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Carmen Mayer

Das Awaren-Amulett

Historischer Roman

Zum Buch

Österreich zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Kaiser Ferdinand II will die Bevölkerung seines Landes um jeden Preis rekatholisieren.

Johannes, ein junger Protestant, verliert bei einem brutalen Überfall katholischer Söldner auf ein Seitental der Enns seine Eltern; seine geliebte Schwester wird verschleppt. Bei der Leiche seiner Mutter findet er ein seltsames Amulett, das er als Andenken mitnimmt.

Schon kurz darauf gerät er in die Wirren der Bauernaufstände im Land ob der Enns.

Johannes muss das grausame Frankenburger Würfelspiel, bei dem die Männer gezwungen werden, um ihr Leben zu würfeln, mit ansehen. Er entkommt mit viel Glück, sein Amulett wird gestohlen. Alles scheint verloren.

Als er dann unerwartet seinen alten Lehrmeister wieder trifft, den konvertierten Mönch Anselm, flieht er mit ihm zunächst nach Nürnberg, dann ins protestantische Württemberg.

In der ehemaligen evangelischen Klosterschule Maulbronn erfährt er, welches Geheimnis sich hinter seinem Amulett verbirgt…

Eine Hexe soll ganz in der Nähe mit diesem Amulett großes Unheil angerichtet haben. Wird es ihm gelingen, die einzige Verbindung zu seiner Familie zurückzuerlangen?

Carmen Mayer erzählt in „Das Awaren-Amulett“ die Geschichte um den Dreißigjährigen Krieg weiter. Mit „Die Trossfrau“ hat sie bereits das Schicksal der jungen Magdalena beschrieben.

Inhalt

Zum Buch

Inhalt

Impressum

Widmung

Prolog

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Nachwort

Historische Personen zur Zeit Karls des Großen

Historische Personen während des Dreißigjährigen Krieges

Glossar

Danksagung

Über die Autorin Carmen Mayer

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2020 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

1. Auflage 2020

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-15-7

Widmung

Für Elisabeth, Katharina, Johanna, Sophia und Sarah

Prolog

Im Tal der Alcmona, anno domini 796

Die Silhouette des Mannes stand wie gemeißelt gegen das wabernde Weiß des aufziehenden Nebels, der langsam das Tal der Alcmona heraufkroch. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, erschauerte Bertulf.

„Es ist Zeit zu gehen“, sagte eine weibliche Stimme leise.

Der Mann entspannte sich, griff nach der Hand auf seiner Schulter und drückte sie. Dann führte er die Frau hinunter in eine kleine Senke, in der einige seiner Getreuen auf sie warteten.

„Leb wohl, Ada. Unsere Wege trennen sich hier.“ Er küsste ihre Stirn. „Gott wird seine Hand über dich und unsere Mutter halten. Ihr seid zwei starke Frauen und werdet euren Weg auch ohne mich finden und gehen können.“

Als er in ihre fragend auf ihn gerichteten Augen sah, fügte er noch an: „Vor Karl seid ihr sicher. Er hat nicht nur Freunde.“

„Und was ist mit dir, mein Bruder?“

„Um mich ist mir nicht bang.“

„Wenn du zu deiner Liebsten gehst, grüße sie ganz herzlich von mir. Sie wäre mir sicherlich eine teure Freundin geworden, würden unsere Wege sich nicht nur für eine so kurze Zeit gekreuzt haben.“

Ada legte ein letztes Mal ihre Hände auf seine Schultern.

„Leb wohl, Bertulf. Gott beschütze dich.“

Sie wandte sich um und ließ sich von einem Begleiter auf das bereitstehende Pferd helfen. Dann gab sie das Zeichen zum Aufbruch, ohne sich noch einmal nach ihrem Bruder umzusehen. Zwei Männer ritten voraus, vier folgten der Prinzessin. Schon nach wenigen Hufschlägen wurden sie vom Nebel verschluckt.

Bertulf ließ sich erschöpft am Fuß einer Buche nieder, tief in Gedanken versunken.

Karl.

Sein Onkel.

Als Siebenjähriger zusammen mit seinem knapp drei Jahre jüngeren Bruder Karlaman von Papst Stephan II. in der Abtei Saint-Denis zum König des Fränkischen Reiches Gesalbter.

Mächtiger.

Großer.

Edler.

Heroischer.

Oder doch nur Brudermörder, Schlächter ganzer Völker, Sklave seiner Gier nach Macht und Ansehen?

Weiberheld und trotz seiner hohen Bildung nicht einmal des Lesens und Schreibens mächtig?

Das alles mochte im Auge des Betrachters liegen. Bertulf hatte seine eigene Meinung dazu, und die schmeichelte König Karl keinesfalls.

Der junge Mann konnte sich trotz seiner finsteren Gedanken eines Gefühls des Triumphes nicht erwehren. Vor wenigen Tagen hatte er Karls Männern einen Teil der Beute aus dem Schatz der Awaren abgenommen. Bertulf ahnte, nein, er hoffte, dass sein Onkel vor Wut darüber schäumen würde. Jede Unze Gold war vom König bereits verplant gewesen, sollte dem hohen Herrn nutzen, sein Ansehen weiter auszubauen. Ob ihm jetzt reichen würde, was übrig geblieben war, stand in den Sternen.

Aber nicht nur der Verlust des Goldes würde den König in Rage versetzen. Vielmehr würde er die Dreistigkeit eines einfachen Diebes nicht verkraften, der ihm zeigte, wie verwundbar, wie besiegbar er in Wirklichkeit war, was sich unter dem groß aufgezogenen Königsmantel verbarg: ein ganz gewöhnlicher Mensch.

Karl würde über kurz oder lang herausfinden, wer hinter dem klug eingefädelten Raubzug steckte. Er würde Bertulf nachstellen lassen, bis er die Schneide seines Schwertes eigenhändig über den Hals seines Neffen ziehen konnte, wie er es bereits vorgehabt hatte, als jener noch ein Säugling war. Dieses Risiko ging der Prinz bewusst ein. Denn spätestens dann würde die Welt erkennen, wer dieser König tatsächlich war: Nicht nur einfach ein Mensch, sondern ein skrupelloser, machtgieriger Mann.

Einer, der über Leichen ging. Sogar über die Leichen seines Bruders und dessen Nachkommen.

Schied Bertulfs Vater Karlaman am 4. Dezember 771 nicht durch Gift aus dem Leben, das ihm auf Geheiß seines Bruders in den Wein geträufelt worden war? Die Wassersucht soll er gehabt haben, wurde behauptet. War das nicht eine Krankheit, die bestenfalls Greise befiel? Karlaman zählte am Tag seines Todes noch nicht einmal einundzwanzig Lenze! Niemand hatte zuvor etwas von einer lebensbedrohlichen Krankheit bei ihm bemerkt, und er hatte auch über nichts dergleichen geklagt.

Bertulfs älterer Bruder Pippin hätte nach dem Tod seines Vaters über den südöstlichen Teil des Frankenlandes regieren sollen. Doch dazu kam es nicht, da sich König Karl noch während der Trauerfeierlichkeiten daran machte, über die Ländereien seines toten Bruders zu verfügen. Eine mögliche Änderung dieser Situation durch Karlaman Wohlgesonnene wusste Karl zu verhindern: Er nötigte Papst Hadrian wenig später, die Bitte seiner Schwägerin und des mit ihr befreundeten Königs Desiderius abzuschlagen, die Kinder seines Bruders zu Königen zu salben. Unter welchen Umständen dies geschah, mochten spätere Geschichtsschreiber deuten.

Bertulf konnte sich nur allzu gut an die aufgewühlte Reaktion seiner Mutter und des lombardischen Königs erinnern, zu dem sie geflüchtet waren – und an die hinter vorgehaltener Hand getuschelten Mutmaßungen, die König Karl Bestechung und Verrat unterstellten.

Dass Desiderius auf Karl nicht gut zu sprechen war und die fränkische Königin in seine Obhut nahm, mochte im Übrigen daran liegen, dass jener kommentarlos Desiderius’ Tochter an den väterlichen Hof zurückschickte. Karl hatte nach kurzer Ehezeit mit ihr beschlossen, sich eine andere Frau zu nehmen. Diese Entscheidung sollte in ein unbeschreibliches Desaster münden, an dessen Ende die Gefangennahme und lebenslange Inhaftierung des lombardischen Königs in einem fränkischen Kloster stand.

Bertulf fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als könne er dadurch die düsteren Gedanken vertreiben, die ihn seit seiner Kindheit verfolgten. Aber sie blieben hartnäckig, ließen sich nicht einfach wegwischen.

Er erinnerte sich daran, wie ihm einer der ehemaligen Getreuen seines Vaters berichtete, dass König Karl seinem Bruder am Totenbett nur einen kurzen Blick geschenkt, dessen junger Witwe nicht einmal die Hand zum Trost gereicht habe. Da sei etwas in den Augen Karls gewesen, das dem Mann Angst einflößte. Todesangst.

Wenn die Nachkommen seines Bruders ihre Erbschaft bereits jetzt anträten, ließ Karl demzufolge die erstaunte Trauergemeinde wissen, würden sich andere, unfähige Leute um die Regierungsgeschäfte kümmern, bis die Kinder erwachsen waren. Man wisse ja, dass solcherlei noch nie gutgetan habe.

So jedenfalls berichtete jener alte Mann, was er beobachtet hatte, und Bertulf sah keinen Grund, weshalb er daran zweifeln sollte.

Mit ‚andere‘ meinte Karl vermutlich seine Schwägerin, die junge Witwe Gerberga, Bertulfs Mutter. Der Onkel schien Angst davor gehabt zu haben, dass der Brudermord aufgedeckt würde, wenn Gerberga als Verwalterin der Rechte ihrer Kinder die Möglichkeit dazu gehabt hätte.

Gerberga floh aus gutem Grund wenige Tage nach der Beisetzung Karlamans zusammen mit ihm, dem wenige Wochen alten Säugling, seiner Schwester Ada und seinem älteren Bruder Pippin zu König Desiderius, der ihnen helfend die Hand entgegenstreckte.

Karl wollte die Welt beherrschen, und dazu war ihm jedes Mittel recht. Da war die Sippe des toten Bruders nur im Weg, den es zu ebnen galt. Koste es, was es wolle.

Bertulfs Schwester Ada wurde seit ihrer Kindheit immer wieder von demselben Traum gequält, in dem sie die Worte ihres sterbenden Vaters hörte: „Ada, mein Kind, der Tod wurde mir in einem goldenen Becher gereicht.“

Sie konnte später nur ahnen, was damit gemeint war.

Ada.

Ada war wie ihre beiden Brüder überzeugt davon, den Tod des Vaters eines Tages sühnen zu müssen. Auf ihre Weise.

Jetzt hatten sie ihren lang gehegten Plan endlich umsetzen können. Ein Plan, der nicht nur den Raub des awarischen Goldes einschloss, sondern hinter dem noch etwas weitaus Größeres stand. Etwas, das König Karl nicht einmal ansatzweise wissen konnte.

Pippin.

Pippin lag seit einigen Wochen in einem Spital in der Nähe von Rom. Er hatte sich eine üble Verletzung zugezogen, die er dort auskurieren wollte.

Bertulf würde nie wieder von ihm und den beiden Frauen hören.

Er schob seine finsteren Gedanken beiseite. Es galt, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, nach vorne zu schauen.

Ada würde von seinen Getreuen zu Abt Adalbrand gebracht werden, in dessen Obhut sie und ihre Mutter vor möglichen Nachstellungen des Königs sicher waren.

Karl lebte ohnehin in Glauben und Hoffnung, dass die Familie seines Bruders seit der Einnahme Veronas vor mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr am Leben war.

Aber Karl hatte fürwahr nicht nur Freunde.

Der Prinz würde das für seine Zwecke zu nutzen wissen.

Bertulf richtete sich müde auf und warf einen letzten Blick auf das Kleinod in seiner Hand. Es war das einzige Stück aus dem vergrabenen Schatz, das er zurückbehalten hatte.

Er drückte seine Lippen auf die geheimnisvollen Schriftzeichen, fuhr mit den Fingerspitzen die Konturen des magischen Tieres auf der Vorderseite nach. Er wollte das wundervoll gearbeitete Amulett als Zeichen seiner aufrichtigen Liebe in die Hand der Frau zurücklegen, deren Volk König Karl beinahe ausgelöscht hatte. Mit ihr zusammen und den versprengten Resten dieses Volkes würde er ein Heer aufstellen und gegen den Onkel ziehen. Der sollte dieses Volk nicht umsonst zerschlagen haben wie die anderen Völker, die nur noch in Ausnahmefällen wagten, sich gegen ihn zu erheben. Die Männer, die um die geliebte Fürstentochter noch übrig geblieben waren, würden weitere Verbündete finden und mit ihm zusammen den Mann in die Knie zwingen, der sie in ein gemeinsames Schicksal gedrängt hatte, indem er versuchte, sie mitsamt ihren Familien auszurotten. Mit dem Gold, das Karl den Awaren geraubt hatte, und das er, Bertulf, ihnen eines Tages wieder zurückgab, würde er seine Mitstreiter reichlich belohnen.

Jetzt galt es, die Frau seines Herzens aufzusuchen, die sich mit ihrem kleinen Gefolge in einem Nebental jenes Flusses versteckt hielt, der Enisa genannt wurde. Bislang war er die anerkannte Grenze zu Baiern gewesen. Aber dieses Land war inzwischen, wie so viele andere, in fränkische, in Karls Hände geraten.

Eines Tages würde er zurückkehren und den Schatz heben.

Er würde zusammen mit der awarischen Fürstentochter Grundlage sein für eine neue Welt.

Eine, in der Männer wie Karl keinen Platz hatten.

Es sollte alles ganz anders kommen.

1

Der Regen tropfte schwer von den Bäumen, bildete Rinnsale und kleine Pfützen zwischen den braunen Blättern, und versickerte schließlich leise glucksend im aufgeweichten Waldboden. Dichter Nebel waberte langsam talaufwärts, kroch zwischen Gestrüpp und Felsen immer weiter in den Wald und die schroff aufragenden Felsen hinein und schluckte jedes Geräusch. Modriger Pilzgeruch vermischte sich mit brandigem Gestank, dem Duft der letzten würzigen Kräuter am Gehölzrand und dem Hauch von Angst, der dem Jungen folgte.

Eine ohrenbetäubende Explosion riss ihn fast von den Beinen.

Er wusste, was das bedeutete.

Was es für sie bedeutete.

*

Die Menschen in den kleinen Seitentälern des Geseis, dem wilden Teil der Enns zwischen Admont und Hieflau, hatten sich von der frühherbstlichen Stille noch nie täuschen lassen. Jeder kannte die Vorboten der gewaltigen Herbststürme, die seit Menschengedenken in den Bergen tobten, die an den Hausdächern rüttelten, Mensch und Vieh ängstigten. Stürme, die riesige Bäume wie dünne Reiser umknicken konnten, dass sie krachend über die Felsen herunterbrachen, sich über die tosend zu Tal stürzenden Bäche legten und deren Wasser bedrohlich anstauten.

Die Leute wussten um die strengen Winter, die den stürmischen Herbstwettern folgten, und sorgten bereits in den Spätsommern für trockenes Holz und dafür, dass für den Ernstfall alle Ritzen und Löcher ihrer Häuser zugestopft und dicht waren, dass die Dächer hielten.

Besonders schlimm war der Hunger, der jeden der strengen Winter unweigerlich begleitete, vor allem in den vergangenen Jahren. Missernten hatten Land und Leute ausgezehrt, die Lebensmittel waren oftmals bereits im Sommer knapp – aber im Winter reichte es kaum noch für eine einzige warme Mahlzeit am Tag.

Dazu kam, dass die Steuerlasten erdrückend geworden waren. Schmerzhaft vor allem für die einfachen Leute, für Bauern, Tagelöhner und Handwerker. Der Kaiser brauchte Geld für seine Kriegszüge, das er nicht selbst aufbringen konnte. Seitdem das Land ob der Enns 1620 als Pfand für seine großzügige finanzielle Unterstützung an Herzog Maximilian von Baiern verpfändet worden war, wurden sogar noch Abgaben für den Unterhalt der Besatzungstruppen erhoben. Die Soldaten des bairischen Herzogs hatten das Land förmlich überschwemmt, und quälten die Menschen in jeder denkbaren Weise, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Im Gegenteil.

Kaiser Ferdinand billigte das Vorgehen der herzoglichen Spießgesellen, die seinen Befehl zur Rekatholisierung der überwiegend protestantischen Bevölkerung des Landes unterstützten. Er ließ sie gewähren und hoffte, das widerspenstige Volk auf diese Weise einschüchtern und sich und seinem Willen unterwerfen zu können.

Der Kaiser mochte diesen ungeheuerlichen Kraftakt in weiten Teilen seines Landes zuwege gebracht haben, aber im Land ob der Enns stieß er auf eisernen Widerstand. Die Menschen dort ließen sich nicht vorschreiben, welcher Religion sie angehören sollten.

Katholisch werden? Die Anordnungen des Klerus befolgen, ihrem Fressen, Saufen und Huren zusehen und dafür auch noch bezahlen müssen? Ihren unverständlichen, weil lateinisch genuschelten Predigten lauschen? Beichtzettel an Ostern abholen? Sich bespitzeln, frönen, gängeln lassen von diesem selbstgefälligen, scheinheiligen Gesindel? Niemals!

Noch bissen die Leute im Land ob der Enns die Zähne zusammen und hielten still.

Aber das würde sich bald ändern.

*

Ein kurzes Knacken durchbrach die Stille. Der Junge verharrte erschrocken in geduckter Haltung, angestrengt nach allen Seiten lauschend.

Aber nichts rührte sich.

Johannes hastete vorsichtig und behände wie eine Katze weiter bergan. Er war sich im Klaren darüber, wie gefährlich sein Weg zu dieser Jahreszeit war. Der Boden war mit nassem Laub bedeckt, auf dem man unversehens ausglitt. Er hatte sich oft genug verletzt, wenn er zwischen den Bäumen am Bachufer entlanglief, einem entlaufenen Schaf, einer vorwitzigen Ziege auf der Spur, die sich von den übrigen abgesondert hatten.

Bei einer dieser Gelegenheiten hatte Johannes eine Höhle in einem der steil aufragenden Felsen entdeckt, die den Bergbach begleiteten. Sie war jetzt sein Ziel. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit zu seinem Versteck zu gelangen.

Keuchend und immer wieder auf allen Vieren vorwärts hastend erreichte er über ein schmales Geröllfeld schließlich den Felsen. Mit klammen Fingern hielt sich der Junge an der unsicheren Steinwand fest, schob sich Stück für Stück nach oben, immer darauf bedacht, mit den dünn beschuhten Füßen festen Halt zu finden. Es gab keine Möglichkeit, auch nur einen Fußbreit unter sich zu erkennen. Er musste sich ganz an den Fels gedrückt aufwärts bewegen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, eine unbedachte Bewegung zu machen und in die Tiefe zu stürzen.

Erschöpft und mit blutenden Händen erreichte er den engen Durchschlupf und ließ sich entkräftet auf den Boden sinken.

Lange Zeit war er unfähig, die schmerzenden Arme und Beine zu bewegen.

Als er einigermaßen zu Atem gekommen war, hatte sich stockfinstere Nacht ausgebreitet. Johannes wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht. Jetzt war er zunächst einmal in Sicherheit. Hierher kamen sie heute Nacht nicht, und der Regen, der die nebelig-rauchige Stille abgelöst hatte, würde seine Spuren bis morgen verwischt haben, sollten sie ihm gefolgt sein.

Er zog sein aus grobem, hellem Wollstoff geschneidertes Hemd fest um sich, knöpfte sein Wams zu und schob seine Hose sorgfältig über die Beine. Dann rollte er sich auf dem Boden zusammen und schlief erschöpft ein.

Mitten in der Nacht erwachte Johannes frierend. Ein wütender Wind rüttelte in den Kronen der Bäume vor der Höhle. Johannes kroch zum Eingang und lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit hinaus.

Der Wind trieb erbarmungslos eiskalten Regen vor sich her, den er dem Jungen wie spitze Nadeln ins Gesicht sprühte. Noch immer stank es nach Verbranntem. Johannes spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er zog sich rasch wieder zurück.

In der Höhle war es ungemütlich kalt, aber wenigstens trocken. Weil sie zum Eingang hin etwas abknickte, war der Wind nicht allzu sehr zu spüren. Allerdings hatte sich klamme Feuchtigkeit in den Kleidern des Jungen festgesetzt, dass sie ihn kaum noch wärmten.

Johannes kauerte sich eng zusammen und lauschte zitternd und mit vor Kälte klappernden Zähnen auf das Heulen des Windes. Schlafen konnte er nicht mehr.

Steif gefroren und benommen rappelte er sich in der Dämmerung des neuen Tages auf und warf einen vorsichtigen Blick hinaus. Nichts rührte sich. Der Wind hatte sich gelegt. Inzwischen schloss erneut dichter Nebel das Tälchen ein.

Mit eiskalten Fingern nestelte Johannes seinen mitgebrachten Stoffbeutel auf und kippte den Inhalt auf einen flachen Stein. Ein Restchen Brot, ein paar getrocknete Pilze, Apfelringe und ein wenig Käse kamen zum Vorschein: der Rest des Proviants, den er am vergangenen Morgen eingesteckt und nicht aufgegessen hatte. Hastig stopfte er sich das Wenige in den Mund, da er nicht wusste, wann er jemals wieder etwas zu essen bekommen würde.

Er zog sein feuchtes Wams wieder eng um sich und überlegte, wie es weitergehen sollte. In der Eile hatte er keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen.

Plötzlich überkam ihn eine Traurigkeit, die ihm den Hals zuschnürte, dass er glaubte, ersticken zu müssen. Er sank schluchzend auf den Boden und verbarg den Kopf in den Armen. Seine Erinnerung gaukelte ihm vor, wieder zu Hause zu sein, auf seinem Strohlager zu liegen. Das erneut einsetzende Prasseln des Regens draußen verwandelte sich in das Prasseln des Herdfeuers im Hause seiner Familie.

*

Der Vater arbeitete, so weit Johannes zurückdenken konnte, als Holzknecht für die Köhlereien in und um Hieflau. Wie die anderen Männer der Passen blieb auch er sechs Tage in der Woche im Holzschlag und kehrte erst am Samstagabend nach Hause zurück. Meistens war es schon reichlich spät, wenn der Vater zur Tür hereinkam. Weil er recht müde und hungrig war, wollte er nur etwas essen, sich gründlich waschen und dann schlafen gehen.

Ihr Zuhause war eine alte Mühle. Sie stammte noch vom Großvater und war nach dessen Tod an seine Tochter übergegangen. Der Grundbesitz gehörte dem Kloster Admont, und dass Anna mit ihrer Familie weiter dort leben konnte, kostete sie jährlich einen gerade noch akzeptablen Batzen Geld.

Der Mühle wegen waren deren Bewohner unter dem Hausnamen Mühlhäusler bekannt.

Das kleine Dorf an der Mündung des Bergbaches in die Enns kannte Johannes gut. Eng zwischen den Fluss und den daran anschließenden Berg eingezwängt, bestand es nur aus wenigen Holzhäusern.

Jeden Sonntag gingen sie die gute halbe Stunde hinunter in die kleine protestantische Kirche: Johannes, der Vater, die Mutter und Johannes’ kleine Schwester Elisabeth. Jeremias Mitterer, ein konvertierter Mönch aus dem Kloster Admont, hatte sich dort eine kleine Prädikantenstelle eingerichtet. Er wurde von seiner protestantischen Gemeinde vor allem deshalb geschätzt, weil er noch immer gewisse Verbindungen pflegte, durch die er seine Schäfchen über die wichtigsten Veränderungen im Land auf dem Laufenden halten konnte.

Johannes’ Mutter Anna war zwar streng, was die täglichen Dinge betraf, darüber hinaus jedoch sehr liebevoll und niemals laut. Schon gar nicht bediente sie sich zur Bekräftigung ihres Willens der Flüche und Ausdrücke, die Johannes von anderen Weibern kannte.

Die Mutter unterschied sich ohnehin in vielen Dingen von den anderen Frauen seiner Umgebung. Sie war von zierlicher Gestalt, hatte trotz der täglichen Mühsal einen auffallend aufrechten Gang, ein rundes Gesicht und große, klarblaue Augen, die in aufregendem Kontrast zu ihren dichten, dunklen Haaren standen.

Johannes war nur zwei Jahre älter als die Schwester, aber er hatte sich um sie gekümmert, seit er denken konnte. Manchmal neckte er sie damit, dass er sechs Tage in der Woche den Vater ersetzte. Was seiner Meinung nach bedeutete, dass sie ihm ohne Widerspruch zu gehorchen hatte. Elisabeth bekam dann jedes Mal einen wutroten Kopf, dass ihre braunen Zöpfe wie kleine Mäuseschwänzchen abstanden, und ihre wasserblauen Augen wie zwei große, funkelnde Edelsteine aussahen.

Der Junge hatte niemals in seinem Leben einen Edelstein gesehen. Er kannte sie nur aus Geschichten, die er während der Jahrmärkte von den umherziehenden Gauklern hörte, welche ihre Erzählungen mit Bildern und Musik begleiteten. Da sah er dann die schönsten Frauen und die tapfersten und berühmtesten Männer der Welt auf bunte Tafeln gemalt. Die Damen auf diesen Bildern trugen edles Geschmeide und wunderschöne Kleider, die Männer die feinsten Hemden unter einem bestickten Wams, bunte Hosen und kniehohe Stiefel. Johannes kümmerte es nicht, welches Schicksal sie ereilt oder welch unfassbares Glück oder Unglück sie getroffen hatte. Er nahm nur die Bilder wahr und träumte seine eigenen Geschichten hinein.

Elisabeth war eine richtige kleine Persönlichkeit, soweit es die ‚gute Ordnung‘ zuließ. Manchmal schon hatte der Herr Prädikant Jeremias Mitterer die Mutter gescholten, weil sie der Kleinen durchließ, Dinge infrage zu stellen, die zum Donnerwetter noch mal von keinem Frauenzimmer infrage zu stellen waren. Weiberleute seien dazu da, sich dem Manne zu unterwerfen („Schon in der Bibel steht es: Der Kopf der Frau sei ihr Mann! Sie sei ihrem Manne untertan, wie auch der Körper unter dem Kopfe stehe und nicht umgekehrt!“), sich um ihn, seine Kinder, sein Heim und das Wohl der Familie und um sonst gar nichts zu kümmern. Sie hätten Kinder zu gebären und großzuziehen, aber nicht das Recht, dauernd Fragen zu stellen, die nicht einmal die Männer stellten. Wohin kämen wir denn, wenn alle Weiber sich so aufführten? Hoffärtige und neugierige Weiber seien dem Herrn, dem Allmächtigen, ein Gräuel!

„Glaubt Ihr wirklich“, fragte die Mutter einmal ungerührt zurück, „der Herrgott hätte unsere Elisabeth so geschaffen, wie sie nun mal ist, wenn er es anders lieber gesehen hätte?“

„Solche Frauensleute sind erschaffen worden, um Seine Herde zu prüfen“, antwortete der Prädikant stirnrunzelnd.

„Hat nicht sogar unser Herr Jesus eine Frau neben sich geduldet, die kein unbescholtenes Leben führte?“, fragte die Mutter zurück.

„Nun, wir alle wissen, dass nicht nur unser Herrgott, sondern auch sein Widersacher …“

„Den hat doch wohl auch unser allmächtiger Herrgott erschaffen, oder etwa nicht?“, hielt die Mutter dagegen.

Jeremias Mitterer holte mehrmals tief Luft und ließ sie dann grollend stehen.

Betrachtete sich Johannes im Wasserspiegel seiner Waschschüssel, konnte er kaum Ähnlichkeit zwischen sich und den beiden Weiberleuten finden, dafür aber umso mehr zum Vater, dessen Gesichtszüge sich Jahr für Jahr deutlicher im Antlitz des Sohnes erkennen ließen. Beide hatten sie braune Augen unter buschigen Brauen in einem schmalen Gesicht mit langer Nase. Ihre Haare waren glatt und dunkel, ihr Mund schmal. Sie waren nicht sehr groß, dafür kräftig gewachsen und mit zäher Ausdauer gesegnet.

Was seine Schwester betraf, so würde er dafür sorgen, dass sie nicht hierbleiben musste. Sie sollte keinen der Burschen aus dem Tälchen oder vom Dorf unten an der Enns zum Manne nehmen müssen, der ihr jedes Jahr ein Kind machte, das wiederum höchstens ein halbes Jahr alt werden würde. Ein Mann, der nicht genug Geld verdiente, um sie anständig einkleiden zu können, oder der sie und ihre Bälger sogar hungern lassen musste.

Nein. Elisabeth sollte eine vornehme Frau werden wie das Veverl aus Admont, das in Graz mit einem Salzhändler verheiratet war. Sie sollte auch nicht ständig mit einem dicken Bauch herumlaufen müssen wie die Schwestern seines Freundes Jakob. Kaum einer ihrer Säuglinge lebte länger als ein paar Wochen, und trotzdem liefen wenigstens ein Dutzend rotznasiger, plärrender Bälger auf dem Hof herum, von dem keiner so recht zu wissen schien, wem er denn nun eigentlich gehörte.

Wenn Johannes beim Nachbarn auf dem Hof war, um die Ziegen abzugeben, die er für ihn gehütet hatte, machte er jedes Mal, dass er schnell wieder fortkam. Der Alte hatte schon einmal im Rausch versucht, ihn windelweich zu prügeln, weil angeblich seine Lieblingsziege dürrer nach Hause gekommen sei, als er sie ihm anvertraut habe. Johannes entkam ihm nur deshalb, weil sein Freund Jakob den dicken Ziegenbock auf den Vater gehetzt hatte, der diesem mit gesenktem Kopf einen so deftigen Stoß gegen die Rippen versetzte, dass der Alte wie ein nasser Sack umfiel und im Dreck lag. Dort schlief er sofort röhrend wie ein brunftiger Hirsch ein.

Einmal erwischte Johannes ihn im Schafstall dabei, wie er sich besoffen und mit offenem Hosenladen an seiner ältesten Tochter zu schaffen machte, die er zuvor grün und blau geprügelt hatte.

„Was stierst du mich so an, du Hurensohn?“, hatte er ihn mit glasigen Augen angeschnauzt, ohne von dem armen Mädchen abzulassen, das er grob an eine der Stallwände drückte. „Die ist so gut wie jede andere auch. Dafür sind sie doch da, die Weiber! Darauf kommst du schon auch noch.“

Johannes hatte sich voller Entsetzen abgewandt und war vom Hof gerannt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.

Unten am Wasser stieß er auf Jakob, der mürrisch Steine in den Bach warf.

„Er ist der leibhaftige Satan!“, schrie Johannes ihm von Weitem zu. „Weißt du, was er deiner Schwester angetan hat?“

„Der Alte?“ Jakob zuckte die Schultern. Dann drehte er sich um und packte den atemlos vor ihm stehenden Johannes unvermittelt an dessen Hemd. „Ich werde zu den Söldnern gehen. Beim nächsten Jahrmarkt lasse ich mich von den Werbern mitnehmen!“, schrie er. „Die nehmen jeden, der nur will.“

„Was willst du denn bei den Söldnern?“, fragte Johannes entsetzt. „Die nehmen doch keine Kinder!“

„Ich bin elf Jahre alt!“, hielt Jakob dem Freund wütend entgegen.

Johannes schwieg und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

„Die Kerle sind auch nicht besser als dein Alter“, sagte er schließlich, weil ihm nichts weiter einfiel.

Jakob schob die Unterlippe vor. Der Rotz lief ihm herunter und sein Gesicht war völlig verschmiert und verschwollen.

Längere Zeit schwiegen die beiden Jungen. Johannes hoffte, das alles sei lediglich dummes Zeug, das der Freund jetzt nur sagte, um von seiner eigenen Situation abzulenken.

Das war lange her, und vieles war inzwischen geschehen. Johannes konnte damals nicht ahnen, unter welchen Umständen er den Freund eines Tages verlieren würde.