eine Halbe, dann trafen wir uns wieder...

Er hatte an mir einen Narren gefressen...

Mit der Zeit duzten wir uns. Er erzählte mir einige seiner Fälle, während ich aus meinem Fach berichtete. Das gefiel ihm gut. Er hatte eine Schwäche fürs Theaterleben.

Öfters sagte er: »Wenn ich mal einen schweren Jungen verhaften muss, nehme ich dich mit, damit du siehst, wie man so was macht...«

Aber nix gut, Jo der Bariton! Ich habe das immer abgelehnt: Die Polizei kann ja auch mal den Falschen erwischen!

Nicht dass ich Angst hätte, aber das ist nicht mein Revier.

Und jetzt wollte mich dieser Lambert an der Untersuchung des Falles Manola teilnehmen lassen!

Ich war fest entschlossen, mir nicht die Finger schmutzig zu machen...

 

 

 

 

  Viertes Kapitel

 

 

Was mir an Lambert so gut gefiel, das waren sein Schwung, seine Freude am Risiko, sein Tempo, seine Eingebungen.

Achtundvierzig Stunden nach dem tragischen Tode des schönen Tenors rief er mich früh um acht Uhr an und bestellte mich um zehn Uhr in den Schweinsfuß an den Markthallen.

Der Treffpunkt war gut gewählt.

Im Faubourg St. Martin wären wir sofort aufgefallen. Obwohl es bereits zehn Uhr morgens war - das Künstlervolk schlief noch. Den Beruf wählen sie hauptsächlich, um länger schlafen zu können. Auch wenn sie nicht auftreten müssen, stehen sie ungern vor der Mittagszeit auf, die Faulpelze - meine lieben Kollegen...

Immerhin, es hätte genügt, wenn nur einer davon bei Batifol, im Louis XVI. oder im Globe gesessen hätte, damit die gesamte Theaterwelt sofort erführe, dass Jo der Bariton mit zwei Burschen gesehen wurde, die nach Polizei rochen...

Ich wiederhole: zwei, denn Lambert hatte mich gewarnt, dass er seinen Kollegen mitbringen würde, einen namens Chadal... Auch, dass dieser sein zweites »Ich« war und dass man sich mit der gleichen Offenheit an sie beide wenden könne.

Na, gut.

Punkt zehn Uhr war ich im Schweinsfuß. Meine beiden Kriminaler auch. Die sahen tatsächlich nicht so aus, als kämen sie von dem Verein. Tadellose Schale, ohne Mätzchen, waren sie von Büroangestellten nicht zu unterscheiden.

Man ließ sich nieder - an einem einzelnen Tisch neben der Tür.

Um diese Zeit war es ruhig im Lokal. Einige Lastträger aus den Hallen, Fleischträger mit blutigen Schürzen, zwei, drei Flittchen auf der Suche nach frühen Kunden, sonst nichts.

Man war ungestört.

Diese Leute hatten alle nur ein Thema: das Verbrechen vom Châtelet.

Die Zeitungen hatten die sensationelle und geheimnisvolle Mordaffäre durch Schlagzeilen auf der ersten Seite verbreitet.

Der Sturz einer Regierung, ein Erdbeben, eine Eisenbahnkatastrophe - nichts wäre von den Tageszeitungen so heftig besprochen worden wie der Mord an Tenor Manola.

Die Bedienungen, der Wirt, die Kunden, jeder äußerte seine Meinung dazu.

Unnötig zu sagen - alle schrien aus voller Kehle. Was jeder in seinem Blatt gelesen hatte, das gab er als seine persönliche Meinung aus...

Rache einer Frau, sagte der eine... - ausgerechnet! Ob Manola beim Intelligence Service war? meinte der andere. Armer Kerl, wo er doch kaum seinen Namen schreiben konnte! Die wären sauber zusammengestellt beim Intelligence Service, wenn sie einen solchen Agenten gehabt hätten! Persönlicher Racheakt, meinte der dritte...

Kurz und gut - alles, was einem Zeitungsschreiber so einfällt, der noch vollkommen schwimmt und auf einen Hinweis der Polizei wartet, um eine mehr oder weniger zutreffende These aufzustellen.

Ein Bild von Manola zierte die erste Seite. So eine Bombenreklame, dachte ich mir... Wenn der arme Bursche wiederkäme, die doppelte Gage könnte er verlangen!

Nachdem er uns bekannt gemacht hatte, legte Lambert sofort los: »Jo«, sagte er, »du bist kein Fremder. Mit dir kann man reden, man weiß, dass du diskret bist und für dich behalten wirst, was man dir anvertraut.«

Mit einer Handbewegung dankte ich ihm für sein Vertrauen. Aber gleich fügte er sarkastisch hinzu:

»Übrigens, wenn du das Bedürfnis verspüren solltest, irgendetwas von dem, was man dir sagen wird, weiterzuerzählen, dann kann dir das nicht zweimal passieren... unsereiner mag weder Schwätzer noch Dummköpfe.«

»Siehste wohl, so bist du«, antwortete ich, »gleich die kalte Dusche. Erst ein Kompliment über meine Verschwiegenheit, gleich danach eine Drohung...«

Er fing an zu lachen. »Das ist eben meine Art.«

Chadal nickte bestätigend:

»Das ist ein Pessimist, der Lambert... misstraut der ganzen Welt... ein unruhiger Geist, den die Ameisen zwicken!«

Nach diesen Präliminarien im klassischen Stil ließ er sich dazu herbei, auf den Kernpunkt der Angelegenheit zu kommen.

»Also, Bariton meines Herzens, es ist schon gute Arbeit geleistet worden. Niemand verlangt von dir, dass du dich für uns umbringen lässt, nur kannst du deinem alten Kumpan Lambert einige Angaben nicht verweigern, die du im Übrigen dem Untersuchungsrichter auch machen müsstest, wenn es ihm einfiele, dich vorzuladen.

Der augenblickliche Stand der Dinge ist folgender: Manola befindet sich im Gerichtlich-Medizinischen Institut. Die inneren Organe sind in gutem Zustand, keine Spur von Gift.

Dr. Paul war fix und umsichtig... das habe ich gern... Er war sachlich. 22-mm-Kugel, aus achtzehn bis zwanzig Meter von links auf den Mann abgeschossen. Flugbahn nicht ganz waagrecht, sondern von oben nach unten geneigt, was zur Annahme führt, dass sich der Mörder im ersten Rang befand und zwar, wenn man zur Bühne sieht, rechts. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder er ist ein Meisterschütze, oder er hat auf den Körper gezielt und durch Zufall den Kehlkopf getroffen. Der Bursche hatte eine geräuschlose Waffe. Das ist der Grund, warum man nichts gehört hat, zumal der Schuss in dem Augenblick losging, da der Begeisterungssturm aufbrandete. Zweifellos mit Vorsatz und gründlicher Überlegung ausgeführt. Soweit der Vorgang... Muss ich dich noch fragen, ob du jemand Bekanntes oder jemanden aus Künstlerkreisen im ersten Rang gesehen hast?«