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VOGELREICH

HOMMAGE AN DIE VIELFALT

Stanleysittich (Platycercus icterotis), nicht gefährdet

VOGELREICH

HOMMAGE AN DIE VIELFALT

FOTOGRAFIEN / JOEL SARTORE

TEXT / NOAH STRYCKER

INHALT

VORWORT / JOEL SARTORE

EINFÜHRUNG / NOAH STRYCKER

1 / EIN VOGEL – WAS IST DAS?

2 / ERSTE EINDRÜCKE

3 / IM FLUG

4 / NAHRUNG

5 / DIE NÄCHSTE GENERATION

6 / DAS VOGELHIRN

7 / DIE ZUKUNFT

ÜBER DIE AUTOREN

DANK

ÜBER DAS PROJEKT

WIE DIE FOTOS ENTSTEHEN

DIE VÖGEL DER KAPITELAUFMACHER

REGISTER DER VÖGEL

OBERE REIHE (V. L. N. R.): Dreifarben-Papageiamadine (Erythrura trichroa), nicht gefährdet; Ringelastrild (Taeniopygia bichenovii), nicht gefährdet; Zeresamadine (Neochmia modesta), nicht gefährdet; Braunbrustnonne (Lonchura castaneothorax), nicht gefährdet; Maskenamadine (Poephila personata), nicht gefährdet; mittlere reihe (v. l. n. r.): Zeresamadine (Neochmia modesta), nicht gefährdet; Gemalte Amadine (Emblema pictum), nicht gefährdet; Dornastrild (Neochmia temporalis), nicht gefährdet; Binsenastrild (Neochmia ruficauda), nicht gefährdet; UNTERE REIHE: Gouldamadine (Erythrura gouldiae), potenziell gefährdet

Weißbauch-Zwergfischer
(Corythornis leucogaster leucogaster), nicht gefährdet

EINEM AUSSERGEWÖHNLICHEN TEAM
ENGAGIERTER SEELEN GEWIDMET:
REBECCA WRIGHT, JESSIE GRAY, KERI HESS,
KRISTA SMITH UND ALANNA JOHNSON.

VON EINEM KLEINEN BÜRO
IN DEN PLAINS VON NEBRASKA AUS
HABEN SIE DIE WELT BEFLÜGELT.

–J.S.

VORWORT / JOEL SARTORE

Die Vögel in diesem Buch gehören zu den erstaunlichsten Kreaturen, die mir je begegnet sind. Vor dem schwarzen oder weißen Hintergrund werden ihre wahren Farben und Körperformen rasch offensichtlich. Sie alle sind ungeheuer komplex und haben sich im Laufe der Zeit bis zur Vollkommenheit weiterentwickelt. Der Flügel des Honigfressers auf der folgenden Seite ist mit nicht einer Feder zu viel ausgestattet, ebenso wenig wie der Schwanz eines Fasans zu wenige Federn besitzt.

Und dennoch: Nachdem ich jahrelang über den Kasuar, den Kakadu und die Krontaube gestaunt habe, sind es die Vögel in meinem eigenen Garten, die mir am meisten ans Herz gewachsen sind.

Jedes Jahr im März stehe ich vor meinem Haus in Nebraska, das am Central Flyway, einer wichtigen Vogelzugroute, liegt, und hoffe auf einen kräftigen Südwind. Ich habe mich den ganzen Winter lang auf die Vögel gefreut. Und da sind sie, wie bunte Kometen stürzen sie sich vom Himmel auf die Gehölze, Wiesen, Weiden und Vororte Nebraskas herab. Unsere Futterstationen sind aufgefüllt und bereit, sie bieten Treibstoff für die bevorstehende Arbeit: den Nestbau, das Legen der Eier, das Bebrüten, das Flüggewerden, Angriff und Verteidigung. Und dann sind sie nach nur wenigen Wochen wieder weg.

Aber zum Glück nicht alle, manche Vögel bleiben den Sommer über. Distelfinken, auch als Stieglitze bekannt, Rotkehlchen und Rotkopfspechte. Kleiber und Goldspechte. Und es besteht sogar die Chance, dass die Vögel in meinem Lieblingswald keine Neulinge sind. Mitunter sind sie alte Freunde aus dem Vorjahr oder dem Jahr davor.

Das Erstaunlichste an diesem Schauspiel ist, dass viele der Vögel direkt von einem anderen Kontinent herübergeflogen sind.

Haben Sie sich je gefragt, wie sie das schaffen?

Im Großen und Ganzen ist uns das noch schleierhaft.

Natürlich wissen wir, dass langlebige Vögel wie Kraniche bestimmte Landmarken auf ihren Zugrouten von ihren Eltern beigebracht bekommen und dass sich andere Arten am Stand der Sonne, an den Sternen oder am Magnetfeld der Erde orientieren. Aber das war’s auch schon. Obwohl wir die Tiere seit Jahrzehnten studieren, ist uns die atemberaubende Präzision des Vogelzugs über unseren Planeten im Grunde immer noch ein Rätsel.

Nehmen wir als Beispiel nur einmal viele der Waldsänger. Biologen vermuten, dass die Vögel eine Himmelskarte im Kopf haben, nach der sie navigieren – und das auch noch in zweifacher Ausfertigung, zeigen sich im Frühling doch andere Sternbilder als im Herbst. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass die Wegbeschreibungen für einen Vogel, der zu einem bestimmten Punkt in Arkansas unterwegs ist, andere sind als für einen, der nach Nebraska will.

Oder die Fahlstirnschwalbe. Am Ende der Brutsaison erhebt sich der gerade einmal acht Wochen alte Vogel in die Luft und fliegt ganz allein zu einem bestimmten Ort in Argentinien, der Tausende von Kilometern entfernt ist.

Die kleinen Raketen, die da in unseren Gärten herumdüsen, wissen mehr, als wir uns je träumen lassen würden.

Blauohr-Honigfresser (Entomyzon cyanotis), nicht gefährdet

In den vergangenen zehn Jahren habe ich es zu meiner Mission gemacht, alle Tiere weltweit zu fotografieren, die sich in menschlicher Obhut befinden – seltene und häufig vorkommende Arten, um die man sich in Zoos kümmert, Arten in Not aus Auffangstationen und quasi ausgestorbene Arten aus der Hand privater Züchter. Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich rund 6.500 der geschätzten 13.000 Spezies abgelichtet, die ich insgesamt an Bord der Photo Ark, meiner fotografischen Arche, bringen möchte. Und bei knapp einem Drittel der fotografierten Arten handelt es sich um Vögel. Für sie scheine ich eine Vorliebe zu haben. Vögel haben in meiner Sicht der Natur bereits eine besondere Rolle gespielt, als ich noch klein war. Wie sie da melodisch von irgendeinem hohen, verborgenen Zweig in den Kronen der Bäume sangen und schon wieder weg waren, bevor ich auch nur einen Blick auf sie erhaschen konnte. Sie waren gewissermaßen mein Heiliger Gral – mysteriös und unerreichbar.

Meine Mutter und mein Vater lehrten mich zwar die Vögel schätzen, die um mich herumflatterten, wenn ich mit meinem Rad unterwegs war oder Ball spielte, aber es waren Bücher wie das, das Sie gerade in Händen halten, die mich die geflügelten Wunder erstmals wirklich wahrnehmen ließen. Bei den wunderbaren Farbabbildungen, den verheißungsvollen Namen und den detailliert dargestellten Zugrouten bekamen die Seiten meines Vogelführers für Anfänger bald jede Menge Eselsohren.

In den 1960er-Jahren kaufte meine Mutter mir dann das Time-Life-Buch The Birds. Ganz hinten fand sich eine grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahme von Martha, der allerletzten Wandertaube. Ihre Art, einst milliardenfach vertreten, war für den Tierhandel bis zu diesem letzten Vogel bejagt worden, der nun einsam in einem Käfig im Zoo von Cincinnati saß.

Dieses Foto ließ mich nicht los. Wieder und wieder sah ich es mir an, ebenso wie die Schwarz-Weiß-Zeichnungen auf den anderen Seiten, die weitere inzwischen ausgestorbene Vögel darstellten: das Heidehuhn, die Labradorente, den Riesenalk und den Karolinasittich. Wie um alles in der Welt kann es geschehen, dass der Mensch einen Vogel absichtlich zum Aussterben verdammt? Darüber kam ich schon als Kind nicht hinweg und komme es auch heute noch nicht.

Weshalb ich mir keine Chance entgehen lasse, eine weitere Vogelart zu fotografieren. Ich möchte den Vögeln eine menschliche Stimme geben und die Welt wissen lassen, wie einzigartig jeder von ihnen ist, damit das Aussterben eines Tages vielleicht selbst der Vergangenheit angehört.

Fotos für die Photo Ark zu machen, ist mir die größte Ehre im Leben – aber auch eine große Verantwortung. Viele Vogelarten werden dabei das erste und einzige Mal gut dokumentiert; die Photo Ark ist ihre einzige Chance, der Welt ihre Geschichte zu erzählen. Und dabei lässt uns das Buch erst erahnen, welch erstaunliche Vogelvielfalt es auf Erden gibt.

Ob es diese Arten in die Zukunft schaffen, hängt von jedem Einzelnen von uns ab und beginnt mit etwas so Simplem wie der Photo Ark, die zahlreichen Menschen die Gelegenheit gibt, Tausende atemberaubender Spezies zu betrachten – eine Gelegenheit, die sie sonst nicht haben. Wir können die Tiere nicht retten, wenn wir nicht wissen, dass sie existieren.

Wenn der Gesang der Vögel bei Sonnenaufgang erklingt, gehen die uralten Rufe weit über die Balz und das Verteidigen des Reviers hinaus. Was wir da hören, ist tatsächlich die Stimme der Wildnis. Vögel singen aus vollstem Herzen, unverwüstlich und entschlossen. Und das werden sie auch weiterhin tun … vorausgesetzt, wir schützen sie.

Wie Sie das tun können? Den örtlichen Naturschutzbund zu unterstützen ist schon einmal ein guter Anfang, aber auch darüber sprechen hilft. Lassen Sie andere wissen, dass Sie keine Chemikalien in Ihrem Garten verteilen und wollen, dass Wälder, Wiesen, Marsche und Flüsse erhalten bleiben.

Solcherlei Schutzmaßnahmen machen Mühe – die sich aber unendlich lohnt. Die Zukunft der Vögel ist mit der unseren enger verwoben, als wir bislang ahnen. Wir steigen gemeinsam auf oder gehen gemeinsam unter.

DIE ABKÜRZUNGEN DER IUCN

Die weltweite Organisation International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) hat sich der Nachhaltigkeit verschrieben. In ihrer Roten Liste gefährdeter Arten sind zahlreiche Tier- sowie Pflanzenspezies nach ihrem Aussterberisiko verzeichnet, bewertet und einer bestimmten Kategorie zugeordnet. In diesem Buch sind alle abgebildeten Arten nicht nur mit ihrem Namen, sondern auch mit ihrem jeweiligen IUCN-Status versehen.

EX:

Extinct, ausgestorben

EW:

Extinct in the Wild, in der Natur ausgestorben

CR:

Critically Endangered, vom Aussterben bedroht

EN:

Endangered, stark gefährdet

VU:

Vulnerable, gefährdet

NT:

Near Threatened, potenziell gefährdet

LC:

Least Concern, nicht gefährdet

NE:

Not Evaluated, nicht beurteilt

EINFÜHRUNG / NOAH STRYCKER

Vögel sind so universell wie die Luft, so weitverbreitet wie das Lachen. Sie leben überall – an Ozeanen und im Gebirge, in Wüsten und Wäldern, am Äquator und an den Polen der Erde – und im Gegensatz zu uns brauchen sie zum Reisen keinen Pass. Sie breiten einfach ihre Schwingen aus, überqueren Grenzen und trotzen der Schwerkraft. Kein Wunder, dass sie auf der ganzen Welt als Symbol der Freiheit, der Liebe und des Friedens gelten.

Vögel tauchen in den ersten künstlerischen Gehversuchen der Menschheit auf: Die Höhlenmalereien in Frankreich, Indien und Tennessee zeigen neben großen Tieren, Jägern und anderen Szenen auch Myriaden geflügelter Kreaturen. Was genau diese frühen Illustratoren antrieb, wissen wir nicht, doch erinnern uns ihre Bilder daran, dass die Anziehungskraft, die Vögel auf uns ausüben, nicht neu ist.

Die bildenden Künste haben beim Dokumentieren unserer gefiederten Freunde schon immer eine wichtige Rolle gespielt. Auf einem vor Kurzem entdeckten Felsengemälde im nördlichen Australien beispielsweise ist offenbar eine riesige, flugunfähige Art von »Donnervögeln« dargestellt, die dreimal so groß wie ein Emu war und wahrscheinlich vor 40.000 Jahren ausstarb. Wenn das stimmt, wäre das Gemälde das einzige existierende Lebendporträt dieser Spezies und darüber hinaus das älteste Kunstwerk Australiens. So schafft es die schlichte Skizze eines Vogels, ein uraltes Tier unsterblich zu machen und gleichzeitig die Menschheitsgeschichte umzuschreiben.

Die Macht des Bildes kann man auch daran erkennen, dass es ein Bildband über Vögel war, der eine Zeit lang den Rekord als teuerstes gedrucktes Buch, das je verkauft wurde, hielt: Eine Originalausgabe von John James Audubons Birds of America wurde im Jahr 2010 für sagenhafte 11,5 Millionen Dollar versteigert. Ein solches Vermögen hätte sich Audubon selbst vermutlich nie vorstellen können. Er war im Alter von 18 Jahren nach Amerika geschickt worden, um dem Wehrdienst in der Armee Napoleons zu entgehen, gründete dort ein Unternehmen, ging bankrott und machte sich in den 1820er-Jahren mit Farben und Gewehr auf den Weg, um die wild lebenden Vögel des nordamerikanischen Grenzlands zu malen.

Der daraus resultierende Band mit seinen 435 lebensgroßen Porträts, die Audubon mühevoll von auf Draht aufgezogenen Vögeln angefertigt hatte, verzauberte die High Society Europas derart, dass sein Urheber – der »amerikanische Waldmensch« – zu internationalem Ruhm aufstieg. Und auch heute noch inspirieren seine fast 200 Jahre alten Bilder Vogelliebhaber auf der ganzen Welt.

Es ist interessant, dass die größte Vogelschutzorganisation in den Vereinigten Staaten heute Audubons Namen trägt, war er doch in erster Linie Maler. Er studierte die Tiere zwar auch auf andere Weise, indem er etwa am ersten Beringungsexperiment in Nordamerika teilnahm oder später auch auf die Bedrohungen der Vogelpopulationen einging, am berühmtesten aber ist er für seine Porträts.

Brillenpinguin (Spheniscus demersus), stark gefährdet

Ebenso wie die frühen Höhlenmalereien diente auch Birds of America einem Zweck, der dem Künstler vermutlich noch nicht voll bewusst gewesen ist. Einige der in dem Band abgebildeten Vögel, darunter der Karolinasittich, die Wandertaube, die Labradorente, der Riesenalk, der Eskimo-Brachvogel und das Heidehuhn, sind inzwischen ausgestorben. Das Kunstwerk feiert eine Landschaft, die es nicht mehr gibt.

Heute denken viele Menschen bei Umweltschutz an Geld, Politik, Gesetze und Vorschriften. Aber das ist nur ein kleiner Teil der Geschichte, der das Wunder, das Vögel und Natur für uns sind und das Menschen wie Audubon uns näherbringen können, außen vor lässt.

Nur wenige wild lebende Tiere lassen sich so leicht beobachten wie Vögel. Sie sind überall um uns herum. Und ebenso wie wir sind sie im Gegensatz zu zahlreichen Säugetieren, Reptilien, Amphibien, Insekten und Meeresbewohnern, die sich auf andere Sinne verlassen, überwiegend audiovisuelle Geschöpfe. Wir können viele Verhaltensweisen von Vögeln verstehen und uns daran erfreuen, und jeder hat Zugang zu ihnen.

Der stumme Frühling