Cover

Anja Hilling

Sinfonie des sonnigen Tages

FELIX BLOCH ERBEN

Verlag für Bühne, Film und Funk

Inhaltsangabe

Title Page

Verlauf, Ort, Tempo und Besetzung

Erster Satz

Präludium

1. Crescendo (vorauseilendes Licht)

2. Nacht (steigender Lärm, wachsende Angst)

3. Strom (geschlossenes Kreisen)

4. Raumverengung (Pick-up-Stimmen)

5. Abschiedsmotiv I (Lou)

6. Abschiedsmotiv II (Ricarda)

7. Abschiedsmotiv III (Ralf)

8. Konstruktion (Steigerung der Nacht)

9. Ewigkeit I (Pick-up-Stimmen)

10. „human rubbish“ (Nachklappernde Bässe)

11. Sehnsucht I (Pick-up-Dialog mit einem Pulli)

12. Sehnsucht II (Lisa, Dialog der Würmer)

13. Meer (Steigerung des Tempos)

14. Übergang (Stimmen der Erde)

15. Ewigkeit II (Yamaha)

Coda (Stimme des toten Vogels)

Zweiter Satz

Präludium

1. Bootleben (Tote erheben sich)

2. Strandleben (Postkarten)

3. Hymne der Masse

4. Bootleben (die Schule der Atmung)

5. Strandleben (Trommeln)

6. Bootleben (Flut des Wünschens)

7. Strandleben (Ananas)

8. Bootleben (alle Zeit)

9. Strandleben (Massage)

10. Bootleben (Trauer, Anruf I)

11. Strandleben (Trauer, Anruf II)

12. Bootleben (Countdown der Freiheit)

da Capo al Coda (hinter den Augen)

Coda (Offenes Meer)

Dritter Satz

Diesen Kuss

1. dem Hunger

2. der Kultur

3. der Nacht

4. Den Tieren

5. Dem Wind

6. Der Angst

7. Den Wellen

8. Den Farben

9. Der Explosion

10. Des Abfalls

11. Vom Unendlichen

12. Widerstand

13. Gegen das Unbekannte

14. In der Tiefe

15. Aller Spuren

Vierter Satz

1.

2.

3. (Abwärtsrausch)

4.

5. (Deadline)

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12. (Terzett)

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20. (Revolution)

21.

22.

23. (Licht)

24.

Über die Autorin

Über das Stück

Impressum

„Diesen Kuss der ganzen Welt!“

Friedrich Schiller: Ode an die Freude

VERLAUF

Das Stück folgt den vier Sätzen einer Sinfonie, die klassischerweise das Leben in einem einzigen Tag durch die Nacht ins Licht führt. Obwohl oder weil es nie Zweifel gab, dass diese Geschichte, wie jede andere, im taumelnden Jubel endet, wird das Motiv des Lichts in der Durchführung des Tages als permanent auftauchender Widerstand empfunden, und der Mensch wird sich gegen das Ende verteidigen, gleich einer Wimper, die sich eher an die Wurzeln im Gesicht klammert als sich dem Sturm anzuvertrauen.

ORT

Die Handlung ist ans Meer verlegt, jene Fläche zwischen zwei Kontinenten, auf der zwei Welten sich treffen. Auf dieser Seite der Welt kämpft ein Paar im Urlaub sich durch den Rest ihrer Liebe. Von der anderen Seite kommend, versucht eine Frau den Rest ihrer Organe übers Meer zu bringen. Die Motive bewegen sich aufeinander zu.

TEMPO

Zwei gegenläufige Themen bestimmen den Rhythmus: die Flucht und der Stillstand. Die Sätze gehen das sich selbst überschwemmende Tempo des Lebens, das aus dem Nichts entsteht, sich aufschwingt im ersten Satz, schneller entgleitet im zweiten, fast zur Ruhe kommt unter den Mächten der Natur im dritten, und dann, viertens, in die Auflösung rast.

BESETZUNG

Drei Figuren nähern sich jener Grenze, an der ihre Identität in die weiße Gischt des Tages schwappt. Ihr Trip wird begleitet von zwei Fagotten, einem Kontrafagott, einer Pikkoloflöte, zwei Flöten, zwei Oboen, zwei Klarinetten, vier Hörnern, zwei Trompeten, drei Posaunen, Pauken, Trommeln, Becken, Triangeln, Streichern, einem Computer und einem Chor. Menschen und Worte werden durch Musik ersetzt, früher oder später.

Die Aufführung dauert so lang wie sie braucht, es gibt keine Pause. Wer danach noch bleiben möchte, der soll es tun.

Erster Satz

AUS DER VERDUNKELUNG

(Allegro ma non troppo, un poco maestoso)

schnell, aber nicht wirklich, im Ganzen ein wenig majestätisch

2:20 AM – 9:30 AM

Drei Menschen.

Zwei auf dieser Seite. Einer dort.

Dazwischen das Meer

Mischt sich mit dunklem Rauschen

In ihre Gedankenmelodie.

Nutzt unsichtbar seine mächtige Stimme

Um beide Seiten zu sich zu ziehen.

Präludium

Eine Frau auf einer rotschwarzen Yamaha. Ihr Körper wurde mit Algen an den Körper der Maschine gebunden, ihr Haar mit Müll und Muscheln geschmückt. Ihr rechtes Auge ist verschlossen und das linke durch einen Hyazinth ersetzt. Ihr Alter ist nicht zu schätzen. Über der linken Gesichtshälfte versteinert ein Ausschlag, an der rechten Hand geht eine Tätowierung über ins Marmor der Haut. Die Versteinerung nimmt ihren Lauf.

Lou

Es freut mich freut mich sehr.
Ich denk wir könnten zusammenkommen, ich hab zwei Jahre studiert. Auf Lehramt. Abgebrochen, aufgrund politischer Entwicklungen. Umgeschult. Sechs Jahre Berufserfahrung. Gesammelt im wahrsten Sinn, in unmittelbarer Nähe zum Verbraucher. Haptisch. Olfaktorisch. Ohne Neid. Staatlich geprüfte Müllsammlerin. Ausgezeichnet mit dem goldenen Sack. Nie zu voll, offen für alles. Plastik, Plastik, Plastik, Flaschen, Kanister, Folien. Offen für die Vergessenen, Äpfel, Minen, Kinder, Gefühle. Ich bleib wenn andere Feierabend machen. Für den Abfall von Bäumen, Panzern, Patronen, Beinen, Gesichtern. Wenn geschossen wird, verschließ ich meine Gänge mit Schaumstoff und mach weiter, ich bin wie ihr. Ich liebe nicht, schlafe nicht, stehle nicht. Ich will nur arbeiten. Wenn ich eine Münze finde, werd ich sie erst mit meiner eigenen Zunge reinigen, bevor ich sie melde. Meine letzte Adresse war ein ehemaliger Tiermarkt, hergekommen bin ich auf dem Seeweg. Meine Personalien entnehmen Sie meiner Haut, meine Zeugnisse dem Meer. Ich halte was ich verspreche. Ich werde in euch fahren, mein Schweiß wird euch befallen, mein Schmerz beflügeln, wir werden unzertrennlich sein, ein einziger Kontinent, die Superkomposition. Mein Name ist –

1. Crescendo (vorauseilendes Licht)

Die Komposition gibt einen kurzen Vorgeschmack, lässt die auftretenden Körper und Gedanken einmal ineinander stürzen als das was sie sind, Illusionen, weiche Substanzen in ständiger Wechselwirkung mit der ewig wütenden Materie. Gleich Instrumenten, die bewegt werden von einem Stoff, der weit über ihre Einzelwirkung hinausreicht, werden drei Menschen aufeinander geworfen, getrennt, von ihrem Wesen abgestoßen, um sich am Ende der Bewegung wiederzufinden, fast zufällig, an einem wesenlosen Ort. Die Musik wird das Ende nie vergessen.

2. Nacht (steigender Lärm, wachsende Angst)

Die Musik beginnt ihre Reise, leise, am Anfang des Tages, mitten in der Nacht, in der Dunkelheit, die wie stürzende Steine im Meer fremde Klänge heimatlos ins Unbewusste integriert.

Ricarda.

Was ist das für n Lärm.

Die Nacht wird unterbrochen von der Notbeleuchtung einer Ferienanlage, dreihundert Meter vom Strand entfernt. Die Anlage zählt dreiundzwanzig identische Bungalows. In diesem hier, mit der Nummer elf, befinden sich ein Tisch, zwei Stühle, ein Spiegel, ein Bett, ein Mann und eine Frau.

Ricarda

Ralf.

Der Mann und die Frau schlafen nackt. Aus hängengebliebener Gewohnheit. Ihre Blicke gehen in die gleiche Richtung. Er liegt hinter ihr, sein schwerer Arm auf ihrer Hüfte, sein Atem in ihrem Nacken.

Ricarda

Dreh dich um.

Er schläft. Sie nicht. Auf dem Steinboden stehen zwei Whiskygläser. Sie hat ihren ausgetrunken. Er seinen nicht. Der Lärm der Umgebung bewegt die Flüssigkeit.

Ricarda

Bitte.

Zwei Hütten weiter wird sich geliebt, direkt nebenan läuft ein Film in fremder Sprache, und der Ozean, unterbrochen von den Bässen der letzten Strandbars, dröhnt ins Rattern der Gedanken.

Ricarda

Dreh dich um.

Über ihnen schwirrt ein Ventilator. Unter ihnen rasen die Wanzen durch den Schaumstoff der letzten zwanzig Jahre.

Ricarda

Bitte Ralf.

Sie greift nach seinem Whiskyglas. Will das Glas umkippen. Seins in ihrs. Lässt es sein. Es wär immer noch zu viel. Von ihm in ihrem Glas.

Ricarda

Bitte. Dreh. Dich. Um.

Sein Atem schlägt in ihren Nacken. Laut. weich. Feucht. Mit der linken Hand knallt sie einen Moskito an die hellhörige Wand.

Ralf

Wie lieb von dir.

Ricarda

Du musst dich umdrehen.

Ralf

Warum.

Ricarda

Dein Atem kriegt hier so was Säuerliches.

Ralf

Rassist.

Er dreht sich um. Die Luft des Ventilators schlägt schnell und hart auf den Kreis seines Haarausfalls.

Ricarda

Warum schläfst du so viel.

Ralf

Ich hab was Verrücktes geträumt Ric.

Ricarda

Das hab ich nicht gefragt.

Ihr Blick rast in einen Mückenstich in seinem Nacken. Mit den Augen öffnet sie den Stich, rutscht durch das Gift in die Leere seiner Gänge.

Ralf

Ich hab geträumt.

Jemand reißt mir den Magen auf.

Von unten mit einem Taschenmesser.