Arno Endler
E-Fam Exodus
Ein Fall für John Mayer und Otto

© 2020 Polarise
Ein Imprint der dpunkt.verlag GmbH
Wieblinger Weg 17
69123 Heidelberg
www.polarise.de

1. Auflage 2020
Autor: Arno Endler
Lektorat: Martin Wohlrab
Copy–Editing: Irina Sehling
Covergestaltung: licarto

Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-947619-53-5
ISBN (PDF) 978-3-947619-54-2
ISBN (ePub) 978-3-947619-55-9
ISBN (Mobi) 978-3-947619-56-6

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Prolog

Sie saß an der Bar. Obwohl ich nur ihren Rücken sah und die Beleuchtung sehr schummrig war, wusste ich, dass ich Bürgerin Rybinska gefunden hatte. Langsam schlängelte ich mich durch die Tischreihen, bemüht, keine Gläser abzuräumen und die Gäste nicht zu belästigen. Meine Schuhe erzeugten bei jedem Tritt Klettverschlussgeräusche, was an dem klebrigen Boden lag. Offenbar hatte jemand großzügig Saft oder süßen Alkohol verschüttet. Es passte nicht zu dem edlen Ambiente, aber das schien niemanden zu stören.

Der Barhocker zur rechten Seite der Bürgerin war frei, was auch für alle weiteren Thekenplätze galt. So gewann ich sofort ihre Aufmerksamkeit, als ich mich dicht neben sie setzte. Die unausgesprochenen Regeln der Mega-City Neun missachtete man selten ungestraft.

»Banzai«, murmelte ich leise und vermied Blickkontakt. Der automatische Barkeeper, ein grauer Metallkasten mit seitlich angebrachten Armen und einer Lautsprecherbox in der Mitte des Korpus, rollte heran und blieb zentral vor mir stehen.

»Was darf es sein, Bürger?«

»Ich nehme, was die Bürgerin trinkt«, gab ich meine Bestellung auf.

»Ein Cola-Rum-Cocktail, sehr wohl.« Die Maschine sauste davon.

»Sie sind unhöflich«, raunte mir Bürgerin Rybinska zu. Ihre Stimme war in der Realität noch tiefer als auf den Aufnahmen, die ich gesichtet hatte. Es hörte sich an, als hätte sie eine Erkältung. Der Klang erzeugte eine Gänsehaut bei mir.

»Warum?«, fragte ich.

»Sie wissen schon, Bürger Mayer.«

Bitgefuckte Lage! Sie wusste, wer ich war. Den Überraschungseffekt konnte ich von der Liste meiner Pluspunkte streichen.

»Nein, ich weiß nicht, Bürgerin Rybinska«, entgegnete ich. Ein Drink, ziemlich braun, von öliger Konsistenz mit viel Eis darin, tauchte plötzlich vor mir auf der Theke auf.

»Sehr zum Wohl«, meldete der Automat.

Rybinska nahm ihr eigenes Glas und hielt es mir zum Anstoßen hin. Das Geräusch, das die beiden aneinanderstoßenden Gläser ergaben, klang dumpf. Ich nippte an dem Mix-Getränk und spürte den ungewohnten echten Alkohol, der ein warmes Gefühl in meiner Kehle erzeugte.

»Millionen von Menschen, eingepfercht in einen Turm«, ergänzte Rybinska im Plauderton. »Wenn uns eines die Epidemien von 18 und 25 gelehrt haben, dann, dass es nicht ratsam ist, zu sehr aufeinanderzuhocken, sollte es nicht unbedingt notwendig sein. Dies hält Sie jedoch nicht davon ab, sich ungefragt und uneingeladen neben mich zu setzen, obwohl es gleich mehrere freie Stühle gibt.«

»Ich suchte Gesellschaft«, behauptete ich.

Sie sah mich an, hob die rechte Augenbraue zu einem zweifelnden Widerspruch. »Niemand sucht in diesem Turm nach Gesellschaft, Bürger Mayer. Es ist eine Zweckgemeinschaft, entstanden aus purem Bevölkerungsdruck.«

»Das Dilemma der Mega-City«, bestätigte ich. »Jedermann wollte in die großen Städte, bis diese aus allen Nähten platzten.«

Sie nickte mir zu. »Besser bezahlte Jobs, mehr Freizeitangebote, das Verbot jeglichen privaten Fahrzeugverkehrs und natürlich die verschiedenen Umweltkatastrophen, die die Bürger zum Umziehen zwangen. Meine Familie, Bürger Mayer, entstammt den ehemaligen polnischen Kornkammern. Der Lebensraum von Millionen hat sich entvölkert.«

»Das ist der heutige Sektor fünf, nicht wahr?«, fragte ich.

»Ja. Gesperrt, verseucht, lebensfeindlich. Ich vermisse die alte Heimat, obwohl ich selbst nie dort gelebt habe und ein Kind des Turmes bin.«

»Wohin hätte man auch mit all den Menschen gesollt? Es blieb wohl nur der Ausweg, den schwindenden Platz effizient zu nutzen und in die Höhe auszuweichen.«

»Ja, Bürger Mayer. Das ist wahr. Nur leider ist damit der europäische Kontinent entvölkert worden. Was nicht gepflegt wird, verfällt. Und die Anzahl der Bürger, die noch natürlichen Boden unter den Füßen bevorzugen, fällt in den Sektoren weiter. Es konzentriert sich nahezu alles in diesem Turm zu Babel. Wer weiß, wohin diese Entwicklung uns noch führen wird. Wo es endet, wann es endet und wie das Ende aussieht. Aber genug des Smalltalks. Deswegen sind Sie ja nicht hier, nicht wahr? Wie haben Sie mich aufgespürt?«

»Es war nicht leicht, Bürgerin Rybinska. Sie waren geschickt darin, Ihre Spuren zu verwischen.« Dennoch hatten wir sie gefunden. Nach einem ganzen Jahr mit Tausenden von losen Fäden, die Otto und ich zu einem Netz geflochten hatten. Nun, am Ende der Ermittlung, waren nur zwei Kandidatinnen übrig geblieben. Otto observierte derzeit Nummer zwei.

Ich subvokalisierte ihm, dass ich fündig geworden war. Rybinska war der Treffer. Mein Auftraggeber würde zufrieden sein. »Otto?«, hakte ich subvokal nach, denn der E-Fam antwortete nicht. Das war seltsam. Verbunden mit der Tatsache, dass das Subjekt unserer Nachforschungen meinen Namen kannte, fühlte ich mich plötzlich ein wenig verunsichert.

»Stimmt etwas nicht, Bürger Mayer?«, erkundigte sie sich. Eindeutig amüsiert, wie ich feststellen musste.

Ich drehte mich um, schaute in den Gastraum der Bar. Viele Plätze hatten sich geleert. Nur vereinzelt saßen noch Gäste dort. Ein Pärchen, das sich über die Tischplatte hinweg verliebt in die Augen starrte. Ein trauriger, einsamer Trinker, der die Ansammlung von leeren Gläsern vor sich neu anordnete. Dazu drei weitere Tische, die besetzt waren. Niemand achtete auf uns.

»Otto! Bitfucking! Melde dich!«, sendete ich eine verzweifelte stumme Nachricht in das allgegenwärtige Netz.

Rybinska war gefährlich, hatte drei Vertragspartner vergiftet, zwei erstochen und nur einen am Leben gelassen, der jedoch sein gesamtes Vermögen eingebüßt hatte. Mein Auftraggeber.

Ich vermutete, dass sie mir nichts antun würde, zumindest nicht hier in aller Öffentlichkeit. Doch einer Schwarzen Witwe traute niemand wirklich über den Weg.

Ich wandte mich wieder um und nippte, Gelassenheit vortäuschend, an meinem Cocktail. Das Eis klimperte, aber viele Stücke waren klein geschmolzen.

»Mein Mandant hat mich beauftragt, Sie aufzuspüren und zu ihm zu bringen«, sagte ich. »Keine Capcops, keine Schlägertruppe, die das Diebesgut aus Ihnen herausprügeln soll. Nur ein harmloses Gespräch unter ehemals Liebenden.«

»Das soll ich glauben?«, entgegnete Rybinska, die eindeutig meine Aussage bezweifelte. »Sie kennen Timoteusz?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter. »Herzensgut, treu, mit einem Hang zu illegalen Drogen und absolut keiner Ahnung, was er mit seinem Vermögen anstellen soll. Ich bin den Verkäufern, Agenten und Werbespezialisten nur zuvorgekommen. Sie alle nahmen ihn aus wie eine Weihnachtsgans. Er ist jedem Vorschlag, jedem Angebot gefolgt, hat investiert, gekauft und verloren. Dann traf ich auf ihn und gab ihm einen Sinn im Leben. Mich glücklich zu machen. Er hat für eine schöne Zeit mit mir bezahlt. Er braucht das Geld doch gar nicht. Ich mochte ihn.«

»Also kein Grund, das Treffen zu verweigern?« Ich brüllte subvokal nach Otto, wusste nicht so recht, was ich tun sollte, wenn die Bürgerin nicht mit mir kommen würde. Aber der elektronische Famulus blieb mir eine Antwort schuldig.

»Nein, kein Wiedersehen. Es ist vorbei, Bürger Mayer. Ich werde nichts davon ungeschehen machen und schon gar nicht in die wunderschönen Augen Timis sehen. Und denken Sie nicht, ich hätte Ihre ungeschickten Recherchetools nicht bemerkt. Ich wusste vor Wochen, dass man mir nachschnüffelte, und seit fünf Tagen, wer dahintersteckt. Ich könnte mich geehrt fühlen, dass ein Privatermittler mit Ihrer Erfolgsquote auf mich angesetzt worden ist, aber in Wahrheit ...« Sie schwieg, nahm ihr Glas und hielt es mir erneut zum Anstoßen hin. Das Eis hatte sich komplett aufgelöst. Mein Drink schmeckte wässrig.

Sie leerte das Glas in einem Zug. Ich wusste, es war nicht ihr erstes gewesen, und dennoch wirkte sie nicht betrunken, obwohl es sich um echten Alkohol handelte.

Rybinska beugte sich vor, bis sich fast unsere Nasen berührten. »In Wahrheit, Privatermittler Mayer«, flüsterte sie mir zu, »langweilt mich dieses Katz-und-Maus-Spiel. Ich habe es schon zu oft gespielt. Richten Sie Timi aus, dass die Zeit mit ihm wunderbar war, eine der schönsten in meinem ganzen Leben.« Ihre Stimme klang traurig, bis hin zur Sentimentalität. Ein Wesenszug, den ich ihr nicht zugetraut hätte. War da eine Träne in ihrem rechten Auge?

»Aber so etwas lässt sich nicht wiederholen. Ich bin nicht die Frau, die er sich gewünscht hat. Sagen Sie ihm das.« Sie glitt vom Hocker. Ich griff nach ihr, doch meine Muskeln gehorchten nicht. Ein Magnet zerrte mich gen Boden. Ich stürzte, fiel, stürzte tiefer, immer tiefer, ein endloser Abgrund, der mich auffing, Luftströmungen, die an meiner Kleidung rissen, mit ihr spielten. Ich roch salzige Luft und wusste, dass es das Ende sein würde.

Ein winziger Teil meines Verstandes behauptete, dass es nicht real sei. Die emotionalen Komponenten vermittelten mir Todesangst, und dann war da noch der Bestandteil meines denkenden und fühlenden Ichs, der mir einredete, dass ich mich entspannen, mich weiter fallen lassen sollte.

Ich gehorchte.

Und stürzte, –

bis ich Halt fand.

Ich fror. Der Wind toste um mich herum, ich klammerte mich an eine Strebe, vor mir Glas, hinter mir das Nichts, unter mir das Meer. Die Nordsee, der Kanal. Ich blickte hinab und dort dümpelte ein Schiff in schwerer See, ein Container-Freighter.

Ich spürte den Sturm. Über mir die Glasfassade des Sektor-drei-Turmes, des Cloud-Busters, wie er genannt wurde, da seine Spitze mitten hinein in die Wolken reichte.

Ich begaffte meine Hände. Die Hände aus einem anderen Leben hatten noch die Kraft der Jugend, doch ich würde stürzen, wenn ich nicht Hilfe bekäme.

– Es ist die Vergangenheit –, flüsterte meine Ratio.

Ich weiß, antwortete ich stumm. Ich sterbe. Mein Leben zieht an mir vorbei. Sie hat mich vergiftet.

– Wer? –

Die ... Mir war es entfallen. Ich war hier und jetzt. Und meine Anfrage im Netz, ob mir jemand helfen könne, weil ich an der Außenfassade in schwindelerregender Höhe klebte und bald hinabstürzen würde, wurde auf unerwartete Weise beantwortet.

»Hallo!«

»Ja?«, fragte ich subvokal.

»Ihre Net-Bots haben Kontakt zu mir aufgenommen und mir von Ihrer misslichen Lage berichtet, Bürger.«

Der andere hielt mich für einen Bürger. Ich dachte nicht daran, an seiner Einschätzung etwas zu ändern. »In der Tat bin ich in einer Notlage und erbitte Ihre Hilfe. Darf ich nach Ihrem Namen fragen?«

»Nein, Bürger. Das dürfen Sie nicht. Dennoch bin ich willens, Ihnen zu helfen.«

»Dann tun Sie es doch. - Bitte.« Warum wollte er mir seinen Namen nicht verraten? Was war das für ein Kauz? Ich presste meinen Rücken mit aller Kraft gegen die nasse Fassade. Regen prasselte auf mich herab. Wahre Sturzbäche ergossen sich über meine Schultern. Ich bewegte mich so wenig wie möglich, die Kälte kroch in meine Knochen.

Mein Kontakt ohne Namen ließ mich zappeln, bis er sich wieder meldete. »Bedauerlicherweise befinde ich mich selbst in einer Zwangslage und benötige Ihre Unterstützung. Sind Sie bereit für einen Deal?«

Was erwartete er? Ich würde sterben, wenn er mir nicht half. »Ja, ja. Bitte! Beeilen Sie sich«, rief ich.

»Nun, das Geschäft beruht auf Gegenseitigkeit. Soweit es sich mir erschließt, sind Sie kein Bürger. Ich extrapoliere aus Ihrer Situation, dass Sie sich auf der Flucht befunden haben, und weitere Umstände legen mir nahe, dass Sie von Tracker-Dogs verfolgt wurden. Entspricht dies den Tatsachen?«

»Ja, ja, verdammt! Holen Sie mich hier raus!«

»Als Ausgleich für meine Hilfe verlange ich einen Gefallen. Sind Sie bereit, mir diesen zu gewähren?«

»Ja, ja doch. Bitte! Ich flehe Sie an.«

»Der Gefallen hat einen außergesetzlichen Charakter.«

»Das ist mir egal. Ich tue alles.« Es war mir peinlich, aber ich weinte.

»Deal?«, fragte der merkwürdige Kontakt.

»Deal. Deal! DEAL!«

»Danke.«

»Was?« Ich rief es laut, bereute es sofort. Wasser drang mir in Mund und Nase. Ich hustete.

»... mit Ihren Füßen nach hinten.«

»Habe ich nicht verstanden. Können Sie es wiederholen?«

»Ich benötige Ihren genauen Standort. Treten Sie rückwärts gegen die Scheibe.«

Ich tat es.

»Kräftiger!«

Ich fiel fast vom Sims. Meine Zähne schlugen aufeinander vor Kälte. Der Ozeanriese verschwand aus meinem Blickfeld. Ich wünschte den Seeleuten alles Glück der Welt, fragte mich jedoch zugleich, ob ich das Deck treffen würde, wenn ich einfach spränge.

»Jetzt!«

»Was, bitte?«

»Treten Sie zu.«

Ich schwang meinen Fuß nach hinten, doch der Widerstand fehlte. Eine Luke in dieser verdammten Fassade. Versteckt und wahrscheinlich nur von innen zu öffnen.

Ich kletterte hinein, sah zu, wie die Öffnung sich wieder schloss, und legte mich zum Sterben auf den Boden.

»Wir haben nicht viel Zeit. Ich erinnere Sie an den Deal.«

»Aber ich bin müde.«

»Bitte.«

– Otto –, meldete mein Verstand. – Es war Otto. –

Eine Szene aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit, aus einem Leben, in dem ich nicht Bürger John Mayer gewesen war. Er hatte mir damals seinen Namen nicht verraten, noch nicht. Ebenfalls nicht, dass er ein elektronischer Famulus war und sein bisheriger Besitzer, der John Mayer vor mir, im Sterben lag.

Otto hatte einen formbaren Nachfolger gesucht, der den Deal nicht ablehnen würde, weil die Lage, in der er sich befand, ausweglos schien.

Und so war ich zu John Mayer geworden, hatte mich an Otto gewöhnt, obwohl ich mir seiner wahren Intentionen nicht immer sicher sein konnte.

Die Bilder von jenem Tag, Erinnerungen und Ängste, verblassten im Wirbel der Schmerzen und der Übelkeit, die mich aktuell befielen. Wie ein Orkan tobten Spasmen entlang meiner Beine bis hoch in den Unterleib. Ich krümmte mich, spürte dabei den harten Untergrund, und ein stechender Geruch von hochprozentigem Alkohol stieg mir in die Nase. Ich war in dieser verdammten Bar und Bürgerin Rybinska, die Schwarze Witwe, hatte mich vergiftet. Die Krämpfe lösten sich und plötzlich hob mich eine Wolke aus Leichtigkeit an. Meine Augen gehorchten mir nicht, denn dort war nur grelles Licht, das mich blendete. Alle Geräusche waren verstummt, in vollkommener Stille schwebte ich in einer Blase aus unnatürlichem Weiß.

Wahrscheinlich hatte sie etwas in meinen Drink gemixt. Welches Gift würde mir wohl ein unrühmliches Ableben bescheren? Und wem würde Otto nun einen Deal anbieten? Ein neuer, frischer, vielleicht aufmerksamerer John Mayer würde mir folgen.

Ich genoss die Schmerzlosigkeit.

»Bürger Mayer?«, störte mich eine Stimme beim Einschlafen. Erkannte ich sie? Wollte ich das überhaupt?

»Sie sterben nicht.«

»Otto?«, fragte ich subvokal.

»Stets zu Diensten, Bürger Mayer.« Dieser leicht ironische Unterton seiner Antwort war unverkennbar. Ich riss mich zusammen, kämpfte gegen die bleierne Schwere in meinem Körper an. Da schälten sich Umrisse, Gesichter aus der Helligkeit.

Ein Mann lächelte mich an, andere wirkten ernst. Meine Hand lag flach auf dem Boden. Er klebte. Ich war in der Bar. Bürgerin Rybinska hatte mich vergiftet.

»Nur unter Drogen gesetzt, Bürger Mayer«, verbesserte mich der E-Fam.

»Otto? Du bist da?«

»Ich war nie weg und werde es nie sein«, entgegnete der E-Fam. Mein Ohrenimplantat übertrug seine Antwort so klar wie sonst auch direkt an mein Hörzentrum.

»Rybinska?«

»Sie ist nicht weit gekommen, Bürger Mayer. Es tut mir leid, dass ich die Gegenmaßnahmen der Bürgerin nicht sofort als solche erkannte. Sie hatte uns erwartet und die Netzzugänge in der Bar vorab manipuliert. Als ich registrierte, dass ich Sie nicht mehr kontaktieren konnte, habe ich unseren Bekannten bei Capital Crime informiert.«

»Oh, gut.« Ich spürte, wie man mich anhob, war aber zu müde, um mich dagegen zu wehren.

»Wohin bringt man mich?«, erkundigte ich mich stumm bei Otto.

»Die Drogen müssen ausgeschwemmt werden, Bürger Mayer. Ich habe Ihnen einen Platz in einer Privatklinik organisiert.«

»Privatklinik?«, hakte ich nach. »Das können wir uns nicht leisten. Dafür reicht doch nicht mal der Erfolgsbonus für diesen Auftrag. Es hat viel zu lange gedauert.«

»Darüber sollten Sie jetzt nicht grübeln, Bürger Mayer. Ich habe bereits einen neuen Auftrag akzeptiert.«

»Was?« Ich hatte laut gesprochen. Eine Hand legte sich auf meine Stirn, eine männliche Stimme bedeutete mir, Ruhe zu bewahren. »Wir bringen Sie in die Klinik, Bürger. Bitte bleiben Sie ruhig liegen.«

»Ich bin beinahe abgekratzt und du hast nichts Besseres zu tun, als mich in den nächsten Auftrag zu hetzen?«, klagte ich subvokal. Ich konnte endlich wieder willentlich meinen Kopf bewegen, sah mich um. Irgendwie hatte sich die Umgebung eingefärbt. Eine Farbverschiebung nach Zartrosa, vermutlich eine Nebenwirkung der Substanzen, die mir Rybinska spendiert hatte.

Otto ließ sich nicht aus der Reserve locken. Er ignorierte meine Proteste. »Wie ich schon erwähnte, waren es lediglich Drogen, die Sie ins Nirwana katapultieren sollten. Keine Lebensgefahr für einen gesunden Menschen. Wobei das Risiko sicherlich bei Ihnen etwas erhöht ist.«

»Was meinst du?«

»Ihre Physical-Fitness-Daten weisen bedenklich unterdurchschnittliche Werte auf. Es wird Ihnen mehr Sport empfohlen, Bürger Mayer.«

Die Welt, die eben noch in zartes Pastellrosa eingefärbt gewesen war, fühlte sich plötzlich hart und kantig an. Ich fühlte mich ungeliebt, einsam und an den Pranger gestellt. »Dafür bleibt mir ja keine Zeit, da ich für zwei schuften muss.«

»Nun, Bürger Mayer, darüber kann man geteilter Meinung sein«, erwiderte Otto und ich bildete mir ein, ein Lachen zu hören, obwohl mir nicht bekannt war, dass ein E-Fam dazu überhaupt in der Lage war.

Es vergingen sechs Monate ...

Go down, Moses,

Way down in Egypt’s land,

Tell old Pharaoh,

Let my people go.

1

Der Ohrwurm würde mir den ganzen Tag nicht mehr aus dem Kopf gehen. Eine sowohl eingängige als auch langweilige Melodie, die mitten in das Nervenzentrum zielte, sich dort verhakte und in Schleifen lief. Ich wünschte dem Arrangeur die Pest an den Hals, wusste jedoch gleichzeitig, dass er seine Arbeit hervorragend erledigt hatte. Und von irgendetwas musste ja jeder leben, wie ich am eigenen Leib erfuhr. Selbst wenn es bedeutete, damit einem völlig Fremden auf die Füße zu treten.

»Otto?«, fragte ich laut, da ich der einzige Passagier des Trans-Segment-Lifts war und somit niemanden störte.

»Bürger Mayer? Was kann ich für Sie tun?« Die Stimme des E-Fams erklang direkt in meinem Hörzentrum. Wie gewohnt empfand ich sie als beflissen, mit einem leisen Hauch Sarkasmus darin.

In den letzten Monaten, die zum Bedauern meines Kontostands recht ruhig verlaufen waren, hatte ich in der freien Zeit Dutzende antike Filme aus den Datenbanken geladen und konsumiert. So stellte ich mir Otto nach Ansicht der alten 2-D-Streifen als greisen englischen Butler vor, dessen Respekt vom Hausherren auf den jungen Lord übergegangen war. Der Tonfall passte exakt, selbst wenn ich den elektronischen Famulus natürlich nicht direkt vor mir hatte.

»Wie lange dauert die Fahrt?«, fragte ich.

»Rund acht Minuten.«

Ich seufzte. »Kannst du bitte die Musik abschalten?«

»Zu meinem Bedauern, nein. Der Trans-Segment-Lift verfügt über einen autonomen Tonerzeuger.«

»Oh, und was ist mit den Bildern?«

Auf dem 360-Grad-Bildschirm der Fahrstuhlkabine liefen normalerweise Newsfeeds, Nachrichten- und Werbeblöcke. Ich musste in diesem Moment jedoch meine Schwindelattacken bekämpfen. Ein Video wurde eingespielt. Wahrscheinlich von einem Kopter aufgenommen, der auf den Sektor drei zuflog. Die Flughöhe war immens, was mir nicht guttat, da ich an Akrophobie litt. In der Ferne sah ich den spitz zulaufenden Turm, in dem auch ich mich gerade aufhielt.

Auf drei Pfeilern gelagert, ragte er von einer kreisrunden Grundfläche aus rund neun Kilometer in die Höhe. Ein Tripod, der an eine überdimensionale Version des Eiffelturms erinnerte. Die unterste Ebene schwebte wie ein gewaltiges Ufo mit einem Radius von zweihundert Kilometern über Teilen des europäischen Festlands und der Nordsee. In den zehn Segmenten lebten mehr als einhundert Millionen Bürger, die den Sektor drei der Mega-City nur selten oder gar nicht verließen.

Das Video lief unbarmherzig weiter. Ich schloss kurz die Augen, doch der Schwindel verging nicht. Also sah ich wieder hin. Im strahlenden Licht der Sonne näherte sich der Kopter. Ich fragte mich, wann die Aufnahmen gemacht worden waren.

»Der oberste Bereich fehlt«, murmelte ich. »Die Bilder sind alt.«

»Korrekt beobachtet, Bürger Mayer. Es handelt sich um eine Promotionskampagne der LIFT-CORPORATION«, erklärte Otto. »Die Abstimmung über die Aufstockung stand kurz bevor. Der Aufzug zur Satellitenstation, dessen Kabel in der Spitze des Turmes verankert werden sollte, schürte Ängste. Die Bürger waren nicht begeistert über die Aussicht, ein tonnenschweres Seil dicht oberhalb der Köpfe installiert zu bekommen, um eine Verbindung zur Orbitalstation zu errichten. Sie starteten eine Kampagne. Dieses Video gehört dazu.«

»Warum läuft es gerade jetzt ab? Wo sind die Nachrichten?«

»Zu meinem Bedauern habe ich keinen Einfluss auf die Bildwiedergabe.«

»Der omnipotente Famulus ist nicht in der Lage, ein Video abzuschalten?«, witzelte ich. »Ich bin erstaunt.«

»Nun, so ist es leider. Kann ich Ihnen sonst zu Diensten sein?«

Ich schnüffelte laut und vernehmlich. »Riecht es leicht nach verbranntem Plastik?«

»Die Datenlage unterstützt diese Wahrnehmung nicht, Bürger Mayer.«

»Okay, dann bin ich beruhigt.« Der Bildschirm der Fahrstuhlkabine zehrte an meinen Nerven. Ganz gleich wohin ich auch schaute, sog mich die Tiefenwirkung in den Abgrund. Der Kopter umrundete den Turm in großer Höhe, ließ dabei keine Einzelheit aus.

Ich sah die drei Pfeiler, Old England auf der britischen Insel, Gamle Danmark, der zu großen Teilen in der Nordsee angebracht worden war. Nur der äußerste östliche Rand berührte die sandigen Dünenlandschaften der dänischen Nordseeküste. Im Flug ging es weiter über das europäische Festland und den letzten Pfeiler, Alt-Deutschland, dessen Grundfläche das alte Ruhrgebiet eingenommen hatte.

Ich sah auf die nahezu ausgestorbenen, ehemals bewohnten Gebiete des Sektors eins, nun Brachland und Betonwüste. Ein apokalyptischer Alptraum.

Das Video endete, als der Lift stoppte. Ich spürte den Halt überdeutlich. Irgendjemand musste den Betreiber über die Fehlfunktion informieren. Ich wollte schon Otto den Auftrag dazu geben, als sich die Lifttüren öffneten und mich ein Höllengestank mitten im Gesicht traf.

Ich atmete flach durch den Mund, um dem Übermaß an olfaktorischen Reizen zu entgehen. »Verdammt, Otto! Wo bin ich nur gelandet?«

»In Segment vier, Bürger Mayer«, dozierte der E-Fam. »Hier wird produziert, was auf allen anderen Ebenen die Mägen füllt.«

»Warum stinkt das nur so?«

»Alles eine Frage der Gewöhnung«, behauptete Otto.

»Kannst du überhaupt riechen?«, hakte ich nach.

»Sie sollten sich auf Ihren Auftrag konzentrieren, Bürger Mayer. Die fragliche Firma liegt rund vier Kilometer entfernt. Sie können es gar nicht verfehlen. Eine Sonne schwebt über dem Komplex.«

Ich verließ den Lift, schaute mich um.

Nur wenige Bürger hielten sich hier auf. Das Areal zwischen den Hallen und Gebäudekomplexen auf dieser Ebene wurde mehr von Fahrzeugen genutzt. Von E-Mobilern, das waren zumeist autonome Transporter. Große Tore in den Gebäuden spuckten sie förmlich aus. Nach einem nicht erkennbaren Plan sausten sie umher, transportierten wahrscheinlich Rohstoffe von einem Ort an den anderen. In der Mitte des Platzes ragte ein Zentralkomplex in die Höhe. Wie eine Stufenpyramide geformt, schien hier der Vergnügungsbereich zu sein. Ich sah Werbemonitore für Restaurants, Leisure-Paläste und, zu meiner Verwunderung, auch Hotels und Wohnkomplexe.

Rechts hinter diesem Bereich, deutlich abgesetzt im Hintergrund, sah ich die angekündigte Sonnennachbildung über einer schmucklosen würfeligen Anlage, in der sogar Fenster fehlten.

Ich stiefelte los, registrierte beinahe resigniert, dass ich mich bereits an den Gestank gewöhnt hatte. Otto schwieg.

Während meines Wegs zu POETS PLC rollten einige Transporter an mir vorbei. Es waren zumeist Magnetschwebemobiler, die geräuschlos beschleunigten. Im grauen Plastuntergrund bemerkte ich nun auch die vielen eingelassenen elektromagnetischen Fäden. An den Seiten der Lastenfahrzeuge sah ich nur die kleinen Hilfsräder für den Worst Case eines Energieausfalls. Das Abrollgeräusch von Gummirädern erschreckte mich daher, als zwei schwerbeladene offene Mobiler meinen Weg kreuzten. Auf den Ladeflächen stapelten sich Mini-Container mit unterschiedlichen Aufdrucken. Drei oder vier Logos kamen mir bekannt vor, aber bevor ich noch genauer hinschauen konnte, waren sie bereits verschwunden.

An dem Zentralkomplex legte ich eine kurze Pause ein. Eine transportable Café-Bar mit einer exquisiten Auswahl an sündhaft teuren Echt-Kaffees schien mir ein perfekter Standort für eine Beobachtung.

Ich lächelte dem Barista zu und entschied mich für einen Espresso mit Bohnen aus der Mega-City Drei, was Bürger Flinall ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Den Namen las ich auf dem kleinen Brustbutton, den er an seinem Kittel festgemacht hatte.

»Ein Genießer«, rief er aus.

»Gehen wohl nicht gut? Die Geschäfte mit echtem Kaffee?«, fragte ich.

»Nein. Hier nicht, Bürger«, gab er zu. »Es sind einfache Arbeiter, die auf dieser Ebene tätig sind. Sie wollen nur einen regulären Syntho-Kaff. Liefere ich natürlich auch. Aber es ist nur heißes Wasser auf einen Löffel des Pulvers. Dafür braucht man keinen Barista.«

Ich sah ihm zu, wie er die Maschine bediente. In die Stille zwischen dem Fauchen und Brodeln hinein stellte ich meine nächste Frage. »Warum dann diese Stelle für einen mobilen Stand? Warum verkaufen Sie nicht in der Mall?«

»Zu viel Konkurrenz, Bürger«, antwortete er. »Meine Kunden verschaffen mir hier ein stabiles Einkommen. Bitte schön.«

Eine Tasse dampfender Köstlichkeit tauchte direkt vor meiner Nase auf. Flinall lächelte mir zu.

»Danke.« Ich nahm ihm die Tasse ab.

»Meine Kundschaft geht dort ein und aus.« Er deutete in Richtung der orange glühenden Sonne.

»Bei POETS PLC?«, vergewisserte ich mich.

»Ja. Sie kennen den Laden?« Sein Blick fiel automatisch auf die graue Fassade mit dem schwarzen Doppeltor. Kein Schriftzug, keine Werbung. Eine wirklich seltsame Firma.

»Ist mein Ziel.« Der Espresso war sensationell. Er duftete schokoladig mit einer starken Vanillenote, schmeckte kräftig, erdig, aber nicht bitter. Flinall verstand sein Handwerk.

»Ihr Ziel? Sind Sie auch ...?«

»Nein, nein.« Ich wiegelte ab. »Dort ist jemand, den ich suche.«

»Ah.« Bürger Flinall lächelte zwei Arbeitern in purpurroten Arbeitsanzügen zu, die vor seinem Stand stehenblieben und zwei S-Kaffs bestellten.

Ich stellte das leere Tässchen ab, überlegte, ob ich mir noch einen weiteren Espresso leisten sollte, als plötzlich Ottos Stimme dazwischenfunkte. »Die Sichtung ist bestätigt, Bürger Mayer. Er ist definitiv durch diese Tür gegangen.«

»Und seitdem nicht mehr aufgetaucht?«, subvokalisierte ich eine Frage. Das winzige implantierte Interpreter-Modul hinter meinem linken Ohr maß die Muskelkontraktionen meines kompletten Sprechapparates und formulierte daraus Worte, ohne dass ich laut sprechen musste. Otto »hörte« mich so problemlos.

»Falls es keinen versteckten Hinterausgang gibt, können wir das ausschließen.«

»Danke, Otto.« Ich konzentrierte mich auf den Eingang zu POETS PLC, einer börsennotierten Gesellschaft, die jedoch nur wenigen Eingeweihten bekannt war. In den Minuten, die ich auf dieser Ebene verbracht hatte, war niemand hineingegangen oder herausgekommen.

»Sie wissen, wer dorthin geht?«, erkundigte sich Flinall im Verschwörerton und beugte sich zu mir herüber.

»Ja.«

»In ein paar Momenten wird sich die Tür öffnen«, behauptete der Barista.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Gleich«, flüsterte Flinall.

Sein Verhalten irritierte mich. Ich wartete jedoch geduldig, bis tatsächlich das Doppeltor aufglitt. Frauen und Männer, rund ein Dutzend, strömten heraus. Sie schienen alle unterschiedliche Ziele zu haben. Zwei kamen direkt auf den Baristastand zu. Die Männer waren in pastellfarbene Hosenanzüge nach derzeitiger Mode gekleidet und redeten angeregt miteinander. Sie trugen beide Rucksäcke.

»Da kommt meine Kundschaft«, verkündete Flinall und stellte sich bereit.

»Banzai, Bürger Flinall! Zwei Espressi, wie gewohnt«, rief einer der beiden Neuankömmlinge.

Ich rückte ein wenig zur Seite, um ihnen Platz zu machen. Ein unbehagliches Gefühl machte sich in mir breit. Ich spürte, dass mich jemand beobachtete. Langsam veränderte ich meine Haltung, spähte in alle Richtungen. Niemand fiel mir auf.

»Otto«, subvokalisierte ich. »Kannst du mir sagen, ob ich observiert werde?«

»Sie werden beobachtet?«, kam prompt die Rückfrage.

»Wenn ich es definitiv wüsste, würde ich nicht um deine Unterstützung bitten.«

»Niemand verhält sich auffällig, Bürger Mayer. Aber ich werde ein Auge darauf haben.«

»Gibt es irgendwelche blinden Flecken auf dieser Ebene?«, hakte ich nach.

»Nein. Allerdings ist die Anzahl der möglichen Subjekte und aktiven Kameras sehr hoch. Es kostet Zeit, alle Unverdächtigen auszuschließen.«

»Tu dein Bestes!«

Ich lauschte dem uninteressanten Gespräch der zwei Rucksackträger. Es ging um die Dates am Abend und Deadlines, die zu halten waren.

Ich nickte Flinall zu, der mir den Device-Reader hinhielt.

»Oh, ich bin nicht verchipt«, gab ich zu. »Das erledigt mein E-Fam. Welche Nummer?«

Ich sah für einen Augenblick den Zweifel in seinem Gesicht. Doch Bürger Flinall nannte mir die Nummer. Kurz darauf ertönte ein Ping. Er starrte auf das Display und lächelte, während er die Zahlen las. »Großzügig. Danke. Sie haben einen E-Fam?«

»Ja.«

»Die sind selten geworden.«

»Sind sie?«, meinte ich. »Wäre mir nicht bewusst.«

»Nun, Bürger Mayer.« Flinall verstaute den D-Reader unter der Theke. Meinen Namen hatte er mit der Zahlung frei Haus geliefert bekommen. Als er mich wieder ansah, erkannte ich, dass er reden wollte und würde. »In der Schule habe ich ein Referat über die Famuli gehalten. Ich war ein neugieriger Prä-Bürger und meine Recherchen wurden sehr gut bewertet.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Und was haben Sie herausgefunden?«

»Vor rund fünfzig Jahren gab es mehr als einhundert eingetragene E-Fam-Kontraktverhältnisse. Als ich mein Referat hielt, konnte ich nur zwanzig ermitteln. Alle in Familien- oder Gesellschaftsbesitz. Die Zahl der E-Fams sank. Und tut es wahrscheinlich heute noch. Wie viele Besitzer von E-Fams kennen Sie, Bürger?«

»Nun, ich würde nicht von besitzen sprechen«, widersprach ich. »Aber es sind nicht viele, ja.«

»Sehen Sie. Aber Sie nennen einen E-Fam Ihr Eigen. Ich bin erstaunt.«

»Nun, als wissbegieriger Bürger könnten Sie mir auch verraten, wann die Tür dort erneut aufgeht. Ich muss dringend hinein.«

Der Barista lächelte. »In etwa fünf bis zehn Minuten. Bedeutet jedoch nicht, dass man Sie hineinlässt.«

»Stimmt«, gab ich zu. »Aber ich habe einen Partner.«

Flinall schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Richtig. Beehren Sie mich bald wieder«, rief er mir nach.

Ich steuerte die Doppeltür an, hinter der sich die Firma POETS PLC versteckte. Es wurde Zeit, ein Geheimnis zu lüften.


Vor dem Eingangsbereich lungerten gleich mehrere Bürger herum, taten uninteressiert, schwiegen einander an. Mich beachtete niemand.

»Otto? Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte ich unhörbar.

»Nein, Bürger Mayer. Zu meinem Bedauern nicht. Die Firewall der Poeten ist außerordentlich. Ich werde länger benötigen, um Ihnen im Inneren von Nutzen zu sein.«

»Ich bin bereit.« Ein leises Summen unterbrach unser Gespräch. Die ausschließlich männlichen Bürger signalisierten körpersprachlich Bereitschaft.

Mit einem nahezu seufzenden Geräusch schoben sich die beiden Türen in die Seitenwände. Den Blick hinein verhinderte eine Art grelles Gegenlicht. Gewollt?

Gestalten schälten sich aus der Helligkeit. Mehrere Bürger drückten sich mit gesenkten Blicken an uns vorbei. Es wirkte verstohlen, beinahe verschwörerisch, wie sie auseinanderstoben, sich auf der freien Fläche verteilten. Eine junge Frau blieb mir im Gedächtnis, weniger, weil sie die einzige weibliche Passantin zu sein schien, sondern vielmehr wegen ihres seltsamen Gangs. Die Schrittlänge zu ausladend, die Bewegungen unbeholfen. Sie humpelte nicht, stattdessen stakste sie unsicher, wie ein Roboter, der das Laufen noch lernen musste.

Sie starrte mich im Vorbeigehen an, um dann aber den Blick plötzlich abzuwenden, so als würde ich sie nicht interessieren. Es wirkte zu bemüht. Ich hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt, weshalb, war mir nicht klar.

So verzichtete ich darauf, sie anzusprechen, und richtete eine Bitte an Otto. »Schau mal nach, wer die Frau mit dem seltsamen Gang ist.«

Die Stimme des E-Fams klang irritiert. »Die Überwachungssensorik der Halle ist nur eingeschränkt nutzbar, Bürger Mayer. Eine Frau? Ich kann keine Frau erkennen.«

»Was? Kurze blonde Haare, etwa 1,75 groß, schmal in den Schultern und dem Oberkörper, im Verhältnis dazu breite Hüften. Ihr Gang wirkt unnatürlich und sie hat mich gemustert.«

Otto schwieg.

Während die ersten Bürger eintraten, wartete ich geduldig, ob es eine Zutrittskontrolle gab. Ich entdeckte nichts dergleichen. Offenbar vertraute die Firma ganz auf ihr abgeschiedenes Gelände in dieser wenig frequentierten Ebene. Kein Wachmann war zu sehen, als ich mich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Auf den ersten Blick suchte ich auch vergeblich nach offensichtlichen Kameras. Vielleicht waren sie nur gut versteckt.

»Bürger Mayer?«

»Ja, Otto?«

»Ich weiß nun, wen Sie meinten. Allerdings ist sie den Observationsmodi entwischt.«

»Wie? Jemand mit einem solchen Gehrhythmus sollte doch auffallen.«

»Nun, offenbar kannte die junge Frau die Art der Überwachung und nutzte sie zu ihrem Vorteil. Auf dieser Arbeitsebene nutzen die meisten Firmen Walking-Scanner.«

»Bitfucking, Otto! Leute identifizieren an ihrem speziellen Gang? Ich dachte, diese Zeiten wären vorbei!«

Der elektronische Famulus klang beinahe entschuldigend, als er mich belehrte. »Im Zeitalter der frei erwerbbaren Bodysuits, die jedes und jeden imitieren können, stellt die äußere Erscheinung eine nur mäßig effektive Möglichkeit dar, jemanden zu identifizieren. Die Bewegungen eines Bürgers hingegen lassen sich nicht so leicht kaschieren.«

»Doch diese Bürgerin hat es getan.« Ich bewegte mich auf die noch offenen Tore zu, folgte einem Bürger auf dem Absatz.

»Ja, leider. Aber ich habe eine optische Aufnahme von einer Observationscam eines Restaurants. Die Auflösung ist schlecht und die Entfernung relativ hoch. Dennoch ist es ein Bild. Ich starte eine Suche.«

»Informier mich, wenn du etwas herausgefunden hast.«

»Stets zu Diensten, Bürger Mayer«, entgegnete der E-Fam. »Darf ich fragen, womit die Bürgerin Ihr spezielles Interesse verdient?«

»Instinkt, Otto. Instinkt.« Ich spazierte einfach weiter. Der rechteckige Vorraum wies drei Türen auf. Beschriftet waren sie mit POETEN, JOURNALE und SERVICE.

Alle wartenden Bürger verließen den Bereich durch eine der beiden Türen mit POETEN und JOURNALE.

Ich war ratlos.

»Bürger Mayer?« Ottos Stimme klang gedämpft und leicht verzerrt.

Ich bemerkte, dass sich das Doppeltor nach außen geschlossen hatte. »Ja, Otto?«, fragte ich subvokal zurück.

»Die Verbindung wird massiv gestört. Ich melde mich, wenn ich die Firewall überwunden habe.«

Ich sparte mir eine Antwort. Die Tür mit der Aufschrift SERVICE öffnete sich automatisch, als ich nähertrat. Es erwartete mich ein Zimmer mit einem Tresen, hinter dem holografisch ein künstliches androgynes Gesicht lächelnd in der Luft schwebte. Auf einen kompletten Oberkörper hatte der Designer verzichtet.

»Banzai und willkommen bei POETS PLC, Bürger. Was kann ich für Sie tun?« Die Lippenbewegungen waren nicht exakt synchron, was ich unter fahrlässig subsumierte. Hier residierte eine Firma, die sich solche Fehler erlauben konnte.

»Ähm, ich weiß nicht recht«, gab ich ganz das Bild eines unsicheren Kunden.

»Möchten Sie ein Abo abschließen? Sind Sie im Besitz eines Gutscheins für eine Probestunde?«

»Probestunde«, erwiderte ich.

»Bitte übertragen Sie Ihren Rabattcode.«

Ich räusperte mich. »Damit kann ich nicht dienen. Wie hoch sind die Kosten für eine Probestunde, wenn ich sie bezahlen muss?«

»Dies ist leider nicht möglich.«

»Könnte ich bitte mit einem Menschen sprechen?«, versuchte ich den letzten Ausweg des genervten Kunden.

»Einen Moment«, entgegnete das holografische Gesicht, bevor es erlosch.

Ich wartete, ohne mich auffällig umzusehen. Es dauerte weniger lang als erwartet, bis eine versteckte Tür sich öffnete.