LASP

 

 

Der Autor

 

Lutz Ullrich, Jahrgang 1969, studierte Politik und Rechtswissenschaften, schrieb für verschiedene Zeitschriften, betätigte sich in der Politik und arbeitet heute als Rechtsanwalt. Er lebt mit seiner Familie in der Nähe von Frankfurt. Mehr Informationen gibt es unter www.lutzullrich.de.

 

 

In der Tom-Bohlan-Reihe sind bisher folgende Bücher erschienen:

Der Kandidat (2009)      

Tod in der Sauna (2010)

Tödliche Verstrickung (2011)

Stadt ohne Seele (2012)

Mord am Niddaufer (2013)

Das Erbe des Apfelweinkönigs (2014)

Kristallstöffche (2015)

Klaa Pariser Blut (2017)

Citymord (2018)

 

Außerdem der Kurzkrimi:

Bohlan und das geheimnisvolle Manuskript

 

Außerdem erhältlich

Wie aus Herbert Willy wurde (2016)

 

Alle Bücher sind auch als E-Book erhältlich

 

 

 

 

 

 

Tod am Hühnermarkt

Ein Kriminalroman von Lutz Ullrich

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© 2020 Lutz Ullrich

Korrektorat: punkt und komma

LASP-Verlag, Schwalbach am Taunus – Frankfurt am Main

info@lasp.de

Cover-Foto: adobe stocks

ISBN 978-3-946247-27-2

 

www.lasp-verlag.de

www.lutzullrich.de

 

Printed in Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung

Prolog

 

In einer Frankfurter Wohnung mit Blick auf den Hühnermarkt taumelte David Blum krachend gegen eine Schranktür und verhinderte so, dass er das Gleichgewicht vollends verlor und stürzte. Verzweifelt umklammerten seine Finger eine große Metallschiene, die normalerweise zum Öffnen der mannshohen Schiebetür des Kleiderschranks diente. Sein Herz hämmerte, als wolle es explodieren. Sein Pulsschlag simulierte einen Zweihundertmetersprint. Blum schloss für einen Moment die Augen und versuchte, das soeben Gesehene mit beruhigenden Bildern zu übertünchen. Ein verzweifelter Versuch. Doch immerhin verlangsamte sich sein Herzschlag.

Augenblicke später wagte er, der Realität erneut ins Angesicht zu blicken.

Thomas Winterstein lag noch immer reglos auf seinem Bett. Er trug einen biederen Pyjama. Die Bettdecke war bis zu seinem Bauch gezogen, wo ein aufgeschlagenes Buch lag. Dem Umschlag nach ein spannender Thriller. Doch die Augen des Wissenschaftlers waren zur Decke gerichtet, als warte er auf eine göttliche Eingebung.

David Blums Rücken löste sich von der Schrankwand. Seine Hand hielt weiterhin schützenden Kontakt zum Griff, auch als er einen vorsichtigen Schritt nach vorne wagte. Nur nicht zu weit. Die Ruhe eines Toten sollte man nicht stören. So viel Ehrfurcht war Blum auch nach Jahrzehnten noch geblieben, in denen er getötet und gemordet hatte. Meistens ziemlich raffiniert und mit viel Effekthascherei. Millionen Leser hatten ihm dafür gedankt und seine Thriller regelmäßig auf die Bestsellerlisten befördert. Nicht nur in Deutschland, und auch die unzähligen Übersetzungen waren weltweit Erfolge geworden.

Das hier allerdings war keine ausgeklügelte Fiktion, sondern knallharte Realität.

Fieberhaft überlegte Blum, was er tun sollte. Zögernd löste er sich vom Schrank und trat ans Bett. Langsam fuhr seine Hand in Richtung Winterstein. Wie in Zeitlupe näherte sie sich dessen Hals und tastete vergeblich nach einem Pulsschlag.

»Ein Notarzt«, schoss es Blum durch den Kopf.

Doch eine Stimme in ihm sagte, dass dies sinnlos war. Winterstein war tot. Und Blum wollte auf keinen Fall in polizeiliche Ermittlungen hineingezogen werden. So etwas sprach sich schneller herum, als sein Management reagieren konnte. Blum sah die Schlagzeilen der Boulevardpresse bereits rot leuchten: »Bestsellerautor unter Verdacht!«

Schlechte Presse war besser als gar keine Presse, aber Spekulationen über die Verstrickung in ein Tötungsdelikt waren definitiv des Schlechten zu viel.

Blum verharrte unschlüssig vor dem Toten. Was sollte er tun? Wild schossen die Gedanken in seinem Kopf durcheinander. Im Grunde war nichts klar. Winterstein könnte genauso friedlich eingeschlafen wie getötet worden sein. Vielleicht hatte er vor dem Schlafengehen einen Whisky getrunken, die Gutenachtlektüre geschnappt und beim Lesen einen Herzinfarkt erlitten. So etwas kann ganz plötzlich passieren, auch bei Menschen in Wintersteins Alter. Gerade, wenn sie besessene Arbeitstiere waren. Zu dieser Spezies hatte Winterstein definitiv gezählt. Das hatte Blum in den letzten Wochen am eigenen Leib gespürt. Der Kerl stand ständig unter Strom, wollte immer mindestens zwei Dinge gleichzeitig tun, strotzte vor Vitalität, trieb Sport in jeder freien Minute. Etwas, das Blum ganz und gar abging.

»Herzinfarkt!«, schoss es wieder durch seine Gehirnwindungen. Doch ein Gefühl tief in ihm rebellierte, rückte das scheinbar Offensichtliche in den Hintergrund. Blums Blicke geisterten durch den Raum, ohne an einem Punkt hängen zu bleiben. Alles wirkte vollkommen normal. Doch irgendetwas stimmte nicht, da war er sicher. Er verließ das Schlafzimmer, durchschritt den Flur. Seine Blicke schossen hektisch durch die offene Tür ins Wohnzimmer, dann den Flur entlang. Er konnte nichts Auffälliges entdecken. Kein Durcheinander, keine herausgerissenen Schubladen. Alles ganz normal. So als habe Winterstein sich schlafen gelegt, um am nächsten Morgen wieder zur Arbeit zu fahren. »Irgendwo muss Wintersteins Festplatte stehen«, dachte Blum. Der Wissenschaftler hatte mal so etwas angedeutet. War es der Schrank oder das Regal im Wohnzimmer?

Aus der Ferne drang das Schlagen einer Tür in die Todesstille und riss Blum augenblicklich aus den Gedanken. Schritte hallten durch die Wohnung. Blum stürmte in den Flur, sah, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Er hatte vergessen, sie zu schließen, als er die Wohnung betreten hatte.

Und davor war sie ebenfalls nur angelehnt gewesen!

Das war es, was Blum sonderbar vorgekommen war. Jemand wie Winterstein ließ nicht die Tür offen stehen, sodass jeder die Wohnung betreten konnte. Noch dazu, wenn er vorhatte, ins Bett zu gehen.

Die Schritte hallten wieder herauf.

Verdammt! Blum blieb einen Moment wie angewurzelt stehen.

Viel Zeit zum Nachdenken blieb ihm nicht. Blum musste sich jetzt schnell entscheiden. In jedem Fall musste er zur Wohnungstür. Entweder, um sie zu schließen, oder um aus der Wohnung zu fliehen. Der Bestsellerautor entschied sich instinktiv für die zweite Alternative, zog die Tür von außen zu und hechtete die Treppe hinauf. Sein Fuß blieb an der letzten Stufe hängen und brachte ihn zum Stolpern. Blum drohte krachend auf die Holzdielen zu fallen, konnte aber im letzten Moment das Geländer greifen und den Sturz verhindern.

Er huschte im selben Augenblick um die Ecke, als die Schritte Wintersteins Wohnungstür erreichten. Blum drückte sich mit dem Rücken gegen die raue Wand. Sein Herz pumpte wieder wie wild. Er hielt den Atem an und hoffte inständig, dass nur er das laute Pochen hören konnte.

Eine halbe Etage tiefer scannten zwei Männer in dunklen Anzügen misstrauisch das Treppenhaus ab. War da nicht eben ein Geräusch gewesen? Sie lauschten konzentriert, wandten sich dann aber Wintersteins Wohnungstür zu. Es dauerte nicht lange, bis sie sie geöffnet hatten. »Soll ich noch mal nach oben gehen?«, murmelte der eine. Der andere schüttelte kurz den Kopf. Dann waren die beiden in der Wohnung verschwunden.

Blum wischte sich erleichtert den Schweiß von der Stirn, bevor er sich leise aufrichtete und die Treppe weiter nach oben schlich. Dort verharrte er einige Minuten. Nachdem sich sein Puls normalisiert hatte, lauschte er erneut ins Treppenhaus. Nichts war zu hören. Vorsichtig rappelte er sich auf, zog die Schuhe aus und schlich leise über die Stufen nach unten. Als er Wintersteins Wohnungstür passierte, duckte er sich, um nicht aus dem Guckloch der Tür gesehen zu werden. Keine zwei Minuten später trat er auf das Kopfsteinpflaster und zog die frische, kühle Nachtluft in sich ein. Seine Schuhe hielt er noch immer in der Hand, auch als er das die Straße berquerte.

 

1.

 

Tom Bohlan stieg die schmalen Betonstufen empor und stand kurz darauf auf dem Römerberg. Der Himmel über Frankfurt hing voller Wolken. Die Herbstluft war frostig. Die Glocken des Doms schlugen dreimal. Bohlan zog den Ärmel seines Mantels zurück und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war Viertel vor drei. Der Kommissar war direkt von seinem Hausboot, das an der Wörthspitze in Höchst ankerte, in die Innenstadt gefahren und hatte den alten VW im Parkhaus abgestellt. Eigentlich hatte er den Rest der Woche frei und nicht vorgehabt, heute einen Tatort aufzusuchen, doch da seine Kollegen Jan Steininger und Walter Steinbrecher kurzfristig erkrankt waren, musste er notgedrungen einspringen. Er stiefelte über den Römerberg und passierte die an seiner Ostseite gelegenen historischen Fachwerkhäuser. Dort nahm er den Krönungsweg, stand wenig später auf dem Hühnermarkt und blickte in die Augen der Friedrich-Stolze-Büste, die auf einem Brunnen thronte. Andächtig verharrte er einen Augenblick. »Un es will mer net in de Kopp enei, wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!«, formten seine Lippen.

Noch vor wenigen Jahren hatte hier das technische Rathaus gestanden und seinen Betoncharme verbreitet. Nun konnten die Frankfurter genauso wie unzählige Touristen die Altstadt wieder in ihrem ursprünglichen Zustand bestaunen. Als der Magistrat die Pläne zum Wiederaufbau der im Zweiten Weltkrieg zerstörten Altstadt vorgestellt hatte, war der Kommissar wie viele andere Frankfurter skeptisch gewesen. Doch nun, da die engen Häuserzeilen längst zum Touristenmagneten geworden waren, mochte er ihren Charme. Er ließ seinen Blick über die rekonstruierten Häuserfassaden wandern. Als er am Wirtshaus hängen blieb, hörte er hinter sich Julia Wills Stimme.

»Hallo Tom!«

Der Kommissar drehte sich um, die Kommissarin war nur noch wenige Meter vom ihm entfernt. Sie trug einen braunen Mantel und eine dazu passende Wollmütze. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr ums Gesicht. »Da hast du dich aber mächtig beeilt!«

»Wenn Not am Mann ist, lass ich mein Team doch nicht hängen«, entgegnete Bohlan mit einem ironischen Augenzwinkern.

»Sorry«, sagte Will. »Ich weiß, dass du dir die Woche anders vorgestellt hast. Aber im Kommissariat ist absolut Land unter.«

»Ich habe schon gehört, die Grippewelle ist früh dieses Jahr. Was ist passiert?«

»Es gab einen anonymen Anruf. Demnach liegt in einer Wohnung am Markt 14 eine Leiche.«

»Markt 14?«, fragte Bohlan.

»Das muss dort drüben sein«, antwortete Will. »Das Haus heißt übrigens Neues Paradies.«

»Wie passend.« Die beiden marschierten zur Ostseite des Platzes.

»Was genau hat der anonyme Anrufer gesagt?«, wollte Bohlan wissen, während Wills Schuhe auf dem Kopfsteinpflaster klackerten.

»Nicht allzu viel. Der Tote soll in seinem Bett liegen. Sein Name ist Dr. Thomas Winterstein. Ein angesehener Biologe.«

Sie hatten mittlerweile die Eingangstür des Hauses erreicht und sämtliche Klingelknöpfe betätigt. Nach einiger Zeit sprang die Tür auf und die beiden Kommissare betraten das Treppenhaus. Bohlan warf einen Blick auf die Briefkästen. Offensichtlich gab es sechs Wohnungen. Will war bereits auf der Treppe. Bohlan folgte ihr. In der ersten Etage erwartete sie eine zierliche Frau mit ergrauten Haaren. Bohlan schätzte sie auf Mitte fünfzig.

»Was kann ich für Sie tun?«

»Guten Tag. Wir sind von der Kripo«, sagte Will. »Wie heißen Sie?«

»Christa Michels«, sagte die Frau mit ungewöhnlich rauer Stimme.

»Es geht um Ihren Nachbarn, Herrn Winterstein.« Will hielt ihr den Polizeiausweis unter die Nase.

Die Frau schaute skeptisch auf das Dokument.

»Und wie kann ich Ihnen da helfen?«

»Gibt es jemanden, der einen Schlüssel zu seiner Wohnung hat? Wir müssten dort mal nach dem Rechten sehen.«

»Haben Sie es schon einmal mit Klingeln versucht?«, raunzte Frau Michels.

»Selbstverständlich«, schaltete sich Bohlan ein. »Es macht aber niemand auf.«

»Und da dürfen Sie so einfach die Wohnung betreten? Ist das auch rechtens?«

»Wir können auch einen Schlüsseldienst kommen lassen. Wenn es aber jemanden gibt, der einen Schlüssel hat, würde das die Sache vereinfachen.«

»Ich habe einen Schlüssel«, druckste die Frau hervor. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen die Tür aufmachen darf.«

»Sie dürfen«, sagte Bohlan. »Es wird auch nicht lange dauern. Wir gehen da kurz rein, wenn alles in Ordnung ist, sind wir zwei Minuten später wieder weg.«

»Was sollte denn nicht in Ordnung sein?«

»Es gab einen anonymen Anruf, dem wir nachgehen müssen.«

»Einen anonymen Anruf«, echote die Frau.

»Das kommt öfter vor, und meist ist es falscher Alarm. Deshalb möchten wir Sie nicht unnötig beunruhigen.«

Die Frau runzelte nachdenklich die Stirn. »Also gut. Moment bitte.«

Christa Michels verschwand in ihrer Wohnung. Durch die halb offen stehende Tür konnte Bohlan beobachten, wie sie die Schublade einer Kommode aufzog und darin wühlte. Es dauerte nicht lange, bis sie mit einem Schlüssel in der Hand zur Tür zurückkehrte.

»Hier bitte!« Sie hielt Bohlan den Schlüssel entgegen. »Aber ich komme mit.«

»Bis zur Eingangstür ist das okay. Aber dann warten Sie!«, sagte Bohlan mit bestimmtem Ton.

Zu dritt stiegen sie die Treppe nach oben.

»Wie wohnt es sich in der Altstadt?«, fragte Will.

»Ich bin sehr zufrieden. Alles ist sehr zentral, es gibt allerlei Einkaufsmöglichkeiten, dazu Kneipen, Theater und Kino. Und zum Main sind es auch nur ein paar Schritte.«

»Und die ganzen Touris vorm Haus?«, warf Will ein.

»Daran gewöhnt man sich.«

Sie hatten die nächste Etage erreicht und standen vor Wintersteins Tür. Bohlan drückte noch mal auf den Klingelknopf und klopfte dann sicherheitshalber an die Tür.

»Herr Winterstein? Sind Sie zu Hause? Hier ist die Polizei.«

Es kam keine Antwort.

»Herr Winterstein, wir werden jetzt die Tür öffnen!«

Bohlan wartete noch einen Moment, bevor er den Schlüssel ins Schloss steckte. Er ließ sich nur zur Hälfte drehen, dann sprang die Tür auf. Abgeschlossen war schon mal nicht. Bohlan betrat als Erster die Wohnung, gefolgt von Will.

»Sie warten bitte hier!«, sagte der Kommissar zu Christa Michels, die Anstalten machte, über die Schwelle zu treten. Augenblicklich stoppte sie pflichtbewusst in ihrer Bewegung. Bohlan sog die Luft der Wohnung in sich auf. Es roch nach Neubau und frischer Farbe. Einen Leichengeruch konnte er nicht vernehmen. Doch das hatte nicht allzu viel zu bedeuten, schließlich konnte der Tod erst vor wenigen Stunden eingetreten sein. Es dauerte, bis der Geruch des Todes alles andere überlagert. Manchmal konnte jemand tagelang in seiner Wohnung liegen, ohne dass es anfing, verdächtig zu riechen. Es hing vom Alter, dem allgemeinen Zustand, der Körperfülle sowie von Vorerkrankungen und eventuell eingenommenen Medikamenten ab, wann eine Leiche die Gase verströmte, die als Leichengeruch wahrgenommen wurden.

»Wann kam der Anruf?«

»Gegen Mittag«, sagte Will. Die beiden liefen den Flur entlang, passierten Küche, Bad und Wohnzimmer. Soweit Bohlan es in der Kürze der Zeit beurteilen konnte, war die Wohnung in einem zwar bewohnten, aber ordentlichen Zustand. In der Küche stand benutztes Geschirr herum, im Wohnzimmer stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften auf dem Boden. Auf dem Esstisch stand eine Flasche Whisky.

Im Schlafzimmer fanden sie Dr. Winterstein, der in seinem Bett lag und friedlich zu schlafen schien. Die Kommissare traten näher und betrachteten den Biologen. Seine Augen sahen zur Decke, der Mund war geöffnet, die Gesichtszüge erschlafft. Bohlan versuchte, den Puls zu ertasten, doch er wusste, dass es sinnlos war.

 

Ein paar Straßenzüge weiter südlich zog Michael einen Koffer vom Schrank eines kleinen Hotelzimmers mit Ausblick auf die Skyline. Er stellte ihn auf die unbenutzte Seite des Doppelbetts und begann, die wenigen Klamotten darin zu verstauen. Jeans, T-Shirt und Jacke hängte er über den Stuhl, der an einem kleinen Tisch stand. Das waren die Sachen für den Abend und nächsten Morgen. Michael war ein ordentlicher Mensch, der immer gut vorbereitet sein wollte. Deshalb plante er den nächsten Tag. Nachdem er fertig war, ging er ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Während das heiße Wasser auf seinen muskulösen Körper plätscherte, kehrten seine Gedanken an den gestrigen Abend zurück. Er hatte seinen Job erledigt, gewissenhaft wie immer. Seine Auftraggeber hatten einen friedlichen, natürlichen Tod gewünscht. Kein Blut, keine Sauerei. Möglichst unauffällig. Das waren die Worte gewesen. Natürlich hatte er sich an die Anweisungen gehalten, obwohl es weitaus angenehmer war, jemanden aus der Ferne zu erschießen, als von Angesicht zu Angesicht zu warten, bis sein Herz aufhört zu schlagen. Diese Nähe zu einem Sterbenden war unerträglich, beinahe eine intime Angelegenheit. Aber Job war Job. So war das nun einmal. Ein Konditor muss auch die Torten backen, die bestellt werden, und nicht die, die er gerne isst.

Michael stellte das Wasser aus und griff das Handtuch. Es roch nach Weichspüler und fühlte sich flauschig an, als es über seine Haut rieb. Er verließ die Duschkabine und stellte sich vor den Spiegel. Sein Gesicht sah müde aus, die Schatten unter den Augen schienen größer als gewöhnlich. Zeit für eine Auszeit. Zeit, den ganzen Irrsinn zu vergessen.

Bald würde er in den Flieger steigen und erst mal seinen wohlverdienten Urlaub genießen. Sonne, Strand, Karibik. Und Nächte voller Sex und Leidenschaft. Geld hatte er für die nächsten Monate genug. Morde waren lukrativ.

Aber bevor er das Weite suchen konnte, waren noch zwei Rituale zu erledigen. Eines davon war ein wenig schmerzhaft. Das andere die Belohnung danach.

 

Tom Bohlan saß seit fast einer Stunde im Wirtshaus am Hühnermarkt. Vor ihm stand ein klassischer Vierer-Bembel, umrahmt von ein paar Gerippten und einer Flasche Wasser. Der Ebbelwoi stieg dem Kommissar bereits in den Kopf. Er musste es auf jeden Fall bei dem einen Vierer-Bembel belassen, immerhin war er mit dem Auto hier. Er warf einen Blick auf seine Uhr. Fast fünf.

Nachdem sie Wintersteins Leiche gefunden hatten, hatte ihn Julia Will nach unten geschickt. Im ersten Moment hatte Bohlan gemurrt, doch seine Kollegin war hartnäckig geblieben und hatte darauf bestanden, sich alleine um alles zu kümmern. In Wintersteins Wohnung lief sowieso das übliche Muster ab. Rechtsmedizin und Spurensicherung trafen ein und versuchten, erste Rückschlüsse zu ziehen.

Will wollte sich nur ein wenig im Haus umhören und dann zu ihm kommen. Das Umhören dauerte nun schon eine halbe Ewigkeit. Gerade, als der Kommissar aufstehen wollte, um im »Paradies« einmal nach dem Rechten zu sehen, betrat Julia Will den Gastraum und marschierte zielstrebig zu seinem Tisch. Bohlan lehnte sich lässig zurück und versuchte, den Entspannten zu mimen.

»Ist da noch was drin?«, fragte Will mit Blick auf den Bembel und ließ sich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen.

»Schau nach!«, retournierte Bohlan. »Ne Pfütze wirds noch sein.«

Ohne in den Bembel zu schauen, griff Will nach einem unbenutzten Glas, das auf dem Tisch stand, und drehte es um. Sie kippte die Ebbelwoi-Reste hinein, die das Glas zur Hälfte füllten, und gab danach Wasser hinzu. Nachdem sie einen großen Schluck getrunken hatte, begann sie mit ihrem Bericht.

»Winterstein ist genauso wie die anderen Bewohner direkt nach der Fertigstellung eingezogen. Er arbeitet als Biologe bei einer Firma am Riedberg, in unmittelbarer Nähe zur Uni. Sie heißt Global Knowledge. Die anderen Bewohner beschreiben Winterstein als ruhigen, zuvorkommenden Mann. Er hat sich abends oft mit Freunden getroffen. Bekam auch ab und an Besuch. Nichts Auffälliges also.«

»Familie?«, knurrte Bohlan.

»Er war ledig. Es gibt aber eine Schwester. Frau Michels will uns die Adresse heraussuchen.«

»Hat Dr. Spichal schon irgendwas verlauten lassen?«, hakte Bohlan nach. Die Angaben des Rechtsmediziners waren für ihn immer der erste Ansatzpunkt bei Ermittlungen.

»Nicht wirklich. Spuren, die auf eine Gewaltanwendung hindeuten könnten, sind jedenfalls nicht sichtbar. Wenn es kein Herzinfarkt war, könnte es Gift gewesen sein. Aber um das herauszubekommen, muss er Wintersteins Leiche eingehend untersuchen. Und das kann dauern.«

»Also falscher Alarm?«, knurrte Bohlan.

»Vielleicht. Ich frage mich aber, warum jemand anonym bei uns anruft, wenn’s ein Herzinfarkt war?«

»Das ist eine berechtigte Frage. Vielleicht ist jemand in die Wohnung eingedrungen und hat einen Schreck bekommen, als er den Toten fand. Mit der Meldung wollte er seine staatsbürgerlichen Pflichten erfüllen.«

»Möglich«, murmelte Will und klang dabei wenig überzeugt. »Wir müssen aber wohl abwarten, was Dr. Spichals Analysen ergeben.«

 

2.

 

Hannah Wollenberg schreckte zusammen. War da nicht eben ein Geräusch gewesen? Kurz lauschte sie in die Dunkelheit, drehte sich dann benommen von der linken auf die rechte Körperseite und war drauf und dran, wieder in ihren traumlosen Schlaf zu versinken. Nur für ein paar Sekunden. Dann bahnte sich das schrille Klingeln ihres Handys erneut durch das Dunkel der Nacht. Erbarmungslos. Suchend streckte Hannah den Arm aus und tastete über die Matratze hin zum Nachttisch. Klack. Der Lichtschein der Nachttischlampe tauchte den Raum in ein emotionsloses Weiß. Außer einem Doppelbett, zwei Nachttischen und einem Stuhl war er leer. An der Wand ihr gegenüber hing ein Gemälde, das einen Leuchtturm zeigte, der von tosenden Wellen umspült wurde. Rechts befand sich ein großes Fenster, durch das man einen wunderbaren Blick auf den Nachthimmel hatte. Er war wolkenlos. Die Sterne leuchteten auf sie herab.

»Wo bist du?« Ihr blieb keine Zeit, der Frage weiter nachzugehen, da das Handy weiter klingelte. Hannah robbte über die Matratze und tastete auf dem Fußboden nach ihrer Jeans, aus deren Hosentasche sie das Handy zog. Der Anrufer war anonym. Eigentlich ein Grund, das Telefonat nicht anzunehmen. Doch die meisten ihrer Informanten riefen mit unterdrückter Nummer an.

»Ja, bitte!?«, hörte sie ihre Stimme aus der Ferne fragen.

»Habe ich Sie etwa geweckt? Ich hoffe nicht!«, sagte eine männliche Stimme, die ihr völlig unbekannt war.

»Es ist mitten in der Nacht!«

»Halb eins, um genau zu sein.«

»Ist das eine Zeit, bei der Sie gewöhnlich Leute anrufen?«

»Nein«, räumte die Stimme kleinlaut ein. Sie klang tief und kratzig und nach altem Mann. »Andererseits sind Sie Journalistin.«

»Ist das ein Freifahrschein für nächtliche Anrufe?«

»Ich würde Sie nicht anrufen, wenn es nicht wichtig wäre. Können wir uns treffen? Ich brauche Ihre Hilfe. Möglicherweise springt sogar eine gute Story für Sie dabei heraus.«

Hannah stand vor dem Fenster, starrte durch die Doppelglasscheibe in die Nacht. Beim Anblick der wogenden Wellen viele Meter unter ihr kehrte die Orientierung zurück. Sie hatte in den vergangenen Monaten eindeutig zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen. Ihre Batterien waren genauso leer wie der Tank des VW-Diesels, der sie gestern quer durch Frankreich gefahren hatte. Als sie am Abend in dem kleinen Ort in der westlichen Bretagne angekommen war, hatte sie nur noch den Koffer im Hausflur abgestellt und sich anschließend erschöpft auf die Matratze fallen lassen. Sie musste sofort in einen Tiefschlaf versunken sein, trug sie doch immer noch die Klamotten des gestrigen Tages. Nur der Jeans hatte sie sich entledigt.

»Sind Sie noch dran?«, fragte die Stimme verunsichert aus dem Handy.

»Ja. Hören Sie. Ich bin gestern in der Bretagne angekommen. Das mit einem Treffen müssen wir verschieben. Zumal ich überhaupt nicht weiß, wer Sie sind und um was es geht. Abgesehen davon, dass ich Urlaub habe.«

»Wo genau in der Bretagne sind Sie?«

»An der Küste. Ein paar Kilometer von Quimper entfernt«, sagte Hannah und ärgerte sich kurz darauf über ihre Auskunftsfreudigkeit. Was ging den Typ ihr Urlaubsort an.

»Dann ist Brest der nächste Flughafen. Ich könnte versuchen, im Laufe des Tages eine Maschine zu bekommen.«

Hannah war in das ans Schlafzimmer angrenzende Bad geschlurft und warf beim Telefonieren einen Blick in den Spiegel. Ihr langes schwarzes Haar hing zerzaust um das blasse Gesicht. Zwei grüne Augen starrten katzenhaft aus dem Spiegel.

»Hören Sie. Es ist gleich ein Uhr in der Nacht. Für wen halten Sie sich eigentlich?«

Der Mann räusperte sich verlegen. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist David Blum.«

»David Blum?!«, echote Hannah. »Der David Blum?«

Sie hatte die Romane des Autors regelrecht verschlungen. Besonders die Thriller-Reihe um einen Psychologen, der Verbrechen aufklärte und dabei quer durch die Welt geschickt wird.

»Ich kenne keinen anderen«, sagte die Stimme am Telefon mit gespielter Langeweile.

»Und was wollen Sie von mir?«

»Das ist keine Sache fürs Telefon. Ich könnte Sie besuchen und alles Weitere bei einem gemeinsamen Abendessen besprechen. Ich hatte schon lange keine frischen Austern mehr. Die sollen in der Bretagne besonders lecker sein. Was halten Sie von meinem Vorschlag?«

Hannah war mittlerweile aus dem Bad in den Flur gelaufen, wo sie beinahe über den dort abgestellten Koffer gestolpert wäre. Nun stand sie in der Küche und hielt nach einer Kaffeemaschine Ausschau.

»Okay, warum nicht«, sagte sie so beiläufig wie möglich.

»Ich lade Sie natürlich ein, das ist klar«, setzte Blum nach. »Sie können schon mal den Tisch klarmachen.«

Hannah wusste genau, dass sie aus der Nummer nicht mehr herauskam. Nicht, weil sie süchtig nach einer neuen Story war. Aber wann bekam man schon mal die Gelegenheit, mit einem Bestsellerautor Austern zu schlürfen. Noch dazu mit einem, dessen Bücher ihr so manche Nacht geraubt hatten.

»In Ordnung«, sagte Hannah. »Sie können sich melden, wenn Sie wissen, ob Sie einen Flug bekommen haben.«

»Das ist ein prima Vorschlag. So machen wir das. Dann wünsche ich Ihnen noch eine geruhsame Nacht.«

Hannah stand noch eine Zeit lang konsterniert vor dem Gasherd, bevor sie das Handy auf der Arbeitsplatte ablegte und nach dem Kaffeekocher griff, den sie im Wandregal erspäht hatte. War das eben wirklich David Blum gewesen? Oder hatte sie das alles nur geträumt? Gegen Letzteres sprach in jedem Fall, dass sie nun hellwach in der Küche stand. Und das fühlte sich verdammt real an. An Schlaf war jedenfalls vorerst nicht mehr zu denken. Sie schraubte den Kaffeekocher auseinander, füllte ihn mit Wasser und Kaffeepulver. Nach einigen Versuchen gelang es ihr, den Gasherd zu entflammen.

Die Wartezeit verbrachte sie damit, durch das Haus zu streifen. Bislang hatte sie nur das Erdgeschoss wahrgenommen, das neben dem Schlafzimmer ein gemütliches Wohnzimmer sowie ein Esszimmer aufwies. Alles in Weiß gehalten und mit gemütlichen Möbeln eingerichtet. Im oberen Stockwerk fand sie drei weitere Schlafräume, beschloss aber, diese nicht zu nutzen. Wozu auch? Das Haus war gigantisch und für eine Großfamilie dimensioniert. Sie hatte es für einen Appel und ein Ei von ihrem Chef, Klaus-Maria Kimpel, angemietet. Der Chefredakteur der Frankfurter Zeitung hatte das Haus geerbt und verbrachte hier regelmäßig seine Urlaube. Vielleicht hätte sie ein paar Freunde zum gemeinsamen Urlaub einladen sollen. Andererseits sehnte sie sich nach Ruhe und Abgeschiedenheit. Die letzten Monate waren verdammt stressig und voller Arbeit gewesen. Nachdem sie vor einem Jahr in der Lokalredaktion der Frankfurter Zeitung angefangen und die Tage zunächst damit verbracht hatte, sich mit Lokalpolitikern und Kleintierzuchtvereinen zu langweilen, waren ihr Informationen über dubiose Machenschaften im Profifußball zugespielt worden. Innerhalb kürzester Zeit war sie in eine gefährliche Actionspirale geraten, die jedem Vergleich mit einem Hollywoodstreifen standgehalten hätte. Mordermittlungen inklusive. Am Ende war sie in das internationale Journalisten-Netzwerk aufgenommen worden, und die lange Version ihrer Reportage war sogar als Taschenbuch erschienen. Für eine Newcomerin kein schlechtes erstes Jahr.

Zurück in der Küche goss sie den Kaffee in eine Tasse und setzte sich an das große, geklaffte Wohnzimmerfenster, das in einer kleinen Ausbuchtung lag und freien Blick aufs Meer gewährte. Der Kaffee dampfte aus der Tasse zwischen ihren Händen und von draußen rauschten die Wellen.

Hannahs Gedanken kehrten zu David Blum zurück. Woher hatte er ihren Namen und ihre Telefonnummer und was konnte er von ihr wollen? Sie würde sich wohl noch etwas gedulden müssen.

 

Michael saß mit nacktem Oberkörper in einem schwarzen, etwas abgewetzten Ledersessel. Die Fenster des Raums waren abgedunkelt. Kaltes Neonlicht strahlte von der Decke herab und wollte so gar nicht zum ansonsten heimelig wirkenden Ambiente passen. Vor ihm stand Fred mit einer Flasche Alkohol in der Hand und lächelte freundlich, als wolle er ein Motorrad verkaufen.

»Es bleibt also dabei?«

»Ja!«, erwiderte Michael. »Wie gestern besprochen. Rechter Oberarm.«

»Sie sind der Chef«, sagte Fred, während er den Alkohol auf einen Lappen träufelte und anschließend über die gewünschte Stelle wischte. Danach legte er Fläschchen und Lappen zur Seite und griff einen Einweg-Rasierer. Aus den Boxen dröhnte Rapmusik. Fred bewegte sich langsam und konzentriert. Jeder Handgriff wirkte wie einstudiert. Beinahe zärtlich glitten die Klingen über Michaels Haut. Prüfend betrachtete Fred Michaels Oberarm und legte zufrieden den Rasierer zur Seite. Er griff das dünne Papier, das die Vorlage enthielt, und legte sie behutsam auf Michaels Oberarm.

»Passt es so?«

Michael nickte.

Fred drehte sich geschäftig um, griff nach einer kleinen Plastiktüte, die die sterilen Nadeln enthielt. Mit routinierten Bewegungen steckte er sie auf die Tätowiermaschine. Anschließend füllte er schwarze Tinte in die kleinen Tanks. Nachdem er all diese Vorbereitungen erledigt hatte, verharrte er für einen Moment und schloss die Augen, um andachtsvoll der Musik zu lauschen. In all seinem Tun erinnerte er Michael an sich selbst, wenn er in einem Hinterhalt lauerte, das Gewehr in Stellung gebracht hatte und sich auf den einen, alles entscheidenden Schuss konzentrierte.

Michael wandte den Kopf ab und schloss nun selbst die Augen. Er versuchte, in seinen Körper hineinzuhören. Seine Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Abständen. Trotzdem war er angespannt. In wenigen Augenblicken würden die Nädelchen in seine Haut eindringen, zunächst, um die Outlines zu ziehen Dann würde Fred die Nadeln gegen größere tauschen und die Tattoofüllung stechen.

Es würde nicht ohne Schmerzen vonstattengehen. Dessen war sich Michael bewusst. Jeder Einstich würde ihn an seine Sünden erinnern und Bestrafung für diese sein. Das war nur allzu gerecht. Er hatte die Schmerzen verdient, genauso wie die Bestrafung.

Michael öffnete die Augen und sah Fred, wie er sich mit der Maschine in der Hand umdrehte und sich über seinen Arm beugte.

 

 

 

3.

 

Tom Bohlan lümmelte sich auf dem Sofa, das in seinem Wohnzimmer stand, und schaute durch die großen Fenster hinaus auf den Main, dessen Wasser für einen Herbsttag ungewöhnlich glatt flussabwärts floss. Es war ein trüber Tag. Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen, ohne allerdings Regen zu bringen. Es war erst früher Nachmittag, und trotzdem fühlte sich der Kommissar müde, was vielleicht daran lag, dass er den ganzen Tag über kaum eine Bewegung gemacht hatte. Das Geschirr von Frühstück und Mittagessen stand ungesäubert in der Küche. Auf den Holzdielen vor dem Sofa stapelten sich Zeitungen und Bücher. Als die Klingel schrillte, schreckte Bohlan auf und warf hektisch die Decke, die er über seine Beine gelegt hatte, zur Seite. Sein Blick ging durchs Fenster, das zum Ufer hin zeigte, und wanderte den Hang hinauf.

Julia Will stand am Tor und winkte, als sie ihn durchs Fensterglas erblickte. Bohlan hob kurz die Hand und begab sich zur Eingangstür, wo er den Türöffner betätigte.

Während Will die Stufen hinabschritt, die zum Steg führten, schob Bohlan ein paar Bierflaschen zur Seite, die er im Flur abgestellt hatte.

»Na das ist ja eine nette Überraschung!«, sagte Bohlan.

»Tom, wir waren verabredet, falls du das vergessen hast«, erwiderte Will.

Mit einem Mal fiel ihm siedend heiß ein, dass er sie zum Kaffee eingeladen hatte. Will wollte ihn über die bisherigen Ermittlungen im Fall Winterstein auf dem Laufenden halten. Und er hatte sich noch am Morgen vorgenommen, Kuchen zu besorgen. Jetzt war es dafür zu spät.

»Natürlich nicht«, schwindelte der Kommissar und ließ seine Kollegin herein. Während sie ihren Mantel auszog und an den freien Haken hinter der Tür hängte, füllte Bohlan den Espressokocher mit Wasser und Kaffee.

»Entschuldige bitte die Unordnung. Ich bin im absoluten Freizeitmodus.«

»Kein Problem«, sagte Will und ließ sich aufs Sofa fallen. »Ich habe dich schon immer um deine Wohnung beneidet. Das ist fast wie im Urlaub.«

Bohlan schob Zeitung und Bücher zusammen, bevor er im Küchenschrank nach etwas Essbarem kramte und zum Glück eine verschlossene Packung Cookies fand. Er riss sie auf, beförderte den Inhalt auf einen Teller und stellte diesen auf den Couchtisch. Zurück in der Küche füllte er den Espresso in zwei Tassen und reichte eine davon Julia Will.

»Sieht nicht gut aus!«, sagte Will.

»Was hast du gegen meinen Kaffee?«

»Nichts, Tom. Ich meinte die Ermittlungen.«

»Lass hören!« Bohlan fläzte sich mittlerweile auf dem Sessel.

»Das LKA hat die Ermittlungen an sich gezogen. Wir sind raus.«

»Das LKA?« Bohlan war überrascht. Bislang hatte sich alles um die Frage gedreht, ob Winterstein eines natürlichen Todes gestorben war oder doch etwas anderes dahintersteckte. »Was ist passiert?«

Will zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung! Gestern tauchte so ein schlaksiger Typ aus Wiesbaden auf, hielt mir den Beschluss unter die Nase und ließ sich die Akten aushändigen.«

Bohlan kniff die Augen zusammen und musterte seine Kollegin. Ihr war die Wut über die Verfügung noch immer anzusehen.

»Ich hasse diese Bürotypen und ihre herablassende Art. Halten sich für was Besseres, nur weil sie beim LKA sind«, sagte Will, als habe sie Bohlans Gedanken erraten.

»Was war die Begründung?«

»Winterstein arbeitete an irgendeinem Genprojekt. Man befürchtet internationale Verwicklungen.«

Bohlan runzelte die Stirn.

»Was hat denn Dr. Spichal analysiert?«

»Noch nicht viel. Er hat einige Proben angesetzt, um die Toxikologie abzuklären.«

»Und?«

»Bevor die Ergebnisse vorlagen, musste er alles ans LKA abgeben.«

»Hm«, stieß Bohlan nachdenklich aus.

»Da ist doch was oberfaul.« Will biss wütend in einen Cookie.

»Na ja. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist es nicht unser Problem.«

»Du willst das so stehen lassen?« Wills Augen funkelten Bohlan an, als wollten sie Giftpfeile abschießen.

»Wenn das LKA die Ermittlungen an sich zieht, sind wir raus. So ist das Spiel, oder?«

»Stimmt schon«, räumte Will ein.

»Sie werden ihre Gründe haben. Sollen sie sich damit herumschlagen. Wir haben genug zu tun.«

»Darum geht es nicht. Was mich am meisten ärgert, ist, dass sie uns völlig im Unklaren lassen. Wenn sie die Ermittlungen an sich ziehen, müssen triftige Gründe vorliegen. Und wir grübeln immer noch darüber, ob es Mord sein könnte. Ich verstehe nicht, warum sie uns nicht wenigstens sagen, um was es geht!«

»Julia, es kann tausend Gründe dafür geben.«

»Trotzdem. Es geht mir ums Prinzip.« Will nippte am Espresso und sah stoisch aufs Wasser. Bohlan beobachtete sie einen Moment. Es war unverkennbar, wie es in ihr brodelte. Und irgendwie konnte er sie auch verstehen. Will war zwanzig Jahre jünger als er und in vielem deutlich emotionaler. Als er in ihrem Alter war, wäre er vermutlich auch auf die Barrikaden gegangen. Doch die vielen Dienstjahre hatten ihn ruhiger werden lassen. Über Dinge, die man nicht ändern konnte, musste man sich nicht aufregen. Zumindest dann nicht, wenn man keine triftigen Gründe dafür hatte. Und die hatte er im Fall Winterstein, wenn es überhaupt ein Fall war, nicht. Dafür wusste er zu wenig über die Hintergründe. Wusste Will mehr? Hatte sie ihm etwas verheimlicht? Das konnte er sich nicht vorstellen. So, wie er sie kannte, wäre es längst aus ihr herausgeplatzt.

 

David Blum legte die Speisekarte zur Seite und beobachtete, wie die Bedienung die Bestellung auf einen Block kritzelte. Hannah ließ kein Auge von ihrem Gegenüber, als wolle sie kontrollieren, dass es auch wirklich David Blum war, und nicht irgendein Double. Er war alt geworden, sah nicht mehr ganz so gut aus wie auf den Buchrücken, die in ihrem Bücherregal standen. Das Gesicht war von tiefen Falten durchzogen. Die braun gebrannte Haut war ledrig, zeugte davon, dass er sich viel in der freien Natur aufhielt. Skifahren und Wandern zählten zu seinen Hobbys, das hatte Hannah im Laufe des Tages gegoogelt. Auch dass er im letzten Jahr achtundsechzig geworden war und etwas kürzertreten wollte.

»Ich freue mich, dass es geklappt hat«, sagte Blum.