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Alex Marzano-Lesnevich

 

 

Verbrechen und Wahrheit

 

Ein autobiografischer Kriminalroman

 

 

Aus dem amerikanischen Englisch

von Sigrun Arenz

 

 

 

 

ars vivendi

 

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel

The Fact of a Body. A Murder and a Memoir bei Flatiron Books.

 

Copyright © 2017 by Alexandria Marzano-Lesnevich

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe (1. Auflage November 2020)

© 2020 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Bauhof 1,

90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-7472-0191-6

 

Für meine Eltern

 

Inhalt

Ein Hinweis zu den Quellen

Rechtlicher Hinweis

Prolog

Erster Teil: Das Verbrechen

Zweiter Teil: Die Konsequenzen

Dritter Teil: Der Prozess

Dank

 

Ein Hinweis zu den Quellen

Ich habe Ricky Langleys Leben mithilfe öffentlicher Gerichtsakten, Transkripte, Zeitungsartikel und Fernsehbeiträge und in einem Fall unter Verwendung eines Theaterstücks, das auf Interviews basierte, rekonstruiert. In diesem vielfältigen Quellenmaterial bin ich auf widersprüchliche Aussagen gestoßen, sodass ich mich oft für eine davon entscheiden musste, um eine zusammenhängende Erzählung zu ermöglichen. Noch häufiger habe ich mich dazu entschlossen, die unterschiedlichen Versionen, Behauptungen, Versprecher und Auslassungen gleichberechtigt aufzunehmen, um die Widersprüche und Leerstellen zu veranschaulichen. Zusätzliche detaillierte Informationen zu den Quellen finden Sie im Anhang dieses Buches.

Jedem Ereignis, von dem ich hier berichte, liegen Aussagen mindestens einer Person zu seinem Ablauf zugrunde – oder es handelt sich um eine Begebenheit, die ich aus verschiedenen Beschreibungen kompiliert habe (siehe auch hierzu den Anhang zu den Quellen). Wo immer ich mit Transkripten gearbeitet habe, habe ich die Dialoge im Interesse der Klarheit und des Erzähltempos gestrafft und redigiert. Ein bedeutender Teil der Vorfälle, über die ich hier schreibe, hat sich in der Öffentlichkeit und begleitet von großem Medienrummel zugetragen, aber ich habe dennoch einige Namen abgeändert. Die beiden Rechercheexkursionen, die das Rückgrat des dritten Teils bilden, bestanden in Wirklichkeit aus vielen Trips im Verlauf mehrerer Jahre. Ich habe sie hier komprimiert; die beschriebenen Ereignisse haben aber alle genau so stattgefunden.

Wenn ich auch keine Tatsachen geändert oder dazuerfunden, sondern mich vielmehr auf die Dokumente gestützt habe, die zur Hauptquelle dieses Buches wurden, habe ich doch gelegentlich meine Vorstellungskraft genutzt, um die nüchternen Fakten der Vergangenheit zum Leben zu erwecken. Wo das der Fall ist, habe ich es im Quellenanhang gekennzeichnet. Auf jeden Fall enthält die Darstellung meine Interpretation der Fakten, meine individuelle Lesart, und ist mein persönlicher Versuch, diese Geschichte aus den Einzelteilen zusammenzusetzen.

Insofern ist es einerseits ein Buch über das, was tatsächlich passiert ist, andererseits aber auch darüber, wie wir mit dem umgehen, was geschehen ist. Es geht um einen Mord, es geht um meine Familie, es geht um die anderen Familien, deren Leben von diesem Mord berührt wurden. Vor allem aber geht es darum, wie wir unser Leben, unsere Vergangenheit und einander deuten und verstehen. Zu diesem Zweck erfinden wir alle unsere Geschichten.

 

Rechtlicher Hinweis

Dieses Werk ist nicht vom Louisiana Capital Assistance Center – einer Kanzlei, die Menschen vertritt, die wegen eines Kapitalverbrechens angeklagt sind – autorisiert oder genehmigt worden, und auch nicht von den Klienten dieser Organisation. Die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten geben einzig und allein die Meinung und Haltung der Autorin wieder. Die Beschreibungen der einzelnen Parteien vor Gericht und die Umstände und Ereignisse der dort verhandelten Verbrechen entstammen ausschließlich den Gerichtsakten, anderen öffentlich zugänglichen Informationen und den Recherchen der Autorin.

 

Prolog

»Es kann immer vorkommen, dass die Lösung

eines Rätsels ein weiteres auflöst.«

Truman Capote, Kaltblütig

 

»Wissen Sie, er war einfach nur unser Ricky.«

Darlene Langley, Schwester von Ricky Langley

 

Es gibt in der Rechtsprechung das Prinzip der unmittelbaren Ursache, das Jurastudenten im ersten Semester anhand des Falls Palsgraf gegen die Eisenbahngesellschaft von Long Island vermittelt wird. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Es ist das Jahr 1924, und Helen Palsgraf macht mit ihren zwei kleinen Töchtern einen Nachmittagsausflug an die Bucht von Rockaway. Es ist ein sehr heißer Tag, und das Reihenhaus in Ziegelbauweise, in dem die Mädchen, ihr älterer Bruder und die Eltern leben, ist stickig. Jetzt, da die Ferien angefangen haben und es nichts zu tun gibt, jammern die Mädchen schon seit Tagen, und Helen hat beschlossen, mit ihnen an den Strand zu fahren. Vielleicht hat sie ein Baumwollkleid über ihren Badeanzug gezogen und zum Schutz vor der Sonne einen Strohhut mit breiter Krempe aufgesetzt. Nun lehnt sie sich an ein Geländer am Bahnsteig und fächelt sich mit dem Hut Luft zu. Ein, zwei Meter entfernt spielen die Mädchen mit einer Puppe, die eine von ihnen mitgenommen hat. Helen beobachtet sie träge.

Am anderen Ende des Bahnsteigs, zehn Meter entfernt, rennt ein junger Mann auf den Zug zu, der gleich abfährt, ein Express zur Jamaica Station in Queens. Vielleicht hat er vor, dort seine Freunde zu treffen, um eine feuchtfröhliche Nacht zu verbringen. Sie werden Bier trinken; sie werden einer Band lauschen; sie werden mit hübschen Mädchen tanzen. Vielleicht wird er sogar das Mädchen küssen, von dem sein Cousin ihm erzählt hat, eine Schönheit aus Connecticut. Er ist mit zwei anderen jungen Männern unterwegs, und sie alle rennen zum Zug, aber der Mann, um den es uns hier geht, trägt ein längliches Päckchen unter dem Arm, etwa vierzig Zentimeter lang und eingewickelt in Zeitungspapier.

Der Zug ist schon angefahren, die großen metallenen Räder drehen sich schneller und schneller, aber der Mann will seinen großen Abend nicht verpassen und hetzt hinterher. Wird er es schaffen?

Der Zug schwenkt aus. Zwischen ihm und dem Bahnsteig ist jetzt eine Lücke.

Der Mann springt.

Im Zug lehnt sich ein Schaffner nach vorn, packt ihn am Arm und zieht ihn hinein. Vom Bahnsteig aus gibt ein Bahnbeamter ihm einen Schubs. Der Mann landet sicher im Inneren des Zuges.

Aber das Päckchen fällt ihm aus der Hand – und als es auf dem Boden auftrifft, explodiert es. In dem Zeitungspapier befanden sich Feuerwerkskörper.

Am nächsten Morgen berichten die Zeitungen von Dutzenden Verletzten. Das Haar eines Teenagers fing Feuer. Eine Mutter und ihre Tochter erlitten Schnittwunden an Armen und Beinen. Und am anderen Ende des Bahnsteigs geriet eine große Gepäckwaage ins Wanken. Die Frau, die darunter stand, einen breiten Strohhut in der Hand, schrie auf. Die Waage kippte um.

Als Mrs. Palsgraf sich von diesem Tag erholt hat, verklagt sie die Bahngesellschaft.

Was hat ihre Verletzungen verursacht? Beginnen wir mit der Waage, die umkippte. Hierbei handelt es sich um das, was das Recht »unmittelbare Ursache« nennt. Wäre die Waage nicht umgekippt, wäre Mrs. Palsgraf nicht verletzt worden.

Aber das Problem daran ist: Eine Waage fällt nicht einfach so um. Es war die Explosion, die dafür verantwortlich war.

Und Explosionen ereignen sich auch nicht einfach so. Diese wurde durch die Feuerwerkskörper des jungen Mannes verursacht.

Aber Feuerwerkskörper entzünden sich nicht ohne Grund. Der Bahnangestellte muss schuld sein, weil der Schubs, den er dem jungen Mann gab, dazu führte, dass er das Päckchen mit dem Feuerwerk fallen ließ. Somit muss die Bahngesellschaft, die ihn beschäftigt, für Mrs. Palsgrafs Verletzungen verantwortlich sein.

All diese denkbaren Ursachen sind tatsächliche Ursachen. Die Mutmaßungen über all diese möglichen Ursachen ließen sich endlos weiterspinnen. Die Idee, dass es eine unmittelbare Ursache gibt, löst das Problem. Die Aufgabe der Gerichte ist es nun, herauszufinden, wo der Ursprung der Ereignisse liegt, um jemanden zur Verantwortung ziehen zu können. Und so ist es die »unmittelbare Ursache«, die laut Gesetz tatsächlich eine Rolle spielt.

Die eine Ursache, die eine Geschichte zu dem macht, was sie ist.

 

In meiner Erinnerung gibt es einen dunklen Raum, dessen Tür weit geöffnet ist, wie der Schlund einer Höhle. In der Mitte glänzen metallene Stäbe. An den Wänden recken sich Reihe um Reihe ledergebundener Bücher bis zur Decke, ihre Buchrücken eine Variation gedeckter Farben: das Blau einer alten Fahne, das Grün des Meeres, das Rot von getrocknetem Blut. Es handelt sich um Rechtsregister, die Art von Büchern, die man in der Bibliothek jeder Anwaltskanzlei des Landes finden kann. Jahrzehntealte Gerichtsentscheidungen sind darin verzeichnet. Jedes dieser Bücher enthält unzählige Geschichten, unzählige Leben – wer hat was getan, und wer musste den Preis dafür zahlen?

In diesem Raum halte ich mich im Juni des Jahres 2003 im Alter von fünfundzwanzig Jahren auf. Stellen Sie sich vor, wie ich vergangene Woche meine Tage in einer Bibliothek verbracht habe, über einen Schreibtisch gebeugt, der nach altem Holz roch, und mich durch sechsstündige Examensarbeiten gequält habe, um das erste Jahr meines Jurastudiums in Harvard zu bestehen. Gestern bin ich dann in ein Flugzeug gestiegen, das mich südwärts nach New Orleans trug, und trat hinaus in eine Luft, die mich wie eine heiße, feuchte Ohrfeige traf. Ich bin in den Süden gekommen, um hier gegen die Todesstrafe zu kämpfen, indem ich ein Praktikum bei einer Kanzlei mache, die Menschen vertritt, die des Mordes angeklagt sind. Ich bin stolz darauf, dass ich diese Arbeit hier tun werde, aber zugleich macht sie mir auch Angst. All mein Wissen über Recht und Gesetz stammt aus Büchern und aus den Geschichten über Klienten, die mir meine Eltern, beide Anwälte, in meiner Jugend erzählt haben. Diese handelten von Sorgerechtsstreitigkeiten, ärztlichen Kunstfehlern oder Haftungsfragen nach einem Sturz, und in einer ging es tatsächlich um einen Mord, aber niemals um einen Fall, bei dem die Todesstrafe im Raum gestanden hätte. Diese Geschichten enthielten nichts von dem, wie ich mir New Orleans ausmale, das in diesem Sommer von einer Verbrechenswelle erschüttert wird. Gestern in den Abendnachrichten spannte sich gelbes Absperrband straff über eine verschlossene Tür. Heute Morgen sprangen mich aus den Zeitungskästen auf der Baronne Street die schwarzen Schlagzeilen an, die »Mord« schrien. Auf den Regalbrettern der Bibliothek, unter den Gerichtsakten, liegen kopierte Ringbücher, laminiert und mit Plastikspiralen gebunden. Es sind Leitfäden mit detaillierten Beschreibungen, wie der Staat im Fall einer Hinrichtung verfährt. Hier in diesem Raum werden Leben verteidigt.

Ich rutsche unruhig auf meinem metallenen Klappstuhl hin und her. Der braune Anzug, den ich anhabe, ist viel zu warm für New Orleans; schon jetzt stehen Schweißperlen auf meiner Stirn. Das ist es, worauf sich meine Aufmerksamkeit in diesem Moment richtet: auf meine Kleidung, und wie unwohl ich mich darin fühle.

Eine Frau geht zielstrebig zum Kopfende des Tisches und hält für mich und die anderen Praktikanten eine Videokassette hoch. Ihre Haltung drückt Selbstbewusstsein und Souveränität aus. Sie trägt einen einfachen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, die trotz der Hitze glatt und frisch aussieht. »Das hier ist eine Aufzeichnung aus dem Jahr 1992. Das Geständnis des Mannes, dessen Wiederaufnahmeverfahren wir gerade beendet haben«, sagt sie. Ihr Akzent ist scharf und britisch, ihr Haar aufgetürmt wie das einer Brontë-Heldin. »Vor neun Jahren wurde er zum Tode verurteilt, aber diesmal haben die Geschworenen ihm das Leben geschenkt. Er hat lebenslänglich bekommen. Können Sie bitte«, sagt sie zu einem anderen Juristen im Raum, »das Licht ausmachen?«

 

Ursache und Wirkung also: diese Videoaufzeichnung. Wenn ich das Gesicht des Mannes auf dem Band nicht gesehen hätte, wenn ich ihn nicht hätte beschreiben hören, was er getan hat – er hätte für mich einfach nur ein Name bleiben können.

Ursachen: Sie zeigt mir die Aufzeichnung. Zwölf Jahre sind mittlerweile seit diesem Praktikumstag in der Kanzlei vergangen, und ich möchte all diese Jahre zurückgehen, um ihr zu sagen: »Nein, er ist nicht mein Klient, er wird niemals mein Klient sein, ich muss dieses Video nicht sehen. Das Kind, das er umgebracht hat, ist längst tot. Der Mann ist längst wegen Mordes verurteilt. Alles, was geschehen ist, ist bereits geschehen. Es gibt keinerlei Notwendigkeit für mich, diese Aufzeichnung anzuschauen.«

Oder noch weiter zurück. Ursachen: Ich hätte mich entscheiden können, nicht in dieses Anwaltsbüro hier im Süden zu kommen. Ich hätte mich entscheiden können, meine Überzeugungen niemals infrage zu stellen. Ich hätte mich entscheiden können, meine Vergangenheit ruhen zu lassen.

Was, wenn ich niemals Jura studiert hätte? Wenn ich nicht eines Nachmittags, als ich mit dreizehn krank zu Hause war, ein Buch über das Jurastudium im Bücherregal meines Vaters gefunden hätte? In genau dem Monat, in dem ich das Buch immer wieder las, in eben dem Monat, in dem ich mir meine Zukunft erträumte, klopfte ein kleiner blonder Junge in Louisiana an die Tür des Nachbarhauses. Der Mann von der Videoaufzeichnung öffnete.

Ich habe jetzt mehr als zehn Jahre mit seiner Geschichte verbracht, einer Geschichte, auf die ich, wenn die Dinge nur ein wenig anders verlaufen wären, niemals gestoßen wäre. Ich habe das Transkript seines Geständnisses öfter gelesen, als ich zählen kann, ebenso wie die Protokolle seiner anderen Geständnisse. Ich kenne seine Worte besser als Worte, die ich selbst geschrieben habe. Ich habe mich von den Protokollen aus zurückgearbeitet, habe die Orte in Louisiana besucht, an denen sich sein Leben abspielte, und auf diese Weise habe ich seine Mutter in meiner Vorstellung zum Leben erweckt, seine Schwestern, die Mutter des kleinen Jungen, all die Charaktere aus der Vergangenheit. Und ich bin die lange, einsame Straße von New Orleans zum Staatsgefängnis von Louisiana gefahren, das den Namen Angola trägt. Ich habe diesem Mann, diesem Mörder, an einem Besuchstisch gegenübergesessen und in dieselben Augen geblickt, die in diesem Video zu sehen sind.

Dieses Band hat mich dazu gebracht, alles auf den Prüfstand zu stellen, was ich je geglaubt habe – nicht nur über das Rechtswesen, sondern auch über meine Familie und meine Vergangenheit. Vielleicht hätte ich mir wünschen können, es nie gesehen zu haben. Ich hätte mir wünschen können, mein Leben wäre geblieben, wie es vorher war, in einer einfacheren Zeit.

 

Sie schiebt die Kassette in den Videorekorder und tritt einen Schritt zurück. Der Bildschirm des alten Röhrenfernsehers flimmert. Langsam wird ein sitzender Mann sichtbar. Blasse Haut, eckiges Kinn, Segelohren. Dicke, runde Brillengläser. Ein orangefarbener Jogging­anzug. Hände in Handschellen auf dem Schoß.

»Wie lautet Ihr Name?«, fragt eine tiefe Stimme aus dem Off.

»Ricky Langley«, antwortet der Mann.

 

Erster Teil: Das Verbrechen

 

1

Louisiana, 1992

 

Der Junge trägt kurze Hosen, deren Farbe an die Seen in Louisiana erinnert. Später wird der Polizeibericht die Farbe als »Blau« verzeichnen, aber in allen Beschreibungen, die sie gibt, wird seine Mutter darauf bestehen, sie »Aquamarin« oder »Blaugrün« zu nennen. Seine Füße stecken in schlammverkrusteten Wanderschuhen, wie jeder Junge in diesem Teil des Staates sie hat, ideal, um darin in den Wäldern zu spielen. Eine kleine Faust umschließt den Griff eines Luftgewehrs, das halb so groß ist wie er selbst. Es ist eine Waffe der Marke Daisy mit einem langen, braunen Plastiklauf, den der Junge poliert, bis er glänzt wie echtes Metall. Als einziges Kind einer alleinerziehenden Mutter ist Jeremy Guillory daran gewöhnt, häufig umzuziehen und in fremden Schlafzimmern zu übernachten. Die Freunde seiner Mutter leben alle in gemieteten Häusern entlang derselben Sackgasse, die der Eigentümer »Watson Road« nennt, wann immer er die Miete erhöhen will, die aber in Wirklichkeit keinen Namen hat. Selbst die Polizisten der örtlichen Polizeidirektion werden später nachfragen müssen, um den Weg dorthin zu finden. Siedler aus Iowa benannten die Siedlung einst nach ihrem Heimatstaat, aber da sie einen Neubeginn suchten, sprachen sie den Namen »Io-way« aus, obwohl sie die ursprüngliche Schreibweise beibehielten. Diese Stadt ist schon immer ein Ort gewesen, an den Leute für einen Neuanfang kommen – und zugleich ein Ort, an dem sie es nie so ganz schaffen, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hier also schlüpfen der Junge und die Mutter bei jedem unter, der in der Lage ist, die monatliche Stromrechnung zu bezahlen, und der dafür sorgt, dass das Gas im nächsten Monat nicht abgestellt wird. Wo auch immer der Junge landet, hat er sein Luftgewehr dabei. Für ihn ist es sein größter Schatz.

Es ist die erste Februarwoche. Die Blätter der Bäume sind grün und üppig, aber bei Nacht sinken die Temperaturen empfindlich. Lorilei, Jeremys Mutter, arbeitet nicht. Sie hat ein Haus nur für sie beide gemietet – ihr erstes –, aber der Strom wurde ihnen abgestellt. Ihr Bruder Richard lebt in einem weitläufigen Eigenheim oben auf dem Hügel, aber sie ist nicht bei ihm untergekommen. Stattdessen wohnen Lorilei und Jeremy zurzeit bei Lorileis Freundin Melissa, deren Partner Michael und ihrem gemeinsamen Baby. Das Kind ist zwei, alt genug, dass es mit dem Jungen spielen will und brüllt, wenn es seinen Willen nicht bekommt.

Heute schreit das Baby die ganze Zeit. Jeremy ist sechs Jahre alt und gerade aus dem gelben Bus ausgestiegen, der ihn von der Vorschule heimgebracht hat. Er schlingt seinen Nachmittagsimbiss hinunter und träumt sich weg von dem Lärm, träumt von den Wäldern und dem Spaß, den er dort haben könnte.

Am Ende der Straße steht ein heruntergekommenes weißes Haus, dahinter liegt ein Fleckchen Wald. Die Wälder hier sind dichte, feuchte Laubwälder, in denen verrottende Blätter sich mit Erde zu einem weichen Untergrund verbinden, der unter den Füßen des Jungen nachgibt. Und auch wenn dieser Wald nur sehr klein ist, so ist er mit seiner Schlucht, die einer Narbe im Erdreich gleicht und sich perfekt für Kriegsspiele oder als Versteck eignet, doch Jeremys absoluter Lieblingsspielplatz.

Jeremy bittet seine Mutter um das Luftgewehr. Sie nimmt es von dem Regal herunter, auf dem sie es vor dem Baby in Sicherheit gebracht hat, und reicht es ihm. Er läuft durch die Tür nach draußen. Zwei Kinder, die ungefähr im gleichen Alter sind, ein Junge namens Joey und ein Mädchen namens June, wohnen in dem weißen Haus am Waldrand, und obwohl Jeremy auch gern allein auf Entdeckungsreisen geht, macht es doch mehr Spaß, wenn Joey dabei ist. Er geht zur Tür und klopft an.

Ein Mann öffnet ihm. Er trägt eine Brille mit dicken Gläsern. Er hat einen kleinen Kopf und große Segelohren. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren und einem Gewicht von nur siebzig Kilo ist Ricky Joseph Langley schmächtig für einen erwachsenen Mann – aber immer noch viel größer als der Junge. Auch er ist hier in der Stadt aufgewachsen. Jetzt wohnt er zur Untermiete bei Joeys und Junes Eltern, die er kennenlernte, als er begann, bei der Tankstelle am Highway zu arbeiten, wo auch ihre Mutter Pearl beschäftigt ist. In der Theorie bezahlt er Pearl fünfzig Dollar pro Woche für das Zimmer, aber das kann er sich nie leisten und gleicht es mit Babysitterdiensten aus. Erst vor wenigen Tagen hat er auf Joey und Jeremy aufgepasst und den beiden die Seife gebracht, als sie in der Badewanne saßen.

»Ist Joey da?«, fragt Jeremy.

»Nein«, sagt Ricky. »Die sind angeln gegangen.« Das entspricht der Wahrheit. Vor gerade mal zwanzig Minuten haben Joeys Vater und der Junge die Ruder eingepackt und sind zum See hinausgefahren. Sie werden den ganzen Nachmittag fortbleiben. »Sie sind bald wieder da«, sagt Ricky. »Du kannst reinkommen und hier warten, wenn du willst.«

Jeremy spielt jede Woche in dem Haus. Er kennt Ricky. Trotzdem zögert er.

»Warum kommst du nicht rein?«, fragt Ricky noch mal. Er öffnet die Tür weiter und wendet sich ab. Jeremy tritt über die Türschwelle, lehnt vorsichtig sein Luftgewehr gegen eine Wand in der Nähe des Eingangs und steigt die Stufen zu Joeys Schlafzimmer hinauf. Er setzt sich im Schneidersitz auf den Boden und beginnt zu spielen.

Ricky folgt ihm die Treppe hinauf. Er will nur zuschauen, wie Jeremy spielt – das wird er später so sagen, er wird es schwören. Aber das Zuschauen verändert etwas in ihm, und von diesem Moment an ist es, als befände er sich in einem Traum. Er stellt sich hinter Jeremy und schlingt ihm einen Unterarm um den Hals, hebt ihn hoch. Jeremy zappelt so heftig, dass seine Schuhe ihm von den Füßen fallen. Ricky drückt zu.

Jeremy hört auf zu atmen.

Vielleicht berührt Ricky ihn jetzt; vielleicht kann er sich jetzt eingestehen, was er schon die ganze Zeit tun wollte, seitdem er Jeremy in der Badewanne gesehen hat. Vielleicht tut er es auch nicht. Trotz allem, was danach kommt, den drei Gerichtsverfahren und den drei unterschiedlichen auf Video aufgenommenen Geständnissen, den DNA-Tests, den Bluttests, den Untersuchungen der Körperflüssigkeiten, dem psychiatrischen Gutachten und all den hochheiligen Eiden, wird niemand außer Ricky jemals die ganze Wahrheit kennen.

Ricky nimmt Jeremy auf seine Arme, hält ihn, als schlafe er nur, und trägt ihn hinüber in sein Zimmer. Er legt ihn vorsichtig auf die Matratze. Er deckt Jeremy – nein, es ist nur noch ein lebloser Körper; er deckt die Leiche mit einer blauen Decke zu, auf der das Gesicht des Comicdetektivs Dick Tracy abgebildet ist. Dann setzt er sich an den Bettrand und streicht über das blonde Haar.

Unten klopft jemand an die Tür. Er geht hinunter und öffnet. Eine junge Frau steht im Eingang. Ihr Haar ist vom kindlichen Blond zu einem lichten Braun nachgedunkelt.

»Hast du meinen Sohn gesehen?« Als Lorilei diese Frage stellt, ist sie im dritten Monat schwanger.

»Wer ist Ihr Sohn?«, fragt er.

»Jeremy«, antwortet sie, und Ricky wird klar, dass er das schon wusste.

»Nein«, sagt er. »Hab ihn nicht gesehen.«

Sie seufzt. »Hm, vielleicht ist er bei meinem Bruder.«

»Vielleicht«, stimmt er zu. »Warum kommen Sie nicht rein? Sie können unser Telefon benutzen. Sie könnten Ihren Bruder anrufen.«

»Danke.« Lorilei tritt ins Haus. Rechts von ihr lehnt an der Wand ein Luftgewehr der Marke Daisy, der lange braune Lauf glänzend poliert.

Aber sie wendet sich nach links. Sie bemerkt das Gewehr nicht. Er reicht ihr das Telefon, und sie wählt die Nummer, auf der Suche nach ihrem Sohn.

 

 

Bandaufnahme von Ricky Joseph Langleys Geständnis, 1992

 

Frage: Wissen Sie, warum Sie Jeremy getötet haben?

Antwort: Nein. Ich weiß nicht. Ich meine, ich hätte nie gedacht, dass ich das überhaupt tun könnte, es war das erste Mal.

Frage: Und warum haben Sie beschlossen, es zu tun?

Antwort: Ich kann’s Ihnen nicht sagen. Ich kapier es selbst immer noch nicht, ich versuch es zu verstehen, wissen Sie? Es ist wie – ich weiß, dass ich es gemacht habe, aber es ist auch wie etwas, was ich in der Zeitung gelesen habe.

Frage: Ist es für Sie so etwas wie ein Traum, Ricky?

Antwort: Ja, vielleicht. Ich kann nicht wirklich … ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll.

Frage: Aber Ihnen ist bewusst, dass Sie es getan haben?

Antwort: Ja.

Frage: Es gab doch in Ihrer Vergangenheit schon Probleme mit Kindern?

Antwort: Ja.

Frage: Wollen Sie mir davon erzählen?

Antwort: Es ist bloß – ich kann es nicht erklären. Ich schätze, es ist mein Schicksal, verstehen Sie, das ist die Wahrheit.

 

2

New Jersey, 1983

 

Neun Jahre, bevor Ricky Langley Jeremy Guillory töten wird, als er noch achtzehn Jahre alt ist und ich fünf bin, kaufen meine Eltern ein graues viktorianisches Haus, das auf einem Hügel in dem Städtchen Tenafly in New Jersey liegt. In der Umgebung sind die Rasenflächen überall sorgfältig gepflegt, aber um das viktorianische Haus herum wächst hohes, dürres Gras, und das Holz auf einer Seite der Veranda hat zu faulen begonnen. Das Haus ist seit sechs Jahren unbewohnt. An dem Nachmittag, an dem wir einziehen, steht der Nachbarsjunge im Gras neben unserer Veranda und beobachtet uns. Blonder Topfhaarschnitt und zerrissene, ausgeblichene Jeans, wie meine Mutter sie mich nicht tragen lässt. Hinter dem Jungen erhebt sich ein Haus aus grauem Stein mit dunklen Fenstern. Manchmal schleicht eine Katze zu ihm hinüber, überquert die Straße von seinem Vorgarten zu unserem, und dann beugt er sich hinab und krault der Katze die Ohren, ehe sie wieder davonstolziert. Es scheint hier viele Katzen zu geben. Der Junge schaut zu, wie wir eine Kiste nach der anderen ins Haus schleppen. Meine zwei Schwestern, mein Bruder und ich tragen Kartons mit unseren Kuscheltieren und wankende Stapel großer Bausteine aus Pappe, mit denen wir Burgen bauen. In diesem Haus, hat mein Vater uns versprochen, werden wir unser eigenes Spielzimmer haben.

Schließlich ruft mich der Nachbarsjunge zu sich. Ich gehe zum Geländer und hocke mich hin. Die weißen Pfosten an der Terrasse umrahmen sein Gesicht wie Gitterstäbe eines Gefängnisses in einem Cartoon.

»Wie heißt du?«, will er wissen.

Ich sage ihm meinen Namen.

»Zieht ihr hier ein?«

Er sieht aus, als ob er eine Klasse über mir sein müsste, vielleicht zwei. Ich will etwas Schlaues sagen, aber es kommt nur ein »Ja« heraus.

Er kaut auf irgendetwas herum, während er mich mustert. Ich erhasche einen Blick auf etwas Pinkes. Kaugummi. »Der Vater, der hier vorher gelebt hat, hat die Mutter gewürgt. In der Küche«, fügt er hinzu.

»Ist sie gestorben?« Ich habe das Wort erst vor Kurzem gelernt.

»Nein.«

Er steckt die Hände in die Taschen, kaut und sieht mich an. Wir schweigen einen Moment lang. Dann ruft meine Mutter nach mir.

»Ich komme schon«, sage ich.

Später, als ich einen Umzugskarton mit Pfannenwendern und Schüsseln in die Küche trage, habe ich genau diese Szene vor Augen: der Vater, der seine Frau gegen die fleckigen, orangefarbenen Fronten der Küchenmöbel drängt, die Hände um ihren Hals, und versucht, das Leben aus ihr herauszupressen, als ob sie nichts als ein schmutziger Wischlappen wäre. In meiner neuen Schule wird sich herausstellen, dass ihre kleine Tochter in meiner Vorschulgruppe ist. Sie hat hellbraunes Haar und einen Pagenschnitt und will Zahnärztin werden, und ich werde niemals ihrem Blick begegnen können, ohne mich zu fragen, ob sie wohl dabei zugesehen hat.

Aber die Schule ist gut hier, eine der besten im ganzen Bundesstaat. Und das Haus, gebrandmarkt durch seine Vergangenheit, ist günstig. Das ist für meine Eltern mit den vier Kindern und dem vom Staat gezahlten Anwaltsgehalt meines Vaters als einzigem Einkommen das entscheidende Kriterium. Eine Wiese breitet sich wie ein grüner Teppich hinter dem Haus aus, und im Obergeschoss gibt es genügend Schlafzimmer für uns alle: Meine Eltern werden das große Zimmer am Kopf der Treppe nehmen, mein Zwillingsbruder Andy und meine jüngste Schwester Elize bekommen je ein kleineres dahinter. Meine mittlere Schwester Nicola und ich werden uns das Schlafzimmer ganz am Ende des Flurs teilen, das am weitesten von der Vorderfront entfernt ist. Die langen Korridore sind perfekt, um Fangen zu spielen, und lassen das Haus fast herrschaftlich wirken. Und das war es einst sogar: herrschaftlich – ein Quartier für die Offiziere im Unabhängigkeitskrieg, wie mein Vater mir erzählt. Damals, als das Haus des Nachbarsjungen lediglich ein Stall war. Ich liebe es, mir vorzustellen, wie die Pferde ihre Köpfe aus den kleinen Fenstern strecken und mit ihren Kiefern das Heu bearbeiten wie der Junge vorhin seinen Kaugummi.

Unser großes Haus ist in einem schlechten Zustand. Am besten in Schuss ist die hölzerne Treppe, die sich steil aus dem Eingangs­bereich emporhebt. Nachdem die Offiziere das Haus verlassen hatten, so erzählt uns mein Vater, zog eine Familie ein, und danach zwei weitere Generationen von Familien. Einer dieser früheren Familienväter baute die Treppe mit einem Bausatz aus dem Sears-­Roebuck-Katalog. Sie ist immer noch gut erhalten, lackiert, mit akkurat eingesetzten Pfosten, die nicht einmal angeschlagen sind. In ein paar Jahren, wenn wir endlich eine schwarze Promenaden­mischung mit kecken Ohren bekommen – unter der Bedingung, dass mein Vater ihn »Cowboy« nennen darf –, wird der Hund seine Zähne an den Pfosten der Treppe wetzen. Dann wird mein Vater jedes Mal einen Mann in der Stadt, der eine Schleifmaschine hat, dafür bezahlen, eine genaue Kopie des jeweiligen Pfostens anzufertigen. Und viele Jahre später, wenn wir erwachsen sind, werden meine Schwester und ich unsere eigenen Hunde haben, und immer, wenn wir meine älter werdenden Eltern in diesem Haus besuchen, wird jeder dieser Hunde im Welpenalter die Pfosten annagen. Und jedes Mal wird mein Vater sich wieder an den Mann mit der Schleifmaschine wenden, der mittlerweile ebenfalls in vorgerücktem Alter ist, und jeden einzelnen Pfosten sorgfältig austauschen, als wäre es seine Pflicht, diese Treppe zu erhalten, die er von den Familienvätern vor ihm geerbt hat.

Aber der Rest des Hauses ist heruntergekommen und schäbig. Das Dach hat kahle Stellen, ihm sind Ziegel ausgefallen wie Haare im Fell eines räudigen Hundes. Einige der Innenwände haben Löcher – dort werden die Balken sichtbar, die das Skelett des Hauses bilden. Das grüne Linoleum auf dem Küchenboden wirft große Blasen. Sie knistern, wenn ich drauftrete, aber selbst wenn ich draufspringe, kann ich sie nicht zum Platzen bringen.

Mein Vater treibt drei Jungs vom nahe gelegenen Architektencollege auf, die Geld brauchen und keine Angst vor etwas Sägemehl haben. Einer davon, Greg, macht sich bei meinem Vater beliebt, indem er herausfindet, wie man eine Zierleiste unter dem Hausdach anbringt, zwei Zentimeter dickes, geschwungenes Holz, das er in Form schneiden und entlang des Dachfirsts befestigen wird, bis es aussieht wie Zuckerguss. Greg verfolgt eine Idee. Er wird das Haus in einem Stil renovieren, den man Carpenter Gothic nennt, mit handgeschnitzten Akzenten überall.

Mein Vater hat hochfliegende Träume schon immer geliebt, und plötzlich ist Greg der Anführer der Truppe. Greg ist schlaksig und braun gebrannt, und während die Sommerwochen verstreichen, werden seine lockigen blonden Haare immer heller. Mein Zwillingsbruder hatte als Kleinkind solche Locken. Inzwischen ist Andys Haar dunkel geworden, er zieht einen Bürstenschnitt vor, und wenn er am Strand sein Hemd auszieht, wird eine Narbe sichtbar, die sich über seinen ganzen Bauch zieht und die ich irgendwie verstehe, irgendwie aber auch nicht. Er war krank, als wir zur Welt kamen; manchmal ist er immer noch krank. Obwohl wir noch nicht einmal ausgepackt haben, haben meine Eltern oben im Schrank schon eine blaue Reise­tasche bereitgestellt für den Fall, dass sie ihn ins Krankenhaus fahren müssen – aus Gründen, die ich nicht kenne, aber ich weiß, dass ich besser nicht danach frage. Mit dem Bürstenhaarschnitt, der die feinen Konturen seines Gesichts betont, den Rippen, die über der Narbe hervorstehen, und den weißen Turnschuhen sieht er aus wie ein adoptiertes Flüchtlingskind aus einem vergessenen Krieg.

Aber die Architektenjungs sind schön anzusehen. Greg klettert bis auf den Dachgiebel hinauf. Seine Freunde erklimmen lange Leitern hoch über die Fenster hinaus. Sie durchschneiden die Luft wie Delfine das Wasser, und die Zollstöcke und Schraubenschlüssel, die von den Gürteln ihrer abgeschnittenen Hosen baumeln, bremsen sie nicht in ihren Bewegungen. Die Werkzeuge hängen an ihnen, als könnten sie, ebenso wie ich, nicht anders, als den Jungs zu folgen. An den Abenden sehe ich ihnen, umgeben vom Zirpen der Grillen, vom Rasen aus zu. Manchmal, wenn sie länger bleiben, bohrt Greg Löcher in den Deckel einer Flasche, und wenn ich ihm die Glühwürmchen bringe, die ich gefangen habe, lobt er mich. »Das ist ein Hübscher«, sagt er. »Ist sein Licht nicht wunderbar?« Ich liebe das Leuchten der Glühwürmchen so sehr, dass ich die Flasche einmal auf meinem Nachttisch behalte, anstatt meine Beute wieder freizulassen. Aber am Morgen sind die Glühwürmchen nichts als Käfer; sie leuchten nicht.

Eines Tages überreicht mein Vater Greg einen Schlüsselbund und klopft ihm auf die Schulter. Sie überprüfen Listen auf den Klemmbrettern, die die Jungs plötzlich dabeihaben, und dann nicken sie alle und schütteln sich in der geschotterten Einfahrt die Hände. Meine Eltern packen uns Kinder für einen Besuch bei den Verwandten meiner Mutter in Frankreich ein. Wenn wir zurückkommen, werden wir ein neues Zuhause haben. Das Haus wird von seiner Vergangenheit befreit sein.

Es gibt nur eine größere Straße, die nach Tenafly führt. Sie beginnt auf der anderen Seite der Stadt und schlängelt sich in gemächlichen Windungen einen großen Hügel hinab. Dort sind die Straßenränder begrünt und lassen den Bäumen daneben Platz, sich gähnend auszustrecken. Jenseits der Baumkronen breiten sich große Anwesen mit sorgfältig gepflegten Gärten, säulenbestückten weißen Häusern und schmiedeeisernen Toren aus. Winzige Steinbrücken führen über künstlich angelegte Bäche.

Die Straße verengt sich. Das Gebäude der ehemaligen High School beherbergt jetzt ein Bestattungsunternehmen, die Klassenzimmer sind zu Schauräumen geworden. Daneben ist die katholische Kirche. Direkt dahinter liegt eine alte Bahntrasse. Die Züge sind schon Jahrzehnte, bevor wir hierhergezogen sind, nicht mehr durch die Stadt gefahren; zu dem Zeitpunkt, als ich meinen Collegeabschluss mache, werde ich die Metamorphose des einstigen Bahnhofs zu einem Zeitungsladen, dann zu einem Frisör, dann zu einem Café, in dem Sandwiches für zehn und Kaffee für vier Dollar serviert werden, miterlebt haben. Aber jetzt als Kind kann ich nur den Atem anhalten, als die Auto­reifen kurz an den Schienen hängen bleiben. Dann berühre ich mit dem Finger das feste Glas der Fensterscheibe, damit die Geister keine Lücke finden in meiner Verbindung zur Welt, keinen Weg, um in sie einzudringen.

Die Schienen lassen das Auto los, und von hier ab verändert sich das Gesicht der Stadt, wird enger. Ein einsames Apartmenthaus mit winzigen Wohnungen, unpassend für einen Ort, der so offensichtlich für Familien gedacht ist. Ein einzelner Magnolienbaum steht dort auf dem Rasen, und seine blassen, hängenden Blüten wirken im Kontrast zu den Eichen und Ulmen des Nordostens exotisch und wundervoll. Dann werden die Grundstücke kleiner, und zwischen die Häuser passt nur noch eine Auffahrt. Ein zweiter Hügel kommt in Sicht, nicht einmal halb so hoch wie der erste. Auf seinem Kamm liegt unser großes viktorianisches Haus. Jenseits davon senkt sich die Straße hinab in eine andere Stadt – eine Stadt, in der Verbrechen verübt werden, die es bei uns nicht gibt, und mit Schulstatistiken, die wir einander wie Warnungen zuflüstern.

 

3

Louisiana, 1992

 

Die Telefonleitung im Haus ihres Bruders ist dauernd besetzt, es hört nicht auf mit dem ständigen Piep-Piep-Piep. Lorilei ist müde. Sie will nicht den ganzen Weg bis zu seinem Haus laufen. Richard hat einen weißen Zaun um sein Grundstück aufgestellt, als wolle er sich von den anderen abgrenzen, die nicht all das haben, was er besitzt. Von Häusern wie dem, das Lorilei gemietet hat und für das sie nicht einmal die Stromrechnung bezahlen kann. Der Zaun geht ihr gegen den Strich. Das Tor befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite des Hauses, und um zur Tür zu kommen, muss sie außen herumlaufen, vorbei an der schmucken Einfahrt und den glänzenden weißen Pfosten und dem Spielzeug und den Fahrrädern seiner Kinder. Aber es hilft nichts, Jeremy ist verschwunden, und so dankt sie dem Mann in dem weißen Haus dafür, dass sie sein Telefon benutzen durfte, zieht den Reißverschluss ihres Kapuzenshirts zu und geht los. Ein kleiner Gehsteig führt zu Richards Haus, aber neben der Straße steht das Unkraut, und die Abflussrinne ist nichts als eine Furche im Schmutz. Lorilei, die neunundzwanzig und stämmig ist, auch wenn man ihr die Schwangerschaft noch nicht ansieht, vergräbt ihre Hände in den Taschen ihrer Jeans, um sie warmzuhalten, und bewegt sich mit gesenktem Kopf vorwärts. Ihre dünnen Halbschuhe, die im Februarmatsch stecken bleiben, sind nicht zum Laufen gedacht. Es hätte ein geruhsamer Abend werden sollen, nur mit Melissa und dem Baby.

Die Sonne gießt orangefarbene und rote Strahlen über dem Horizont aus. Es ist kurz vor sechs Uhr abends, und die Straße wirkt gespenstisch ruhig. Haus um Haus zieht mit heruntergelassenen Rollläden an ihr vorbei, wie fest zusammengepresste Lippen sehen sie aus. Dahinter versammeln sich gerade Familien zum Abendessen. In einem Vorgarten liegt ein umgekipptes Kunststoffdreirad, dessen Pedale in die Luft ragen, als wollten sie jeden Moment ins Nirgendwo losstrampeln. Lorilei hat Jeremy das Dreiradfahren beigebracht, als er drei Jahre alt war. Die Stadtzeitung veröffentlichte damals ein Bild von ihnen beiden, wie sie in die Kamera grinsen, ihre Hand auf seinen kleinen Schultern. Lorilei Guillory und ihr Sohn Jeremy Guillory. Jeder in der Stadt wusste, dass das ihr Mädchenname war. Dass es da keinen Mann gab.

Sie erinnert sich auf einmal daran, wie sie und Richard als Kinder in die Pedale traten, auf die Straßenbiegung zufuhren, und die Stunden sich vor ihnen ausdehnten, so weit wie die Sonnenstrahlen.

Der Hügel, auf dem er wohnt, liegt im Westen. Sie sieht sein Ranchhaus in einiger Entfernung. Am Ast einer Eiche ist eine Reifenschaukel für seinen Sohn und seine Tochter aufgehängt. Daneben befindet sich Richards Werkzeugschuppen. Und ein Auto steht in der Einfahrt, ein rotes, das Mary gehört, Richards Frau. Als sie und Mary am Morgen miteinander sprachen, sagte Mary, sie werde am Abend zum Einkaufen fahren, und wenn Jeremy ihr Auto kommen sähe, sollte er schnell herüberlaufen, dann würde sie ihn mitnehmen. Jeremy war so aufgeregt gewesen, als er Lorilei mit ihr telefonieren hörte, dass Lorilei nicht Nein sagen konnte. Es ist schwer für sie, dass Mary diejenige mit dem Auto und dem Geld ist, diejenige, die ihn mit zum Einkaufen nehmen kann. Aber vielleicht bedeutet das ja immerhin, dass er jetzt hier ist.

Doch als Mary mit frisch aufgetragenem Lippenstift die Tür öffnet, sieht Lorilei es ihrem verblüfften Gesicht an, dass er nicht da ist. Sie fragt trotzdem.

»Hab ihn nicht gesehen«, sagt Mary. »Und ich bin gerade am Gehen.«

Das ist der Moment, in dem Lorilei klar wird, dass er sich verlaufen haben muss.

Zehn Minuten später hat sie sich Marys Auto ausgeliehen und ist damit zum Waldrand gefahren, die Scheinwerfer auf das Wäldchen gerichtet. Es ist mittlerweile fast dunkel. Jeremy weiß, dass er vorher heimkommen muss. Als sie stehen bleibt, bemerkt sie im Lichtkegel die angerostete Karosserie eines Fahrzeugs. Manchmal sitzen Jeremy und der Junge der Lawsons, Joey, dort drin und schießen mit ihren Luftgewehren stundenlang in die Bäume. Aber jetzt ist der alte Wagen verlassen, das Wäldchen ganz still. Sie steigt aus dem Auto und lehnt sich gegen die Karosserie. »Jeremy!«, ruft sie. »Jeremy, ich bin es, deine Mama! Hörst du mich? Jeremy!«

Nichts als Schweigen. Nicht einmal ein Vogel ist zu hören.

»Jeremy!«

Hinter sich hört sie ein Fahrzeug anhalten. »Alles in Ordnung, Lori?« Terry Lawson, Joeys Vater, sitzt am Steuer, zwei Nachbarn sind bei ihm.

»Jeremy ist weg«, hört Lorilei sich selbst sagen. Ihre Stimme klingt rau.

Die Männer holen Taschenlampen aus dem Kofferraum und verschwinden im Wald.

Das ist der Moment, in dem später Lorileis Erinnerung abbricht.

 

Aber die Aufzeichnung der Feuerwehr belegt, dass der erste Notruf um 18.44 Uhr eingeht. Die Anruferin weist sich als Lorilei Guillory aus, die Mutter des Jungen, den sie als vermisst meldet. Der Mann am Ende der Leitung notiert ihre Angaben und verspricht, eine Polizeistreife nach Iowa zu schicken.

»Io-way«, sagt Lorilei in den Hörer. »Bitte. Sie wissen, wo das ist?«

»Ja, Madam. Io-way«, erwidert der Koordinator.

Der zweite Anruf folgt um 18.57 Uhr. Der Anrufer ist ein junger Mann, der mitteilt, dass bislang noch niemand aufgetaucht sei, und fragt, wann die Polizei kommen werde. Die Mutter des Jungen hat gerade von diesem Anschluss aus angerufen, aber er weiß, dass die Gegend verwirrend ist, wenn man nicht von hier ist. »Es gibt zwei Straßen hier raus, die nebeneinander verlaufen«, sagt er. »Und die hier wird Watson Road genannt, aber eigentlich hat sie keinen Namen. Das ist die richtige Straße. Das Haus ist weiß und hat zwei Stockwerke.« Sie würden es an der Waschmaschine vor dem Haus und an der Treppe, die von der Rückseite des Hauses aus zum Wald führt, erkennen, sagt er. »Ich gebe Ihnen die Nummer von hier, falls Sie sich verfahren.«

»Ich brauche noch Ihren Namen, Sir«, sagt der Vermittler.

»Ricky Langley«, antwortet der Anrufer.

 

In dieser Nacht sitzt Lorilei auf der Treppe vor dem weißen Haus, und zumindest eine der Geschichten, die über die Suche nach ihrem Sohn erzählt werden, handelt von dem, was als Nächstes geschieht. Die Straße ist vollkommen dunkel – es gibt hier draußen keine Straßenlaternen –, aber als mehr und mehr Streifenwagen ankommen, wird es immer heller. Wie aus der Ferne vernimmt sie die Stimmen der Suchenden, die einander zurufen, hört sie das Tuckern eines Lastwagenmotors. Sie weiß, dass sie in der Nähe sind, aber dennoch scheinen die Geräusche weit fort zu sein, klingen seltsam gedämpft.

So wie das feuchte, verrottende Laub auf dem Boden der kleinen Schlucht, in der Jeremy immer spielt, alles dämpft. Dieses Laub macht ihn jedes Mal fürchterlich schmutzig, aber heute Nacht ist sie froh darüber, dass es so weich ist. Sie muss an ihn denken, wie er dort liegt – seine Wange gemustert von den kleinen Zweigen, wie sonst von den Falten in seinem Kopfkissen. Sie denkt daran, wie ihm seine Haare in die Stirn fallen, wenn er zu müde ist, um sie zurückzustreichen. Jeremy schläft auf der Seite wie ein junger Hund, die Arme und Beine weit von sich gestreckt. Sein rosa Mund steht offen, und sein Atem geht in kleinen Stößen. Sie hat ihn so oft beim Atmen beobachtet, als er noch ein Baby war. Alle Mütter tun das, denkt sie, aber es fühlte sich trotzdem wie ein Wunder an, wie er einfach immer weiteratmete.

Sie schüttelt den Gedanken ab. Über den Baumkronen verbindet sich das Licht der Scheinwerfer zu bewegten Mustern, und sie sieht zu, wie sie sich verändern. Richard sagt, am Morgen werden sie Helikopter einsetzen, um die Suche fortzuführen. Warum setzen sie die nicht jetzt schon ein, wo ihr Junge alleine und frierend in der Dunkelheit da draußen ist, fragt sie sich.

»Wollen Sie was trinken?« Sie blickt auf, und der Mann vom Nachmittag steht am Rand der Veranda. Es dauert einen Moment, bis sie ihn erkennt; der Nachmittag liegt so weit zurück. Das war damals, vor alldem hier.

»Ricky, oder?«, fragt sie.

»Ja, Ma’am«, sagt er. Er hält eine Flasche in der Hand und streckt sie ihr einladend hin. Hinter ihm wabert die Dunkelheit des Waldes wie Nebel. Es ist, als wäre er aus dem Nichts an sie herangetreten.

Lorilei trinkt keinen Alkohol. Sie hat seit Jahren keinen getrunken. Früher hat sie öfter über die Stränge geschlagen, und die Verhaftungen brachten ihr eine Erwähnung in der Lokalzeitung ein. Ihr Name stand mit einem knappen »L. Guillory« im Polizeibericht. Aber als Jeremy geboren wurde, hörte sie auf. Sie wollte für ihn das Richtige tun. Jetzt hat sie ein neues Baby in ihrem Bauch, auf das sie achten sollte; sie ist im dritten Monat.

Doch sie hat so viel Angst um Jeremy, und die bernsteinfarbene Flüssigkeit in der Flasche glänzt so verlockend im Licht. Jeremys Vorschulklasse hat heute einen Ausflug ins Wissenschaftsmuseum in Lake Charles gemacht. Es war die gleiche Exkursion, an der sie in seinem Alter teilgenommen hat, und vielleicht lässt der warme Glanz des Getränks sie an die Fossilien denken, die sie damals gesehen hat. Es ist eine seltsame Nacht, Jeremy ist weg, alle Nachbarn suchen nach ihm, eine Nacht, die aus der Zeit gefallen ist. Eine Nacht, die für immer andauern könnte, aufgehoben wie ein Insekt im Bernstein. Jeremy für immer irgendwo da draußen, sie für immer auf der Veranda, wartend. Sie muss nur diese eine Nacht überstehen.

Sie nimmt die Flasche. Es stehen noch ein paar Zentimeter Flüssigkeit darin. »Danke«, sagt sie.

Der erste Schluck ist scharf und glatt wie Glas. Er rinnt durch ihre Kehle und rollt sich warm in ihrem Magen zusammen.

Der zweite Schluck ist süß. Sie nimmt einen dritten.

»Tut mir leid, dass sie Ihren Jungen nicht gefunden haben«, sagt Ricky. Im Licht auf der Terrasse sind seine Brillengläser trüb.

Sie sagt nichts.

»Es klingt, als ob die Leute richtig intensiv suchen«, sagt er.

Lorilei ist müde. Sie will nicht reden, also schweigt sie. Sie lehnt sich nur gegen die Brüstung, lange, mal mit geschlossenen Augen, wenn sie die Stille nicht ertragen kann, mal mit offenen, wenn sie die Schwärze nicht aushält. Der Schnaps ist ausgetrunken, ehe sie sich’s versieht. Der Mann bleibt am Rand der Wiese, die Hände in den Taschen seiner khakifarbenen Hose, und schweigt. Es ist ein gemeinsames Schweigen. Fast könnten sie Freunde sein.

Später kann sie nicht mehr sagen, wie viel Zeit vergangen ist, als er hüstelt, ein höflicher Laut, als wollte er vermeiden, sie aufzuschrecken. »Also«, sagt er dann, »ich geh besser wieder rein. Ich hoffe wirklich, sie finden ihn.«