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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

TITEL (ORIGINAL):

You Are What Your Grandparents Ate: What You Need to Know About Nutrition, Experience, Epigenetics & the Origins of Chronic Disease

Text copyright © 2019 Judith Finlayson (foreword by Dr. Kent Thornburg)

THE ORIGINAL ENGLISH LANGUAGE WORK HAS BEEN PUBLISHED BY:

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Wie jede Wissenschaft ist die Medizin ständigen Entwicklungen unterworfen. Forschung und klinische Erfahrung erweitern unsere Erkenntnisse. Soweit in diesem Werk Anwendungsempfehlungen gegeben werden, darf der Leser darauf vertrauen, dass Autoren, Herausgeber und Verlag große Sorgfalt darauf verwandt haben, dass diese Angabe dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes entspricht. Für Angaben über Anwendungsformen, -techniken und -häufigkeiten kann vom Verlag jedoch keine Gewähr übernommen werden.

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© KVM – Der Medizinverlag, Dr. Kolster Verlags-GmbH

Ein Unternehmen der Quintessenz-Verlagsgruppe

Ifenpfad 2–4, 12107 Berlin

www.kvm-medizinverlag.de

1. Auflage 2019

Übersetzung: Sarah Henter, San Javier/Spanien

Redaktion: Viola Lewandowski, Berlin

Design: Laura Palese, Toronto

DNA Icons: shutterstock.com © Marish

Gesamtproduktion: KVM – Der Medizinverlag, Berlin

ISBN (epub): 978-3-86867-518-4

ISBN (print): 978-3-86867-484-2

Für Charlee Moore,
deren Glaube an die Kraft unserer Ernährung,
der Ursprung dieses Buchs war.

INHALT

VORWORT VON DR. KENT THORNBURG

EINLEITUNG

KAPITEL 1

DAVID BARKER UND DIE EPIDEMIOLOGIE

KAPITEL 2

DIE ENTSTEHUNG DER EPIGENETIK

KAPITEL 3

IHRE FAMILIE, IHR GENOM, IHRE ERNÄHRUNG UND IHRE GESUNDHEIT

KAPITEL 4

MEHR ALS NUR ERNÄHRUNG

KAPITEL 5

DIE ERSTEN 1.000 TAGE

KAPITEL 6

KINDHEIT UND JUGEND

KAPITEL 7

ERWACHSENENALTER

KAPITEL 8

ÄLTERWERDEN

KAPITEL 9

IHR MIKROBIOM

NACHWORT

GLOSSAR

DANKSAGUNGEN

QUELLENANGABEN

INDEX

VORWORT

Ich lade Sie dazu ein, dieser Geschichte zu lauschen, die noch nie in ihrer Ganzheit erzählt wurde. Sie deckt auf, wie unsere Sichtweise auf das Entstehen von Krankheit sich in nur drei Jahrzehnten dramatisch geändert hat.

DIE MEDIZIN BERUHT, WIE die meisten Forschungsgebiete, auf Dogmen. Medizinische Dogmen sorgen für ein festgefügtes Verständnis der Ursprünge von Krankheiten, deren Behandlung und darüber, wie relevantes Wissen an die nächste Generation weitergegeben wird. Aber diese Glaubenssätze können auch dazu führen, dass wir allzu zufrieden mit dem Status Quo werden. Wir alle möchten gerne glauben, dass wir die gesamte Bandbreite an Erkrankungen des Menschen bereits verstehen. Werden unsere Glaubenssätze infrage gestellt, wird das schnell als Bedrohung angesehen. Jeder einzelne Forscher weiß jedoch, dass unser Unwissen unser Wissen bei weitem übersteigt. Gerade deshalb ist dieses Buch so spannend: Es deckt neue medizinische Erkenntnisse auf, die die aktuelle Sichtweise auf die Ursprünge von Krankheiten hinterfragen und zeigt uns die allerneusten Ideen zur Entwicklung chronischer Erkrankungen.

Vor 30 Jahren stellte David J. P. Barker, ein mutiger Arzt und Epidemiologe, die damals herrschenden Meinungen zur Herkunft menschlicher Erkrankungen infrage. Er fragte sich, wieso in Nordengland sowohl eine hohe Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen als auch eine hohe Rate an Herzerkrankungen bei Erwachsenen vorlagen, während beides in Südengland nicht der Fall war. Dr. Barker hätte die üblichen Verdächtigen dafür verantwortlich machen können: Infektionserreger, Chemikalien oder die Gene der Patienten. Aber er lehnte diese Erklärungen ab. Stattdessen nahm er an, dass viele Babys im Norden noch im Mutterleib körperliche Einschränkungen erlebten, was auf eine schlechte Ernährung der Mutter und die Belastungen der Arbeiterklasse zurückzuführen war. Seiner Theorie zufolge waren Babys derart davon betroffen, dass es später im Erwachsenenalter zu Herzerkrankungen kommen konnte. Am Ende konnte Dr. Barker seine Theorie beweisen. Somit konnte das Dogma, dass „schlechte‟ Gene allein für die Entwicklung von Krankheiten verantwortlich sind, widerlegt werden.

Der weltweit massive Anstieg von Diabetes, Adipositas und Bluthochdruck in den letzten Jahren ist ein Beweis für Umweltfaktoren, die zur Entwicklung dieser Krankheiten beitragen. Gleiches gilt für die geografische Verteilung dieser Leiden. Aber kann der genetische Code sich schnell genug anpassen, um das Phänomen zu erklären? Haben etwa die Menschen im Süden der USA, wo die Zahl chronisch Kranker weltweit am höchsten ist, einfach die meisten schlechten Gene? Die Antwort auf beide Fragen lautet „Nein‟. Der starke Anstieg dieser Erkrankungen muss mit Umweltfaktoren in Zusammenhang stehen. Eine schlechte Ernährung und Stress können dafür anfällige Gene verändern. Dies ist die Grundlage der Epigenetik, ein kürzlich anerkannter Mechanismus, der die Grundlage von Gesundheit und Krankheit darstellt.

Es wäre ein Fehler zu denken, dass unsere Gene mit dem Risiko der Entwicklung einer chronischen Krankheit nichts zu tun haben. Je mehr die Forschung voranschreitet, desto klarer wird, dass unser genetischer Aufbau den Grad bestimmt, zu dem unsere frühkindliche Umgebung unser Krankheitsrisiko als Erwachsene beeinflusst. Weder Natur noch Erlernung allein sind des Rätsels Lösung. Nur wenn wir sie als Einheit sehen, kommen wir der Lösung auf die Spur.

Seit Dr. Barkers Entdeckung hat sich unser Verständnis von Krankheiten, die auf „Umweltfaktoren‟ beruhen, dramatisch geändert. Wir wissen, dass eine Fehlernährung einen Embryo in der Entwicklung negativ beeinflussen kann, bevor die zukünftige Mutter auch nur als schwanger angesehen wird. Wir wissen, dass Veränderungen in der Genexpression, die durch Stress und Fehlernährung hervorgerufen werden, über Generationen an den Nachwuchs weitergegeben werden. Diese Erkenntnisse haben unsere Sichtweise auf die menschliche Fortpflanzung geändert.

Geschichten über medizinische Themen sind schwer zu erzählen. Die Handlung kann schnell kompliziert werden, wenn die wissenschaftlichen Details uns Kopfschmerzen bereiten oder – noch schlimmer – wenn nur die Oberfläche angekratzt wird und die Genauigkeit abhanden kommt. Judith Finlayson kennt sich mit der Wissenschaft des frühkindlichen Wachstums und mit Ernährung bestens aus und weiß um die lebenslangen Konsequenzen, die damit zusammenhängen. Sie erklärt schwierige medizinische Konzepte auf eine klare, freundliche Weise, ohne dabei an Genauigkeit einzubüßen. Es gibt viele Gesundheitsbücher, die wissenschaftlich argumentieren, um die eigenen Ideen zu verkaufen, aber nur wenige beruhen auf solch gut recherchierten Informationen wie Judith Finlaysons Faktensammlung.

Was Sie in den Händen halten, ist nicht einfach das nächste Gesundheitsbuch, das gerade in Mode ist. Es erklärt, warum wir momentan die größte Gesundheitsepidemie der menschlichen Geschichte erleben, warum wir vollwertigere Nahrung kaufen müssen, warum wir bessere Lebensmittelrichtlinien und -gesetze brauchen und wieso wir unser Augenmerk auf die Gesundheit und Ernährung junger Frauen und Männer legen müssen, die gerade zur nächsten Generation heranwachsen. Judith Finlayson zeigt uns eine neue und spannende Sicht darauf, wie wir zu unserem heutigen Zustand schlechter Gesundheit gekommen sind und was wir dagegen in der Zukunft tun können.

Kent L. Thornburg, PhD

M. Lowell Edwards Chair, Professor für Medizin, Knight Cardiovascular Institute

Director, Bob and Charlee Moore Institute of Nutrition and Wellness

Oregon Health & Science University

EINLEITUNG

David Barker war im Jahr 1969 ein junger Arzt, der in Kampala, Uganda lebte und dort die Buruli-Ulkus-Erkrankung erforschte. Damals glaubte man, dass diese entstellende Krankheit durch Stechmücken übertragen wird.

NACHDEM DR. BARKER ABER die örtlichen Flussufer erkundet hatte, stellte er fest, dass die Erkrankung in Wirklichkeit durch kleine Wunden in den Körper eintrat, die durch messerscharfe, am Nilufer wachsende Gräser verursacht wurden. Es war wohl nicht das erste Mal, dass seine Meinung von der seiner Ärztekollegen abwich, aber dieser relativ kurze afrikanische Abstecher war der Auslöser für eine Karriere, die alle Paradigmen sprengen sollte und für ein Leben, das er der Entschlüsselung des Ursprungs chronischer Erkrankungen widmen würde. Sein intellektueller Freigeist legte den Grundstein für eine neue Herangehensweise an chronische Krankheiten, die darauf basiert zu untersuchen, wie Babys sich zunächst im Mutterleib und später als Kleinkinder entwickeln und wachsen.

In meiner Jugend herrschte noch die alte Denkweise vor. Damals besagte die Doktrin des Gesundheitswesens (und zu einem großen Teil tut sie das auch heute noch), dass Erkrankungen wie Adipositas, Diabetes, Herzerkrankungen und sogar Krebs durch den Lebensstil im Erwachsenenalter hervorgerufen werden: eine zu kalorienreiche und nährstoffarme Ernährung, Zigaretten, Alkohol und zu wenig Bewegung.

All diese Dinge tragen sicherlich zur Entstehung dieser Krankheiten bei, aber David Barker hat uns gezeigt, dass ihre Wurzeln woanders zu suchen sind: in den ersten 1.000 Tagen unseres Lebens ab der Empfängnis und auch noch viel früher. Wer hätte gedacht, dass unser Risiko, eine chronische Krankheit zu bekommen, dadurch beeinflusst werden könnte, wie unsere Großmütter sich ernährten, ob unsere Großväter schon früh mit dem Rauchen begannen oder unsere Eltern ein Kindheitstrauma erlitten, lange bevor wir überhaupt geboren wurden. Nicht einmal David Barker ahnte, was ihn erwartete, als er seine Forschungen begann und sprichwörtlich über die entwicklungsbedingten Ursprünge von Krankheit und Gesundheit stolperte.

Der Epidemiologe David Barker verstarb im Jahr 2013 und seine Arbeit bildet die Grundlage für dieses Buch. Seine frühen Arbeiten deckten eine Verbindung zwischen dem Wohnort von Menschen und der Wahrscheinlichkeit, bestimmte Krankheiten zu bekommen, auf. Über die Jahre führte ihn seine Forschung zur Epigenetik, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Heute steht dieser Bereich der genetischen Forschung hoch im Kurs, da eine Verbindung zu allem besteht, was wir tun: wie wir uns ernähren, wie viel Sport wir treiben oder wie schnell wir altern. Grob gesagt ist die Epigenetik die Verbindungen zwischen unseren Genen und unserer Umwelt.

Stark vereinfacht kann man sagen, dass viele Erlebnissen einen Einfluss auf das haben, was wir als Genexpression kennen. In den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaftler immer mehr darüber herausgefunden, wie unsere Gene auf äußere Stimulation, wie etwa die Ernährung, die unser Körper als Embryo im Mutterleib erhält, reagieren. Unsere DNA ändert sich zwar nicht an sich, aber Stressfaktoren, wie eine schlechte Ernährung, können Reaktionen auslösen, die die Genexpression verändern, wodurch das Risiko für chronische Erkrankungen, von Herzkrankheiten und Diabetes bis zu einigen Krebsarten, erhöht wird. Einige dieser Veränderungen, die im Mutterleib (in utero) stattfinden, könnten an zukünftige Generationen weitergegeben werden.

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ICH MÖCHTE MEIN BUCH mit der Geschichte einiger früher Forschungsarbeiten von Dr. Barker beginnen, die bestimmte Regionen mit Herzerkrankungen in Verbindung brachten. In dem Jahrzehnt, in dem er seinen Atlas of Mortality from Selected Diseases in England and Wales, 1968 to 1978 herausgab, nahm man gemeinhin an, dass vor allem gut betuchte Patienten an Herzerkrankungen litten. Wie kam es also, fragte er sich, dass seine Karten zeigten, dass Männer in den ärmeren Regionen Englands deutlich häufiger an der Erkrankung litten? Es reichte Dr. Barker nicht aus, einfach nur statistische Diskrepanzen aufzuzeichnen. Er wollte wissen, was dahintersteckte. Er war sich sicher, dass er etwas Bedeutendem auf der Spur war, als er herausfand, dass die Regionen mit einem erhöhten Risiko für Herzerkrankungen auch höhere Kindersterblichkeitsraten aufwiesen. Hatten die Herzerkrankungen etwa mit einer Anfälligkeit zu tun, die noch aus der Kindheit stammte? Falls dies so war, musste er mehr darüber erfahren, was diese Menschen als Babys und Kleinkinder erlebt hatten.

Nun tritt Ethel Margaret Burnside, ihres Zeichens Hauptgesundheitsbeauftragte und Hebammenprüferin von Hertfordshire (und einer meiner Lieblingscharaktere dieser erstaunlichen Geschichte) auf den Plan. E. Margaret, wie sie sich gern nennen ließ, begann ihre Arbeit im Jahr 1911. Sie fuhr mit ihrem Fahrrad übers Land und wachte über ihre Gruppe von Krankenschwestern und Hebammen, die sie alle eigenhändig darauf getrimmt hatte, sorgfältig relevante Informationen zu allen Geburten und Babys der Grafschaft aufzuzeichnen. Es war die Entdeckung dieser Aufzeichnungen, die es David Barker ermöglichte, den ersten großen Schritt in Richtung der Identifizierung fötaler Ursprünge chronischer Krankheiten zu unternehmen. Die Informationen aus diesen Dokumenten führten Barker zu einer Hypothese, die 1986 in der Zeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde. Unglücklicherweise wurde seine Idee, dass Herzerkrankungen das Ergebnis eines langen Prozesses sind, der bereits mit schlechter Ernährung im Mutterleib beginnt, von den meisten seiner Kollegen nur müde belächelt.

Einige Forscher (von denen mindestens einer später ein geschätzter Kollege und Freund wurde) setzten sich sogar daran zu beweisen, dass Barker sich irrte – doch ohne Erfolg. In der Zwischenzeit arbeitete Dr. Barker weiter mit mehreren Kollegen an seinen Forschungen und veröffentlichte zahlreiche Studien, die schlechte Ernährung in der Schwangerschaft mit langfristig negativen Folgen für die Gesundheit des Nachwuchses in Verbindung brachten.

Für Dr. Barker wendete sich das Blatt um die Jahrtausendwende. Im Jahr 2000 veröffentlichten einige prominente und zuvor skeptische amerikanische Forscher einen Artikel in der Zeitschrift Paediatric and Perinatal Epidemiology, in dem sie aussagten, dass sie sich doch von seinen Ideen überzeugt hatten. Einige Jahre später wurde David Barker eingeladen, vor den prestigeträchtigen U.S. National Institutes of Health (NIH), der größten biomedizinischen Forschungsbehörde der Welt, zu sprechen. Mit dieser ehrenvollen Aufgabe wurde anerkannt, dass seine Forschungsergebnisse zu den fötalen Ursprüngen von Krankheiten nicht länger nur eine Hypothese darstellten. Seine Ergebnisse wurden als bewiesene Fakten angesehen.

Über die Jahre bauten viele weitere Forscher auf Dr. Barkers Arbeit auf, indem sie die Methoden der Epidemiologie nutzten, um Verbindungen zwischen Faktoren wie Geburtsgewicht, Voranschreiten des Kindeswachstums und chronischen Erkrankungen wie Diabetes und Herzerkrankungen herzustellen. Heute gibt es eine beachtliche Menge an Forschungsarbeiten, die Ihre Erfahrungen im Mutterleib (und die Ihrer Eltern und Großeltern) mit der Wahrscheinlichkeit, eine chronische Krankheit zu entwickeln, in Verbindung bringen. Die Mechanismen, die hierfür verantwortlich sind, sind zahlreich und komplex. Sie beginnen in utero und haben nicht nur mit den Genen zu tun, die Sie von Ihren Eltern erben, sondern auch damit, wie Ihre Organe sich je nach angemessener oder unangemessener Ernährung entwickeln, sowie mit dem komplexen Prozess, den wir Genexpression nennen.

Der 100-Jahre-Effekt handelt von diesem relativ neuen Erklärungsansatz zu chronischen Erkrankungen, der nun als „entwicklungswissenschaftliche Ursprünge von Gesundheit und Krankheit (Developmental Origins of Health and Disease, DOHaD)‟ bekannt ist und der auf der Arbeit von David Barker beruht. Dr. Barkers Analyse der Daten aus Hertfordshire war nur die erste von vielen Studien, die zeigen, dass eine Mangelernährung während der Schwangerschaft den Metabolismus derart verändert, dass das Risiko für bestimmte Krankheiten später im Leben erhöht wird. Seine Ideen bilden heute die Grundlage für viele Forschungskooperationen auf der ganzen Welt, die die Zusammenhänge zwischen dem Leben im Mutterleib und einer Anzahl chronischer Krankheiten untersuchen. Die Wissenschaftler konnten wiederholt einen Zusammenhang zwischen chronischer Krankheit im Erwachsenenalter und fötalen Erlebnissen im Mutterleib nachweisen und zwar nicht nur aufgrund schlechter Ernährung, sondern auch durch andere Faktoren wie Traumata und Kontakt mit Giftstoffen.

Dieses Buch ist in drei grundlegende Teile gegliedert. Die Kapitel 1 bis 4 sorgen für ausführliches Hintergrundwissen: Enthalten ist unter anderem die bemerkenswerte Detektivgeschichte, ganz à la Agatha Christie, die Dr. Barkers Entdeckung der Daten dokumentiert, die er zur Aufstellung seiner grundlegenden Prinzipien benötigte. Kapitel 2 erkundet die Evolution der Genetik und der Epigenetik, die einen der wichtigsten Schritte zur Aufdeckung des Zusammenhangs zwischen fötaler Erlebniswelt und Gesundheit im Erwachsenenalter darstellt. Kapitel 3 konzentriert sich auf die Vererbung, einschließlich der Vorgänge, die bei der Weitergabe familiärer Erlebnisse ablaufen und die biologisch auf die nächste Generation übertragen werden. Insbesondere wird der sogenannte „100-Jahre-Effekt‟ besprochen, der erklärt, inwiefern die Ernährungsgewohnheiten Ihrer Großmutter das genetische Material, aus dem Sie bestehen, beeinflusst haben. In Kapitel 4 werden diese Themen vertieft, wobei das Augenmerk auf nicht die Ernährung betreffenden Krankheitsauslösern liegt, wie traumatische Erlebnisse, Aussetzung gegenüber Giftstoffen sowie soziale und ökonomische Stressbedingungen.

Im zweiten Teil des Buchs, in den Kapiteln 5 bis 8, wird die Entwicklungsgesundheit durch die verschiedenen Lebensabschnitte hindurch, von der Schwangerschaft und frühen Kindheit bis zur Pubertät, dem Erwachsenen- und Greisenalter hin, betrachtet. Im Allgemeinen kann man sagen, dass die ersten 1.000 Tage, ab dem Moment der Empfängnis bis zum zweiten Geburtstag eines Kindes, den Lebensabschnitt darstellen, der über das verfügt, was die Experten „maximale Entwicklungsplastizität‟ nennen. Ein Fötus ist überaus empfindlich gegenüber Einflüssen negativer Umweltfaktoren. Wie Sie sich im Mutterleib entwickeln, hat einen enormen Einfluss auf Ihren Gesundheitszustand für viele Jahrzehnte. In der Kindheit und Jugend können Wachstumsmuster und das Timing bestimmter Entwicklungsschritte, wie der Pubertät, Veränderungen darstellen, die auf Störungslinien hinweisen, wodurch das Risiko für zukünftige Gesundheitsprobleme vorhergesagt werden kann.

Die Kapitel 7 und 8 betrachten genau die wichtigsten chronischen Erkrankungen unserer Zeit. Es bestehen offensichtlich Zusammenhänge zwischen all diesen Krankheiten, von denen viele auf Entwicklungsprogrammierung zurückgeführt werden können. Hier geht es hauptsächlich um die lebenslangen Konsequenzen, die sich aus den Erfahrungen im Mutterleib und während der frühen Kindheit ergeben, sowie um intergenerationelle Vererbung und den negativen Einfluss von Faktoren wie einer obesogenen Umgebung. Die gute Nachricht ist, dass sogar kleine Änderungen der Ernährung und von Bewegungsmustern zu positiven Veränderungen in der Genexpression führen können, die dabei helfen, den Herausforderungen für den Körper entgegenzuwirken.

Kapitel 9 konzentriert sich auf das interessante Universum der Bakterien, die auf und in unserem Körper leben. Diese Bakterien und ihre Gene sind als Mikrobiom bekannt, eine Einheit, die eine so wichtige Rolle für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden spielt, dass sie häufig „zweites Genom‟ genannt wird. David Barker verstarb zu dem Zeitpunkt, als das Mikrobiom als ernstzunehmendes Forschungsgebiet wahrgenommen wurde. Auch er hatte in seinen Arbeiten bereits auf das Potenzial des Mikrobioms hingewiesen und ich nehme an, dieses bakterielle Ökosystem hätte sein Interesse geweckt. Wir wissen inzwischen, dass das Mikrobiom wahrscheinlich im Mutterleib angelegt wird und dass sein Einfluss systemisch ist, also den ganzen Körper betrifft. Unsere bakteriellen Begleiter spielen eine wichtige Rolle in verschiedenen Körpersystemen, wie dem Metabolismus, dem Immunsystem und sie sind sogar für unser Gehirn von Bedeutung. Da Dr. Barker ein Epidemiologe war, nehme ich an, er wäre fasziniert davon gewesen zu erfahren, dass es z. B. auch an unserem Wohnort liegt, welche Bakterien in unserem Darm vorkommen. Und ich bin mir sicher – er hätte sich in die Forschungen vertieft, die Unausgeglichenheiten der bakteriellen Zusammensetzung mit chronischen Erkrankungen wie Übergewicht, nicht alkoholischer Fettleber und sogar Allergien in Zusammenhang bringt. Es würde ihn wohl auch kaum überraschen zu erfahren, dass das Mikrobiom das Epigenom beeinflusst, von dem er annahm, dass es die Voraussetzungen für chronische Krankheiten schafft.

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BEVOR ICH David Barkers Arbeit entdeckte, war auch ich dem konventionellen Wissen verschrieben, dass chronische Krankheiten mehr oder weniger das Ergebnis der Gene, die wir von unseren Eltern erben, und des Lebensstils, den wir wählen, sind. Nun sehe ich das Konzept von Krankheit und Wohlbefinden in einem vollkommen anderen Licht. Natürlich, unsere Gene spielen eine Rolle. Vielleicht können wir sie uns wie Schauspieler in einem Film vorstellen. Aus der Genomperspektive ist Ihr Epigenom der Regisseur: Es gibt an, wann eine Szene anfängt und sagt jedem Gen, was es zu tun hat.

Traditionell haben wir über die relativen Einflüsse von Natur und Erlernung diskutiert, als handele es sich um zwei sich bekämpfende Lager. Doch heute wissen wir dank der Epigenetik, dass unser Lebensstil zwar eine wichtige Rolle bei der Entwicklung chronischer Krankheiten spielt, aber doch nicht so, wie wir uns das vorgestellt hatten. Natur und Erlernung sind eng miteinander verbunden – denken Sie nur an das Bild der Doppelhelix. Wie diese beiden Parallelstränge der DNA interagieren Natur und Erlerntes und wirken sich somit auf alle Aspekte Ihres Lebens aus. Und es geht noch weiter: Ihre Auswirkungen beschränken sich nicht auf Sie oder Ihre Eltern, sondern ziehen sich durch Generationen hinweg. Einige Informationen in diesem Buch sind nicht gerade gute Neuigkeiten. Aber zum Glück wissen wir, dass epigenetische Veränderung umgekehrt und Risiken abgeschwächt werden können. Dazu habe ich viele praktische Informationen mit in das Buch aufgenommen, z. B. zu guter Ernährung während der Vorbereitung auf eine Schwangerschaft.

Ich glaube, die Ideen in diesem Buch können jedem zugutekommen. Auch wenn die wissenschaftlichen Fakten oft komplex sind, habe ich doch mein Bestes getan, um sie auf verständliche Weise zu erklären und die relevanten Informationen aus der großen Menge von Forschungsarbeiten auszuwählen. Da ich mir denke, dass Sie vielleicht ein wenig Unterstützung bei der Erklärung der Bedeutung einiger Begriffe benötigen, habe ich an das Ende des Buches ein Glossar angehängt. Ich hoffe, ich habe es geschafft, wenigstens einen Teil der Begeisterung wiederzugeben, die ich selbst bei der Erforschung dieses faszinierenden Themas verspürt habe, und dass die Informationen, die ich mit Ihnen teilen möchte, Sie dabei unterstützen werden, positive Veränderungen für Ihre Gesundheit umzusetzen.

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Der Mensch bringt alles, was er hat oder haben kann, mit sich in die Welt. Der Mensch wird geboren wie ein Garten, bereits fertig gepflanzt und gesät.

— WILLIAM BLAKE

IHRE SCHÖPFER NANNTEN SIE „Anfälligkeitskarte“, eine bunt kolorierte Grafik, die auf einen Blick zeigte, wie sich das Auftreten von Krankheiten über England verteilte. Im Jahr 1984, nach Jahren der Arbeit am Atlas of Mortality from Selected Disease in England and Wales, 1968 to 1978 konnten David Barker, ein Epidemiologe, und Clive Osmond, ein Statistiker, Wohlstand (bzw. das Nicht-Vorhandensein desselben) mit bedeutenden Gesundheitsunterschieden in Verbindung bringen. Was Herzerkrankungen betraf, waren in bestimmten Landesteilen – und zwar in den ärmsten – weite Bereiche rot eingefärbt. Dieses Ergebnis war zunächst verwirrend, wurden Herzerkrankungen doch jeher mit Wohlstand in Verbindung gebracht. Dennoch bestätigte ihre Forschung, dass in einem Zeitabschnitt von 50 Jahren Menschen, die wegen ihres Wohngebiets als arm betrachtet wurden, signifikant höhere Raten an Herzerkrankungen hatten. Sie starben auch früher als ihre Zeitgenossen. Bei näherem Hinsehen fanden die Wissenschaftler heraus, dass 50 Jahre zuvor dieselben Regionen auch höhere Kindersterblichkeitsraten verzeichnet hatten, als es die Norm war.

Die Frage war: Inwiefern hat Armut mit Kindersterblichkeitsraten und Herzerkrankungen im späteren Leben zu tun? Barker vermutete, dass das Verbindungsglied irgendeine Art von Anfälligkeit im Kindesalter sein musste. War es vielleicht die Armut? War es möglich, dass arme Menschen einfach anfälliger für die Widrigkeiten des Lebens waren? Mit der Zeit, und teils durch puren Zufall, sammelte Dr. Barker die Daten, die es ihm ermöglichen sollten, die kausale Lücke zwischen einem Lebensbeginn in Armut (und zwar ab dem Zeitpunkt der Empfängnis) und chronischen Erkrankungen im Erwachsenenalter zu schließen.

Wie alles begann

Vereinfacht gesagt identifiziert die Epidemiologie Gruppen von Personen, die auf Grundlage spezifischer Kriterien ein erhöhtes Risiko haben, an einer Krankheit zu leiden. In Dr. Barkers Fall waren das die ökonomischen Konditionen, die den Lebensraum bestimmten. Epidemiologen können Ihnen ein Lied davon singen, dass eines ihrer größten Probleme die Migration ist. Der Gesundheitszustand von Migranten reflektiert zwar nicht den Langzeitzustand einer bestimmten Region, aber sie hat statistische Auswirkungen auf die Gesamtergebnisse. Wenn Sie z. B. hohe Raten an Kindersterblichkeit aufgrund der Informationen im Atlas erwarten würden, diese aber nicht auftreten, würden Sie sich wahrscheinlich fragen, ob Migration etwas damit zu tun hat. Und eine solche Anomalität ist tatsächlich auch das, was Barker und Osmond in einer der Regionen, die sie untersuchten, vorfanden. In den Slums der Londoner City war die Kindersterblichkeit zwischen 1921 und 1925 erstaunlich niedrig.

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Epidemiologie:

Das Studium von Krankheitsmustern in verschiedenen Personengruppen im Hinblick auf die Identifizierung zugrundeliegender Krankheitsursachen. Durch die Untersuchung von Bevölkerungsgruppen statt Einzelpersonen hat die Epidemiologie den Grundstein für öffentliche Gesundheitsinterventionen gelegt, die darauf ausgerichtet sind, die Gesundheit großer Personengruppen zu verbessern.

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Kindersterblichkeit im viktorianischen London

Wie jeder, der Charles Dickens gelesen hat, weiß, lebten am Ende des 19. Jahrhunderts viele verarmte Londoner in überfüllten, unhygienischen Verhältnissen. Erinnern Sie sich noch an Oliver Twist und seine herzzerreißende Bitte nach mehr Schleimsuppe? Trotz dieser entsetzlichen Zustände starben nur wenige Babys vor der Geburt.

Der Sozialreformer Charles Booth dokumentierte das Leben der Londoner Arbeiterklasse in dieser Epoche und seine Forschungen wiesen auf eine Erklärung der überraschend niedrigen Kindersterblichkeitsraten hin. Er beobachtete, dass die meisten der jungen Menschen, die aus den umliegenden Dörfern nach London zogen, die widerstandsfähigsten Mitglieder der Gemeinden waren. Ebenso wie viele Immigranten aus anderen Ländern hatten sie ihr Zuhause verlassen, weil sie auf der Suche nach einem besseren Leben waren – nach einem „bekannten wirtschaftlichen Vorteil“, wie Booth es nannte. Robuste Teenager-Mädchen, die auf Bauernhöfen gesundes Essen bekommen hatten, wurden als Haushaltshilfen angestellt. Für diese Arbeit in der feinen Londoner Gesellschaft wurden sie vielleicht schlecht bezahlt, aber sie waren weiterhin gut genährt. Und wenn sie schwanger wurden, bekamen sie gesunde Babys, die mit großer Wahrscheinlichkeit überlebten.

Eine Vorahnung von Zusammenhängen

David Barker begann zu vermuten, dass es eine Verbindung zwischen Lebensumständen, fötaler Ernährung und Herzerkrankungen im späteren Leben gab. Er wusste, es gab Forschungen, die seine Annahme unterstützten. Im Jahr 1973 ergab eine Studie unter Mitarbeitern der Firma Bell System, dass diejenigen Mitarbeiter, deren Eltern Angestellte waren, eine geringere Wahrscheinlichkeit hatten, Herzerkrankungen zu bekommen, als solche, deren Eltern aus Arbeiterfamilien stammten. Ein norwegischer Arzt mit dem Namen Anders Forsdahl arbeitete ebenfalls in diesem Feld. 1977 veröffentlichte er einen Bericht auf Grundlage von Statistiken, die er von seiner Regierung erhalten hatte, der einen Zusammenhang zwischen Armut in der Kindheit und Herzkrankheiten im Erwachsenenalter herstellte. Auch er vermutete, dass ein niedriger sozialer und wirtschaftlicher Status in der Kindheit eine lebenslange Anfälligkeit für schlechte Gesundheit verursacht.

In den 1970er Jahren erforschte eine Reihe von Sozialwissenschaftlern die sozialen Ursprünge von verschiedenen Erkrankungen körperlicher und geistiger Art. Doch obwohl seine Vermutungen nun langsam Anhänger fanden, hatte Barker nicht genug Beweise, um die Ernährung in den ersten Jahren mit Erkrankungen im Erwachsenenalter in Verbindung zu bringen. Er wusste, dass seine Theorie einer genauen Prüfung nicht standhalten würde, bis er mehr Informationen zu Babys analysieren konnte. Er benötigte harte Fakten zu Geburten und sozialen Gegebenheiten und wie gut (oder schlecht) es den Kindern in den ersten Lebensjahren erging.

Eine neue Hypothese

Um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Regierung Großbritanniens höchst besorgt über die immer schlechter werdende Gesundheit der Briten. Eines von 10 Kindern erlebte seinen ersten Geburtstag nicht. Presseberichten zufolge wurden ganze zwei Drittel der jungen Männer, die sich als Freiwillige für den Burenkrieg meldeten, abgelehnt, da sie gesundheitlich nicht fit genug waren. Der zuständige Amtsarzt des Gesundheitswesens in Hertfordshire, einer Grafschaft im Südosten von England, entschloss sich, etwas gegen diesen mitleidserregenden Zustand zu unternehmen: Er benannte die erste „Hauptgesundheitsbeauftragte und Hebammenprüferin von Hertfordshire“, Ethel Margaret Burnside. Er hatte keine Ahnung, wie wichtig diese Benennung noch sein sollte – nicht nur für Hertfordshire, sondern für Menschen auf der ganzen Welt und fast ein ganzes Jahrhundert später.

E. Margaret, wie sie sich gerne nannte, war von hoher Gestalt (fast 1,80) und eine recht imposante Person. Sie nahm ihre Arbeit im Jahr 1911 auf und hatte schon bald eine regelrechte Armee von Helferinnen rekrutiert, die wir heutzutage als Hebammen und Pflegekräfte im öffentlichen Gesundheitsbereich bezeichnen würden. Ihr Job war es, Geburtshilfe zu leisten und Ratschläge zur richtigen Kleinkindpflege zu erteilen, sobald die Kinder einmal auf der Welt waren. Es war außerdem erforderlich, dass sie ihre Arbeit genauestens dokumentierten. E. Margaret war eine praktisch veranlagte Verwalterin, die auf ihrem Fahrrad in der Grafschaft herumfuhr und dafür sorgte, dass ihre Schwestern ihre Aktivitäten bis ins kleinste Detail aufzeichneten. Nach nur einem Jahr zeigte der Kilometerzähler an ihrem Rad 4.700 Kilometer an.

Es heißt, dass der Bezirkssekretär von Hertfordshire aufgrund der beeindruckenden Persönlichkeit Burnsides zustimmte, dem Hebammenteam 60 Federwaagen zur Verfügung zu stellen. Die Schwestern wurden angewiesen, die Babys zum Zeitpunkt der Geburt und zum ersten Geburtstag zu wiegen. E. Margaret sorgte dafür, dass diese Informationen, zusammen mit genauen Details zu Krankheiten und jeglicher Sorge über die Entwicklung, sorgfältig auf Karteikarten eingetragen wurden. Zum ersten Geburtstag des Babys wurde die jeweilige Karteikarte bei der Grafschaftsverwaltung abgegeben, wo die Informationen in die Bücher übertragen wurden.

Die Hertfordshire-Aufzeichnungen

Die Aufzeichnungen aus Burnsides Arbeit wurden bis 1948 gut verwahrt, dem Jahr, in dem der englische National Health Service gegründet wurde. Danach wurden sie in einem öffentlichen Gebäude gelagert, wo sie langsam aber sicher verstaubten und in Vergessenheit gerieten. Springen wir vor in die 1980er Jahre: David Barker hatte begonnen, sich systematisch mit den örtlichen Gesundheitsbehörden in Kontakt zu setzen, um die Geburtsaufzeichnungen zu finden, die er so dringend brauchte. Aber es lief zunächst nicht gut. Doch dann kam ein Glückstreffer: eine Antwort von der Grafschaft Hertfordshire, die ihn darüber benachrichtigte, dass man dort einige alte Ordner gefunden hatte, die ganz versteckt in einem Abstellraum unter der Treppe gelegen hatten. Diese Register dokumentierten die Geburten tausender Kinder von 1911 bis 1945 sowie deren Wachstumsmuster und wie sie bis zum ersten Geburtstag ernährt worden waren. Ganz im Geiste E. Margarets enthielten die staubigen, übergroßen Bücher detaillierte Kommentare zu den Babys, ihren Müttern und den sozialen Umständen der Familien. Um genau zu sein, enthielten sie derart viele persönliche Daten, dass die Behörde Dr. Barkers Bitte, auf die Aufzeichnungen zugreifen zu dürfen, zunächst aus Datenschutzgründen ablehnte.

Zum Glück war das Schicksal auf seiner Seite. Die Ordner enthielten Informationen zu Babys, die in dem Dorf Much Hadham geboren worden waren, einem Ort, den David Barker nur zu gut kannte. Während des Zweiten Weltkriegs waren er und seine Mutter, wie viele britische Frauen und Kinder, aufs Land evakuiert worden, um sie vor den Luftangriffen auf London zu schützen. Much Hadham war genau das Dorf, in dem er und seine Mutter aufgenommen worden waren und wo auch seine Schwester geboren wurde. Da die Aufzeichnungen seiner eigenen Schwester in den Büchern eingetragen waren, erhielt Dr. Barker Zugriff auf das Material.

Im Sommer 2018 habe ich einen Ausflug nach Southampton gemacht, wo die Bücher heute aufbewahrt werden. Ich fand sie überaus faszinierend, nicht nur wegen der darin enthaltenen Informationen, sondern auch, weil sie so ganz offensichtlich aus einer anderen Zeit stammen. Sie sind mit Feder und Tinte verfasst und sehen aus wie Artefakte aus der Zeit Charles Dickens‘, wie die Bücher eines Finanzbuchhalters mit Spalten für Einnahmen und Ausgaben. Wenn man sie sozusagen live sieht, ist es schwer zu begreifen, dass sie die Grundlage einer der bedeutendsten Entdeckungen auf dem Gebiet des Gesundheitswesens des 20. Jahrhunderts sind.

Aufdeckung der Zusammenhänge

Nachdem er Zugang zu den Büchern bekommen hatte, brauchte Dr. Barker ein System, um die Informationen darin auch nutzbar zu machen. Die Aufzeichnungen wurden an seine Abteilung der University of Southampton weitergeleitet, wo das Material in aufwändiger Kleinstarbeit in Computer eingegeben wurde. Nachdem dieser Schritt abgeschlossen war, wurden Sterblichkeitsstudien auf Grundlage der Informationen durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt kam Dr. Caroline Fall ins Team, eine Ärztin, die an ihrer Doktorarbeit zum Thema Epidemiologie arbeitete. Ihre Aufgabe war es, die Männer und Frauen aufzuspüren, deren Geburtsdaten in den Ordnern aufgezeichnet worden waren. Hierzu nutzte das Team einen zweiteiligen Ansatz, bei dem zum einen die Personen identifiziert werden sollten, die bereits verstorben waren, indem ihre Sterbeurkunden lokalisiert wurden. Im zweiten Teil sollten die noch lebenden Personen gefunden werden. „Als Forscher waren wir glaubwürdig, und es war uns möglich, diejenigen Personen zu identifizieren, deren Geburten in den Ordnern aufgezeichnet worden waren, sie anzusprechen und einfach zu fragen, ob sie an einer Folgestudie teilnehmen würden“, kommentierte Dr. Fall. Sobald sie einmal gefunden waren, wurden die Teilnehmer dazu eingeladen, sich in Kliniken, die über das ganze Land verteilt waren, einzufinden. Dort wurden sie genauestens zu ihrem Gesundheitszustand im Erwachsenenalter befragt.

Das erste Ergebnis der Studie war die sogenannte Barker-Hypothese, die 1986 im Lancet, einer angesehenen medizinischen Zeitschrift, veröffentlicht wurde. Durch die Auswertung der Hertfordshire-Aufzeichnungen waren Dr. Barker und sein Team in der Lage, einen Zusammenhang zwischen einer suboptimalen Umgebung im Mutterleib, einem geringen Geburtsgewicht (unter 2,5 kg) und einem Risiko für Herzerkrankungen im späteren Leben herstellen.

Von der Hypothese zum akzeptierten Fakt

Würde ich sagen, dass Dr. Barkers Hypothese zunächst auf Skepsis stieß, wäre das noch untertrieben. Zum einen stand seine Hypothese im Gegensatz zu den damals aktuellen Informationen der öffentlichen Gesundheitsbehörden, die Ernährung und Lebensstil für Herzerkrankungen verantwortlich machten. Einige Experten setzten sich daran, seine Hypothese zu wiederlegen, aber mit der Zeit kam immer mehr Evidenz zum Vorschein, die Dr. Barkers Ideen stützte. Am Ende wechselten viele Zweifler zur Gegenseite über.

Der Wendepunkt kam im Jahr 2000 als der Epidemiologe Matthew W. Gillman von der Harvard Medical School und Janet W. Rich-Edwards, die an der groß angelegten Nurses’ Health Study mitarbeitete, den Artikel The Fetal Origins of Adult Disease: From Sceptic to Convert veröffentlichten. Sie gestanden ihre frühere Resistenz gegenüber Dr. Barkers Ergebnissen und räumten ein, dass sie sich am Ende durch die „Dutzenden von Studien“, die seine Ideen bestätigten, hatten überzeugen lassen.

Der niederländische Hungerwinter

Irgendwann Mitte der Neunzigerjahre führte Dr. Barker ein Gespräch mit einem niederländischen Geburtshelfer, der ihn darauf hinwies, dass ein wahrer Schatz an Geburtsinformationen in Amsterdam versteckt sei: die Gesundheitsdokumentation über Frauen, die im Wilhelmina Gasthuis zu einer bestimmten Zeit im Zweiten Weltkrieg ein Kind bekommen hatten. Die Ursprünge des Gasthuis lagen weit in der Vergangenheit – seine Geschichte geht zurück bis in die Zeit um 1600, als es ein Krankenhaus für Pestopfer war. Jahrzehntelang war es das wichtigste Lehrkrankenhaus Amsterdams und im Zweiten Weltkrieg hatte es auch als Entbindungsklinik gedient. Die Liebe der Niederländer fürs Detail führte dazu, dass für jede Schwangere genauste Aufzeichnungen zum Schwangerschaftsverlauf, zur Geburt und zu wichtigen Informationen über die Nachkommenschaft geführt wurden.

Tessa Roseboom, Professorin für frühkindliche Entwicklung an der Universität Amsterdam, arbeitet seit mehr als 20 Jahren mit diesen Daten. Wie sie mir in einem Interview mitteilte, werden medizinische Aufzeichnungen in den Niederlanden üblicherweise nach 15 Jahren vernichtet. Aus unbekannten Gründen entgingen die Dokumente des Wilhelmina Gasthuis diesem Schicksal und landeten stattdessen auf dem Dachboden des Gebäudes. Als in den frühen Neunzigerjahren ein neues Krankenhaus als Teil des hochmodernen Academisch Medisch Centrum gebaut wurde, kamen die Aufzeichnungen wieder zum Vorschein und wurden ins Stadtarchiv verbracht. Das waren die Materialien, von denen Dr. Barker gehört hatte. Er erkannte ihr Potenzial und schritt zur Tat.

1996 war Tessa Roseboom noch Doktorandin. Sie war Teil eines Teams, das sich mit den Dokumenten des Wilhelmina Gasthuis beschäftigte, als der Forschungsleiter unvorhergesehen seine Arbeit beendete. So wurde sie von einem Tag auf den anderen zur Leiterin des Forschungsprojekts. Sie begann mit David Barker an der sogenannten Dutch Famine Birth Cohort Study (Kohortenstudie zu den Geburten im niederländischen Hungerwinter) zu arbeiten. Die Ursprünge des Materials gehen auf tragische Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs zurück. Im Winter 1944 erkannten die deutschen Befehlshaber, dass sie kurz vor der Niederlage gegen die Alliierten standen. Sie beschlossen, durch eine Sperrung der Eisenbahnverbindung die Nahrungslieferungen in Teile der Niederlande, unter anderem nach Amsterdam, zu unterbrechen. Dieses Embargo, das als „Verschwörung, um eine gesamte Nation verhungern zu lassen“ bezeichnet worden ist, dauerte sieben Monate, bis zum Mai 1945, als das Land von alliierten Truppen befreit wurde.

Es war ein besonders harter Winter und die zuvor wohlgenährte Bevölkerung stand in kürzester Zeit knapp vor dem Hungertod. Die tägliche Energieaufnahme fiel unter 1.000 Kalorien. Auf dem Höhepunkt der Hungersnot war die Verpflegung so knapp, dass die Menschen weniger als 400 Kalorien am Tag zu sich nahmen. Manche Menschen waren so hungrig, dass sie Tulpenzwiebeln aßen. Durch die Kälte, den Hunger und die andauernde Sorge hatten ansteckende Krankheiten leichtes Spiel und auch die Sterblichkeitsrate stieg an. Die Belastung war unerträglich. Frauen waren oft allein während der Schwangerschaft, da ihre Männer nicht zuhause waren – vielleicht sogar im Konzentrationslager. Manche hatten ihre größeren Kinder bereits fortgeschickt, da sie kein Essen für sie hatten.

Der niederländische Hungerwinter, wie er heute genannt wird, war jedoch ein fruchtbares Feld für die Forschung. Zum einen dauerte er nur wenige Monate. Zum anderen war eine genau definierte Gruppe davon betroffen – alle Menschen im westlichen Teil der Niederlande – die alle genau zur gleichen Zeit Hunger litten. So konnten die Forscher die Auswirkungen einer Hungersnot auf spezifische Abschnitte der Schwangerschaft untersuchen. Die Niederländer sind weltweit als hervorragende Landwirte bekannt, und vor der Hungersnot waren die Frauen wohlgenährt. Sobald die alliierten Truppen das Land befreit hatten, gingen sie auch wieder zu ihrer früheren Ernährungsweise über. Wie Tessa Roseboom kommentiert, „erkannten die Leute sofort, dass es sich um eine einzigartige Möglichkeit handelte, die Auswirkungen von Hungersnöten auf die Schwangerschaft und den Nachwuchs zu erforschen. Dies wurde zum ersten Mal bereits 1947 in dem Artikel The Effect of Wartime Starvation in Holland Upon Pregnancy and Its Product (Die Auswirkungen der Kriegshungersnot in Holland auf Schwangerschaft und Schwangerschaftsergebnis) beschrieben.“

Als Tessa Roseboom begann, mit Dr. Barker zu arbeiten, war bereits ein halbes Jahrhundert vergangen. Die Kinder, deren Mütter während der Hungersnot schwanger gewesen waren, waren nun 50 Jahre alt. Der Beweis für die Theorie, dass der Grundstein für chronische Erkrankungen im Mutterleib gelegt wird und diese sich langsam über Jahrzehnte hinweg entwickeln, war irgendwo unter dieser Probandengruppe zu finden. Tatsächlich waren sie als Gruppe deutlich weniger gesund als die Vergleichsgruppe. Menschen, deren Mütter während der Hungersnot schwanger gewesen waren, hatten eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, an Herzerkrankungen zu leiden und auch die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht, Diabetes, hohen Blutdruck und einen hohen Cholesterinspiegel war höher als bei Personen, deren Mütter unter normalen Umständen schwanger gewesen waren.

Die Helsinki-Verbindung

Wie bereits gesagt, waren in den Neunzigerjahren die meisten Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinde davon überzeugt, dass Barkers Hypothese falsch war. Einer dieser Wissenschaftler war Johan Eriksson, ein Epidemiologe aus Helsinki. „Ich hörte zum ersten Mal von Barkers Hypothese auf einer großen europäischen Diabetes-Konferenz. Bei der Konferenz lachten die Leute über die Idee, dass ein geringes Geburtsgewicht einen Risikofaktor für Herzerkrankungen darstellen sollte“, erzählte er mir in einem Interview. „Da wurde mir klar, dass ich Zugang zu Geburtsaufzeichnungen von Krankenhäusern und anderen Daten hatte, von denen ich sicher war, dass sie zeigen würden, dass David Barker falsch lag.“

Um 1993, bevor er seine Kritik an Dr. Barkers Arbeit abschließen konnte, nahm Dr. Eriksson an einer kleinen, von der Europäischen Union organisierten Zusammenkunft teil. Es waren Experten aus dem Bereich der entwicklungswissenschaftlichen Ursprünge von Krankheiten eingeladen worden, und auch David Barker war vor Ort. „Der Veranstalter tauchte nicht auf, also gingen David und ich zusammen zum Mittagessen“, erinnerte sich Dr. Eriksson. „Dann haben wir noch ein Bier oder zwei auf dem Flughafen getrunken.“ Als die beiden Männer sich kennenlernten, wurden zwei Dinge schnell klar: Sie waren sich persönlich überaus sympathisch und Dr. Eriksson hatte Zugriff auf ein riesiges Informationsvolumen, das sehr nützlich sein konnte, um eine genauere Verbindung zwischen der Entwicklung von Krankheiten im Erwachsenenalter und frühkindlichen Erfahrungen herzustellen. „Davids Hertfordshire-Aufzeichnungen endeten mit dem ersten Lebensjahr der Babys“, sagte mir Dr. Eriksson. „In Finnland konnten wir das Wachstum während der gesamten Kindheit überprüfen. David interessierte sich sehr dafür und lud mich nach Southampton ein, wo der Hauptteil seiner Forschungen durchgeführt wurde.“

Im nächsten Jahr lud Dr. Eriksson David Barker nach Finnland ein. Sie machten es sich auf einer Dachterrasse gemütlich, wo sie einen Antrag für eine bedeutsame Subvention der British Heart Foundation ausfüllten. Auf Grundlage von Dr. Erikssons Schatz an finnischen Daten wurde der Antrag angenommen. Die Studie konzentrierte sich nicht nur auf die Wichtigkeit des vorgeburtlichen Wachstums, sondern auch auf die Beziehung zwischen Wachstum im Kindheitsalter und koronaren Herzerkrankungen. Die erste von vielen Veröffentlichungen auf Grundlage der Helsinki Birth Cohort Study (HBCS) erschien 1997 im British Medical Journal. Danach veröffentlichen die beiden mehr als 120 Studien gemeinsam. „Ohne David und ohne die British Heart Foundation hätte die Helsinki Birth Cohort Study nie die Bedeutung erlangt, die ihr letztendlich zugekommen ist“, kommentierte Dr. Eriksson.

Die Helsinki Birth Cohort Study

Aus verschiedenen Gründen verfügt Finnland über eine lange Geschichte schlechter Gesundheit, die sich in der Vergangenheit in hoher Kindersterblichkeit, einer hohen Sterblichkeit der männlichen Bevölkerung sowie hohen Raten an Typ-1-Diabetes und anderen Markern zeigte. Das Land hat aber auch traditionell starke Sozial- und Gesundheitseinrichtungen. 1934 wurden Kliniken für das Kindheitswohl in Helsinki eingerichtet und Mitarbeiter des Gesundheitssystems begannen, das Geburtsgewicht von Neugeborenen aufzuzeichnen. In dieser ersten Datenaufzeichnungswelle wurden Informationen zu 13.000 Kindern erfasst. Danach wurden Gewicht und Wachstum dieser Kinder bis zum elften Geburtstag regelmäßig überprüft.

Für Leute wie David Barker waren diese Aufzeichnungen Gold wert. In seinem Buch Nutrition in the Womb (Ernährung im Mutterleib) bezieht er sich auf ihre Bedeutung: Zum ersten Mal konnten Forscher untersuchen, ob Menschen, die einen Schlaganfall erlitten hatten oder an Herzkrankheiten oder Diabetes litten, anders herangewachsen waren und sich entwickelt hatten als andere. Die Antwortet lautete „Ja“.