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Insel der verlorenen Träume

Karin Waldl

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2018 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2018

Lektorat: Melanie Wittmann

Cover unter Verwendung von Bildern von Adobe Stock (lizenziert)

© Nikolai Sorokin, © Maksim Šmeljov

Die Bibelstellen sind der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen, Copyright © 1983, 1996, 2002, Inc.™. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Brunnen Verlags

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-96074-029-2 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-194-7 – E-Book

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Inhalt

Prolog

Elias

Stefan

Desiree

1992

1998

2018

Elias, der Vater

Maria

Die Autorin

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Für meine Mutter, die meiner Familie und mir immer

zur Seite steht,

und meinen Vater, der uns schon vorausgegangen

ist in die unendliche Herrlichkeit Gottes.

Psalm 147,3

Er heilt den, der innerlich zerbrochen ist, und verbindet seine Wunden.

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Prolog

1998

Die Sonne hatte ihren Höchststand erreicht und schien mit voller Leuchtkraft über das satte Grün des Sommers hinweg. Es duftete herrlich nach frischem Gras und wohlriechenden Blumen. Ein spielender Junge unterbrach für einen Moment seinen kurzweiligen Zeitvertreib und blickte in das helle, wärmende Rund am Himmel. Es fühlte sich so an, als lächelte ihm die Sonne freundlich ins Gesicht. Der Fünfjährige grinste schelmisch zurück, ließ das angenehme Sonnenlicht unbewusst bis in sein unbekümmertes Kinderherz scheinen.

Im nächsten Augenblick genoss er es wieder, in der weichen Wiese mit seinen Autos zu spielen. Sein roter Flitzer, den er Feuerblitz nannte, machte sich für ein Rennen mit dem blauen Sportwagen namens Eissturm bereit. Beide gingen in Startposition. Die Motoren heulten auf, ehe sie mit quietschenden Reifen in Richtung Ziel davonrasten. Mit unterschiedlichen Autogeräuschen untermalte der Junge das Streckenszenario, ehe Eissturm einen unvorhergesehenen Unfall hatte. Bumm, es krachte! Die Autoteile flogen in alle Richtungen. Damit war Feuerblitz endgültig der Sieger des Duells, die Menge tobte und rief dem Gewinner lautstark ihr Jubelgeschrei zu.

Mitten in dem Sturm des Applauses schaute ein Mann über den Gartenzaun. „Ich liebe Autogeschichten“, sagte er freundlich.

Der Kleine sah ihn mit geweiteten Augen für einen kurzen Moment an und drehte sich dann wieder abrupt um. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er sollte nicht mit Fremden sprechen. So wandte er dem Mann ohne schlechtes Gewissen den Rücken zu.

„Oh, Entschuldigung! Ich habe dir gar nicht gesagt, wie ich heiße. Mein Name ist Elias.“

Der Junge wandte sich nach kurzem Zögern erneut erstaunt dem Zaungast zu. Irgendetwas kam ihm in seinem Gesicht bekannt vor. Er hatte schöne dunkle Augen, genauso wie seine eigenen. Aber das Merkwürdigste an der Sache war der Vorname des fremden Mannes.

„Ich heiße auch Elias“, sagte der Kleine zaghaft.

„Ich weiß, ich kenne deine Mama von früher.“

„Echt? Aber sie hat noch nie über einen anderen Elias gesprochen.“

Die Direktheit des Kindes traf den erwachsenen Elias mitten ins Herz, Traurigkeit umfing ihn, aber er konnte nichts an dieser Situation verändern.

„Elias, mit wem sprichst du?“, kam es von der Haustür. Die Mutter des Jungen stand in ermahnender Körperhaltung im Türrahmen, ehe sie den unerwarteten Besucher erkannte. „Elias, was machst du hier?“, rief sie zu ihrer eigenen Überraschung erfreut.

Der Kleine, der sich persönlich angesprochen fühlte, antwortete: „Aber ich war doch die ganze Zeit da, Mama.“

Die Mutter musste lachen. „Nicht du, mein Schatz. Ich meine den anderen Elias.“ Sie eilte zu dem Mann am Zaun. „Ich kann es nicht glauben, ich dachte, wir sehen uns nie wieder.“

„Ich musste dich sehen, ich hielt es nicht mehr aus. Lass uns bitte reden.“

Der kleine Elias blickte fragend zu den beiden auf, wurde aber nicht beachtet. Vor allem die Unsicherheit seiner Mutter machte ihn stutzig.

„Ja, komm, wir trinken einen Kaffee auf der Terrasse“, sagte sie schließlich. Sie öffnete dem Gast die Gartentür und wandte sich an ihren Sohn: „Geh und spiel mit deinen Schwestern.“

„Muss das sein?“, bekundete der Junge sein Unbehagen über die schnelle Beendigung seines Spiels.

„Ja, Elias, ich habe mit dem Herrn etwas zu besprechen. Erwachsenenkram!“

„Na gut.“ Missmutig schnappte er sich seine Autos und zog in Richtung Haus ab.

*

Elias

2018

„And nothing else matters“, dröhnte das Lied der Metalband Metallica aus den Boxen der schmuddeligen und dreckigen Kneipe. Der Lärm war ohrenbetäubend. In der Ecke lehnten ein paar ungepflegte, langhaarige Gestalten, die gelangweilt vor sich hin starrten. Es schien, als würden sie zum schmutzigen Inventar gehören und immer dort ihren Platz einnehmen wie ein paar verstaubte Statuen aus Stein, die niemals jemand abwischte und sorgfältig reinigte. Sie bewegten sich nur ab und zu, um an ihren Biergläsern zu nippen oder ein sinnloses, aus dem Zusammenhang gerissenes Wort zu grunzen.

Elias stellte sein leeres Whiskeyglas auf den Tresen, der mit unschönen, schwarzen Kerben von den Messern der Angetrunkenen vergangener Tage übersät war. Seine Hand blieb an dem ekelhaften Holz kleben, was ihm in seinem Zustand jedoch nicht mehr auffiel.

„Noch einen“, lallte er dem Wirt zu, der im dreckigen Unterhemd vor ihm stand, mit verfilzten, ungewaschenen Haaren und speckig glänzendem Gesicht.

Dieser schnappte sich einen graubraunen Fetzen, der bestimmt irgendwann einmal weiß gewesen war, und wischte das Glas aus, ehe er es mit der hochprozentigen Flüssigkeit auffüllte. Elias schnappte sich den Alkohol und verschüttete durch seine unkontrollierten Bewegungen ein Drittel auf seinen teuren Anzug, der so gar nicht in diese fragwürdige Umgebung passte, ehe er den Rest in sich hineinkippte.

Laut grölend und keinen Ton treffend sang er: „And nothing else matters ...“

Die Typen in der Ecke bewegten sich kurz aus ihrer selbst gewählten Starre, um die Veränderung in Elias’ Verhalten mit einem Angst einflößenden, tiefen Lachen zu bekunden.

Übermütig kletterte Elias auf den zerschlissenen Barhocker.

„Hey, Bursche, runter da! Zeit zum Heimgehen“, forderte der Wirt ihn nachdrücklich auf.

Doch Elias war heute alles egal, er ignorierte die strengen Worte. Stattdessen spielte er Luftgitarre, was den komischen Gestalten ein weiteres tiefes Gelächter entlockte. Er drehte sich im Kreis und ließ die erdachte Gitarre am Boden zerschmettern. Fast hätte er dabei das Gleichgewicht verloren, aber das spornte ihn noch mehr an, etwas vollkommen Unüberlegtes zu tun. Ohne seine eigenen Grenzen richtig einzuschätzen, sprang er in Richtung Lampenschirm, der zerfetzt und verstaubt an der Decke montiert war. Wie ein Affe versuchte er sich an ihn zu hängen, um sich daran elegant herunterzuschwingen. Ein gelungener Showdown für seine Vorstellung. Dabei vergaß er, dass heute keine Eleganz und Ruhmeshymnen mehr für ihn übrig waren bei der Menge an Alkohol, die er in sich hineingeschüttet hatte.

Kaum hatte er den Leuchtkörper in Händen, riss er knirschend und bröckelnd aus der Decke. Mit schmerzverzerrtem Gesicht landete Elias rücklings am Boden, der Lampenschirm krachte mit aller Gewalt auf ihn und der Putz der Decke rieselte als Draufgabe herab. Die finsteren Gestalten sprangen von ihren Sitzplätzen in die Höhe. Aber das bemerkte Elias nicht mehr, Dunkelheit hüllte ihn ein. Die Welt um ihn herum wurde schwarz.

***

„Schatz, kommst du?“ Michaelas Gesicht erschien grinsend in der Tür des Badezimmers. Ihre kurzen blonden Haare waren perfekt gestylt. Dezent geschminkt und in einem olivgrünen Kleid, das ihre schlanke Figur gekonnt umspielte, sah sie hinreißend aus. Die Farbe des Kleides war exakt die ihrer Augen, was diese umso mehr strahlen ließ.

„Du bist wunderschön, mein Engel“, sprudelte es aus Elias’ Mund hervor, mit Zahnbürste und Zahnpasta darin.

Michaela hatte diesen liebevollen Blick aufgesetzt. Sie war ein besonderer Mensch. Er mochte ihre Fröhlichkeit, es war Gott sei Dank sehr schwer, sie zu kränken.

„Fünf Minuten, dann müssen wir aber wirklich los. Die Schauspieler im Theater werden nicht auf uns warten“, flötete sie.

„Ja, ich beeile mich schon“, presste er zwischen dem Ausspucken der Zahnpasta und Wassergurgeln hervor.

„Ich hab dir deinen Anzug für besondere Anlässe schon auf dein Bett gelegt.“

Elias verdrehte die Augen. „Muss das sein?“

„Darf ich dich erinnern, dass du der Ehrengast bist?“

„Aber nur, weil meine Mutter nicht mehr selbst hingehen kann“, protestierte er.

„Das Theaterstück stammt aus ihrer Feder. Du bist es ihr schuldig, sie würdig zu vertreten. Und jetzt zieh dich an, sonst kommen wir wirklich noch zu spät“, sagte Michaela nach wie vor fröhlich.

Dafür liebte Elias seine Freundin sehr, für ihre angenehme, leichte Art. Seit einem Jahr waren sie ein Paar und er hatte sie in dieser Zeit nur einmal zornig erlebt. Und das aus Ärger über sich selbst, weil sie ihren zwei Monate alten, feuerroten Seat Ibiza aus Unachtsamkeit zu Schrott gefahren hatte. Aber das passte zu ihr. Sie war ein strahlender Wirbelwind, der keine zwei Minuten stillstehen konnte.

Hastig zog er sich an, Michaela trippelte mit dem Autoschlüssel in der Hand den Flur entlang. Elias schnappte sich sein Portemonnaie und ergriff liebevoll Michaelas Hand, die bereits die Haustür aufhielt. Hand in Hand schritten sie durchs Stiegenhaus. Michaelas Lachen hallte durch das ganze Gemäuer. Ein Nachbar steckte, gestört von dem Lärm, seinen Kopf aus der Tür. Er schaute grimmig drein.

„Guten Tag“, rief Elias höflich, während sie an ihm vorbeiflogen.

„Deine Mutter ist echt ein Genie“, bemerkte Michaela, nachdem sie am Weinglas genippt hatte.

Elias steckte sich gerade einen Bissen der hervorragenden Forelle in den Mund. Langsam kauend, den runden Geschmack genießend, ließ er sich Zeit mit seiner Meinung.

„Wenn sie deine Loblieder auf sich hören könnte, wäre sie sehr stolz auf die Wahl meiner Freundin. Desiree Benjamin mochte es für ihr Leben gerne, wenn ihre Arbeit positiv gewürdigt wurde. Und wenn sie Kritik einstecken musste, hat sie sich stets beim nächsten Theaterstück oder Drehbuch noch mehr reingehängt“, erklärte er, ehe er erneut die Gabel zum Mund führte.

Michaela wollte gerade das Gespräch fortsetzen, als der Kellner mit ihrer Weinflasche zum Tisch trat. „Darf ich nachschenken?“, fragte er höflich.

Beide nickten und warteten ab, bis der Mann seine Arbeit getan hatte. Elias sog inzwischen die angenehme Atmosphäre des Restaurants in sich auf. Die Möbel waren teilweise aus knorrigen, verdrehten Holzstämmen gebaut. Auch die Bar war in diesem natürlichen Stil gehalten. Die cremefarbenen Wände waren unaufdringlich mit Bildern aus Holzelementen und integrierten lebenden Pflanzen verziert. Große, weiße Kerzen, optisch gut platziert, rundeten das Bild harmonisch ab und sorgten für den angenehmen Geruch nach brennendem Wachs, der alle an Weihnachten erinnerte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, nach dem Theater hier noch etwas essen zu gehen.

„Du redest über deine Mutter, als wäre sie schon tot“, fügte Michaela nahtlos an die vorangegangenen Sätze an.

„Wundert es dich?“, erwiderte Elias.

„Aber das ist nicht gerecht, sie lebt noch“, rechtfertigte sich Michaela.

„Das nennst du leben? Was hat sie denn noch von ihrem Leben? Sie kann nicht mehr aus dem Bett“, gab Elias zornig zurück.

„Warum bist du gleich so aufgebracht? Es war doch nicht böse gemeint!“

„Ich will einfach nicht darüber reden“, schnaubte Elias.

Die restliche Zeit während des Essens waren beide still. Michaela bemerkte, wie Elias langsam abkühlte. Nach dem Dessert hatte sich die Stimmung wieder sichtlich gehoben.

„Wie geht es dir in der Arbeit?“, wagte Michaela sich vor.

„So wie immer. Viel zu tun, die Wirtschaft scheint sich zu erholen. Da haben die Menschen wieder mehr Geld, um sich ein Motorrad zuzulegen. Die Produktion ist wieder angekurbelt.“

„Und da muss der Produktionsleiter ran, damit alles rundläuft“, sagte Michaela zärtlich und strich Elias durch sein braunes, leicht gewelltes Haar.

Elias durchfuhr es bei dieser leichten Berührung wie ein sanfter Blitz, der sein Herz erglühen ließ.

„Lass uns gehen“, flüsterte Michaela zärtlich.

Elias lächelte und winkte dem Kellner. „Zahlen, bitte.“

„Danke für diesen Abend, mein Schatz.“ Michaelas Augen leuchteten. Elias hielt sie an der Hand. Sie kamen am Auto an, das sie weit weg vom Schuss geparkt hatten, da das Restaurant sehr gut besucht war. Hier waren sie, bis auf ein paar Gestalten in der Ferne, alleine.

„Ich hab noch keine Lust, nach Hause zu fahren“, flüsterte sie ihm zu.

Elias lehnte sich an sein Auto, einen schwarzen McLaren 12C, natürlich darauf bedacht, keinen Kratzer an der empfindlichen Lackierung zu hinterlassen. Er zog Michaela an sich. Ihre Wärme tat gut auf seiner Haut. Er vergrub sein Gesicht zwischen ihrem Hals und ihrer Schulter und sog ihren angenehm blumigen Duft ein. Er liebte diese Frau über alles, konnte sein Glück gar nicht fassen, dass sie seine Freundin war.

Michaela genoss das Gefühl, als Elias ihr am Hinterkopf durch ihre kurzen Haare strich. Ihre Blicke trafen sich wieder. Seine braunen Augen, die wie Kandiszucker kristallisch glänzten, ruhten auf ihr.

„Gibt es bei dir etwas Neues in der Arbeit?“, wollte Elias wissen.

Michaela fand den Moment unpassend, um über ihre Aufgaben als Zahntechnikerin zu reden. Obwohl sie nur zu gut wusste, dass Elias ihretwegen gefragt hatte. Er wollte sich nicht nachsagen lassen, desinteressiert an ihrem Leben zu sein. Wahrscheinlich konnte sie das eine oder andere erzählen, aber sie ließ es einfach, um den Augenblick nicht zu zerstören. Stattdessen schüttelte sie den Kopf. Sie legte sanft ihre Hände auf seine Wangen. Elias verstand, umarmte sie noch fester und beugte sich zu ihr. Michaela konnte seine festen und langen Muskeln, die er durch regelmäßiges Lauftraining bekommen hatte, spüren. Wie in Zeitlupe berührten sich ihre Lippen und vereinten sich in einem lang anhaltenden Kuss. Die nächtlichen Sterne schienen für die beiden hell leuchtend zu tanzen. Es dauerte eine Ewigkeit, ehe sie sich aus dieser innigen Verbindung wieder lösten.

„Ich bin müde, fahren wir doch nach Hause“, kam es von Michaela.

Der Sinneswandel seiner Freundin rief in Elias ein Gefühl der Enttäuschung hervor. Heute hätte er Lust, noch etwas zu unternehmen. Er fühlte sich noch kein bisschen müde.

Aber Michaela gähnte und bat ihn: „Lass uns morgen irgendwo hingehen, um zu frühstücken. Lass uns an diesen Abend anschließen, nur mit etwas Schlaf dazwischen. Wir lassen uns etwas Besonders einfallen, okay?“

Elias nickte zustimmend. Gemeinsam stiegen sie in das Auto.

Kaum hatte Elias sein Auto aus der Innenstadt von München hinausgelenkt, war Michaela auf dem Beifahrersitz eingeschlafen. Friedlich schlummerte sie neben ihm. Wenn sie einmal schlief, konnte man sie sehr schwer wieder munter machen. Elias war froh über ihr Federgewicht, denn er würde sie ins Bett tragen müssen, wenn sie nicht die ganze Nacht im Auto verbringen sollte.

Beim letzten Gedanken kam Elias eine Idee. Er schaute auf das Armaturenbrett. Es war erst zehn Minuten nach Mitternacht. Ein verrückter Plan reifte in seinem Geiste heran und wurde immer konkreter.

„Warum eigentlich nicht?“, dachte er bei sich.

Er lenkte sein Auto zur nächsten Tankstelle. Er tankte voll, kaufte sich einen Liter Cola und gab in sein Navigationssystem die Route ein, die in seinem Kopf herumschwirrte. Dann fuhr er zielstrebig auf die Autobahn. Wenn die Zeitangabe der Anzeige richtig war, würden sie am frühen Morgen am Ziel sein und das Frühstück in der Stadt einnehmen, in die sie beide schon immer einmal gewollt hatten: Venedig.

Während der sechs Stunden Autofahrt hielt sich Elias mit Koffein fit. Michaela verschlief alles in Seelenruhe. Er freute sich auf den Moment, wenn sie von seinem leicht irren Vorhaben erfahren würde. Schließlich waren sie nicht vorbereitet auf diesen Kurztrip. Aber es war Samstag und sie hatten bis Sonntagabend Zeit, um zurückzukehren. Irgendwie würde sich das schon einrichten lassen. Was brauchte man schon? Ein Wochenende ohne Waschen, Zähneputzen oder Gewandwechseln würden sie schon überleben. Was einen nicht umbrachte, machte einen nur härter. Auch wenn das hieß, sie mussten die ganze Zeit in Abendgarderobe durch die Gegend laufen. Irgendwann musste auch er einmal schlafen, bevor sie heimkehrten, im schlimmsten Fall im Auto. Aber es war ein aufregendes Abenteuer, das sie ihr ganzes Leben nicht vergessen würden. Und das war es ihm hundertmal wert.

Viele Hundert Kilometer später steuerte Elias auf den riesigen Parkplatz zu, der für die Besucher von Venedig gedacht war. Es war halb sieben und die Sonne zeigte sich an diesem Aprilmorgen schwach schimmernd am Horizont durch ein leichtes und sanftes Glühen. Es war der perfekte Moment, um Michaela zu wecken.

„Morgen, mein Schatz.“ Elias stupste sie sanft an.

Michaela öffnete langsam die Augen. „Die Sonne geht auf“, stellte sie nüchtern fest.

„Heute geht sie ganz besonders für dich auf“, grinste Elias.

Michaela schaute in den wunderschönen Sonnenaufgang. Der Himmel nahm die Rot-, Orange- und Gelbtöne wie ein Gemälde in sich auf und weitete langsam den Blick auf das offene Meer.

„Elias – wo sind wir?“, fragte sie endlich, etwas erschrocken.

„In Venedig!“

„Ist das dein Ernst?“ Der Satz blieb ihr fast im Hals stecken.

„Ja, du wolltest doch ein besonderes Frühstück.“

Stürmisch küsste sie ihn. „Du bist total verrückt – danke! Ich liebe dich.“

Sie blieben noch eine Zeit lang im Auto sitzen, kuschelten und schmusten miteinander, ehe sie sich aufmachten, um am Markusplatz zu frühstücken.

„Wahnsinn, der italienische Kaffee schmeckt mit Blick auf den Dom und den Turm umwerfend lecker“, frohlockte Michaela, die in eine kuschelige Decke gewickelt an ihrem Cappuccino nippte.

„Ist dir kalt, mein Schatz?“, fragte Elias.

„Ein bisschen. Aber mit der Decke geht es.“

Elias strich ihr über die Hand. Er versank in ihren olivgrünen Augen, deren Blick er so sehr liebte. Er war der glücklichste Mensch auf Erden. Nie wieder würde er diese herzensgute Frau gehen lassen. Er konnte sein Glück gar nicht fassen.

Gemeinsam ließen sie ihren Blick über den malerischen Platz schweifen. Unzählige Tauben tummelten sich hier, um eine der Brotkrumen zu erwischen, die den Touristen regelmäßig aus den Händen fielen. Ein Schmuckhändler zwängte sich zu dieser frühen Stunde schon zwischen den Tischen der Gäste, denen die kühle Luft nichts ausmachte, hindurch. Elias winkte ihn heran. Der Verkäufer präsentierte mit italienischer Leidenschaft seine Ware. Gemeinsam mit Michaela suchten sie einen olivgrünen Steinring aus, der exakt die Farbe ihrer Augen und ihres Kleides hatte. Elias bezahlte, zögerte aber, ihr den Ring zu geben. Stattdessen stand er auf und kniete sich vor Michaela nieder. Sie lächelte ihn an.

„Michaela, ich liebe dich von ganzem Herzen. Willst du meine Frau werden?“

„Ja! Ich liebe dich auch“, antwortete sie mit glänzenden Tränen in den Augen.

Elias steckte ihr den Ring an. Dann fiel sie ihm in die Arme. Da Elias noch am Boden kniete, verlor er das Gleichgewicht und plumpste mit seiner frischgebackenen Verlobten rücklings nach hinten. Ein paar Tauben flogen vor Schreck davon.

Beide lachten und küssten sich, ehe sie sich wieder von dem Pflaster erhoben. Glücklich blickten sie sich lange an. Michaela hatte das Gefühl, dass Elias’ Augen, die wie brauner Kandiszucker in der Sonne glänzten, ihr direkt ins Herz sahen. Könnte dieser Augenblick doch ewig währen ...

***

Elias erwachte mit brummendem Schädel. Die Erinnerungen an Michaela verflogen. Seine Sehkraft ließ ihn für den Moment im Stich. Alles war verschwommen. Er registrierte, dass er in einem Bett lag und der Geruch nach Desinfektionsmitteln stieg ihm unangenehm in die Nase.

„Du bist munter – endlich!“, hörte er, als wären die Worte ganz weit weg gesprochen worden.

Elias blinzelte ein paarmal und griff sich an seinen dröhnenden Kopf. Er wollte sich aufsetzen, aber die stechenden Schmerzen in seinem Rücken verhinderten ein Aufrichten. Gequält stöhnte er auf. Aber seine Augen fanden langsam wieder zurück zu ihrer eigentlichen Funktion, dem Sehen. Allmählich konnte er verschwommen die Person vor sich erkennen.

„Hallo Stefan“, brachte er mühsam und undeutlich hervor.

„Hallo, mein Junge. Wie geht es dir?“, erwiderte Stefan bedacht ruhig.

„Ich weiß nicht, mir tut alles weh. Was ist passiert?“, stammelte der Patient. Stefan kam zu keiner Antwort. Eine Ärztin und ein Pfleger betraten das Krankenzimmer, in dem Elias lag. Sie schickten Stefan hinaus und stellten sich an das Krankenbett.

„Aufgewacht, Herr Benjamin. Das ist aber eine Freude“, bemerkte die Ärztin und ließ einen ironischen Unterton bewusst mitklingen.

Der Pfleger deckte Elias ab und klemmte ihm ein Fieberthermometer unter die Achseln. Elias’ Körper war von der Brust bis zur Hüfte bandagiert. Die Ärztin untersuchte seine wichtigsten Lebensfunktionen, machte sich aber keine Mühe, es gründlich zu tun. Sie wirkte sichtlich angepisst.

„Da haben wir aber Glück gehabt. Auch wenn man meinen könnte, dass ein Mann im Alter von fünfundzwanzig Jahren bereits erwachsen ist. Sie werden dank uns wieder gesund. Nur gegen die offensichtliche Dummheit können wir Ihnen keine Medizin geben“, kam es schnippisch von der Ärztin, deren grantiger Gesichtsausdruck fast beängstigend war.

„Was ist überhaupt passiert?“, quälte sich Elias.

„Das wissen Sie nicht mehr? Vielleicht ist das auch besser so. Lassen Sie in Zukunft die Finger vom Alkohol. Dann müssen Sie sich im Nachhinein nicht schämen, sich wie ein idiotischer Affe aufgeführt zu haben. Und wir sparen unsere Ressourcen für die wichtigen Fälle. Auf Wiedersehen“, beendete die unhöfliche Ärztin das Gespräch und verschwand durch die Tür.

„Sie müssen Frau Doktor Müller entschuldigen. Sie hasst es, wenn jemand über den Durst trinkt. Ich bin übrigens Sebastian“, stellte sich der Pfleger vor. Er wartete, bis das Thermometer fertig gemessen hatte, schrieb den Wert auf und hängte Elias an einen Tropf. „Gegen die Schmerzen“, erklärte Sebastian.

„Was habe ich eigentlich?“, versuchte Elias es erneut.

„Das hätte Ihnen eigentlich Frau Doktor Müller erklären sollen, aber wenn Sie mich nicht verpfeifen, verrate ich es Ihnen.“

Elias versuchte, mit dem Kopf zu nicken, kam aber nicht weit, ehe die Schmerzen erneut in seinen Rücken und Kopf einschossen. Laut stöhnte er auf.

„Sie haben in einer Bar Tarzan gespielt und sind mit dem Lampenschirm am Boden gelandet. Aber außer einer Gehirnerschütterung und zwei gebrochenen Rippen ist Ihnen nichts passiert. Das hätte ganz anders ausgehen können, wenn die Wirbelsäule beschädigt worden wäre, hätten Sie jetzt ganz andere Probleme.“

„Danke“, bemerkte Elias etwas beschämt über die Freundlichkeit des Pflegers.

„Ich gehe jetzt und schicke Ihren Besuch wieder herein.“

„Nochmals danke“, erwiderte Elias und sah zu, wie Sebastian den Raum verließ.

Einen Augenblick später stand Stefan schon wieder vor ihm. Er rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich nah zu Elias, als wolle er ein Gespräch im Vertrauen beginnen. Aber er schwieg. Seine grau melierten Haare machten ihn heute noch älter, als er wirklich war. Er hatte noch zwei Jahre, bis er sechzig Jahre alt wurde, schaute allerdings deutlich betagter aus. Oder waren es die Falten, die sich noch tiefer in die wettergegerbte Haut eingruben? Auf jeden Fall standen Stefan die Sorgen deutlich ins Gesicht geschrieben.

So durchbrach Elias die Stille: „Wo ist Michaela?“

Stefan runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

„Wo ist Michaela? War sie schon hier? Macht sie sich große Sorgen um mich?“, wollte Elias wissen.

„Äh, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll“, druckste Stefan herum.

„Ihr ist doch nichts passiert, oder?“ Elias stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben.

„Nein, es geht ihr gut. Glaube ich zumindest, ich habe sie lange nicht gesehen“, gab Stefan zur Antwort.

„Wie soll ich das verstehen? Wir besuchen dich doch regelmäßig. Ah, ich weiß schon. Wegen unserer bevorstehenden Hochzeit hatten wir zu wenig Zeit, um zu dir zu kommen. Das tut mir leid, ehrlich!“

„Nein, Elias, das ist es nicht.“ Fürsorglich und vorsichtig griff Stefan nach seiner Hand. „Ihr, also Michaela und du, ihr seid seit drei Monaten kein Paar mehr“, erklärte er ruhig.

Elias wurde zuerst kreidebleich im Gesicht, dann lachte er laut los. „Dein Humor war schon immer etwas makaber.“

Doch Stefans Blick blieb todernst. „Du irrst dich. Ihr seid wirklich nicht mehr zusammen. Das war kein schlechter Scherz.“

„Aber wir wollten doch heiraten ... ich liebe sie“, klammerte sich Elias an den letzten Strohhalm der Hoffnung.

„Du hast es vergeigt, Elias. Und weil du das genau wusstest, hast du die letzten drei Monate jede Menge Alkohol in dich hineingeschüttet. Du hast dich regelmäßig ins Koma gesoffen. Es war abzusehen, dass du im Krankenhaus landest.“

Elias versuchte, ruhig zu bleiben, konnte aber die Tränen der Verzweiflung nicht zurückhalten. „Warum?“, brachte er gerade noch hervor.

„Michaela hat ihre Stelle als Zahntechnikerin aus heiterem Himmel gekündigt. Sie wollte nach Berlin, um dort das Studium der Zahnmedizin aufzunehmen. Sie wollte Zahnärztin werden.“

„Aber warum Berlin? Das kann sie doch hier in München genauso gut machen.“

„Das war genau deine Reaktion, du hast ihr vorgeworfen, nicht an dich und eure bevorstehende Ehe zu denken. Du hast ihr gesagt, sie solle sich gefälligst um eure zukünftigen Kinder kümmern und nicht den lächerlichen Wunschtraum verfolgen, Zahnärztin zu werden. Dein Argument war, dass sie keine Zeit haben würde für dich und eure Kinder mit so einem zeitintensiven Beruf.“

„Oh ... war ich wirklich so direkt?“ Elias sah beschämt auf seine Hände.

„Sie meinte, du hättest in manchen Punkten recht. Aber sie könnte sich auch vorstellen, keine Kinder zu haben. Und dann bist du explodiert. Du bist völlig ausgetickt. Du hast sie gegen die Garderobenwand geschleudert. Du hast sie angeschrien, sie solle verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Das hat sie dann auch getan. Sie ist zutiefst gekränkt nach Berlin gegangen.“

Elias schaute Stefan schockiert an. „Ich habe sie verletzt? Wie konnte ich das nur tun? Ihr gegenüber hatte ich doch meinen Zorn meistens relativ gut im Griff. Ja, sicher, ich wurde auch bei ihr sehr schnell wütend, aber wie konnte ich ihr bloß wehtun? Ich liebe sie doch!“

„Ich weiß, aber Michaela hat jetzt Angst vor dir. Sie will deine ständigen Entschuldigungsversuche nicht hören, geschweige denn annehmen. Das ist auch der Grund, warum du dich seit drei Monaten bis zur Besinnungslosigkeit betrinkst. Du leidest unter deinem unüberlegten Handeln. Ich mache mir große Sorgen um dich.“

Elias blickte ins Leere, ehe er sich einsichtig zeigte. „Es stimmt, ich habe es wirklich vergeigt. Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass ich ihr wehgetan habe.“ Kaum hatte Elias es ausgesprochen, brach er in ein hemmungsloses Schluchzen aus.

„Wenn Sie zu Hause Hilfe in Anspruch nehmen, können Sie morgen nach Hause gehen. Lassen Sie aber das Komasaufen. Alkoholleichen wie Sie können wir nicht gebrauchen“, blaffte Frau Doktor Müller Elias an.

„Ich habe daraus gelernt, Ehrenwort!“, versprach er.

„Ja, große Sprüche klopfen könnt ihr alle. Mir würde es schon reichen, Sie hier nie wiedersehen zu müssen. Verstanden?“

„Ganz meinerseits“, wagte Elias, den schroffen Tonfall frech zu erwidern.

„Na, dann sind wir uns ja einig“, gab sie, das erste Mal neutral gesprochen, zurück, nicht freundlich, aber auch nicht verärgert.

Elias atmete durch, als die Ärztin endlich den Raum verließ. Bald würde er wieder in Freiheit sein und die einengende Atmosphäre des Krankenhauses verlassen. Innerlich machte sich ein überschwängliches Jubelgeschrei in ihm breit.

Das Läuten des Telefons riss ihn aus der erdachten Freudenfeier. Das Display zeigte eine ihm unbekannte Nummer an.

„Benjamin“, meldete sich Elias.

„Ja ... hallo“, kam es schüchtern zurück.

Danach folgte eine längere Pause.

„Wer spricht da bitte?“, durchbrach Elias die Stille.

„Michaela. Ich rufe dich von meinem neuen Mobiltelefon an. Du liegst im Krankenhaus, oder?“

Elias’ Herz hüpfte vor Freude. „Ja, aber ich darf schon wieder nach Hause. Schön, dass du anrufst.“

„Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut, dich so stehen gelassen zu haben. Vielleicht hätte ich dir doch zuhören sollen“, bemerkte sie etwas verlegen.

„Nein, ich muss mich entschuldigen. Ich weiß nicht einmal selbst, warum ich dir so wehgetan habe. Ich weiß nur, dass es der größte Fehler in meinem Leben war, genau den Menschen zu verletzen, den ich am meisten liebe.“

„Danke, das bedeutet mir sehr viel. Ich möchte dir verzeihen, aber ich kann nicht vergessen, was vorgefallen ist. Das verstehst du doch, oder?“

Elias’ letzter Hoffnungsschimmer zerplatzte wie eine Seifenblase. „Ja, ich verstehe. Bist du wenigstens glücklich?“

„Ja, das Studium ist toll. Ich habe auch vor einer Woche jemanden kennengelernt. Er ist sehr gut zu mir. Ich glaube, ich könnte mir vorstellen, mich wieder zu verlieben. Aber es ist noch zu früh, um das mit Bestimmtheit zu sagen“, sagte Michaela vorsichtig.

„Oh. Ich wünsche dir alles Gute. Ich möchte nur, dass es dir gut geht. Und danke für das gemeinsame Jahr mit dir.“ Die Niedergeschlagenheit schwang in Elias’ Stimme mit, sein Herz krampfte sich unangenehm zusammen.

„Mach keine Dummheiten mehr, okay? Wenn du reden möchtest, du hast ja meine Nummer. Aber eine Beziehung zwischen uns wird es nicht mehr geben.“ In Michaelas Worten lag nun mehr Sicherheit, den letzten Satz sagte sie mit Nachdruck.

Nach der Verabschiedung blickte Elias regungslos an die weiße Decke. Nun wusste er mit Bestimmtheit, was er schon die ganze Zeit geahnt hatte. Die Frau seiner Träume war endgültig verloren. Der Schmerz durchfuhr ihn und nahm ihm die Luft zum Atmen.

***

Desiree lag in ihrem Bett und starrte die Wand an. Ihr Gesicht war fahl und weiß, ihre Hände zitterten leicht.

„Spiel nicht die beleidigte Leberwurst. Ich war im Krankenhaus. Ich konnte nicht zu dir kommen“, belehrte Elias seine Mutter.

„Ja, durch dein eigenes Verschulden. Keiner hat dich gezwungen, den Alkohol in dich hineinzuschütten. Ich weiß nicht, wie oft ich dich noch zu Gesicht bekomme. Du weißt, dass ich nur noch wenige Wochen zu leben habe“, krächzte die todkranke Frau.

„Ja, du hast recht. Aber ich halte den Schmerz kaum aus. Ich vermisse Michaela so sehr. Ihre Abwesenheit zerbricht mir das Herz. Die Sehnsucht ist unerträglich. Kannst du das gar nicht verstehen?“

„Doch, ich weiß genau, wie das ist.“ Desiree schloss kurz die Augen.

Elias war verwirrt, ehe ihm ein Licht aufging. „Du denkst an meinen Vater. Du hast ihn wirklich geliebt, oder?“

Er lechzte danach, endlich eine Antwort zu bekommen, aber seine Mutter dachte gar nicht daran. Sie zog ihre Mundwinkel nach unten.

„Es ist noch nicht an der Zeit“, gab sie lediglich zurück.

Elias wurde schlagartig hochrot im Gesicht. Er schrie zornig: „Und wann ist es an der Zeit? Wenn du tot bist? Dann kannst du alle meine Fragen sicher sehr gut beantworten!“

Desirees Augen weiteten sich, trotzig sprach sie: „Schön langsam verstehe ich, warum es Michaela nicht mit dir ausgehalten hat.“

Elias sprang von seinem Stuhl auf und warf ihn wütend um. „Dann sind wir ja schon zwei. Mein Vater wollte dich anscheinend auch nicht mehr. Sonst wärst du nicht mit mir zu Stefan zurückgekrochen gekommen. Du hast ja sogar deine Töchter im Stich gelassen für einen anderen Mann. War ich der Ersatz für die beiden? Bin ich da, weil du dein schlechtes Gewissen beruhigen musstest?“

„Du weißt gar nichts“, keuchte Desiree mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie hielt sich schwer atmend die Hand an die Brust.

„Wie denn auch? Du erzählst es mir ja nicht!“, brüllte Elias wie von Sinnen.

Zu spät erkannte er in seiner Raserei, wie die Augen seiner Mutter hervorquollen. Sie röchelte und rang vergebens nach Luft.

Elias fuhr der Schreck in die Glieder. „Mara, schnell!“

Die Pflegerin stürmte zur Tür herein. Mit einem gekonnten Griff drehte sie Desiree zur Seite. Schlagartig entspannte sich ihr Brustkorb und es floss hörbar rasselnd Luft in ihre Lungen. Mara strich ihr sanft übers Haar und atmete ruhig mit Desiree ein und aus, bis nichts mehr von dem Anfall bei ihr spürbar war.

Dann baute sich die kleine, aber bestimmende Frau vor Elias auf. „Was sollte das? Sie soll sich nicht aufregen. Oder willst du deine eigene Mutter frühzeitig ins Grab bringen?“

Reumütig wandte Elias ein: „Es tut mir leid, Mama. Ich wollte dich nicht so unter Druck setzen. Aber uns rennt die Zeit davon. Seit über zwanzig Jahren hältst du mich hin. Ich möchte endlich wissen, was damals passiert ist. Es gibt so viele Kränkungen in unserer Familie, weil nie über die Wahrheit gesprochen wurde. Das muss endlich aufhören. Du liebst mich doch, oder?“

Desirees Augen glänzten feucht. „Natürlich, du bist mein Sohn.“

„Dann versuch dich in meine Lage zu versetzen. Bitte! Ich gehe jetzt, aber ich komme wieder. Bitte überleg es dir bis dahin.“ Zum Abschied küsste er seine Mutter auf die Stirn. „Ich liebe dich auch, Mama. Lass mich nicht im Dunkeln zurück.“

Elias konnte nicht spüren, wie ihr Mutterherz blutete. Dieser Schmerz war um einiges größer als der vom Krebs verursachte, der ihren Körper schrittweise zerfraß.

*

Stefan

„Stefan, bist du da?“

Elias stand in der spaltbreit geöffneten Haustür, die eben hinuntergedrückte Türklinke immer noch in der Hand haltend.

„Elias, bist du das?“, kam es kaum hörbar von innerhalb des Hauses.

Elias schob einen Fuß zwischen Türblatt und Rahmen, um die schwere Holztür zu öffnen. Sie ächzte und knarrte, als würde sie bald ihren letzten Dienst als Hauseingang ableisten. Es war nur eine Frage der Zeit, ehe die verrosteten, quietschenden Scharniere die Last der Tür nicht mehr halten konnten.

Staubpartikel flogen durch den Lichtstrahl, der Elias in den Vorraum begleitete. Er ging den ungepflegten Flur entlang Richtung Küche. Ein unangenehm beißender Geruch schlug ihm entgegen. Es roch stechend nach einer Flut von Essig. Stefan stand mit einem Putzeimer in der Küche und versuchte, die alten, verkrusteten Speisereste von den Küchenmöbeln zu kratzen. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

„Du machst sauber?“, rutschte es Elias in ungläubigem Ton heraus.

„Ja, es muss sein. Seit drei Monaten finde ich keine Putzfrau. Schön langsam stinkt hier alles zum Himmel.“

Elias musste grinsen. Dass Stefan einmal einen Putzlappen in die Hand nehmen würde, hätte er nicht gedacht. Hausarbeit war nie sein Ding gewesen. Weder im Haus noch draußen im Garten. Nur fürs Kochen besaß er eine ungebremste Leidenschaft. Er hatte immer genug Geld verdient, um sich die anfallenden, ihm lästigen Arbeiten vom Hals schaffen zu können. Aber in letzter Zeit wurde es immer schwieriger, jemanden zu finden, der die Hausarbeit zu einem angemessenen Preis erledigte. Es war das Zeitalter, in dem sich auch der Gärtner oder das Reinigungspersonal ein sündhaft teures Auto leisten wollte. Nicht zu vergessen waren da auch noch die Kosten für einen Fernseher mit höchster Bildschirmqualität, ein Smartphone und die anderen technischen Spielereien, ohne die heute kaum jemand mehr leben wollte.

„Warum putzt du eigentlich mit Essig?“, wollte Elias wissen.

„Weil ich nichts anderes dahabe. Meine Großmutter machte das auch so, was soll daran schlecht sein?“

„Dass es in der Nase beißt und die Augen zum Tränen bringt.“

Stefan schüttelte den Kopf: „Bist du hier, um mich zu kritisieren?“

„Nein, tut mir leid. Ich bin eigentlich hier, um dich etwas zu fragen.“

Stefan schmiss das Tuch in den Eimer und ging zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen. Mit dem Küchentuch wischte er sorgfältig das übrige Wasser von der Haut und schaute Elias in die Augen: „Schieß los.“

„Wie haben sich Mama und du eigentlich kennengelernt?“

Stefan wandte den Blick von seinem Stiefsohn ab. Er atmete tief durch. „Ich glaub, ich mach uns zuerst einen Kaffee. Ich hab auch noch ein paar Kekse, die ich gestern gebacken habe. Dann reden wir in Ruhe.“

Elias half ihm beim Herrichten. Auf einem Tablett trug er den dampfenden Kaffee und die Schokoladenkekse in den Garten. Er stellte alles auf dem kleinen, runden, schmiedeeisernen Tisch ab und setzte sich auf einen der dazu passenden Gartenstühle. Die einst sattrote Polsterung war einem sonnengeblichenen Orange gewichen.

Stefan folgte ihm mit einer Karaffe Wasser in der einen und zwei übereinandergestapelten Gläsern in der anderen Hand. Schweigend setzten sie sich und tranken ruhig ihre Tasse Kaffee, aßen die köstlichen Kekse und blickten über das wuchernde Grün des Gartens hinweg, der genauso eine Generalüberholung brauchte wie das Innere des Hauses.

„Kommst du von deiner Mutter?“, wollte Stefan wissen.

„Ja, ich war bei ihr. Sie hat mittlerweile akzeptiert, dass es mit ihr zu Ende geht. Sie weiß die gemeinsame Zeit immer mehr zu schätzen, auch wenn sie das Krankenbett hüten muss“, sagte Elias melancholisch.

„Ist sie mit der Pflegerin zufrieden?“, fragte Stefan ehrlich interessiert.

„Ja, sie verstehen sich gut. Mara ist ein Engel. Ich bin froh, dass wir sie haben. Du weißt doch, dass mit Mutter nicht immer gut Kirschen essen ist. Aber Mara überspielt das, meint, sie sei doch todkrank. Gott sei Dank weiß sie nicht, dass Mama im gesunden Zustand auch oft ungemütlich werden konnte“, bemerkte Elias grinsend.

Stefan lachte. „Das ist wahr, Desiree kann sehr ungehalten sein. Das habe ich mehr als einmal am eigenen Leib erfahren müssen. Aber das weißt du ja. Trotzdem tut es mir von Herzen weh, sie so bald verabschieden zu müssen. Weißt du, trotz all dem, was passiert ist, habe ich sie immer noch sehr gerne.“

Stefan wirkte betrübt. Er starrte in seine Kaffeetasse. Beide Männer legten eine kurze Redepause ein. Keiner wollte über den bevorstehenden Tod von Elias’ Mutter, Desiree Benjamin, sprechen.

„Du weißt, dass ich dich liebe?“, begann Stefan erneut in eindringlichem Ton.

„Natürlich“, antwortete Elias, den Blick auf den Boden gerichtet.

„Genauso wie deine Schwestern. Ich hab mich immer als dein Vater gesehen. Schließlich warst du ein Teil unserer Familie.“

Elias nickte. Er schluckte – hoffentlich unbemerkt – den Kloß, der in seinem Hals saß, hinunter.

„Es tat mir weh, als du aufhörtest, mich Papa zu nennen.“ Stefans Augen sahen traurig zu der großen Eiche, die in seinem Garten stand. Efeu rankte sich an ihrem Stamm nach oben.

„Das wusste ich nicht“, antwortete Elias ehrlich, ein reumütiger Unterton schwang in seiner Stimme mit.

„Wenn du nach deinem leiblichen Vater suchst, jagst du einem Phantom nach. Deine Mutter wollte nur das Beste für uns alle, als sie entschied, ihn komplett aus deinem Leben zu streichen.“

„Das heißt, du kennst ihn?“ Elias konnte seine Neugierde nicht verbergen.

„Ja und nein. Er kam einmal zu Besuch, um dich und deine Mutter zu sehen. Aber er riss damit nur alte Wunden wieder auf.“

„War das der Mann, der eines Tages einfach so am Gartenzaun stand?“

Stefan überlegte ein paar Sekunden, ehe er sich zu einer Antwort durchrang. „Ich respektiere die Entscheidung deiner Mutter, dir nichts über seine Identität zu verraten. Aber deshalb bist du ja auch nicht gekommen“, würgte Stefan das Gespräch abrupt ab.

„Nein, ich möchte den Beginn eurer gemeinsamen Geschichte erfahren, ich meine die von dir und Mama.“

Stefan räusperte sich. Eine schwere Wehmut lag in seinen alt wirkenden Augen, er rang sichtlich nach den ersten Worten. Elias wartete geduldig, er wusste, wie schwer es seinem Stiefvater fiel, die Vergangenheit auszusprechen.

„Es war ein sonniger Sommertag im August 1978, der Boden flimmerte vor Hitze. Alle versammelten sich zu einem Dorffest. Das war die Gelegenheit, die Arbeit ruhen zu lassen und gemeinsam mit den Nachbarn zu feiern. Jeder war erleichtert, bei dieser Hitze sein Tagwerk niederlegen zu können. Bis auf ein paar Ausnahmen ließ sich das Spektakel keiner entgehen. Vor allem ich nicht, denn ich war verliebt. In deine Mutter Desiree, damals bildhübsche zwanzig Jahre alt. Nur wusste sie nichts davon, denn ich traute mich nicht, es ihr zu sagen. Aber ich nutzte jede noch so kleine Sekunde, in der ich sie ansehen konnte.“ Eine Träne der Freude rann über seine Wange.

„Das sieht dir gar nicht ähnlich. Ich hab dich immer als sehr ehrlich und direkt erlebt“, warf Elias ein.

„Na ja, ich war jung, genauer gesagt achtzehn Jahre. Und es schüchterte mich enorm ein, dass Desiree zwei Jahre älter war als ich.“

Elias musste kichern.

Stefan blickte ihn mahnend an, musste dann aber auch auflachen, ehe er fortfuhr: „Sie war damals mit meiner Schwester Christina befreundet, sie waren beste Freundinnen. Du weißt, wen ich meine? Tante Christina, die nach Texas ausgewandert ist.“

„Klar, aber du weißt, dass ich sie nie persönlich kennengelernt habe.“

„Eigentlich schade. Du hättest sie gemocht, ein herzensguter Mensch. Etwas zu überdreht, aber ansonsten voll in Ordnung. Na ja, ich machte mir den Umstand zunutze und spionierte die beiden so oft aus, wie es ging. Jeder Blick auf deine Mutter genügte mir, um mich eine begrenzte Zeit lang der Schwärmerei hinzugeben. Und so beobachtete ich sie auch an diesem Tag, ohne ein einziges Wort mit ihr zu wechseln. Es nervte mich, wenn sie mit einem der jungen Männer redete, die Interesse an ihr zeigten. Die hatten auch bemerkt, wie schön deine Mutter war. Ich hatte Angst, nie eine Chance bei ihr zu bekommen, wegen der Blicke, die ihr die Jungs aus dem Dorf zuwarfen.

Aber der absolute Schreckmoment des Tages kam erst zu später Stunde, als fast alle betrunken waren. Es läuft mir heute noch kalt über den Rücken, wenn ich daran denke. Und schuld daran ist mein eigener Vater. Er setzte sich neben Desiree und ich musste zusehen, wie der alte, widerliche Sack seine Hand über ihren Oberschenkel gleiten ließ. Ich wusste, dass er seine Finger nicht von jungen Mädchen lassen konnte. Meine Mutter weinte oft tagelang deswegen, aber nun ging er zu weit. Unfassbare Wut stieg in mir auf. Aber ich war wie gelähmt, genauso wie meine Mutter, die es nicht einmal in Erwägung zog, den Hurenbock vor die Tür zu setzen.

Viel zu lange wartete ich ab, ließ in meiner Handlungsunfähigkeit zu, dass er Desiree nach Hause begleitete. Aber ich folgte ihnen, huschte wie ein Schatten hinter ihnen her. Und es kam, wie es kommen musste. Er führte sie in eine dunkle Ecke. Sie kicherte sogar. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als er meine Desiree küsste. Das war so erniedrigend, mein eigener Vater mit seinen vierzig Jahren küsste ein halb so altes Mädchen, in das sein Sohn verliebt und das die beste Freundin seiner Tochter war. Ich fragte mich ernsthaft, wer ihm ins Hirn geschissen hatte.

Erst als Desiree zu schreien begann, weil er sie zu sehr bedrängte, kam ich zur Besinnung. Wenn ich jetzt nicht eingriff, würde er nicht aufhören, ehe er genug hatte. Davon musste ich ihn um jeden Preis abhalten.

Wagemutig erhob ich meine Stimme: ,Lass sie los, du notgeiler Sauhund.‘

Mein Vater wirbelte herum. ,Ah, mein nichtsnutziger Sohn‘, kam sichtlich enttäuscht aus seinem Mund.

,Hilf mir‘, schrie Desiree panisch. Mein Vater hielt sie immer noch an die Wand gedrückt.

,Siehst du nicht, dass sie Angst vor dir hat?‘, fuhr ich ihn brüllend an.

,Das ist mir ein guter Fick allemal wert. Eine frische Muschi ist weitaus leckerer als die verstaubte deiner Mutter.‘

Diese Worte waren der Auslöser, den ich brauchte, um mich endgültig von ihm zu distanzieren. Angewidert beschloss ich genau in diesem Moment, dass er für mich gestorben war. Aber jetzt hieß es kämpfen um meine große Liebe. In meinen Augen zählte nur noch Desiree.

,Ich warne dich‘, entfuhr es mir etwas zu zittrig.

So als hätte ich nichts zu sagen, wandte er sich wieder Desiree zu und fing an, seinen Penis an ihr zu reiben.

Sie schrie, so laut sie konnte: ,Stefan, hilf mir.‘

Ungeahnte Stärke erfüllte mich. Wütend packte ich meinen Vater von hinten. Dieser drehte sich um und wollte mir einen Kinnhaken verpassen. Aber aufgrund seines Alkoholpegels war ich schneller. Ich rammte mein Knie in seine Weichteile. Er sackte zusammen und lag, sich den Schritt haltend, mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden.

,Du greifst sie nie wieder an und auch kein anderes Mädchen, verstanden?‘

Ahnend, was mir blühen würde, wenn er wieder hochkam, schnappte ich Desirees Hand und wir liefen, so weit uns unsere Beine trugen. Irgendwo am Waldrand verließen uns unsere Kräfte und wir setzten uns ins Gras. Es war immer noch eine angenehm laue Nacht. Der Mond beobachtete unser Gespräch, das wir erleichtert führten.

,Danke, Stefan, das war sehr mutig. Ich wusste gar nicht, wie viel Stärke in Christinas kleinem Bruder steckt‘, schmeichelte sie mir. Anerkennend umfasste sie meinen Oberarm, den ich natürlich sofort angeberisch anspannte.

,Mein Vater ist ein Arschloch, ich schäme mich für das, was er dir angetan hat. Ich bin fertig mit ihm. Das eben hat das Fass zum Überlaufen gebracht‘, erklärte ich Desiree, damit sie wusste, wie sehr ich das Handeln meines Erzeugers verabscheute.