1.png

o

Demontage

Ein autobiografischer Roman

Ingeborg Lange

o

Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.herzsprung-verlag.de

www.papierfresserchen.de

info@papierfresserchen.de

© 2019 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2019

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-96074-048-3 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-157-2 - E-Book (2020)

*

Inhalt

I

II

III

IV

V

VI

Autorin

*

I

An einem heiteren Morgen Anfang August wurde Rolf begraben.

Der Sarg aus billiger Fichte, ohne jeden Blumenschmuck, erschien mir winzig, wie er da in der kargen Kapelle – als hätte man ihn versehentlich vergessen – mitten im Gang stand. Ich erinnerte mich des kräftigen, breitschultrigen Mannes und konnte mir nicht vorstellen, dass sein massiger Körper in diese schmale Kiste passen könnte. Einen Moment lang keimte Hoffnung in mir auf, dass er gar nicht der Tote war.

Rolfs jüngster Sohn Roman aß mit gutem Appetit vor dem Totenhaus sein Frühstücksbrot. Seine spindeldürre, verhärmt aussehende Ehefrau erweckte den Eindruck, irrtümlicherweise auf diesen Friedhof verschlagen worden zu sein, aber nicht das Mindeste mit der Angelegenheit zu tun zu haben, während das zweijährige Kind des älteren Sohnes Benedikt ungehindert und fröhlich vor sich hin babbelnd versuchte, den Sarg zu öffnen, was glücklicherweise nicht gelang.

Wie versteinert hockten einige grau-schwarz Gewandete bewegungslos und in sich zusammengesunken auf den wenigen Stühlen – die wenigen Weggefährten des Toten aus dem Pflegeheim, in dem er die letzten zwei Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Rolfs älterer Bruder Wilhelm war aus München angereist und machte einen genervten, ruhelosen und irritierten, aber keinesfalls traurigen oder betroffenen Eindruck. Er beschränkte sich darauf, mir flüsternd seinen Ärger darüber mitzuteilen, dass der dritte, vielleicht noch lebende, aber seit Jahren verschwundene jüngere Bruder Andreas immer noch nicht gefunden worden war, dabei hätte er von ihm noch reichlich Geld zu bekommen. Der einzige Kommentar zum Tode seines Bruders Rolf lautete: „Ein schrecklich rechthaberischer Mann!“

Und dann war da noch Rolfs ehemaliger Schwager Reinhard, der Bruder seiner ersten Frau Hannah. Ich war sehr verwundert, ihn bei dieser Gelegenheit anzutreffen. Er schien der Einzige, der ein Mindestmaß an Betroffenheit aufbrachte. Ich erinnerte mich an die Zeit, als ich – beste Freundin seiner jüngeren Schwester Pauline – in seinem Elternhaus ein und aus gegangen war. Reinhard war immer schon ein Stiller gewesen, unauffällig und in sich zurückgezogen. Pauline und ich wollten ihn damals ständig in Kneipen und Discos mitschleppen, aber er hatte niemals Lust dazu. Nur Autorennen konnten ihn hinter dem Ofen hervorlocken, ansonsten blieb er lieber mit einem Buch auf dem Sofa und alleine. Er hatte sich seinerzeit geweigert, das elterliche Geschäft zu übernehmen, und war deswegen bei seiner Familie in Ungnade gefallen. In den Augen seiner Eltern war „nichts aus ihm geworden“. Er fristete nun sein Dasein als kleiner Verkäufer in einer Buchhandlung und hatte auch nie die berühmte richtige Frau gefunden. Eine Zeit lang hatte ich gedacht, er sei schwul, aber wahrscheinlich war er einfach nur ein Eigenbrötler. Roman war ein lieber Mensch, jemand, der jedem Streit aus dem Wege ging, jemand mit einem sanften Lächeln und einer leisen Stimme. Jetzt schien er aus dem ganzen Familienclan, der jahrzehntelang Großbürgertum vorgegaukelt hatte und inzwischen samt und sonders ruiniert war, der Einzige zu sein, der Trauer empfinden konnte für einen Mann, der ihn ein ganzes Stück auf seinem Lebensweg begleitet hatte. Ich war froh, dass er da war.

Außer dem Kinderlachen, dem Geraschel des Brötchenpapiers und gelegentlichem Hüsteln gab es kein Geräusch, und die Stille schien - trotz der sommerlichen Wärme – alles in Eis zu verwandeln. Ich musste mich zwingen, an diesem ungastlichen Ort auszuharren, an dem nicht eine einzige Kerze brannte und ein Mensch mit dem minimalsten Aufwand, der überhaupt möglich war, unter die Erde gebracht werden sollte. Die Situation war zu grotesk, um Schmerz zu verursachen. Ich hatte das Gefühl, etwas völlig Unwirkliches zu erleben.

Um Punkt 11 Uhr drückte ein Mann in schwarzem Anzug aus einer Gruppe von vieren, die draußen lustlos herumgestanden und miteinander leise getuschelt hatten, auf einen Knopf an der Kapellenwand, und sofort durchschnitt der dünne Ton der Totenglocke die Stille. Das klagende, gleichförmige, aber gleichwohl unaufhörliche Gebimmel ließ die Armseligkeit dieses ansonsten völlig lautlosen Rituals noch dramatischer erscheinen.

Die vier Männer erbarmten sich des kleinen Sarges, der nackt und kahl auf einer Rollvorrichtung stand, und bugsierten ihn kreuz und quer über den weitläufigen Friedhof. Die sogenannte Trauergemeinde folgte stumm, gemessenen Schrittes und mit unbewegten Mienen. Eine Pflegerin, die einen Rollstuhl schob, verlor auf einem abschüssigen Wegstück beinahe die Kontrolle, und ein Absturz des Rollstuhles samt Insasse schien unvermeidlich. Alle anderen glotzten nur blöd, keiner eilte zu Hilfe, niemand sprach ein Wort, aber glücklicherweise konnte der Rollstuhl von der sich abmühenden Pflegerin im letzten Moment noch gebremst werden. Ich konnte ein hysterisches Lachen, das in mir immer stärker an die Oberfläche drängte, kaum unterdrücken.

Der Morgen war sonnig und mild, das Licht tanzte durch das Laub der uralten Bäume, als die vier schwarz gekleideten Fremden den toten Körper der Liebe meines Lebens zu seinem letzten Platz auf diesem Planeten karrten. Die Grube – auch sie erschien mir erschreckend eng und kurz – wartete schon unter einer riesigen Eiche. „Das hätte ihm gefallen“, dachte ich, „unter dem Dach eines schön gewachsenen großen Baumes zu liegen.“ Bei dem Gedanken verschwand das Gefühl der Unwirklichkeit für einen ganz kurzen Moment und machte plötzlich einem heftigen Schmerz Platz.

Kein Priester tauchte auf, niemand sprach ein Gebet, niemand sagte überhaupt irgendetwas. Offensichtlich irritiert ob dieser Form-, Pietät- und Wortlosigkeit hoben die vier Männer in den schwarzen Anzügen den Sarg über die Grube und senkten ihn dann ab, standen noch ein wenig unschlüssig herum, um sich dann ein Stück weit zu entfernen.

Eine schöne junge dunkelhaarige Frau trat an die Grube, warf eine rote Rose hinein und weinte lautlos. Ich dachte verwundert, dass es Rolf selbst in todkrankem Zustand offenbar noch verstanden hatte, schöne junge Frauen zu beeindrucken, und erstaunt stellte ich fest, dass ich eifersüchtig war auf diese fremde junge Frau.

Die anderen Trauergäste, meist betagte Heimbewohner, zeigten keinerlei Reaktionen, sondern standen nur verloren herum. Rolfs Söhne und ihre Frauen schauten indifferent und ungeduldig – und das zweijährige Kind wurde langsam unleidlich. Ich fragte Benedikt im Flüsterton, ob ich mich in Zukunft mit um das Grab seines Vaters kümmern sollte.

„Nein, das brauchst du nicht“, meinte er, „wir werden uns alle überhaupt nicht mehr darum kümmern, und so wird es – da es niemand pflegt – automatisch von der Friedhofsgärtnerei nach ein paar Monaten wieder eingeebnet. Wir haben uns dahin gehend erkundigt. Aber danke trotzdem.“

Ich sah Benedikt bei dieser ungeheuerlichen Aussage fassungslos an und ich hörte, wie die junge Frau neben mir, meine jetzt fast erwachsene Tochter, die unter der Obhut des Verstorbenen, als er noch sein Leben mit uns teilte, ein unbeschwertes Stück Kindheit erlebt hatte, scharf den Atem einzog.

Endlich, nach kurzer, jedoch endlos scheinender Zeit am offenen Grab entschloss sich die Familie, diesen unwirtlichen Ort der Erinnerung an die eigene Vergänglichkeit schnell zu verlassen und wieder zur Tagesordnung überzugehen. Die Verabschiedung der Familienmitglieder voneinander glich der nach einem geselligen Abend an der Haustür: „Tschüss, man sieht sich.“ Die Söhne und ihre Frauen schlenderten von dannen, als hätten sie an einem Picknick teilgenommen. Sie hatten noch viel zu erledigen, flogen sie doch alle am nächsten Tag nach Schweden zu einem ihrer traditionellen Familientreffen. Rolfs alter Bruder schlurfte mehr, als dass er schritt, was auf einen Gehirnschlag zurückzuführen war, den er vor Jahren erlitten hatte, aber niemand bot ihm hilfreich den Arm. Rolfs ehemalige Mitbewohner aus dem Altenheim gingen grau und still, wie sie gekommen waren, fort, und die schöne junge Frau, die eine rote Rose in das Grab geworfen und geweint hatte, schob den Rollstuhl.

Nun waren wir alleine auf dem stillen schattigen Friedhof vor der Grube mit dem viel zu kleinen Sarg – mein Kind und ich. Ich hatte es nicht über mich gebracht, an das Loch zu treten und Erde auf die kleine Kiste zu werfen. Es erschien mir respektlos und grausam diesem Mann gegenüber, den ich zuerst bewundert und später geliebt hatte. Ich hatte es nicht über mich gebracht, auch nur eine einzige Träne zu vergießen, und wenn man mich gefragt hätte, wie ich mich fühlte, ich hätte in diesem Moment keine Antwort gewusst. Ich fühlte mich überhaupt nicht, ich fühlte nichts. Ich verstand jetzt den Sinn des Begriffes „außer sich sein“. Ich war außer mir. Ich stand einfach da und rührte mich nicht und sagte nichts und fühlte nichts und existierte nicht. Der Mann, mit dem ich den Rest meines Lebensweges hatte gehen wollen, der Mann, der meiner Tochter ein Vater gewesen war, es gab ihn nicht mehr. Er hatte mich über dreißig Jahre meines Lebens begleitet. Jetzt war er einfach weggegangen, und man hatte ihn in ein Loch versenkt und verscharrt wie ein totes Tier.

Die vier Männer, die eben noch dunkle Anzüge getragen und den Sarg über endlose verschlungene Wege geschoben hatten, erschienen in einem weißen, sich langsam der Grube nähernden Lieferwagen mit der Aufschrift Friedhofsamt. Sie trugen nun Arbeitskleidung, waren mit Schaufeln bewehrt und schienen unschlüssig, ob sie ihre Arbeit aufnehmen oder lieber noch warten sollten. Sie entschieden sich, noch zu warten.

„Das können wir nicht zulassen, Mama“, zischte meine Tochter, „nicht einmal bei meinem Vater würde ich das wollen, obwohl der nie etwas für mich getan hat! Wir können doch nicht einfach weggehen und Rolf vergessen. Und in ein paar Wochen ist hier einfach nur Gras und alle Leute laufen darüber!“ Sie hatte Zorn und Schmerz in den Augen und Wut in der Stimme, und ich hätte sie am liebsten in den Arm genommen.

„Nein, das werden wir auch nicht“, beruhigte ich sie und im selben Moment wusste ich, dass die Entscheidung, die ich gerade für mich getroffen hatte, richtig war und wichtig für meine Trauer um diesen Mann.

Mein Blick musste den Arbeitern signalisiert haben, dass sie nun kommen und ihre Arbeit tun könnten, denn sie näherten sich zögernd. „Stimmt das, dass ein Grab, wenn man sich nicht darum kümmert, nach einiger Zeit eingeebnet wird?“, fragte ich den einen.

„Ja“, sagte er, „wenn wir sehen, dass niemand da ist, der das Grab pflegt, dann säen wir Gras darüber.“

„Das möchten wir aber hier nicht“, sagte ich. „Wir haben uns gerade entschieden, dass wir uns um das Grab kümmern werden. Der Verstorbene war ein guter Freund der Familie.“ Warum hatte ich nicht gesagt: „Der Verstorbene war die Liebe meines Lebens.“ Ich wusste es nicht. Ein bisschen kam ich mir vor wie Judas, der seinen Herrn verleugnet, und ich schämte mich.

„Das war ja eine nette Gesellschaft“, sagte der andere Arbeiter, „die sahen doch wirklich alle nicht arm aus, aber was die für ein Theater gemacht haben, damit es ja nichts kostet! Wir erleben das ja ab und zu schon mal, aber nicht häufig, und auch nicht bei Leuten, die so nach Geld aussehen.“

„Warum hat das Grab kein Holzkreuz mit Namen?“, fragte ich.

„Weil das zu teuer gewesen wäre“, meinte ein dritter Arbeiter hämisch.

„Wo bekommen wir denn nun einen Holzrahmen her, um das Grabfeld abzugrenzen?“, fragte ich.

Die Männer sahen sich an, und einer meinte dann: „Lassen Sie mal, gute Frau, wir machen das für Sie. Wir haben hier noch Rahmen, einen davon nehmen wir nachher, wenn das Grab aufgefüllt ist, als Einfassung. Wenn Sie heute Nachmittag wiederkommen, dann sieht das schon ganz anders aus.“ Die anderen drei Arbeiter nickten zustimmend und machten sich ans Werk. Mein Kind und ich gingen still und langsam und versteinert traurig fort.

Nachmittags fuhr ich wieder zum Grab. Zu Rolf. Ich nahm eine Laterne mit, die in meinem Stall stand und vom Grab meines Patenonkels stammte. Als ich sie vor noch gar nicht so langer Zeit vom Friedhof geholt hatte, weil das Grab nach Jahrzehnten eingeebnet worden war, hätte ich niemals gedacht, dass ich sie so bald schon auf Rolfs Grab würde stellen müssen.

Ich kaufte einen Strauß weißer Rosen mit roten Rändern an den Blüten, weil mir dunkelrote Rosen übertrieben erschienen, hatte ich doch in den letzten Jahren meine Leidenschaft für diesen Mann aus den Augen verloren, und nahm meinen Hund mit, den er mir vor Jahren zum Geschenk gemacht hatte.

Die Arbeiter hatten den Grabhügel sorgfältig aufgeschüttet und mit einem Holzrahmen versehen. Ich legte die Rosen auf die Erde und zündete eine Kerze in der Laterne an. Ich sah durch die Bäume das Gasthaus im Tal schimmern, auf dessen Terrasse ich so oft mit ihm gesessen hatte, nachdem wir mit den Hunden gewandert waren, in dessen Gaststube wir abends bei Kerzenschein hin und wieder gegessen und Pläne für die Zukunft geschmiedet hatten.

Er war mir so nah wie schon lange nicht mehr. Ich sah ihn mir gegenüber sitzen, dieses ironische Lächeln in den Augen. Ich meinte, seine Stimme zu hören und seine Haut zu riechen, und da erst fing ich an, haltlos, trostlos, verzweifelt zu weinen.

Ich ging in die Hocke, umarmte meinen Hund, sagte dem Toten, dass ich ihn liebe, fragte ihn schluchzend, warum das alles so tragisch enden musste, klagte ihn an, dass er mich alleine gelassen hatte, verließ tränenblind den Friedhof, lief mit dem Hund ziellos über die Wege des Tals, die wir früher gemeinsam gegangen waren, und konnte nicht aufhören zu weinen, um diesen Mann, um meine Liebe, um meinen letzten verlorenen Traum.

*

II