Der Malteser Falke

Spade & Archer

Samuel Spades Kiefer war lang und knochig, das Kinn ein hervorspringendes V unter dem weicheren V des Mundes. Die leicht zurückgeschwungenen Nasenflügel bildeten ein weiteres kleines V, die gelb-grauen Augen eine horizontale Linie. Das V-Motiv wiederholte sich in dichten Augenbrauen, die von einer Doppelfurche über der Hakennase nach außen führten, und noch ein letztes Mal in hohen Schläfen mit spitzem Haaransatz. Alles in allem sah er aus wie ein umgänglicher blonder Satan.

Er sagte zu Effie Perine: »Ja, mein Engel?«

Sie war ein schlaksiges, sonnengebräuntes junges Ding mit fröhlichen braunen Augen und einem jungenhaften Gesicht. Das hellbraune Wollkleid saß wie angegossen an ihrem Körper. Sie schloss die Tür, lehnte sich dagegen und sagte: »Da draußen ist eine Frau, die dich sprechen will. Sie heißt Wonderly.«

»Eine Klientin?«

»Sieht so aus. Du willst sie garantiert sehen – sie ist eine Wucht.«

»Dann schick sie rein, Liebling«, sagte Spade, »schick sie rein.«

Effie Perine öffnete die Tür und beugte sich, ohne

Eine Stimme sagte: »Vielen Dank«, so leise, dass nur die übertrieben deutliche Aussprache ihre Worte verständlich machte. Eine junge Frau erschien in der Türöffnung. Sie bewegte sich langsam, fast zögernd, und musterte Spade mit kobaltblauen Augen, scheu und prüfend zugleich.

Sie war hochgewachsen, schlank und hielt sich ohne jeden Anflug von Steifheit gerade. Hohe Brüste, lange Beine, schmale Hände und Füße. Passend zu den Augen war ihre Kleidung in Blau gehalten. Unter dem blauen Hut quollen rostrote Locken hervor, während die vollen Lippen in einem helleren Rot schimmerten. Hinter dem Halbrund ihres schüchternen Lächelns blitzten weiße Zähne.

Spade erhob sich zu einer Verbeugung und deutete mit seiner kräftigen Hand auf den Eichenholzstuhl neben seinem Schreibtisch. Der schwere, etwa eins achtzig große Körper mit den auffallend runden Schultern wirkte beinahe kegelförmig – wenngleich nicht breiter als dick –, sodass das frisch gebügelte graue Sakko nicht besonders gut saß.

Miss Wonderly murmelte: »Vielen Dank«, ebenso leise wie zuvor und setzte sich auf den Rand des ungepolsterten Stuhls.

Spade nahm wieder Platz und wandte sich ihr mit einem höflichen Lächeln und einer Viertelwendung seines Drehstuhls zu. Seine Lippen blieben geschlossen. Sämtliche Vs in seinem Gesicht verlängerten sich.

Miss Wonderly beobachtete das Zittern und Kräuseln der grauen Flocken. Ihr Blick war unruhig. Sie saß auf der äußersten Kante des Stuhls, die Füße flach auf dem Boden, als wollte sie jeden Moment wieder aufspringen. Auf dem Schoß lag eine flache dunkle Handtasche, die sie mit behandschuhten Händen umklammerte.

Spade kippelte mit seinem Stuhl und fragte: »Nun, was kann ich für Sie tun, Miss Wonderly?«

Sie holte tief Luft und sah ihn an. Dann schluckte sie und sagte hastig: »Könnten Sie …? Ich dachte … ich … das heißt …« Sie biss sich mit blitzenden Zähnen auf die Unterlippe und verstummte. Jetzt sprachen bloß noch ihre tiefblauen Augen, flehten ihn förmlich an.

Spade lächelte und nickte verständnisvoll, als wüsste er Bescheid, als handelte es sich um eine Kleinigkeit. Er sagte: »Vielleicht erzählen Sie mir alles von Anfang an, damit wir wissen, was zu tun ist. Am besten holen Sie so weit wie möglich aus.«

»Ja«, sagte er.

»Ich weiß nicht, wo sie ihm begegnet ist. Ich meine, ich weiß nicht, wo in New York. Sie ist fünf Jahre jünger als ich, erst siebzehn, und wir hatten nicht dieselben Freunde. Vermutlich standen wir einander nie so nahe, wie es unter Schwestern üblich ist. Mama und Papa sind in Europa. Es würde sie umbringen. Ich muss Corinne finden, bevor sie wiederkommen.«

»Ja«, sagte er.

»Wir erwarten sie Anfang nächsten Monats zurück.«

Spades Blick hellte sich auf. »Dann haben wir noch zwei Wochen Zeit.«

»Ich hatte keine Ahnung, was sie getan hat, bis ihr Brief kam. Ich war verrückt vor Angst.« Ihr Mund zitterte. Sie bearbeitete die dunkle Handtasche auf ihrem Schoß. »Meine Befürchtung, dass sie so etwas getan haben könnte, war zu groß, um zur Polizei zu gehen, aber die Sorge, dass ihr was passiert war, trieb mich dazu, es trotzdem zu tun. Es gab niemanden, den ich um Rat hätte fragen können. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Was hätte ich tun können?«

»Nichts natürlich«, antwortete Spade. »Aber dann kam der Brief?«

»Ja. Ich schickte ihr ein Telegramm und bat sie, nach Hause zurückzukommen. Ich habe es hierher geschickt, postlagernd. Das war die einzige Adresse, die sie mir gegeben hatte. Ich wartete eine ganze Woche, bekam aber keine Antwort, nichts. Mamas und Papas Rückkehr rückte immer näher. Deshalb bin ich nach San Francisco

»Vielleicht nicht. Es ist nicht immer so einfach zu wissen, was man tun soll. Sie haben sie nicht gefunden?«

»Nein. Ich habe ihr geschrieben, dass ich im St. Mark absteigen würde, und sie gebeten, dorthin zu kommen und mich anzuhören, selbst wenn sie nicht vorhätte, wieder mit mir nach Hause zu fahren. Aber sie hat sich nicht blicken lassen. Ich habe drei Tage gewartet, ohne dass sie aufgetaucht wäre oder mir irgendeine Art von Nachricht geschickt hätte.«

Spades blonder Satanskopf nickte. Mitfühlend runzelte er die Stirn und presste die Lippen aufeinander.

»Es war entsetzlich«, sagte Miss Wonderly und versuchte zu lächeln. »Ich konnte nicht einfach dasitzen und nichts tun, warten, ohne zu wissen, was ihr zugestoßen ist oder möglicherweise noch zustößt.« Sie gab den Versuch zu lächeln wieder auf. Sie erschauerte. »Die einzige Adresse, die ich hatte, war postlagernd. Ich habe ihr einen weiteren Brief geschrieben und bin gestern Nachmittag zum Postamt gegangen. Dort habe ich bis nach Einbruch der Dunkelheit gewartet, ohne dass sie aufgetaucht ist. Heute Morgen bin ich wieder hingegangen, habe Corinne aber wieder nicht angetroffen, dafür allerdings Floyd Thursby.«

Spade nickte erneut. Seine Stirn hatte sich geglättet. Jetzt betrachtete er sie mit verschärfter Aufmerksamkeit.

»Er wollte mir nicht sagen, wo Corinne steckt«, fuhr sie verzweifelt fort. »Er hat mir gar nichts gesagt, außer dass es ihr gut geht. Aber wie kann ich das glauben?

»Natürlich nicht«, pflichtete Spade ihr bei. »Aber es könnte ja auch stimmen.«

»Hoffentlich. Ich kann es nur hoffen«, rief sie aus. »Aber ich kann unmöglich wieder nach Hause, ohne sie gesehen oder wenigstens am Telefon mit ihr gesprochen zu haben. Er wollte mich nicht zu ihr bringen. Er hat behauptet, dass sie mich nicht sehen will, aber das glaube ich nicht. Er hat mir versprochen, ihr zu erzählen, dass er mich getroffen hat, und sie heute Abend ins Hotel zu bringen – falls sie damit einverstanden ist. Angeblich wusste er, dass sie das nicht will. Er hat versprochen, selbst zu kommen, falls nicht. Er …«

Als die Tür aufging, verstummte sie mit einer erschrockenen Hand auf dem Mund.

 

Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, trat ein, nahm mit einem »Oh, Verzeihung!« hastig den braunen Hut ab und machte Anstalten, sich wieder zurückzuziehen.

»Schon gut, Miles«, sagte Spade. »Komm rein. Miss Wonderly, das ist Mr. Archer, mein Kompagnon.«

Miles Archer betrat das Büro erneut, schloss die Tür hinter sich, nickte Miss Wonderly lächelnd zu und machte eine unbestimmte höfliche Geste mit dem Hut in der Hand. Er war mittelgroß und stämmig, breite Schultern, kräftiger Nacken, gutmütiges rotes Gesicht, kantiges Kinn und leicht ergrautes, kurz geschnittenes Haar. Er hatte ebenso deutlich sein vierzigstes Lebensjahr hinter sich gelassen wie Spade sein dreißigstes.

»Ja«, sagte sie kaum hörbar. Die Verlegenheit, die Spade ihr mit seinem mitfühlenden Lächeln und aufmunternden Nicken allmählich genommen hatte, trieb ihr nun erneut die Farbe ins Gesicht. Sie betrachtete die Tasche auf ihrem Schoß und fuhr mit einem behandschuhten Finger nervös über ihre Oberfläche.

Spade zwinkerte seinem Kompagnon zu.

Miles Archer trat zu ihm an die Ecke des Schreibtischs. Während die junge Frau auf ihre Handtasche sah, betrachtete er sie. Seine kleinen braunen Augen wanderten ungeniert von ihrem gesenkten Gesicht bis zu den Füßen und wieder zurück zum Gesicht. Dann warf er Spade einen Blick zu und spitzte den Mund zu einem lautlosen, anerkennenden Pfiff.

Spade hob warnend zwei Finger von der Armlehne seines Drehstuhls und sagte:

»Das dürfte nicht allzu schwer sein. Es geht lediglich darum, heute Abend einen Mann vor dem Hotel zu postieren, der ihn beschattet, wenn er das Haus verlässt, damit er uns zu Ihrer Schwester führt. Sollte sie mitkommen und Sie können sie überreden, mit Ihnen nach Hause zu fahren, umso besser. Falls sie ihn nicht

Archer sagte: »Ja.« Seine Stimme war schwer, heiser.

Miss Wonderly sah zu Spade auf, kurz, zog die Augenbrauen zusammen.

»Oh, aber Sie müssen vorsichtig sein!« Ihre Stimme zitterte ein wenig, und ihr Mund formte die Worte mit einem nervösen Zucken. »Ich habe schreckliche Angst vor ihm und dem, was er tun könnte. Sie ist noch so jung, und dass er sie von New York hierher gebracht hat, ist ein so schrecklicher … Was, wenn er … wenn er ihr … etwas antut?«

Spade lächelte und klopfte auf die Armlehnen seines Stuhls.

»Überlassen Sie das einfach uns«, sagte er. »Wir wissen, wie man mit solchen Typen umgeht.«

»Aber wäre es nicht möglich?«, beharrte sie.

»Die Möglichkeit besteht natürlich.« Spade nickte zurückhaltend. »Aber Sie können sich darauf verlassen, dass wir uns darum kümmern.«

»Ich vertraue Ihnen«, sagte sie ernst. »Ich möchte Sie nur warnen – er ist gefährlich. Ich glaube, dass dieser Mann vor nichts zurückschreckt. Wahrscheinlich würde er nicht zögern … Corinne umzubringen, wenn er sich dadurch selbst aus der Affäre ziehen kann. So etwas wäre doch denkbar, oder?«

»Sie haben ihm hoffentlich nicht gedroht, oder?«

»Ich habe ihm erklärt, dass ich nichts weiter will, als sie mit nach Hause nehmen, ehe Mama und Papa zurück sind, damit sie nie erfahren, was sie getan hat. Ich habe ihm

»Könnte er sich aus der Affäre ziehen, indem er sie heiratet?«, fragte Archer.

Die junge Frau errötete und antwortete mit verwirrter Stimme: »Er hat eine Frau und drei Kinder in England. Corinne hat es erwähnt, als sie mir schrieb, um zu erklären, warum sie mit ihm durchgebrannt ist.«

»Das haben sie alle«, sagte Spade, »wenn auch nicht zwangsläufig in England.« Er beugte sich vor und griff nach Bleistift und Notizblock. »Wie sieht er denn aus?«

»Na ja, er ist ungefähr fünfunddreißig, so groß wie Sie und entweder dunkelhäutig oder braun gebrannt. Auch das Haar ist dunkel, mit buschigen Augenbrauen. Er hat eine laute, polternde Art zu reden und ein reizbares Temperament. Er macht den Eindruck … gewalttätig zu sein.«

Spade schrieb etwas auf seinen Block und fragte, ohne aufzusehen: »Augenfarbe?«

»Blaugrau, wässrig, aber trotzdem ausdrucksvoll. Ach ja, und er hat eine ausgeprägte Kerbe am Kinn.«

»Schlank, mittel oder stämmig gebaut?«

»Eher sportlich. Breite Schultern und sehr gerade Haltung, fast militärisch. Er trug einen hellgrauen Anzug und einen grauen Hut, als ich ihn heute Morgen sah.«

»Womit verdient er sein Geld?«, fragte Spade und legte den Stift beiseite.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«

»Nach acht Uhr.«

»Na schön, Miss Wonderly, wir werden jemanden dort postieren. Es wäre hilfreich, wenn …«

»Mr. Spade, könnten Sie vielleicht selbst – oder Mr. Archer …?« Beschwörend hob sie die Hände. »Könnte einer von Ihnen sich persönlich der Sache annehmen? Ich möchte nicht andeuten, dass der Mann, den Sie hinschicken würden, nicht geeignet wäre, aber … ach, ich habe solche Angst, dass Corinne etwas zustoßen könnte! Ich fürchte mich vor ihm. Wäre das möglich? Ich wäre … Natürlich ist mir klar, dass Sie dafür mehr berechnen müssen.« Nervös öffnete sie ihre Handtasche und legte zwei Hundert-Dollar-Scheine auf Spades Schreibtisch. »Würde das reichen?«

»Ja«, sagte Archer. »Ich werde mich persönlich darum kümmern.«

Miss Wonderly stand auf und streckte ihm erleichtert die Hand entgegen.

»Danke! Danke!«, rief sie aus, dann reichte sie auch Spade die Hand und wiederholte: »Vielen Dank!«

»Keine Ursache«, sagte Spade. »Ist uns ein Vergnügen. Es wäre hilfreich, wenn Sie sich mit Thursby entweder in der Lobby verabreden oder irgendwann mit ihm dort auftauchen würden.«

»Mach ich«, versprach sie und bedankte sich erneut bei beiden.

»Und drehen Sie sich nicht suchend nach mir um«, warnte Archer sie. »Ich finde Sie schon.«

 

Spade steckte den anderen Schein ein, bevor er sich setzte. Dann sagte er: »Okay, aber halt dich zurück. Wie findest du sie?«

»Umwerfend! Und was heißt ›zurückhalten‹?« Archer lachte wiehernd und humorlos. »Du hast sie vielleicht zuerst gesehen, Sam, aber ich hab als Erster ›Hier‹ gerufen.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Absätzen.

»Du wirst ihr den Kopf verdrehen, jede Wette.« Spade grinste wie ein Wolf und entblößte dabei seine Zahnreihen. »Dumm bist du nicht, das muss man dir lassen.« Dann fing er an, sich eine Zigarette zu drehen.

Tod im Nebel

Im Dunkeln schrillte ein Telefon. Nach dem dritten Läuten ächzten Sprungfedern. Finger tasteten über eine Holzoberfläche. Etwas Kleines, Hartes plumpste auf den Teppichboden, die Sprungfedern ächzten erneut, und eine männliche Stimme sagte:

»Hallo … Am Apparat … Tot? … Ja … In einer Viertelstunde. Danke.«

Ein Schalter klickte, und die weiße, an drei vergoldeten Ketten von der Zimmerdecke hängende Schale überflutete den Raum mit Licht. Spade saß barfuß in einem grün-weiß karierten Pyjama auf der Bettkante. Er betrachtete finster das Telefon, während er nach dem Beutel Bull-Durham-Tabak und den braunen Blättchen griff, die daneben lagen.

Nasskalte Luft drang durch die beiden offenen Fenster herein und führte ein halbes Dutzend Mal pro Minute die dumpfe Klage des Nebelhorns von Alcatraz mit sich. Auf einer Ecke von Thomas Dukes’ Berühmte amerikanische Kriminalfälle, das umgekehrt auf dem Tisch lag, balancierte der Blechwecker. Er zeigte fünf nach zwei.

Sorgfältig und bedächtig drehte Spade sich mit seinen kräftigen Fingern eine Zigarette. Er streute genau die richtige Menge braunen Tabak in das gewölbte Blättchen,

Er bückte sich nach dem Feuerzeug aus Nickel und Schweinsleder, das auf den Boden gefallen war, betätigte es und stand schließlich mit brennender Zigarette im Mundwinkel auf. Er zog den Pyjama aus. Arme, Beine und Rumpf waren glatt und kräftig. Mit seinen runden Schultern erinnerte er an einen Bären – einen rasierten Bären: Die Brust war unbehaart, die Haut weich und rosig wie die eines Kindes.

Er kratzte sich den Nacken und begann, sich anzukleiden: dünne weiße Hemdhose, graue Socken, schwarze Sockenhalter und dunkelbraune Schuhe. Als er die Schnürsenkel zugebunden hatte, rief er Graystone 4500 an und bestellte ein Taxi. Dann folgten ein grün-weiß gestreiftes Hemd, ein weicher weißer Kragen, eine grüne Krawatte und der graue Anzug, den er schon am Vortag getragen hatte, zum Schluss ein weiter Tweedmantel und ein dunkelgrauer Hut. Als er Tabak, Schlüssel und Geld einsteckte, klingelte es an der Haustür.

 

Spade betrat den Bürgersteig, ging vorbei an dem gusseisernen Geländer, das eine hässlich kahle Treppe umgab, bis zu der Brüstung. Dort stützte er sich auf die feuchte Oberfläche der niedrigen Mauerkuppe und blickte hinab auf die Stockton Street.

Ein Wagen schoss zischend aus dem Tunnel hervor, als hätte ihn jemand abgefeuert, und verschwand. Nicht weit von der Tunnelöffnung entfernt hockte ein Mann auf den Fersen vor einer Plakatwand mit Werbung für einen Kinofilm und eine Benzinmarke. Der Kopf des Mannes berührte beinahe das Pflaster, während er versuchte, unter die Plakatwand zu lugen, die die Lücke zwischen zwei Lagerhäusern füllte. Eine Hand lag flach auf dem Pflaster, mit der anderen klammerte er sich an den grünen Rahmen. Es war eine groteske Pose. Zwei andere Männer standen dicht beisammen am vorderen Ende der Plakatwand und spähten durch den schmalen Spalt zwischen dem Plakat und dem anstoßenden Gebäude. Das Haus am anderen Ende hatte eine leere graue Seitenwand, die auf das unbebaute Grundstück hinter der Werbefläche ging. Lichter

Spade wandte sich von der Brüstung ab, ging die Bush Street entlang bis zu der Gasse, wo die Männer sich versammelt hatten. Ein uniformierter Polizist mit einem Kaugummi im Mund stand unter einem dunkelblauen Emailleschild mit der weißen Aufschrift Burritt Street. Er streckte den Arm aus und fragte: »Was suchen Sie hier?«

»Mein Name ist Sam Spade. Tom Polhaus hat mich angerufen.«

»Ach, richtig.« Der Arm des Polizisten senkte sich wieder. »Hab Sie nicht gleich erkannt. Sie sind da drüben.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Schlimme Geschichte.«

»Ja«, nickte Spade und betrat die Gasse.

Ungefähr in der Mitte stand ein dunkler Krankenwagen. Zur Linken war die Gasse von einem hüfthohen Zaun aus rauen, horizontal zusammengehämmerten Holzlatten begrenzt. Dahinter fiel die dunkle Böschung steil zu der Plakatwand in der Stockton Street ab.

Ein drei Meter langes oberes Lattenstück war von einem Pfosten an einem Ende abgerissen und hing lose am anderen Ende herab. Knapp fünf Meter tiefer ragte ein flacher Felsen aus dem Abhang. In der Mulde zwischen diesem Felsen und der Böschung lag Miles Archer auf dem Rücken. Zwei Männer standen bei ihm. Einer hatte den Strahl seiner Taschenlampe auf den Toten gerichtet. Andere Männer mit Taschenlampen bewegten sich den Abhang hinauf und hinunter.

Einer von ihnen grüßte Spade: »Hallo, Sam«, und

»Ich dachte, du würdest ihn sehen wollen, bevor wir ihn abtransportieren«, sagte er, als er über den beschädigten Zaun stieg.

»Danke, Tom«, sagte Spade. »Was ist passiert?« Er stützte einen Ellbogen auf einen der Zaunpfosten und sah hinab zu den Männern unterhalb, nickte einigen zu, die ihn grüßten.

Tom Polhaus tippte sich mit einem schmutzigen Finger auf die linke Brust. »Glatt durch die Pumpe – hiermit.« Er zog einen schweren Revolver aus der Manteltasche und hielt ihn Spade entgegen. Schlamm füllte die Vertiefungen auf der Oberfläche. »Ein Webley. Englisches Fabrikat, oder?«

Spade löste den Ellbogen von dem Zaunpfosten und beugte sich vor, um sich die Waffe anzusehen, fasste sie aber nicht an.

»Ja«, sagte er. »Ein Webley-Fosbery-Automatikrevolver. Genau. Kaliber . 38, achtschüssig. Wird heute nicht mehr hergestellt. Wie viele Schüsse wurden abgefeuert?«

»Nur einer.« Tom tippte sich erneut auf die Brust. »Er muss schon tot gewesen sein, als er über den Zaun stürzte.« Er hielt den lehmverschmierten Revolver in die Höhe. »Hast du den schon mal gesehen?«

Spade nickte. »Ich kenne andere Webley-Fosberys«, sagte er gleichgültig. Er sprach schnell, als er fortfuhr:

»Richtig«, antwortete Tom langsam und zog die Brauen zusammen. »Der Einschuss hat den Mantel versengt.«

»Wer hat ihn gefunden?«

»Einer vom Streifendienst, Shilling. Er ging die Bush Street entlang. Als er bei der Gasse ankam, glitt das Scheinwerferlicht eines wendenden Wagens über den Abhang, und er sah, dass der Zaun beschädigt war. Er ging hin, um nachzusehen, und hat ihn gefunden.«

»Was ist mit dem Wagen?«

»Nichts ist mit dem gottverdammten Wagen, Sam. Shilling hat ihn nicht weiter beachtet, weil er in dem Moment noch nicht wusste, was passiert war. Er sagt, hier wäre niemand rausgekommen, als er von der Powell Street kam, sonst wäre es ihm bestimmt aufgefallen. Der einzige andere Fluchtweg wäre unter der Plakatwand durch, rauf auf die Stockton Street gewesen. Den hat aber niemand genommen. Der Nebel hat den Boden aufgeweicht, und die einzigen Spuren stammen von Miles, der dort runtergerutscht ist, und der Waffe.«

»Hat denn niemand den Schuss gehört?«

»Herr im Himmel, Sam, wir sind eben erst eingetroffen. Irgendwer hat ihn bestimmt gehört, wir müssen ihn nur

Spade sagte: »Nein.«

Tom hielt mitten in der Bewegung inne und musterte Spade mit überrascht zusammengekniffenen Augen.

Spade sagte: »Du hast ihn gesehen. Mehr als du sehe ich auch nicht.«

Tom nickte skeptisch, ohne Spade aus den Augen zu lassen, und zog das Bein wieder zurück.

»Seine Waffe steckte noch im Hosenbund«, sagte er. »Sie war nicht abgefeuert worden. Sein Mantel war zugeknöpft. In der Tasche fanden wir hunderteinundsechzig Dollar. Hatte er einen Auftrag, Sam?«

Spade zögerte einen Augenblick und nickte dann.

Tom fragte: »Und?«

»Er sollte einen Kerl namens Floyd Thursby beschatten.« Spade beschrieb Thursby so, wie er es von Miss Wonderly gehört hatte.

»Weshalb?«

Spade steckte die Hände in die Manteltaschen und blinzelte Tom müde an.

Tom wiederholte ungläubig: »Weshalb?«

»Möglicherweise war er Engländer. Ich weiß nicht so recht, was er vorhatte. Wir wollten rauskriegen, wo er wohnt.« Spade grinste flüchtig, nahm eine Hand aus der Tasche und klopfte Tom auf die Schulter. »Frag mir keine Löcher in den Bauch.« Er steckte die Hand wieder in die Tasche. »Ich muss los, um Miles’ Frau zu benachrichtigen.« Damit wandte er sich zum Gehen.

»Dass es ihn so erwischen musste … Miles hatte seine Macken, so wie wir alle, aber er war in Ordnung.«

»Das war er«, pflichtete Spade bei, in einem Ton, der absolut nichtssagend war, und verließ die Gasse.

 

In einem durchgängig geöffneten Drugstore Ecke Bush Street und Taylor telefonierte er.

»Schätzchen«, sagte er, nachdem er die Nummer durchgegeben hatte. »Miles ist erschossen worden … Ja, er ist tot … Verlier jetzt nicht die Nerven … Ja … Du musst es Iva beibringen … Nein, das mache ich auf keinen Fall. Du musst es tun … Braves Mädchen … Sie soll nicht ins Büro kommen … Sag ihr, ich melde mich – hm – irgendwann … Ja, aber nagel mich nicht fest … Das ist alles. Du bist ein Engel. Bis dann.«

 

Spades Blechwecker stand auf zwanzig vor vier, als das Licht der Deckenlampe erneut aufflammte. Er warf Hut und Mantel aufs Bett, ging in die Küche und kam mit einem Weinglas und einer großen Flasche Bacardi zurück. Er schenkte sich ein und trank im Stehen, stellte Flasche und Glas auf den Tisch, setzte sich auf die Bettkante und drehte eine Zigarette. Nach dem dritten Bacardi, gerade als er sich die fünfte Zigarette anzünden wollte, klingelte es. Mittlerweile waren die Uhrzeiger auf halb fünf vorgerückt.

Im Korridor hörte man, wie sich die Tür des Fahrstuhls quietschend und rasselnd öffnete und schloss. Spade seufzte erneut und ging zur Wohnungstür. Leise, schwere Tritte auf dem mit Teppich ausgelegten Boden des Gangs, die Schritte zweier Männer. Spades Gesicht hellte sich auf. Der gequälte Blick verschwand. Rasch öffnete er die Tür.

»Hallo Tom«, sagte er zu dem großen, schmerbäuchigen Detective, mit dem er sich in der Burritt Street unterhalten hatte, »hallo, Lieutenant« zu dem anderen Mann. »Kommt rein.«

Beide nickten schweigend und traten ein. Spade schloss die Tür und führte sie in sein Schlafzimmer. Tom setzte sich auf das Sofa unter dem Fenster, der Lieutenant in einen Sessel neben dem Tisch.

Der Lieutenant war stämmig, hatte dichtes, kurz geschnittenes graues Haar und ein kantiges Gesicht mit einem kurz geschnittenen grauen Schnurrbart. Ein Fünfdollar-Goldstück diente ihm als Krawattennadel, und am Revers glänzte ein kleines, in Diamanten gefasstes Geheimbundabzeichen.

Spade holte zwei Weingläser aus der Küche, schenkte ihnen Bacardi ein und füllte sein eigenes erneut auf. Er reichte jedem Besucher ein Glas und setzte sich mit

Er hob sein Glas – »Auf das Verbrechen!« – und leerte es in einem Zug.

Tom folgte seinem Beispiel, stellte das Glas auf den Fußboden und strich sich mit dem schmutzigen Zeigefinger über den Mund. Er starrte auf das Fußende des Betts, als versuchte er, sich ins Gedächtnis zurückzurufen, woran es ihn vage erinnerte.

Der Lieutenant betrachtete ein paar Sekunden sein Glas, nahm einen sehr kleinen Schluck und stellte es dann auf den Tisch neben sich. Sein scharfer, aufmerksamer Blick wanderte durch das ganze Zimmer, bis er an Tom hängen blieb.

Der rutschte unbehaglich auf dem Sofa hin und her und fragte, ohne aufzusehen: »Hast du Miles’ Frau Bescheid gesagt, Sam?«

Spade machte: »Hm-mh.«

»Wie hat sie es aufgenommen?«

Spade schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nichts von Frauen.«

Tom murmelte: »Wer’s glaubt, wird selig.«

Der Lieutenant legte die Hände auf die Knie und beugte sich vor. Seine grünlichen Augen waren seltsam starr auf Spade gerichtet, als wäre ihr Fokus eine rein mechanische Angelegenheit, der sich mit dem Umlegen eines Schalters oder per Knopfdruck verändern ließ.

»Was für eine Waffe tragen Sie?«, fragte er.

»Gar keine. Ich mag Waffen nicht besonders. Im Büro liegen natürlich welche rum.«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Sehen Sie sich um.« Spade lächelte und machte eine einladende Geste mit seinem leeren Glas. »Stellen Sie alles auf den Kopf, wenn Sie wollen. Ich habe nichts dagegen – solange Sie einen Durchsuchungsbefehl haben.«

Tom protestierte: »Ach, hör auf, Sam.«

Spade stellte sein Glas auf den Tisch, stand auf und musterte den Lieutenant.

»Was wollen Sie, Dundy?«, fragte er. Seine Stimme war ebenso hart und kalt wie sein Blick.

Lieutenant Dundys Augen hatten sich bewegt, um Spade im Blick zu behalten. Aber nur die Augen hatten sich bewegt.

Tom verlagerte erneut das Gewicht auf dem Sofa, schnaufte tief durch die Nase und brummte dann vorwurfsvoll: »Wir wollen keine Scherereien, Sam.«

Spade ignorierte ihn. Er fragte Dundy: »Was wollen Sie dann? Reden Sie Klartext. Für wen zum Teufel halten Sie sich, dass Sie hier aufkreuzen und versuchen, mich hochzunehmen?«

»Schon gut«, sagte Dundy mit gepresster Stimme. »Setzen Sie sich und hören Sie zu.«

»Ich setze mich oder bleibe stehen, wie es mir passt, verdammt noch mal«, sagte Spade, ohne sich zu rühren.

»Um Himmels willen, reg dich nicht auf«, flehte Tom. »Sollen wir uns etwa darüber streiten? Wenn du wissen willst, warum wir nicht Klartext reden, dann denk mal

Lieutenant Dundy sprang auf, stellte sich vor Spade und schob sein kantiges Gesicht dicht an das des größeren Mannes heran.

»Ich habe Sie gewarnt, dass Sie eines Tages zu weit gehen werden«, sagte er.

Spade verzog abschätzig den Mund und hob die Brauen. »Jeder geht mal zu weit«, gab er mit spöttischer Sanftmut zurück.

»Und diesmal sind Sie derjenige, welcher.«

Spade lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich komme schon klar, besten Dank.« Das Lächeln verflog. Seine Oberlippe schob sich links über den oberen Eckzahn. Die Augen verengten sich zu feindseligen Schlitzen. Seine Stimme klang ebenso gepresst wie die des Lieutenants. »Mir gefällt das nicht. Was schnüffeln Sie hier herum? Sagen Sie’s oder schieben Sie ab, damit ich endlich ins Bett komme.«

»Wer ist Thursby?«, fragte Dundy.

»Ich habe Tom bereits gesagt, was ich über ihn weiß.«

»Sie haben Tom so gut wie nichts gesagt.«

»Ich weiß auch so gut wie nichts.«

»Warum haben Sie ihn beschattet?«

»Hab ich gar nicht. Miles hat ihn beschattet – aus dem einfachen Grund, weil unser Klient uns gutes amerikanisches Geld dafür bezahlt hat.«

Spades Gesicht und seine Stimme nahmen wieder einen gelassenen Ausdruck an. Vorwurfsvoll sagte er: »Sie wissen, dass ich Ihnen das nicht sagen kann, bevor ich mit meinem Klienten darüber gesprochen habe.«

»Sie sagen es entweder mir oder dem Richter«, explodierte Dundy. »Es geht um Mord, vergessen Sie das nicht.«

»Vielleicht. Und hier ist was, das Sie nicht vergessen sollten, Freundchen. Ich sage was oder behalte es für mich, wie es mir verdammt noch mal passt! Es ist lange her, dass ich Tränen vergossen habe, weil mich ein Polizist nicht leiden kann.«

Tom stand vom Sofa auf und setzte sich auf das Fußende des Betts. Sein schlecht rasiertes, schmutziges Gesicht war müde und faltig.

»Sei doch vernünftig, Sam«, sagte er flehend. »Gib uns eine Chance. Wie sollen wir den Mord an Miles aufklären, wenn du uns nicht sagst, was du weißt?«

»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, erklärte Spade ihm. »Ich beerdige meine Toten schon selbst.«

Lieutenant Dundy setzte sich und legte wieder die Hände auf die Knie. Seine Augen waren heiße grüne Scheiben.

»Hab ich mir gedacht«, sagte er und lächelte mit grimmiger Befriedigung. »Genau so schätzen wir Sie ein. Stimmt doch, Tom, oder?«

Tom stöhnte nur und sagte nichts.

Spade beobachtete Dundy misstrauisch.

»Genau das habe ich Tom gesagt«, fuhr der Lieutenant fort. »Tom, hab ich gesagt, ich glaube, Sam Spade ist einer

Das Misstrauen schwand aus Spades Blick. Seine Augen wirkten stumpf vor Langeweile. Er wandte sich Tom zu und fragte betont lässig: »Was hat er bloß, dein kleiner Freund?«

Dundy sprang auf und tippte Spade mit zwei gekrümmten Fingern auf die Brust.

»Das werde ich Ihnen sagen.« Er gab sich Mühe, jedes seiner Worte zu betonen, während er sie mit dem Tippen noch unterstrich: »Thursby wurde fünfunddreißig Minuten, nachdem Sie die Burritt Street verlassen hatten, vor seinem Hotel niedergeschossen.«

Spade gab sich ebenso große Mühe mit seiner Antwort: »Nehmen Sie Ihre verdammten Pfoten weg!«

Dundy zog die Hand zurück, doch an seiner Stimme änderte sich nichts: »Tom sagt, Sie hatten es dermaßen eilig, dass Sie nicht mal einen Blick auf die Leiche Ihres Kompagnons werfen wollten.«

»Verdammt, Sam, du bist einfach abgehauen«, brummte Tom entschuldigend.

»Und Sie sind auch nicht zu Archer nach Hause gefahren, um es seiner Frau zu erzählen«, fuhr der Lieutenant fort. »Wir haben sie angerufen. Ihre Sekretärin war da und sagte, Sie hätten sie hingeschickt.«

Spade nickte. Sein Gesicht wirkte beinahe naiv in seiner Gelassenheit.

Lieutenant Dundy hob erneut zwei Finger vor Spades Brust, doch dann senkte er sie rasch wieder: »Nehmen wir an, Sie haben zehn Minuten gebraucht, um Ihre

»Ich wusste also, wo er wohnt?«, fragte Spade. »Und auch, dass er nach dem Mord an Miles nicht geradewegs nach Hause gegangen ist?«

»Sie wussten, was Sie wussten«, entgegnete Dundy stur. »Wann waren Sie wieder zu Hause?«

»Zwanzig vor vier. Ich bin noch eine Weile rumgelaufen und habe nachgedacht.«

Der runde Kopf des Lieutenants bewegte sich auf und ab. »Wir wussten, dass Sie um halb vier nicht zu Hause waren. Wir haben versucht, Sie zu erreichen. Wo genau sind Sie rumgelaufen?«

»Ein Stück die Bush Street rauf und wieder zurück.«

»Sind Sie jemandem begegnet, der …«

»Nein, keine Zeugen«, sagte Spade und lachte gutmütig. »Setzen Sie sich, Dundy. Sie haben noch nicht ausgetrunken. Gib mir dein Glas, Tom.«

Tom sagte: »Nein, danke, Sam.«

Dundy setzte sich, schenkte aber seinem Rum keine Beachtung.

Spade goss sich nach, trank und stellte das leere Glas auf den Tisch, dann setzte er sich wieder auf die Bettkante.

»Ich weiß jetzt, woran ich bin«, sagte er und ließ seinen freundlichen Blick von einem Polizisten zum

Tom sagte: »Schon gut.«

Der Lieutenant sagte nichts.

Spade sagte: »Ist Thursby tot?«

Als der Lieutenant zögerte, sagte Tom: »Ja.«

Schließlich sagte der Lieutenant wütend: »Nur damit Sie es wissen – falls Sie es noch nicht wissen –, er war tot, ehe er irgendwas ausplaudern konnte.«

Spade war dabei, sich eine Zigarette zu drehen. Ohne aufzusehen, fragte er: »Was meinen Sie damit? Glauben Sie etwa, ich hätte es gewusst?«

»Ich meine genau das, was ich gesagt habe«, antwortete Dundy grob.

Spade sah lächelnd zu ihm auf, die fertige Zigarette in einer, das Feuerzeug in der anderen Hand. »Sie können mich nur noch nicht festnageln, oder, Dundy?«

Dundy musterte Spade mit seinen harten grünen Augen und gab keine Antwort.

»In diesem Fall gibt es auch keinen Grund, warum ich mir den Kopf darüber zerbrechen soll, was Sie denken, stimmt’s, Dundy?«

Tom sagte: »Sei doch vernünftig, Sam.«

Spade steckte die Zigarette in den Mund, zündete sie an und stieß lachend eine Rauchwolke aus.

Tom grunzte ärgerlich. Lieutenant Dundy sagte: »Ihm wurde viermal in den Rücken geschossen, mit einer Vierundvierziger oder Fünfundvierziger, von der gegenüberliegenden Straßenseite aus, gerade, als er das Hotel betreten wollte. Gesehen hat es keiner, aber so muss es gewesen sein.«

»Er hatte eine Luger im Schulterholster«, ergänzte Tom. »Sie ist nicht abgefeuert worden.«

»Was wissen die Leute im Hotel über ihn?«

»Nichts, außer dass er seit einer Woche dort gewohnt hat.«

»Allein?«

»Allein.«

»Was habt ihr bei ihm gefunden oder in seinem Zimmer?«

Dundy kaute auf seiner Unterlippe und fragte: »Was hätten wir denn finden sollen?«

Spade beschrieb einen vagen Kreis mit seiner selbst gedrehten Zigarette. »Irgendwas, das euch verraten hätte, wer er war, was er vorhatte. Was gefunden?«

»Wir sind davon ausgegangen, dass Sie uns das verraten könnten.«

Spades gelb-graue Augen musterten den Lieutenant mit einem fast übertrieben unschuldigen Blick. »Ich bin Thursby nie begegnet, weder tot noch lebendig.«

Lieutenant Dundy stand auf. Er wirkte unzufrieden. Tom erhob sich ebenfalls, gähnte und streckte sich.

»Geht in Ordnung«, gab Spade gelassen zurück. »Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn Sie Ihr Glas austrinken.«

Lieutenant Dundy nahm sein Glas vom Tisch und leerte es langsam. Dann sagte er: »Gute Nacht«, und streckte die Hand aus. Sie schüttelten sich sehr förmlich die Hände. Dann schüttelten Tom und Spade sich auch sehr förmlich die Hände. Spade brachte sie zur Tür. Er zog sich aus, löschte das Licht und ging zu Bett.

Drei Frauen

Als Spade am folgenden Morgen um zehn in seinem Büro erschien, saß Effie Perine an ihrem Schreibtisch und öffnete gerade die Vormittagspost. Das sonst so strahlende Gesicht unter der sonnengebräunten Haut war blass. Sie legte den Stoß Umschläge und den Brieföffner aus Messing aus der Hand und sagte: »Sie ist da drin.« Ihr Ton war ein warnendes Flüstern.

»Ich hab dir doch gesagt, sie soll nicht herkommen«, beklagte sich Spade. Auch er hatte die Stimme gesenkt.

Effie Perine riss die braunen Augen auf und antwortete ebenso gereizt wie er: »Ja, aber du hast mir nicht gesagt, wie ich das anstellen soll.« Sie kniff ein wenig die Augen zusammen und ließ die Schultern hängen. »Sei nicht sauer, Sam«, sagte sie müde. »Ich hatte sie die ganze Nacht am Hals.«

Spade trat neben sie, legte ihr die Hand aufs Haar und strich ihr über den Scheitel. »Tut mir leid, mein Engel, ich wollte nicht …« Als sich die Tür zu seinem Büro öffnete, brach er ab. »Hallo, Iva«, begrüßte er die Frau, die sie geöffnet hatte.

»Ach, Sam!«

Sie war blond, Anfang dreißig. Ihr hübsches Gesicht hatte seine beste Zeit um zirka fünf Jahre überschritten.

Spade nahm die Hand vom Kopf der jungen Frau, betrat sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Iva trat rasch neben ihn und reckte ihm ihr unglückliches Gesicht zu einem Kuss entgegen. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen, noch ehe er sie an sich ziehen konnte. Nach einem langen Kuss wollte er sich wieder von ihr lösen, doch sie presste ihm das Gesicht an die Brust und schluchzte.

Er strich ihr über den Rücken. »Mein armer Liebling.« Seine Stimme war zärtlich, sein aufgebrachter Blick aber wanderte zu dem Schreibtisch, der seinem Kompagnon gehört hatte. Er bleckte ungeduldig die Zähne und drehte das Kinn zur Seite, um ihrem Hut auszuweichen. »Hast du Miles’ Bruder benachrichtigt?«

»Ja, er war heute Morgen da.« Die Worte wurden von ihrem Schluchzen und seinem Sakko erstickt.

Erneut verzog er das Gesicht und warf einen verstohlenen Blick auf seine Armbanduhr. Er umschlang Iva mit dem linken Arm, die Hand ruhte auf ihrer linken Schulter. Die Manschette war so weit hochgerutscht, dass die Uhr frei lag. Zehn nach zehn.

Iva regte sich in seinen Armen und hob erneut das Gesicht. Ihre runden blauen Augen schwammen in Tränen und waren von weißen Ringen umgeben, der Mund schimmerte feucht.

Spade fiel die Kinnlade herunter. Seine Augen traten hervor. Er ließ sie los und wich einen Schritt zurück. Mit finsterem Blick räusperte er sich.

Sie hielt noch immer die Arme erhoben, aus denen er sich gelöst hatte. Angst trübte ihren Blick, die Augen waren halb geschlossen, die Brauen eng zusammengezogen. Ihre feuchten, roten Lippen bebten.

Spade stieß lachend eine einzelne Silbe aus: »Ha!« Dann trat er zum Fenster. Dort stand er mit dem Rücken zu ihr und blickte durch den Vorhang in den Hof, bis sie ein paar Schritte auf ihn zumachte. Rasch wandte er sich ab und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er stützte die Ellbogen auf, legte das Kinn auf die Fäuste und betrachtete sie. Die gelblichen Augen funkelten zwischen zusammengekniffenen Lidern.

»Wer hat dir diese grandiose Idee in den Kopf gesetzt?«, fragte er eisig.

»Ich dachte …« Ihre Hand flog zum Mund, und erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie kam zu ihm zum Schreibtisch – leichtfüßig und sicher in schwarzen, unglaublich hohen, unglaublich kleinen Pumps. »Sei nett zu mir, Sam«, sagte sie unterwürfig.

Er lachte ihr ins Gesicht – seine Augen funkelten noch immer. »Du hast meinen Mann erschossen, Sam, aber bitte sei nett zu mir.« Er klatschte in die Hände. »Herr im Himmel!«

Daraufhin schluchzte sie laut auf und presste sich ein weißes Taschentuch ans Gesicht.

Er stand auf und stellte sich hinter sie. Er legte die

Sie drehte sich in seinen Armen um, sah ihn an und fragte: »Kommst du heute Abend vorbei?«

Sanft schüttelte er den Kopf. »Heute nicht.«

»Aber bald?«

»Ja.«

»Wie bald?«

»Sobald ich kann.«

Er küsste sie auf den Mund, führte sie zur Tür, sagte »Wiedersehen, Iva«, schob sie mit einer Verbeugung hinaus, schloss die Tür und kehrte an seinen Schreibtisch zurück.

Er nahm Tabak und Zigarettenpapier aus der Westentasche, doch er drehte sich keine Zigarette. Er saß da, den Tabak in der einen, die Blättchen in der anderen Hand, und betrachtete nachdenklich den Schreibtisch seines toten Kompagnons.

 

Effie Perine öffnete die Tür und kam herein. Ihre braunen Augen wirkten beunruhigt, doch ihre Stimme war arglos. Sie fragte: »Und?«

Spade antwortete nicht. Sein nachdenklicher Blick ruhte noch immer auf dem Schreibtisch seines Kompagnons.