image

Cinzia Sciuto

Die Fallen
des Multikulturalismus

Laizität und Menschenrechte
in einer vielfältigen Gesellschaft

Aus dem Italienischen von Johannes von Vacano

image

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016 bis 2020 unterstützt.

Die Originalausgabe ist 2018 unter dem Titel Non c’è fede che tenga. Manifesto laico contro il multiculturalismo bei Feltrinelli in Mailand erschienen.

© 2018 Feltrinelli, Mailand

eISBN 978-3-85869-891-9

Meiner Schwester Serena,
die mir beigebracht hat,
hartnäckig zu sein

Inhalt

Einleitung

Die Prämissen dieses Buchs

Der Aufbau des Buchs

1.Laizität als Voraussetzung der Demokratie

Laizisten und Gläubige, ein falscher Gegensatz

Laizität und Säkularisierung, nicht nur im Westen

Konfessionalismus oder Laizität – tertium non datur

Laizität als Selbstbestimmung

2.Religion als gesellschaftliches und kulturelles Phänomen

Gegen den Essenzialismus

Religionen im Diesseits

Privilegien der Religionen

Fundamentalisten aller Länder vereinigt

Fundamentalismen und Frauenrechte. Warum Feminismus ausschließlich laizistisch sein kann

3.Der Islam – eine neue europäische Religion

Die vielen Gesichter des Islams in Europa

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Islamophobie

Die »Kopftuchfrage« – worum es nicht geht

Kopftuch und Entscheidungsfreiheit

Die Bedeutung des Kopftuchs und seine politische Verwendung

Verbieten oder nicht verbieten – das ist hier nicht die Frage

4.Die Aporie der Identität

Das Bedürfnis nach Identität

Vom Individuum zur Gruppe und andersherum. Die Wege der Identität

Auf der Seite des Individuums, gegen den Individualismus

Universale Emanzipation versus identitäre Anerkennung

5.Individuum versus Gemeinschaft. Multikulturalismuskritik aus kosmopolitischer Perspektive

Die Täuschung des Multikulturalismus

Das Missverständnis des »Respekts« und die unbewussten Rassisten

Gruppenrechte – eine Contradictio in Terminis

Finger weg von den Kindern

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich

Die Light-Variante des Rechtspluralismus. Akkomodationismus und Pontiuspilatismus

Ein Beispiel von Rechtspluralismus: die Scharia-Tribunale

Der kosmopolitische Standpunkt

Als Schluss. Für ein Projekt universaler Emanzipation

Anmerkungen

Bibliografie

Dank

»Die Zukunft hängt von uns selbst ab, und wir sind von keiner historischen Notwendigkeit abhängig.«

Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Einleitung

Die Prämissen dieses Buchs

Diese Untersuchung geht von der ganz allgemeinen Prämisse aus, dass wir in Europa heutzutage in Gesellschaften leben, die in ethnischer, religiöser und kultureller Hinsicht immer komplexer werden. Diese Situation rührt zum Teil von den Migrationserscheinungen her, die unsere Epoche prägen, zum Teil aber auch vom generellen Verlust eines einheitlichen kulturellen Horizonts innerhalb der jeweiligen politischen Gemeinschaft. Mit anderen Worten, unsere Gesellschaften werden immer inhomogener, was sicher auf neue kulturelle Elemente zurückgeht, die von außen eingegeben werden, was aber auch an zentrifugalen Schüben im Inneren liegt, die flüchtige Gesellschaften ausmachen.1

Gegenüber dieser Tatsache lassen sich drei verschiedene Standpunkte einnehmen: Erstens kann man sie per se als einen Unwert betrachten und folglich eine Rückkehr zu möglichst homogenen Gemeinschaften herbeiwünschen (sofern es überhaupt jemals Gemeinschaften einer gewissen Größe gegeben hat, die man wirklich homogen nennen könnte). Das führt unmittelbar – und notwendigerweise – zu einer antidemokratischen, identitären und extrem rechten Politik. Zweitens kann man sie per se als Wert betrachten und sich einer »unsichtbaren Hand« anvertrauen, die dieses Gemenge mit der Zeit schon in Einklang bringen wird (eine fideistische Haltung, die an Aberglauben grenzt). Drittens kann man sie als hochgradig ambivalentes Phänomen betrachten, das keine intrinsische Rationalität aufweist und weder einen eigenen Zweck verfolgt noch per se einen Wert oder Unwert darstellt, als ein soziales und menschliches Phänomen, das daher mit einer kritischen Haltung und mithilfe einer entschlossenen politischen Vision untersucht, verstanden und behandelt werden muss. Eine solche kritische Haltung ist meiner Meinung nach als einzige einer demokratischen und progressiven Betrachtungsweise angemessen.

Neben diese faktische Prämisse wird eine Wertprämisse gestellt, eine eindeutige ethisch-politische Ausrichtung. Im Folgenden wird dargelegt, weshalb unter Voraussetzung der genannten Fakten und aus der genannten ethisch-politischen Perspektive die vorteilhafteste Haltung eines freiheitlich-demokratischen Staates angesichts dieser Komplexität eine strikte Laizität ist.

Im Gegensatz zur Aussage Jürgen Habermas’, dem zufolge »in komplexen Gesellschaften die Gesamtheit der Bürger nicht mehr durch einen substanziellen Wertekonsens zusammengehalten werden kann, sondern nur noch durch einen Konsens über das Verfahren legitimer Rechtsetzung und Machtausübung«,2 muss man meiner Meinung nach gerade in komplexen Gesellschaften unbedingt einen Kern gemeinsamer substanzieller Werte identifizieren. Dieser Kern darf ruhig klein sein, wenn er nur stabil ist, und er muss, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Menschenrechte und Laizität enthalten.

An dieser Stelle muss die ethisch-politische, also normative Betrachtungsweise unterstrichen werden, die dieser Arbeit zugrunde liegt. Allzu häufig wird nämlich im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs der normative Ansatz zugunsten einer Sichtweise vernachlässigt, die als deskriptiv und soziologisch gilt und vorgibt, neutral zu sein. Der Verzicht auf eine normative Herangehensweise bedeutet jedoch auch, dass man auf die Politik verzichtet und sich schlichtweg von den Ereignissen mitreißen lässt, als ob die Geschichte bereits in Stein gemeißelt wäre.

Um diese Gefahr zu verdeutlichen, sei zitiert, was der französische Politikwissenschaftler und renommierte Islamexperte Olivier Roy im Hinblick auf Zwangsehen schreibt – eine Entwicklung, die sich leider auch in Europa wieder zunehmend ausbreitet: »Die Presse spricht ständig von ›Zwangsehen‹, dabei sind die meisten dieser Ehen keinesfalls ›erzwungen‹, sondern ›arrangiert‹, was bedeutet, dass das Mädchen sich dafür entscheidet, mitzuspielen.«3 Das klingt, als würde das Fehlen physischer Zwänge genügen, um den Zwangscharakter zu eliminieren. Eine Beobachtung der tatsächlichen Dynamiken solcher Eheschließungen – was selbstverständlich unverzichtbar ist, um das Phänomen zu analysieren – ersetzt jedoch keinesfalls die ethisch-politische Einschätzung: Eine Ehe ist »erzwungen« nicht bloß in den seltenen Fällen, in denen physischer Zwang ausgeübt wird, sondern immer dann, wenn der Wille derjenigen, die eine Ehe einzugehen im Begriff sind, nicht beachtet, erstickt, untergeordnet, unterdrückt oder auch nur verfälscht wird. Und im Fall der sogenannten »Kindsbräute« handelt es sich ausnahmslos um Zwangsehen, per definitionem, selbst wenn eine ausdrückliche Zustimmung seitens der Braut vorliegen sollte: Angesichts ihres Alters – fünfzehn, dreizehn, manchmal sogar bloß elf Jahre – kann nicht von einer wirklich freien Entscheidung ausgegangen werden. Es sind zahllose Ursachen denkbar, weshalb ein Mädchen, um es mit Roy zu sagen, »sich dafür entscheidet, mitzuspielen«, was aber das »Spiel« keinesfalls weniger erzwungen macht.

Um die Dinge nicht beim Namen nennen zu müssen, geht Roy dazu über, sie als »komplexe Beziehungen« zu bezeichnen, von denen »manche mit einer gewissen Regelmäßigkeit in Dramen« mündeten.4 Da Worte die Voraussetzung für das Handeln sind – nur wenn eine Sache benannt ist, kann man sie erkennen und entsprechend agieren –, erfährt unsere Herangehensweise an das Phänomen eine radikale Veränderung, wenn anstelle von »Zwangsehen« nun von »komplexen Beziehungen« die Rede ist. Im einen Fall sehen wir davon ab, Urteile zu fällen und einzuschreiten, schließlich handelt es sich um »komplexe Beziehungen«, bei denen zahlreiche Variablen bedacht werden müssen und aus denen man sich vielleicht besser heraushält. Im anderen Fall wird jedoch sofort unsere Entrüstung mobilisiert, und wir setzen uns dafür ein, einen Vorgang zu beenden, der einige der grundlegendsten Menschenrechte verletzt, und zwar in der Mehrzahl der so geschlossenen Ehen die von Frauen und Mädchen.

Vielleicht sollte bereits im Voraus auch klargestellt werden, dass im Folgenden die Äußerungen sich auf Europa beziehen. Wenngleich die Prinzipien, auf denen dieses Buch fußt, wie alle Prinzipien einen universellen Anspruch erheben, wurde es vor dem aktuellen europäischen Hintergrund verfasst. Somit ist der Bezugsrahmen zwar eingeschränkt, gleichzeitig aber präzise.

Nicht zuletzt geht diese Arbeit von der Überzeugung aus, dass im politischen Denken der Linken (dem dieses Buch zuzuordnen ist) ein großer Fehler begangen wird, wenn man die außergewöhnliche strukturelle Macht gerade jener Elemente unterschätzt, die allzu häufig als untergeordnet, oberflächlich, »überstrukturell« abgetan werden; gemeint ist die Macht, soziale Dynamiken und Beziehungen zu formen. Sämtliche Punkte, die in diesem Buch behandelt werden – Religionen, Kulturen, Laizität, Identität, Menschenrechte –, sind oft von der Linken vernachlässigt worden, wo stattdessen die vorherrschende Tendenz, die Lösungen an immer anderer Stelle suchen zu wollen, zu der Überzeugung geführt hat, dass ausschließlich oder zumindest hauptsächlich wirtschaftliche Mechanismen die sozialen Kräfteverhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen bestimmten.

Die Tatsache, dass in Zeiten einer Wirtschaftskrise, wie wir sie inzwischen schon seit einigen Jahren durchleben und die heute durch die Pandemie weiter verschärft wird, kulturelle und religiöse Elemente wieder großen sinn- und identitätsstiftenden Wert einnehmen, beweist im Gegenteil, dass sie einen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche Gefüge haben, der auch wirtschaftliche Verhältnisse und Generationen überwindet. Man ist sogar fast geneigt zu sagen, dass sie viel eher struktureller Natur sind als die Dynamiken, die traditionell in diese Kategorie eingeordnet werden, und es ist zu bezweifeln, dass die aus den kulturellen und religiösen Aspekten erwachsenden Probleme sich in einer harmonischen Welt vollkommener Gleichheit wie von Zauberhand in Wohlgefallen auflösten. Genau das, dachte Engels, werde im Hinblick auf den untergeordneten Status der Frau geschehen: »Die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe ist einfache Folge seiner ökonomischen Vorherrschaft und fällt mit dieser von selbst.«5

Kurz, immer gibt es Wichtigeres, an anderen Stellen, um das man sich zuerst kümmern muss.

Der Aufbau des Buchs

Das Buch entwickelt fünf Argumentationsstränge, denen jeweils ein Kapitel entspricht. Im ersten Kapitel wird ausgeführt, dass mit dem Begriff Laizität nicht eine ontologische Lesart gemeint ist, sondern eine transzendentale. Laizität wird hier als Zusammenspiel der Voraussetzungen gedacht, die es den unterschiedlichen Varianten von Religion (und, ganz allgemein, unterschiedlicher Weltsichten) ermöglichen, Ausdruck in einer pluralistischen Gesellschaft zu finden, und die zudem die Menschenrechte gewährleisten. Sie sind keinesfalls bloß prozeduraler oder formaler Art, wie man vielleicht zu glauben könnte, sondern von ganz substanzieller Natur (angefangen, beispielsweise, bei der Bildungspolitik). Sie legen die Prinzipien fest, von denen für keinen Gott abgewichen werden darf. Laizität wird hier also nicht als der eine Pol einer Symmetrie verstanden, sondern als vorpolitische Voraussetzung für das zivile Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft.

Im zweiten Kapitel wird erläutert, dass es in dieser Schrift nicht um den »Wahrheitsgehalt« der verschiedenen Religionen geht, sondern dass ihr »Handeln in der Welt« reflektiert wird. Religionen werden als soziale und kulturelle Phänomene betrachtet, um zu untersuchen, wie sie den Rest der Gesellschaft beeinflussen und wie sie umgekehrt von ihr beeinflusst werden. Ganz und gar abseits der Stoßrichtung dieser Arbeit liegt die Ermittlung der Botschaft und ihres Wahrheitsgehalts dieser oder jener Religion. Es soll ausschließlich um ihr Handeln im Hier und Jetzt gehen, insbesondere im europäischen Kontext, der, wie erwähnt, den Bezugsrahmen des Buches bildet. In diesem Kapitel wird auch zu erklären versucht, weshalb von den zahlreichen kulturellen Elementen, die zur Komplexität unserer Gesellschaft beitragen (Sprache, Gewohnheiten, Bräuche), Religionen, aufgrund des privilegierten Status, den sie heute genießen, das größte Konfliktpotenzial verheißen. Gleichzeitig soll gezeigt werden, dass das Abdriften in den Fundamentalismus (der sich am liebsten auf die Rechte und Freiheiten der Frauen stürzt) nicht irgendeiner bestimmten Religion eigen ist, sondern Teil einer jeden Glaubensrichtung.

Im dritten Kapitel wird es um das gehen, was man de facto als eine neue europäische Religion betrachten muss, den Islam. Es wird argumentiert, dass es »den Islam« gar nicht gibt, sondern viele Islame, und dass – genauso wie bei jeder anderen Religion auch – man sich aktiv einbringen und anstrengen muss, um die kulturelle Vorherrschaft nicht den Fundamentalisten zu überlassen. Denn zusammen mit den christlichen Fundamentalisten, die wir allzu gut kennen, stellen sie heute in Europa die größte Herausforderung für die Laizität dar. Um dieses Vorhaben auszuführen, muss man die neue europäische Religion in all ihren Ausprägungen untersuchen, frei heraus alles damit Zusammenhängende ansprechen, ohne irgendein Tabu hinzunehmen, und sich kategorisch dem instrumentalisierten Vorwurf der Islamophobie entziehen, der häufig als Totschlagargument verwendet wird, um jede Diskussion im Keim zu ersticken. In der öffentlichen Debatte ist nichts heilig.

Das vierte Kapitel ist ganz der Zergliederung des Konzepts »Identität« gewidmet, das heutzutage in vielen politischen Positionen eine zentrale Rolle spielt. Dabei soll die Existenz einer multiplen Identität angenommen und verteidigt werden, die sich in ihrer Summe dennoch auf jedes einzelne Individuum bezieht. Dieses ist Träger einer einzigen unverwechselbaren Identität, die sich ihrerseits aus zahlreichen Zugehörigkeiten oder, besser, Herkünften zusammensetzt, welche wiederum miteinander verwoben sind, und zwar auf eine je unterschiedliche Weise nicht nur von Individuum zu Individuum, sondern auch in jedem einzelnen Individuum, abhängig davon, in welcher Phase und welchem Bereich seines Lebens es sich gerade befindet. Es handelt sich also um einen Identitätsbegriff, der weder statisch noch monolithisch ist, sondern auf intrinsische Weise widersprüchlich und in beständigem Wandel begriffen und in dessen Kern das einzigartige, unnachahmliche Leben eines jeden Menschen steckt.

Ausgehend von diesem kritischen Identitätsbegriff werden anschließend, im fünften Kapitel, die Konzepte Kommunitarismus und Multikulturalismus kritisch hinterfragt. Es wird die Ansicht vertreten, dass ausschließlich einzelne Individuen rechtswürdige Subjekte sein können (als Träger seiner diversen Zugehörigkeiten) und keine Gruppen oder Gruppierungen.

Dabei negiert diese Betrachtungsweise keinesfalls, wie stark die Herkünfte bei der Definition der eigenen Identität ins Gewicht fallen, sondern stellt die Prioritäten auf den Kopf: Das Individuum ist der Träger von Identität und Zugehörigkeiten, es sind nicht die Herkünfte, die das Individuum in einem geschlossenem System definieren. In diesem Kapitel wird eine Kritik des Multikulturalismus vorgelegt, die von einem universalistischen und kosmopolitischen Standpunkt ausgeht, und es werden einige Positionen diskutiert, die zwar von einem kosmopolitischen Ansatz ausgehen, dann jedoch in Richtung multikulturalistischer Thesen abbiegen und so ihre eigenen Prämissen negieren.

»In der politischen Entwicklung menschlicher Gemeinwesen sind wir an einem Punkt«, schreibt Seyla Benhabib, »an dem das unitarische Modell der (Staats-)Bürgerschaft, das den Aufenthalt in einem spezifischen Territorium mit der Unterwerfung unter eine gemeinsame, bürokratische Regierung bündelt, die ein Volk repräsentiert, wahrgenommen als ein mehr oder weniger zusammenhängendes Ganzes, an ein Ende kommt.«6 Eine solche Aussage verleitet viele dazu, den Rechtsstaat infrage zu stellen und damit auch sein Grundprinzip eines einzigen, für alle gleichen Gesetzes zugunsten von Systemen, die stärker vermischt sind, »akkomodationistisch« oder offen pluralistisch, und die mit den Scharia-Tribunalen in Großbritannien bereits in Europa Fuß gefasst haben. Eine solche Betrachtungsweise führt de facto dazu, dass man potenzielle Verletzungen der Menschenrechte innerhalb der unterschiedlichen Gemeinschaften hinnimmt. Genau das wird hier entschieden abgelehnt.

1.Laizität als Voraussetzung der Demokratie

»Die moderne Kultur beruht auf dem Prinzip der Freiheit, wonach der Mensch nicht zum Werkzeug seiner Artgenossen herabgewürdigt werden darf, sondern als selbständiges Lebenszentrum aufgefasst wird.«

Ernesto Rossi, Altiero Spinelli und Eugenio Colorni, Manifest von Ventotene

Laizisten und Gläubige, ein falscher Gegensatz

Rund um den Begriff der Laizität und seine Derivate tobt ein terminologischer Kampf, hinter dem sich ein ideologischer verbirgt. Das Verwenden eines Wortes, den man eine andere, leicht verschobene Bedeutung verleiht, als das Gegenüber ihm zuschreibt, ist ein rhetorischer Zug, der genauso verbreitet wie intellektuell unaufrichtig ist. Daher ist es so wichtig klarzustellen, in welcher Bedeutung das Wort Laizität hier verwendet wird.

Einer der geläufigsten Kniffe, um den Diskurs rund um diesen Begriff zu diskreditieren, besteht darin, die Laizität der Religion beziehungsweise der Religiosität gegenüberzustellen und »laizistisch« als Gegenteil von »gläubig« zu verwenden. So werden künstlich zwei Fronten geschaffen, die der Glaube voneinander trennt, und die Grundlagen für eine endlose Folge von Missverständnissen gelegt.

Stellen wir also klar: Der Widersacher des Laizisten ist nicht der Gläubige, sondern der Fundamentalist1, und die Trennlinie zwischen diesen beiden Fronten ist nicht der Glaube, sondern der Anspruch, dass das bürgerliche Zusammenleben gemäß den Prinzipien des (eigenen) Glaubens organisiert sein müsse und dass die Rechte des Einzelnen den Dogmen des (eigenen) Glaubens untergeordnet werden müssten. Anders gesagt, die Zäsur verläuft zwischen denen, die die (eigene) Religion über jedes andere normative System stellen und verlangen, dass sie erga omnes als absolutes Recht gelte (oder zumindest erga omnes innerhalb der eigenen »Gemeinschaft«2, was, wie noch zu zeigen sein wird, die Probleme nicht löst, sondern neue schafft), und denen, die hingegen innerhalb der Volksgemeinschaft religiöse Normen den Prinzipien der Verfassung und den Regeln unterordnen, die sich eine demokratische Gesellschaft gibt. Letzteres stellt keinen Widerspruch dazu dar, dass ein laizistischer Gläubiger sein Privatleben persönlich nach den Regeln seiner Religion ausgestaltet und dass diese Regeln in der Rangordnung seiner subjektiven Handlungsmaximen ganz oben stehen. Anders gefasst, für den Fundamentalisten ist, ob er gläubig ist oder nicht, die (eigene) Religion die Grundnorm3 der bürgerlichen Ordnung, während für den Laizisten, ob er gläubig ist oder nicht, die Grundnorm der bürgerlichen Ordnung einen konstitutionellen Pakt darstellt, der die Rechte und Freiheit aller sichert.

Der laizistische Entwurf, so Marcel Gauchet, »steht den weltlichen Ansprüchen der Kirche frontal feindlich gegenüber, nicht jedoch der Religion an sich. Das Einzige, was [er] von den Gläubigen verlangt, ist, dass sie sich ihre persönliche Hoffnung auf Erlösung für das Jenseits aufheben und sich darauf einlassen, im Diesseits das Gesellschaftsspiel der Autonomie mitzuspielen.«4 Gauchet bezieht sich hier auf die katholische Kirche, aber was er sagt, gilt natürlich für sämtliche Religionen.

Zu unserem Glück gibt es unter Gläubigen (aller Religionen) viele Laizisten, genauso wie es im Gegenzug zu unserem Leidwesen in der Welt der Nichtgläubigen von Fundamentalisten nur so wimmelt, also von Personen, die zwar nicht gläubig sind, aber nichtsdestoweniger die Meinung vertreten, dass das gesellschaftliche Miteinander und das öffentliche Leben in Übereinstimmung mit dem Moral- und Normensystem einer bestimmten kulturellen und religiösen Weltsicht organisiert sein müsse. Zu dieser letzten Kategorie gehören beispielsweise all jene, die während der Debatten über die europäische Verfassung, unabhängig vom eigenen Glauben, die Meinung vertraten, die »christlichen Wurzeln« müssten in die Grundrechtecharta der Europäischen Union aufgenommen werden. Grundwerte, die in eine Verfassung aufgenommen werden, verfügen über eine gewaltige normative Reichweite. Die christliche Kultur ist mit Sicherheit eine der vielen Wurzeln Europas, aber aus der gesamten Fülle ausgerechnet diesen einen Beitrag auszuwählen, hätte normativen Wert, nicht bloß deskriptiven. Es käme einer Proklamation gleich, dass Europa sich auf christliche Grundwerte berufen müsse.

Die Laizität ist also keinesfalls der Feind des Glaubens. Im Gegenteil, in einer komplexen Gesellschaft ist die Laizität der wertvollste Verbündete des Glaubens, besser der Glaubensrichtungen. Auch die Gläubigen, alle, nicht bloß die Anhänger der großen Konfessionen, profitieren von einem sozialen Kontext, in dem die Religion Privatsache ist und der Staat allen, nicht bloß den verbreitetsten, mächtigsten, am besten organisierten und reichsten Glaubensrichtungen, die Freiheit zusichert, den eigenen Glauben zu zelebrieren oder auch gar keinem Glauben anzuhängen, und zwar indem der Staat, allgemeiner gesprochen, jedem, ganz gleich ob gläubig, andersgläubig oder nicht gläubig, Grundrechte gewährleistet – eine Aufgabe, die, wie noch zu zeigen sein wird, den Einflussbereich des Staates nicht einschränkt, sondern eher erweitert.

Die Religion in die Privatsphäre eines und einer jeden zu verlagern bedeutet keinesfalls, dass die kollektive Dimension des Glaubens unmöglich gemacht wird. Vielmehr gehen damit zwei Dinge einher: Erstens dürfen weder eine bestimmte Religion noch Religionen im Allgemeinen den öffentlichen Raum strukturieren, also den Raum, in dem allgemeine und gemeinsame Regeln gelten, was andernfalls einer Diskriminierung von Andersgläubigen und Nichtgläubigen gleichkäme. Zweitens darf keiner Religion – wie auch keiner politischen, philosophischen und spirituellen Haltung – zugebilligt werden, die Grundrechte der einzelnen Mitglieder der politischen Gemeinschaft zu verletzen; gemeint sind damit die einzelnen Bürger, ungeachtet ihres Glaubens, einschließlich der Mitglieder der eigenen »Gemeinschaft«.

Die Aufgabe des laizistischen Staates besteht darin, einerseits den öffentlichen Raum und andererseits die Rechte der und des Einzelnen zu schützen. Diese Auslegung der Laizität erfordert es, dass eine Reihe politischer Maßnahmen ergriffen werden, angefangen bei der Schul- und Kulturpolitik, um diese beiden Ziele zu erreichen. Es geht also für den Staat nicht darum, eine bloß gleichgültige Haltung gegenüber den diversen Konfessionen einzunehmen, genauso wenig darum, eine vermittelnde Schiedsrichterrolle zwischen ihnen zu spielen, sondern vielmehr darum, all jene Voraussetzungen zu garantieren – und es sind nicht wenige –, die es jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger ermöglichen, das eigene Leben und den eigenen Wertehorizont autonom zu gestalten.

Laizität wird hier folglich als eine transzendentale Voraussetzung der Demokratie verstanden, nicht als der eine Pol einer Symmetrie, sondern als vorpolitische Notwendigkeit für das zivile Zusammenleben in einer komplexen Gesellschaft, in der ein Weber’scher »Polytheismus der Werte« herrscht, ein Hilfsmittel, das »einen konstitutionellen Raum [kennzeichnet], der allen Zusammenleben und Austausch ermöglicht«.5

Unbestreitbar muss der oder die Gläubige, wenn er oder sie das Prinzip der Laizität akzeptiert, in einem gewissen Maß die Relativität des eigenen Glaubens anerkennen und auf fast schon kantianische Weise zugestehen, dass der Glaube ein »nur subjektiv zureichend[es …] Fürwahrhalten«6 darstellt, aber, im Gegensatz zum Wissen, nicht für alle unwiderlegbar ist. Dieses Zugeständnis ist vollkommen kompatibel mit einem starken Glauben: »Der Ausdruck des Glaubens ist […] ein Ausdruck der Bescheidenheit in objectiver Absicht, aber doch zugleich der Festigkeit des Zutrauens in subjectiver.«7 Einen laizistischen Standpunkt einzunehmen bedeutet für eine Gläubige oder einen Gläubigen demnach nicht, den eigenen Glauben in Zweifel ziehen zu müssen, sondern vielmehr das Akzeptieren der Vorstellung, dass er, da er kein objektiv gültiges Fürwahrhalten ist, nicht der Maßstab für das öffentliche Leben sein kann.

Laizität und Säkularisierung, nicht nur im Westen

Ein weiteres Missverständnis, das es auszuräumen gilt, erachtet die Laizität als einen rein westlichen Wert und betreibt den in ihrem Namen ausgefochtenen Kampf als eine Art Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen politischer Macht und Religion, zwischen religiöser Gemeinschaft und politischer Gemeinschaft, also die Frage der Laizität ist, ganz im Gegenteil, keine Prärogative des Westens, sondern so etwas wie ein universaler Topos in der Menschheitsgeschichte. Es handelt sich um eine Fragestellung, mit der sich etwa auch die muslimische Gesellschaft seit dem Tode Mohammeds auseinandergesetzt hat.

In seinem Essay L’Islam est-il hostile à la laïcité?8 erklärt Abdou Filali-Ansary, dass der Ablösungsprozess zwischen politischer Macht und religiöser Sphäre nach der ersten Phase des Kalifats in Gang gekommen ist, als das ottomanische Reich sich ausdehnte und ein gewisser Grad an Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens notwendig wurde. Dieser Prozess stellte sich als die wesentliche Trennscheide für die nachfolgenden Aufteilungserscheinungen innerhalb der muslimischen Welt heraus, wobei diese Ablösung von dem Bedürfnis ausging, die religiöse Sphäre vor den Vorstößen der politischen Macht zu schützen. Dieser von Filali-Ansary so benannte »mittelalterliche Kompromiss«9 ermöglichte es nämlich, der Schiedsgewalt der politischen Macht den in der Religion ruhenden Kern von moralischen Regeln zu entziehen. Es handelte sich bei diesem Kompromiss um eine Art Gleichgewicht, das der Zivilgesellschaft einen Grad an Autonomie gegenüber den politischen Autoritäten einräumte, die ihrerseits als legitim anerkannt wurden, solange sie sich nicht an besagtem Kern von Grundprinzipien vergriffen.10

Es handelt sich dabei freilich um eine Entwicklung mit Eigenheiten, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Unabhängig von den spezifischen Formen, die dieser Prozess in der muslimischen Welt angenommen hat (und je nach nationalem Kontext mit großen Unterschieden),11 muss für unseren Zusammenhang hervorgehoben werden, dass die komplexen Beziehungen zwischen Religion und politischer Macht sich stets im Zentrum der muslimischen Geschichte befanden. Keinesfalls war das bloß dem Abendland und genauso wenig dem Christentum vorbehalten.

Unabhängig davon fand auch in Europa die Säkularisierung zu unterschiedlichen Zeiten und auf unterschiedliche Weise statt. Besondere Differenzen bestanden zwischen den katholisch geprägten und den protestantischen Staaten. Selbst in dem Land, das heute gleichsam emblematisch für Laizität steht, in Frankreich, hat sich der Prozess, der zur Trennung von Staat und Kirche führte, weder schmerzfrei noch besonders schnell vollzogen. »Ein Jahrhundert hat es gedauert«, schreibt Gauchet, »bevor das Prinzip dieser Trennung und die Werte des demokratischen Individualismus bei den Gläubigen ankommen konnten.«12

Auf der Analyseebene muss man allerdings die Säkularisierung, also den historischen Prozess der Trennung von politischer Macht und religiöser Macht – einen Prozess, der wie gesagt mehr oder weniger überall mit unterschiedlichen Ausprägungen je nach soziopolitischem Kontext stattfindet –, von der Laizität als politischem Prinzip abgrenzen. Für Roy sind die Parameter, an denen beide Phänomene gemessen werden können, einerseits die Trennung von Kirche und Staat, woran sich der Grad der Säkularisierung ablesen lässt, und andererseits der Stellenwert, den die Religion in der Gesellschaft innehat, was das Maß an Laizität verdeutlicht.13

Akzeptiert man diese Unterscheidung, kann man sich ohne weiteres einen Staat vorstellen, der säkularisiert ist, aber nicht zur Gänze laizistisch. Als Beispiel sei auf die Vereinigten Staaten von Amerika verwiesen, ein vollkommen säkularisiertes, jedoch kaum laizistisches Land, in dem das öffentliche Leben reichlich von Religion durchsetzt ist, obwohl die Macht nicht bei religiösen Institutionen liegt. Allerdings gibt es Beispiele dieser Art in Hülle und Fülle und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass so gut wie alle europäischen Länder säkularisiert sind, auch wenn nur wenige, wenn überhaupt welche, sich vollendet laizistisch nennen dürfen.

Vor diesem Hintergrund scheint auch Gauchets These vom »Austritt der Welt aus der Religion« nicht uneingeschränkt nachvollziehbar. Der Autor von Le désenchantement du monde14 liest die Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche unter den Vorzeichen eines säkularen Aufeinandertreffens der »Partei der Autonomie« und der »Partei der Heteronomie«. Er vertritt dabei die Meinung, dass erstere, mit anderen Worten die Demokratie, metaphysisch betrachtet gewonnen habe, während ihre Gegenspielerin, verkörpert im Versuch der Religionen, das politische und gesellschaftliche Leben der gesamten Gemeinschaft zu strukturieren, im Grunde gescheitert sei. Die Folge dieses vermeintlichen Triumphs der Demokratie bestehe jedoch im Sinnverlust der Demokratie. Sei der »Feind« erst einmal beseitigt, verliere der laizistische Staat seine Autorität. Ihm fehle ein »metaphysischer« Entwurf, eine »umfassende Sinndoktrin«, die er der Partei der Heteronomie entgegensetzen könne. Gauchet beschreibt diese Phase als den »letzten theologisch-politischen Umschwung der Moderne«.15 Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hätte die berüchtigte und immer wieder heraufbeschworene »Rückkehr der Religionen«16 laut Gauchet rein gar nichts mit ihrer Fähigkeit zu tun, die politische Struktur zu formen, sondern wäre vielmehr eine Folge des Austritts der Welt aus der Religion. Dieser Zustand bewirke nämlich, dass die Religionen sich »privatisierten« und als »Quellen eines Sinns und umfassender Doktrinen« eine neue Existenzberechtigung fänden.17

Anders gesagt, Gauchet vertritt die Meinung, »die politische Geschichte der Religionen« sei am Ende,18 was freilich weder bedeute, dass sie keinen Einfluss mehr auf die Gesellschaft hätten, noch dass das Religiöse verschwunden oder im Verschwinden begriffen sei, sondern nur, dass es keine strukturierende Funktion für Politik und Gesellschaft habe. Dass die Religion »privatisiert« worden sei, impliziert für Gauchet keinesfalls, dass sie zu einer ganz und gar persönlichen Angelegenheit werde, die sich nur noch zwischen den eigenen vier Wänden abspielen darf: »Die Aussage, dass die religiösen Überzeugungen unwiederbringlich auf die Seite des Privaten gewandert sind, erfasst bloß die grundlegende Tatsache, dass sie ihre Stellung als öffentliches Gesetz verloren haben. […] Mit dieser Privatisierung geht keine Isolierung des Glaubens in ein Intimes einher, in dem [die Religionen] verbleiben müssten. Die Privatsphäre ist nicht deckungsgleich mit dem Intimen.«19

Gauchets These erfasst zweifelsohne einen wesentlichen Punkt: Die Säkularisierung hat die Religionen »gezwungen«, sich aus dem politischen Leben zurückzuziehen und eine Rolle als »Sinnreservoir« im Privatleben der Gläubigen einzunehmen. Seine Interpretation ist jedoch auf die historische Beziehung zwischen dem Staat und den christilichen Kirchen, insbesondere der katholischen, zugeschnitten. Heutzutage sehen wir uns mit anderen Subjekten konfrontiert, die das verkörpern, was Gauchet die »Partei der Heteronomie« nennt – von den protestantischen Fundamentalisten über die katholischen bis hin zu den islamischen –, und die für den laizistischen Staat eine ganz neue Herausforderung darstellen.

Diese Herausforderung muss angenommen werden, sonst hat man bereits verloren. Sofern man sich nicht einer deterministischen und finalistischen Geschichtsvision verschrieben hat, muss man einerseits zuerkennen, dass dieser Prozess des »Austritts aus der Religion« von der Kirche akzeptiert oder, vielleicht besser, erlitten worden ist, und das auch nur mit Gewalt und dank eines unablässigen Streitens für Laizität und Säkularisierung. Andererseits muss aber auch gesehen werden, dass diese Schlacht nicht ein für alle Mal geschlagen ist und dass die Religionen – heute auch in ihren fragmentierten und fundamentalistischen Spielarten – sich kontinuierlich bemühen, das verlorene Terrain zurückzuerobern. Es scheint daher etwas vorschnell, mit Gauchet zu konstatieren, »dass die religiösen Überzeugungen unwiederbringlich auf die Seite des Privaten gewandert«20 seien.

Unabhängig davon räumt der Autor selbst ein, die Fundamentalisten zielten darauf ab, jene Ordnung wiederherzustellen, in der die Religion den öffentlichen Raum strukturiere, was jedoch nicht heiße, »dass ihr Handeln in der Realität den gewünschten Effekt erzielt«.21 Angenommen, das stimmte, was in jedem Fall erst einmal zu beweisen wäre, müsste man sich zunächst grundsätzlich fragen: Wieso nicht?, und als Nächstes: Wie lange noch?

Anders gefasst, der Austritt der Welt aus der Religion ist – um weiterhin mit Gauchet zu sprechen – kein notwendiges Produkt der Geschichte, sondern das Ergebnis einer Dialektik zwischen entgegengesetzten Kräften. Obwohl also das Bild vom Austritt aus der Religion eine große beschreibende und erklärende Kraft entfalten mag, ist es womöglich auf einer normativen und die Praxis betreffenden Ebene kaum sprechend. Es gibt keine Religion, die ihrem Wesen nach der Laizität mehr oder weniger zu- oder abgeneigt wäre. Alle Religionen sind Entwürfe der Heteronomie, die einen Sieg der Autonomie, falls überhaupt, nur widerwillig akzeptieren. Die Laizität ist folglich also ein Autonomieentwurf, der sich gegen den Willen aller Heteronomieentwürfe durchgesetzt hat, von denen Religionen wiederum nur die Spitze darstellen. Davon auszugehen, dass es sich dabei um eine mittlerweile selbstverständliche Errungenschaft handelt, wäre jedoch ein schwerwiegender Irrtum.

»Die Tatsache, dass der Staat ein laizistischer ist, das ist heutzutage in Frankreich ebenso wie in der Türkei längst eine ausgemachte Sache«, schrieb Roy 2005,22 und heute kann jeder mitansehen, wie die Türkei immer weiter abdriftet. Gauchet vertritt in Hinblick auf die Rolle der Religion in Polen die Meinung, dass »die massive Bestätigung einer katholischen Identität seitens eines Großteils der Bevölkerung (mehr als 90 Prozent) in keiner Weise mit einem tatsächlichen Wiedererstarken der Kirche einhergeht, wenn es etwa darum geht, die eigene Sexualmoral durchzusetzen«.23 Diese Haltung wurde auf traurige Weise von den heftigen Angriffen auf die Frauenrechte, insbesondere den Schwangerschaftsabbruch, widerlegt, die die katholische Kirche dort seit einigen Jahren betreibt (darauf wird noch zurückzukommen sein). Der Grund für solche eklatanten Fehleinschätzungen liegt darin, dass selbst extrem scharfsichtige und aufschlussreiche Untersuchungen früherer Ereignisse die Kategorie des menschlichen Handelns außer Acht lassen, mit unvorhersehbaren Konsequenzen. Es ist eine Sache, zu rekonstruieren, welche gesellschaftlichen Dynamiken eine bestimmte Situation herbeigeführt haben, eine ganze andere jedoch, davon auszugehen, dass die Dinge gar nicht anders hätten laufen können und der Weg nunmehr vorgezeichnet sei.

Keiner von uns kann sich sicher sein, dass nicht ausgerechnet unser Handeln diese minimale Fluktuation darstellt, die den Lauf der Dinge verändern wird. Dabei macht gerade diese Unwägbarkeit der Geschichte es unabdingbar, Stellung zu beziehen und zu handeln.