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Lektorat: Sylvia Kling | www.sylvia-kling.net

Bildnachweise/Cover: razoomanetu, Denis Aglichev | Fotolia

Autorenfotos: Marion Bock

Wir sind wieder in Berlin

Es war Ende März 1945. Der Kampfeslärm kam näher.

Durch unsere Straße fuhr schon immer eine Straßenbahn, die die Bornholmer Straße kreuzte. Die Bahnstrecke endete sofort nach der Bornholmer, in einer Sackgasse. Diese Sackgasse war etwa 100 Meter lang. Dahinter befand sich eine große Laubenkolonie, die bis nach Pankow reichte. Die nationalsozialistische Heeresleitung unternahm alles, um den eindringenden Feind aufzuhalten. Die ihnen untergebenen Gefolgsleute eiferten ihnen nach, weil sie zu einem Endsieg kommen würden, wie sie meinten. Eine wahnwitzige Irritation, die keiner, außer sie, als solche wahrhaben wollte. Daher wurde von unseren „Verteidigern“ noch Tage vor dem absehbaren Ende eine Aktion ins Leben gerufen, an der ich als noch achtjähriger Junge mitwirken musste; eigentlich „durfte“ – die Errichtung einer Straßensperre in dieser Sackgasse. Das tat ich nicht mal ungern, sondern sogar mit gewichtigem Stolz, von nichts eine Ahnung habend. Ich weiß nicht, ob die „Abkömmlinge“ der Heeresleitung mit dieser unsinnigen Rettungstat gedacht hatten, dass die Russen mit ihren Panzern, quer durch die Gärten kommend, so Berlin erobern würden. Jedenfalls mussten Männer und Frauen, auch wir Kinder, in dieser Ministraße alle Pflastersteine aus dem Fahrdamm klauben und sie als Panzersperre übereinanderstapeln. Wenn die Panzer wirklich durch die Gärten gekommen wären, hätten die russischen Panzerfahrer über dieses Hindernis vielleicht nur gelacht.

Das Artilleriegrummeln der Russen war schon bis zu uns zu hören. Da der Prenzlauer Berg ein nordöstlicher Stadtbezirk von Berlin ist, waren wir zwangsläufig die Eingangsschneise der Russen nach Berlin. Von Mongolen sprachen sie auch, unsere Männer. Das waren russische Soldaten, die angeblich an vorderster Front gegen Hitler kämpften. Es muss ja jemand so erzählt haben, denn für mich als Kind hatten diese Soldaten Schlitzaugen und ein Messer quer im Mund, so meine Erwartung. Die Frauen erwarteten angstvoll etwas anderes: Russen, die nicht mehr kämpfen wollten, sondern nur noch nach Frauen Ausschau hielten, um sie zu vergewaltigen. Die Nazipropaganda hatte über die Jahre gut vorgesorgt.

Der Kampfeslärm kam immer näher. Wir, die Einwohner des Hauses, saßen im Keller, angstvoll abwartend. Ich kuschelte mich in meine Mutter hinein. Die Tür zu unserem Luftschutzkeller öffnete sich und einer unserer männlichen Beschützer verkündete aufgeregt: „Die Russen sind schon in der Schönhauser Allee!“ Drei Querstraßen trennten uns also nur noch von ihnen. Das war, als wären sie schon hier. Keiner von uns Kindern hatte nur noch den sorgenvollen Blick vorangegangener Tage. Jetzt saß ein angstvoller Aufschrei in ihren Gesichtern. Panik. Niemand konnte ab jetzt seine Augen von der Kellertür abwenden. Wir Kinder rutschten fast in unsere Mütter rein und die Mütter klammerten sich an uns Kinder, zu ihrem eigenen Schutz. Irgendwann und bald musste sie sich mit Russen öffnen. Auch durch die gepanzerte Luftschutztür war im Keller die Schießerei zu hören, jetzt immer intensiver werdend.

Der gegenseitige Beschuss kam näher. Plötzlich öffnete sich die Tür wieder, mit einem Aufatmen von uns begleitet, denn erneut war es nur unser Nachbar. Ein Mann von uns. Derselbe wie vorhin. Jetzt sah er aber ganz anders aus, so als wäre er es nicht mehr. Er knallte sich auf einen freien Platz der Bank und weinte. Weinte und weinte, bis er sagen konnte, dass sein Kumpel K., mit dem er bisher unser Dach vor wirksamen Brandbomben bewahrt hatte, tot ist. Erschossen. Wir haben das Leid seiner Frau selbst nicht miterleben müssen, denn sie hielt sich im gegenüberliegenden Keller auf. Später hat uns dieser am Leben gebliebene Nachbar erzählt, dass der Mieter immer mal bei den Straßenkämpfen, aus dem Haustürvorbau, versteckt, auf die Straße gesehen hatte. Kopfschuss. Unaufmerksam? Neugier? Oder menschliches Selbstvertrauen auf Unverletzbarkeit? Für den erschossenen Nachbar wurde auf unserem Hof, hinter der Klopfstange, ein Grab ausgehoben, in das wir ihn bestattet haben. Später kam noch ein zweites Grab dazu, weil eine Frau vom Dach aus getroffen worden war. Wie? Wodurch? Warum? Das waren Fragezeichen, für deren Klärung es damals keine Erfolgsaussichten gab.

Nun waren die Russen da – und der Frieden kam mit. Das Geräusch „Krieg“ flachte in unserer Gegend allmählich etwas ab, auch weil die Stalinorgel bei uns nicht mehr an der Straßenecke stand. Inzwischen war sie weiter in Richtung Wedding gezogen. Ihr Ziel war der gewaltige Luftschutzbunker am Humboldthain, den man nach dem Krieg vier Mal vergeblich zu sprengen versuchte. In unseren Luftschutzkeller sind meine Mutter und ich bald nicht mehr gegangen, weil die Sirenen der Siegermacht zum Opfer gefallen waren. Von oben kam ja nun keine Bombe mehr, nur vielleicht eine verirrte Granate.

Durch die russischen Soldaten wurde die gemauerte Wand von unserem Hof zum dahinter liegenden großen Wochenmarkt eingerissen. Der Spalt war begehbar und der große Wochenmarkt wurde zum russischen Feldlager. Auch mit Gulaschkanone. Was uns Kindern oft zugutekam. Insgesamt war die Zeit mit den Russen friedvoller und fröhlicher als das Geschehen in der kriegerischen Vergangenheit. Für unseren Kindermagen sorgten die Russen vom Markt auch ab und zu recht liebevoll. Um uns herum wurde nicht mehr direkt geschossen. Herrlich.

Das war schon wie Frieden, von dem man mir erzählt hatte.

An das Grummeln der russischen Kanonen, die sich weiter zum Führerhauptquartier durchschossen, waren wir inzwischen alle gewöhnt. Ich hielt mich wie so oft auf dem Hof auf und „spielte mit den Russen“. Das heißt, ich guckte überall zu, wann und wo es was zu sehen gab und stand den Russen im Weg herum. Oft war ich auf dem Feldlager „Markt“, auch wieder, um zuzusehen oder um etwas Essbares abzufassen. Diesmal war ich also auf dem Hof, als aus der Wohnung im 3. Stock von unserem Seitenflügel ein lautes Geschrei zu hören war. Eine russische Stimme war auch dabei. Das Stimmengewirr wurde allmählich lauter, weil russische Männerstimmen die Treppe herunterkamen. Offensichtlich hatte ich im Vorfeld etwas verpasst, denn ein Offizier stand plötzlich in der Tür von unserem Seitenflügel. Zwei Soldaten im Dienst führten einen weiteren Russen zwischen sich ab. Der Offizier erwartete den Delinquenten und ehe der es sich versah, hatte er die Faust des Offiziers im Gesicht. Der Hieb war so gewaltig, dass der Abgeführte durch die offenstehende Kellertür die Kellertreppe hinunterstürzte. Die beiden Soldaten holten ihn wieder ans Tageslicht, setzten ihn auf einen Stuhl und banden ihn darauf fest. Der Bestrafte musste den ganzen Tag auf diesem Stuhl verbringen, der dann mitten auf dem Hof vor der Klopfstange stand. Er war quasi als abschreckendes Beispiel ausgestellt. Was war vorgefallen? Die Leute erzählten, denn die betroffene Frau hütete sich davor, davon zu reden, dass der bestrafte Soldat sich bei der Oma meines Spielkameraden gewaltsamen Zutritt in ihre Wohnung verschafft hatte und sie danach bedrängte.

In den Augen der russischen Soldaten waren wir Deutsche Kapitalisten. Damit war sicher nicht die wörtliche Übersetzung dieses Begriffs gemeint, wie wir ihn heute verstehen, denn die Soldaten, die meist aus armen, ganz anderen sozialen Strukturen stammten, empfanden unsere damalige Wohn- und Lebenskultur bereits als kapitalistischen Lebensstil. Wir, die wir hier wohnten, waren aber Arbeiterfamilien – in einem Arbeiterbezirk Berlins – und hatten keine üppigen Wohnungseinrichtungen. Eingerichtet, wie man es in den 30er Jahren so leidlich war. Heute würde keiner mehr so wohnen wollen. Das Erstaunen und die Begeisterung der Russen, zum Beispiel über die Funktion unserer Toiletten, war bald sprichwörtlich und gipfelte in dem Witz mit dem „Strickzimmer“. („Strick ziehen, Sch... weg„), obwohl von uns Arbeiterkindern die meisten ja gar kein richtiges „Strickzimmer“ hatten.

Aus Sicherheitsgründen, wie Mutti meinte, wohnten wir in den letzten Tagen des Krieges im Parterre bei Tante Lu. Tante Lu war Schneidermeisterin mit einem Geschäft, vorn im Haus und mit einem Eingang zur Wohnung von unserem Seitenflügel aus. Sie war die Mutter meines Schulkameraden und Freundes Pit, der nur 14 Tage jünger war als ich. Das Wichtigste für uns Kinder in ihrem Schneiderladen war der sehr große Zuschneidetisch. Auf dem konnten wir Kinder so herrlich spielen, wenn Tante Lu nicht da war! Zu unserem Kinderclan im Haus gehörten neben Pits Schwester Kati noch Anne und Trutchen. Das waren die zweieiigen Zwillinge aus dem Fleischerladen. Die wohnten im Seitenflügel; gegenüber, mit Fleischerladen nach vorn auf die Straße, Schlachterei nach hinten sowie den Magen umdrehenden Düften zum Hof. Wenn es unserem Fleischer mal gut ums Herz war, konnten wir uns was von dem Sud aus der Schlachtküche holen. Wenn es ihm noch menschlicher wurde, dann hatte er vorher ein paar Blutwürste in dem Sud zerplatzen lassen.

Es war Anfang Mai 1945. Meine Mutter und ich hatten uns also nun bei „Tante“ Lu einquartiert und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Schlimmer konnte es ja nicht mehr werden. Ich sehe uns alle noch in der Küche von „Tante“ Lu vor dem „Volksempfänger“ sitzen und Nachrichten hören. Plötzlich hatten unsere beiden Mütter befreite Gesichter.

„Mutti, ist jetzt der Krieg zu Ende und Frieden?“ Nein, das war er noch nicht. Aber Hitler war tot.

Ich beschrieb ja den Krieg aus meiner Kinderperspektive. Wenn ich in dem entsprechenden Kapitel nachlese, empfinde ich es, als ob all das Böse, was nach dem Ende des Krieges bekannt wurde, in meinen Erinnerungen nicht mehr vorhanden ist. Irgendwie bin ich sogar dankbar dafür, dass ich nicht ein direktes Trauma mit in meine Zukunft nehmen musste. Dennoch müssen Erlebnisse in meiner Kinderseele tief verborgen sein, die es mir heute noch untersagen, Aufzeichnungen von Kriegsfilmen aus der Nazizeit anzusehen. Wenn ich doch einmal in einem solchen Dokumentarfilm hängen bleibe, schießen mir die Tränen in die Augen und in mir kommen kaum nachvollziehbare Gefühle hoch. Vielleicht hat mir mein Unterbewusstsein dabei geholfen, die wirklich schlimmen Erlebnisse zu verdrängen. Ich erinnere mich an eine Situation vor 30 Jahren, als ich, für mich unverhofft, einen amerikanischen Farbfilm von 1945 über das zerbombte Berlin sah. Ich saß im Sessel und weinte, auch weil mein ganzer Körper unter diesem Schmerz litt. Manchmal reichen heute noch Kriegsschilderungen aus, in die ich mich ungewollt hineinfühle, die mich dann sofort erreichen. Gegenwärtig bin ich psychisch angreifbarer bei Darstellungen aus dieser Zeit von damals und ich vermute, Dinge erlebt zu haben, die mir zwischenzeitlich entglitten sind. Ich habe dann ein Gefühl, als wäre der Krieg in mir. Meine Seele fängt an zu reagieren. Ja, auch mit Tränen, die ich bekämpfe, aber nicht verhindern kann. Meist lasse ich sie laufen, denn ich kann dagegen nichts tun, weil das, was einmal war, aus der Tiefe kommt. Ja, auch schäme ich mich manchmal, denn als Mann weint man nicht, so kenne ich es noch von früher. Trotzdem, ich lasse die Tränen zu, weil es mir danach besser geht.

Frieden, du kannst kommen

Nun war er da. Der Frieden. Ohne Schießerei, ohne Bomben, aber mit der Sorge, wie es weitergehen würde. Ich weiß noch von der Freude, keine Angst mehr haben zu müssen. Die Angst vor den Bomben abwerfenden Fliegern, vor den erwarteten, gewalttätigen Mongolen und die Sorge um meinen Papa, den ich eigentlich noch gar nicht kannte. Nach dem verlorenen Krieg war natürlich keine Hakenkreuzfahne mehr gefragt, wie noch drei Wochen zuvor, zu Hitlers 56. Geburtstag. Jetzt nähten die Frauen aus unserem Haus unfreiwillig die Fahnen von den vier Siegermächten, weil die sowjetische Kommandantur befohlen hatte, dass jedes Wohnhaus bis zum Abend des 1. Juni 1945 mit den vier alliierten Fahnen zu beflaggen sei. Die Näherinnen des Hauses suchten jetzt alles Mögliche an Stoff zusammen. Als die Fahnen fertig waren, wurden sie an Besenstielen aus dem Balkon über die Haustür gehängt. Das natürlich auch aus jedem Haus, die ganze Straße entlang. Ich glaube, das sollte verdeckt ein eingefordertes Zeichen für die persönliche Kapitulation der Hausbewohner sein. Besondere Probleme bei ihrer Fahnenproduktion machte den Frauen die Form der Ami-Sterne und die Frage, wie viele es sein mussten, wegen der unbekannten Anzahl der US-Staaten. Aber das Problem behandelte man „globalkonkret“, wie ich später eine Situation bezeichnete, die existierte, aber irgendwie offen war. Hammer und Sichel der Russen waren auch nicht ohne weiteres einzunähen. Es gab schon manchmal sehr seltsame Schöpfungen, denn an einigen neuen Fahnen konnte man im Stoff noch den Ursprung, das herausgetrennte Hakenkreuz aus den ehemaligen Hitlerfahnen, erkennen.

Das erste Trinkwasser bekamen wir aus einer sehr großen alten Schwengelpumpe am Arnimplatz. Die Menschen standen mit ihren Behältern an. Von Oma und Opa hatten wir noch zwei emaillierte Eimer – außen hellblau und innen weiß. Mit einem stabilen „goldenen“ Bügel aus Messing. Früher gehörten noch Deckel dazu. Die Eimer stammten aus einer Zeit, in der es noch keine Wasserleitung gab. Jetzt hatten sie außen einige Stellen, an denen die Emaille abgeschlagen war. Wasser ist schwer und so wurden die gefüllten Eimer von meiner Mutter und mir vorsichtig mit einem Wägelchen gezogen.

Damit nicht so viel Wasser aus den Eimern schwappte, ließen wir oben auf dem Wasser Stullenbretter schwimmen. Die beruhigten das Wasser, was raus wollte. Mit dieser Methode bekamen meine Mutter und ich das meiste Wasser nach Hause. Nun noch rauf damit in die vierte Etage. Verlustfrei, auch wegen der Frau Wolff.

Hamstern

Immer noch 1945. Ein allgemeines Tagesproblem nannte sich Hunger in dieser Zeit. Die versuchte Bewältigung dessen war, hamstern zu fahren. Der Krieg war beendet. Das war erst mal das Wichtigste. Doch die Not durch fehlende Nahrungsmittel wurde immer größer, weil die bisherigen Rationen auf den Lebensmittelkarten, die während des Krieges galten, amtlicherseits weiter reduziert wurden. Eine Rationierung durch die jeweilige Besatzungsmacht wurde notwendig, um die wenigen vorhandenen Bestände gerechter verteilen zu können. Nun hieß es: „Rette sich wer kann!“. Mit diesem Grundgedanken fuhren die Großstädter nicht mehr ins Grüne, sondern aufs Land zu den Bauern, um zu „hamstern“, sich durch Tauschen essbaren Vorrat zu beschaffen. Auch der „Schwarze Markt“ führte sich ein. Das war eine Variante des Kompensationsgeschäftes. Da die Reichsmark für die ländliche Bevölkerung keine Bedeutung mehr hatte, war das Tauschen die einzige wahrscheinliche Chance, direkt auf dem Land an Lebensmittel zu kommen. „Hamstern fahren“ nannte sich das. Das ging so weit, dass den Bauern über die Zeit ein Perserteppich im Schweinestall nachgesagt wurde. Sicher eine Übertreibung, aber an jeder Lüge ist ein Stückchen Wahrheit. Meine Mutter und ich fuhren auch einmal in die Gegend von Bernau zum Hamstern. Das war ganz nahe, wenn die S-Bahn gefahren wäre. Eigentlich zu nahe für Berlin, für Hoffnungsgedanken. Meine Mutter hatte vor, ihre frühere Bekannte Alice zu besuchen, die uns aber wenig erfreut mit zerfurchter Stirn begrüßte. Mit dem traurigen Ergebnis für uns, fast erfolglos zu sein. Immerhin konnten wir 20 Pfund Weißkohl und 15 Pfund Kartoffeln unser Eigen nennen, obwohl meine Mutter Frotteehandtücher und Bettwäsche zum Tauschen mithatte, die sie zum Glück für einen späteren Versuch wieder mit nach Hause nehmen konnte. Nun mussten wir auch noch bis Montag bei Alice bleiben – was wir vorher nicht wussten –, weil sonnabends und sonntags kein Zug fuhr. Ich kann mich auch noch gut erinnern, wie weit der Weg am Montag zurück zum Bahnhof und wie schwer alles zu tragen war. Das Wenige, was wir ergattern konnten. Ein anderes Mal, als meine Mutter aus Thürkow zurückkam, wo sie die dorthin evakuierten Sachen vergeblich wiederholen wollte, erzählte sie Fürchterliches von dem Abenteuer in den Zügen. Wie die Leute sich drängten, die auf den Trittbrettern und Dächern der Personenzüge standen, saßen und an ihnen hingen. Ein begehrter Platz war das Trittbrett von außen. Da hätte auch das eventuelle Hamstergut während der Fahrt abgestellt werden können, wenn es nicht eine berechtigte Angst gegeben hätte, denn diese Methode barg eine große Gefahr in sich. An der Strecke, an der ein Zug vorbeifuhr, standen Leute mit langen Stangen, an denen Haken befestigt waren. Da die Züge damals noch sehr langsam fuhren, fischten sich die „Streckensteher“ mit den Stangen das Hamstergut von den Trittbrettern. Sauerei. Aber Not machte eben erfinderisch. Eine weitere Gefahr für die Hamsterer bestand noch darin, dass das eingetauschte Gut am Zielbahnhof von der Polizei konfisziert wurde, denn Hamstern war verboten. Der kleine Großversuch in Bernau bezüglich Ernährung brachte also für uns nur einen mäßigen Erfolg. Nun konnten meine Mutter und ich uns nur noch an das halten, was für uns erreichbar war. So war ich ein „rationiertes“ Kind. Ich bin nur durch Lebensmittelkarten rationiert groß geworden. Und auf mich war Verlass. Einmal aber, war ich doch mehr Kind als verlässlich. Meine Mutter war auf der Arbeit und hatte mir den Auftrag gegeben, bei Erna einkaufen zu gehen, natürlich alles mit Lebensmittelkarte. Erna war eine ehemalige Schulfreundin meiner Mutter, die im nächsten Häuserblock einen sehr kleinen „Tante-Emma-Laden“ betrieb. Obwohl sich die beiden Frauen gut kannten, kriegten wir bei Erna nur das, wofür wir den Lebensmittelabschnitt abgaben, ohne Sondervergünstigung. Alles, was bei ihr eingekauft werden konnte, wurde zuhause von meiner Mutter nachgewogen, das wusste ich. Bei meinem diesmaligen Einkauf stand auch Zucker auf dem Zettel. Entsprechende Lebensmittelmarken lagen bei.

Meine Mutter konnte sich sicher sein, wenn ich etwas kaufte, auch wenn es Zucker war, würde alles von mir, ohne Naschen, besorgt. Nun stand sie da. Auf dem Küchentisch. Die Tüte mit Zucker. Wenn ich jetzt nur mal, mit der angefeuchteten Fingerkuppe ...? Das bisschen würde meine Mutter ja sicher nicht gleich beim Nachwiegen merken. Beim dritten Mal „kosten“ hatte ich schon einen Teelöffel in der Hand. Und nach meinem Schreck und den aufkommenden Bedenken wegen des fehlenden Gewichts kam das schlechte Gewissen noch hinzu. Ich wog nach und stellte fest, dass es beim Kosten wohl nicht nur drei Versuche meinerseits gewesen sein mussten, denn am Gewicht fehlte recht viel. Was tun? Salz sieht aus wie Zucker. Wenn ich also Salz unter den Zucker mischte, bis das Gewicht wieder stimmte, fragte ich mich? Dann würde meine Mutter nichts von meiner Missetat merken ...

Wie gedacht – so getan. Die Zuckertüte hatte die Gewichtskontrolle durch meine Mutter positiv bestanden. Doch irgendwann hatte der Zucker nicht den von meiner Mutter beabsichtigten Effekt. Eine individuelle Einzelprüfung der Zuckerqualität brachte die an mich gestellte Frage: „Hast du ...?“ Ich hatte ein sehr schlechtes Gewissen, antwortete aber mit „Nein“. Nach einer nochmaligen Rückfrage bei mir nahm meine Mutter die Zucker/Salz-Tüte und ging zur Erna, mit dem durch ihren Berni oft erworbenen Vertrauen in der Tasche. Als meine Mutter von Erna zurückkam, passierte nichts, außer dass sie fragte: „Warum hast du mich angelogen?“ Ich weinte. Schläge bekam ich keine. Meine Mutter wusste jedoch, ich würde sie nie wieder anlügen. Heute denke ich, dass meine Mutter damals verstehen konnte, wie es einem Kind ergeht, wenn auf dem Küchentisch eine Tüte mit der nicht vorhandenen Aufschrift Zucker steht.

Unerprobte Kindererlebnisse

Spielen war für uns Kinder ein bis dahin wenig gelebtes Ereignis. Nun, nach dem Krieg, trauten wir uns wieder unbelastet auf die Straße. Murmeln war eines der ersten Spiele, denn Murmellöcher hatte uns der Krieg zur Genüge auf dem Bürgersteig hinterlassen. Die Murmeln selbst gab es aus den Restbeständen der Eltern oder von den größeren Geschwistern, wenn man welche hatte. Wer als Erster alle oder die letzte Murmel ins Loch schob, war Sieger und konnte alle Murmeln behalten. Wenn ein neuer, uns noch nicht bekannter Spieler, mit murmeln wollte, musste der seinen Zeigefinger vorführen, ob er vielleicht ein „Straßenfeger“ sein könnte. Das musste natürlich geprüft werden. Ein „Straßenfeger“ war ein Mitspieler, der lange seine Murmel in Richtung Loch führte, was auf dem Zeigefinger Schleifspuren hinterließ und ihm damit natürlich unerlaubte Vorteile verschaffte. Ein gut gefüllter Murmelbeutel bei einem solchen mahnte uns auch immer zur Vorsicht.

Fußballspielen war schon immer das Spiel der Spiele für uns Jungens. Daher wurden wir, besser unser unberechenbarer Ball, von den noch vorhandenen Fensterscheiben der Ladenbesitzer gefürchtet. Der Marschtmeester, der gegenüber unserer Schule sein Quartier hatte, fürchtete sich offensichtlich auch vor uns. Eigentlich unbegründet, meinten wir, weil das Scherengittertor zum Markt ja keine Scheibe hatte. Er meckerte, wann immer wir vor seinem Gelände spielten. So ein kleiner Ball, etwa in Tennisballgröße, konnte nun mal durch die Gitter kullern. Mehr konnte doch gar nicht passieren. Wenn das geschah, musste es erst einmal durch uns ignoriert werden. Aber nur scheinbar. Die Operation Ballrettung erfolgte stets erst, wenn der Alte abends weg war. Von unserem Sondereinsatz, über das Gitter zu klettern, erfuhr er natürlich nichts. Trotzdem, er meckerte. Er meckerte immer. Als „Luxe“, mein Freund aus dem Nachbarhaus, dem Alten mal eines Tages anbot, Knösel zu besorgen, damit wir vor den Scherengittern unbesorgt spielen durften, wurde der Hüter des Marktes freundlicher zu uns. Knösel waren die klein geschnittenen Rispenstücke der Tabakblätter. Wir anderen sahen uns alle erstaunt an und fragten uns, wie „Luxe“ das denn hin bekommen wollte. Zwar hatte sein Opa einen Schrebergarten, auf dem er den Tabak hegte und pflegte, aber wir dachten, dass sein Opa mit Sicherheit alles selbst verbrauchen würde. Zu unserem Erstaunen hatte Luxe am nächsten Tag den Knösel dabei. Irgendwie schien es mir aber, als sähe der Knösel von „Luxe“ etwas anders aus. Der Alte vom Markt freute sich. Wir uns erst mal auch. Allerdings nicht lange, denn der Herr Marschtmeester identifizierte den Knösel bald als Nichtknösel, nämlich als das, was er wirklich war. Es handelte sich um klein gemachte, verwelkte Rhododendrenblätter. Von da an durften wir uns, selbst ohne Ball, nicht mehr vor den Scherengittern sehen lassen.

Wettrennen mit einer Laufe machten wir auch manchmal. Zwei Laufen wurden nebeneinandergesetzt und diejenige, die als erste im zehn Zentimeter entfernten Ziel ankam, war Sieger. Eine Laufe wurde erst kurz vor dem Start zu einer solchen gemacht, denn bis dahin saß sie noch als Fliege in einem Fliegengefängnis und hatte Flügel. Erst später wurde sie eine Laufe. Die Fliegenkäfige waren Eigenproduktionen und bestanden aus zwei dünnen Scheiben von einem Flaschenkorken. Diese wurden von etwa zehn Stecknadeln gegenseitig gehalten. Die beiden Korkscheiben hatten Abstand, doch durch die Stecknadeln Kontakt miteinander, durch die die Fliegen durchgucken konnten. Damit hatten sie bis zum Start auch noch einen gewissen „Lebensraum“. Nun habe ich das so geschrieben, als hätte ich selbst ... Nein, das nicht. Ja, ich habe dabeigestanden und zugeguckt, aber den armen Viechern an die Flügel gehen? Nee! Fliegen fangen kann ich aber noch heute sehr gut.

Berni, der werdende „Künstler“

Till Eulenspiegel stellt sich vor

und flüstert euch jetzt was ins Ohr.

Ein schönes Spiel soll hier entstehen,

drum grüß ich alle auch recht schön.

Besonders doch die lieben Gäste

zu unserem schönen Kinderfeste.

Ja, ich bin heute auch dabei

mit Ulk und mancher Schelmerei,

und gebe hier das Tempo an

im schönen Varieté-Programm.

1946. Till Eulenspiegel hatte, in einem richtigen Kostüm mit Schellen, durch den künstlerischen Ablauf eines Kinderfestes zu führen. Die Bühne war der Hof unseres Wohnhauses. Till Eulenspiegel war ich und ich war noch 9 Jahre alt. Durch die Unterstützung von Frau und Herrn Razemba mit Text, Gestik, Kostümen und uns drei „theaterunerprobten“ Kindern, haben wir mit dazu beigetragen, das Kinderfest erfolgreich und unterhaltsam zu gestalten. Wir drei, das waren Anne und Trutchen, die Fleischer-Zwillinge und ich. Trutchen und Anne traten in einem Sketch als Max und Moritz auf. Die Razembas wohnten in einem Haus um die Ecke, in der Schievelbeiner Straße. Sie waren Kunden in der Fleischerei. Eigentlich hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt meine Theaterbesessenheit noch gar nicht erkannt und beweisen können, denn der Till Eulenspiegel war mein erster Auftritt in der „Kunstszene“. Die Razembas leiteten beruflich ein Kinderensemble der „Berliner Volksbühne“. Frau Razemba kümmerte sich um Tanz und Gesang. Er war der Regisseur und Stückeschreiber. Übrigens, den Reim für den Till hatte er auch geschrieben. Trutchen und Anne gehörten schon der Kinder-Truppe an. Anne erhielt eine Hauptrolle in einem Märchenstück und dafür durfte Frau Razemba sicher mal die Fleischmarken für den Fleischerladen vergessen. Der Krieg hatte zur Genüge Kummer und Not gebracht und jetzt, 1946, sollte dieses Kinderfest auf dem Hof für Stimmung sorgen und Lebensmut verbreiten. Mit Max und Moritz und Till Eulenspiegel war der Start schon gemacht. Alle Mieter wollten feiern und unbekümmert fröhlich sein. Gründe dafür gab es genug. Daher schwebte der Wunsch nach eigenen Haus-Kinderfesten wie eine Sucht durch die Straßen und Häuser. Und jedes Haus machte seine eigene Feier. Das organisierte sich jedes Haus individuell, aber mit verschlossener Haustür. Da die Mittel und Möglichkeiten von Haus zu Haus unterschiedlich waren, klingt diese Organisationsform recht egoistisch. Sie erwies sich jedoch als notwendig, denn der allgemeine Wunsch sich zu vergnügen, hätte jede Hauskapazität und den eingesetzten gastronomischen Minirahmen gesprengt. Hinz und Kunz wären erschienen. Die Frauen des Hauses sorgten im Vorfeld für Kuchen, was sich so nannte, und was mir heute noch immer ein Rätsel ist, wie und wodurch ihnen möglich war, sie aus dem Wenigen zu backen. Das Konditor-Prachtstück war der „Kalte Hund“. Gemäß der damaligen Wertigkeit rangierte er über der nicht vorhandenen „Sachertorte“. Das meinten zumindest die Mitbewohnerinnen, die glaubten, die „Sachertorte“ von früher zu kennen. Damit stieg der schwarze Kekskuchen in den absolut exklusiven Bereich. Bei den Nachkriegskuchen waren alle Frauen auch wieder der einhelligen Meinung: Wenn es uns mal besser geht, dann kann man die aus der Not geborenen Kuchen auch wieder besser backen, natürlich etwas verfeinert. Wenn ich mal etwas zum Schleckern haben wollte und ich hatte noch einen Fünfziger in der Hosentasche, stellte ich mich rechtzeitig um 15.00 Uhr beim Bäcker am Arnimplatz an. Die Frau vom Bäcker verkaufte aus einer silbrigen Schüssel mit Beule die Schlagcreme, ohne Lebensmittelmarken. Woraus die Creme war, wusste keiner. Hauptsache, es war süß und sah wie Schlagsahne aus. War ihre Schüssel leer, bevor ich dran war, hatte ich eben Pech gehabt. Nichts gab es mehr. Wenn es mir aber gelang, glücklicher Kunde zu sein, dann „knallte“ die Frau Bäckermeisterin zwei Esslöffel von der Creme auf ein Stück grau-weißes Papier, mit einem an einer Stelle angebrannten und verkohlten Rand. Zeichen des gewesenen Krieges.

Wie gesagt, auf dem Kinderfest gab es keine Schlagsahne, dafür vielleicht Bowle, glaube ich. Und wenn ja, dann war auch Schnaps drin. Damals gab es eine Regel: Bowle musste mit Schnaps angereichert sein. Ob es Bier gab, weiß ich nicht mehr. Ich glaube nicht, weil man Bier für zuhause aus der Kneipe oder vom Bierladen in Krügen holen musste. Ein Akkordeonspieler gehörte immer zum Stammpersonal bei Kinderfesten und sorgte für Stimmung beim Tanze. Kreuzpolka, Rheinländer und Polonaise waren Standardtänze, die heutzutage leider von vielen Tanzflächen verschwunden sind. Sie brachten damals viel Stimmung in den Hof. Männer als Tanzpartner waren natürlich Mangelware. Die Männer, so auch Papa, waren – wenn sie überhaupt lebten – noch nicht aus der Kriegsgefangenschaft zurück. In dem Fall war meine Mutter in der Lage, mich für sich als Ersatz zu stellen. So war unser Kinderfest für mich eine Trainingsebene, um mir das Tanzen nahezubringen. Meine Mutter hatte Spaß daran, wie ich mich dabei gut anstellte und sie durch mich einen kleinen Tanzpartner hatte. Die Kinderfeste und das häufige Tanzen dort ließen mich perfekter werden. Anstatt vor uns die Haustüren zu verschließen, waren wir drei mit unserem Kinderprogramm bei anderen Hausfeten gern gesehene „Gastdarsteller“. Unsere lustigen Kinderaufführungen hatten sich herumgesprochen und daher wurden wir zu anderen Hausfesten eingeladen. Anschließend durften wir noch etwas bleiben und miteinander tanzen. Nach meinem Till-Auftritt stand ich bei den Zwillingen meist durch Trutchen unter Beschuss, bei den Razembas in der Tanzgruppe mitzumachen. Erstens war die Tanzerei so eine Sache, die mir lag und zweitens meinte Trutchen, dass wir immer zusammen zu den Proben gehen könnten. Trutchen musste wissen, was mir guttat, denn sie war schließlich meine Buddelkastenliebe und schon seit wenigen Jahren meine „Frau“. Wir hatten an der Kloppstange im Hof geheiratet. Trutchen war damals vier und ich fünf. Man schrieb das Jahr 1941. Meine Mutter hatte für dieses feierliche Ereignis eine betagte Küchengardine als Ersatzbrautschleier geopfert. Meine „Ehe“ mit Trutchen hält bis heute gut und ohne Streit. Wir treffen uns noch hin und wieder.

Martha und Wolfgang Razemba machten für uns Kinder so manchen „Handstand“, wenn es um die Organisation des Nötigsten ging. Es gab ja schließlich nichts und so musste Stoff und Nähkapazität für die Kostüme bei den Müttern von uns Kindern zusammengebettelt werden. Die Energie der beiden erwuchs sicher aus ihrer Freude an dem wachsenden Frieden. Wolfgang Razemba schrieb die Märchen-Theaterstücke für und mit uns Kindern. Dabei achtete unser Autor natürlich darauf, dass viele Rollen im Stück vorkamen, denn jeder von uns wollte schließlich mitmachen. Immerhin waren wir über 80 Kinder. Herr Razemba führte auch zugleich Regie, sagte und zeigte uns, wie wir zu schauspielern hatten. Seine Frau Martha studierte mit uns die Tänze ein, die die Handlung des Märchenstücks interessanter machten und auflockerten. Wenn wir eine Veranstaltung hatten, fand der Aufführungsort meist auf einer richtigen Bühne statt, wie z. B. der vom „Puhlmann-Theater“, mit 820 Zuschauerplätzen. Das Theater befand sich in der Schönhauser Allee, in der Höhe, wo die U-Bahn Richtung City unter die Erde fährt. Bald nach 1950 wurde das Theater leider ersatzlos abgerissen. Warum, das wusste keiner. Bis zum Abriss war jeder von uns mächtig stolz darauf, als was und wie oft er dort auf der Bühne zu sehen war. Natürlich waren möglichst immer unsere Familienangehörigen als Zuschauer im Theater angetreten, um die Leistungen ihrer Sprösslinge entsprechend zu würdigen. Das Schönste für uns war, wenn wir am Bühnenausgang von der Verwandtschaft empfangen wurden. Wiederholt vollzog sich dieser Ritus stets dadurch, dass wir mit Lobeshymnen überhäuft wurden. Schön war es natürlich für uns, bewundert zu werden. Aber es bestand auch die Wahrscheinlichkeit, dass uns Brüderlein und Schwesterchen empfangen wollten. Das war gepaart mit der Gefahr, dass fremde Abholer unsere Geschwister am Bühnenausgang auch als „Schauspieler“ vermuten könnten. Aber eventuell nicht uns. Damit wir als Darsteller zu erkennen waren, achteten wir verstärkt darauf, dass wir uns nicht gründlich abschminkten. Jeder sollte sehen: Ich bin ein Künstler! Frau Razemba hatte für solche kindliche Großmannssucht völliges Verständnis, konnte es jedoch nicht widerspruchslos zulassen, weil es auch Eltern geben konnte, die so etwas nicht mochten. Also stand „Tante Martha“, wie sie auch von einigen Kindern gerufen wurde, am Bühnenausgang und guckte genau hin – und weg. Ihr Stehen am Ausgang bewirkte bei uns aber immerhin eine besser abgeschminkte Ordnung. Nachdem das „Puhlmann-Theater“ abgerissen war, gab es für unsere Schauspielgruppe keine Aufführungen der Märchenspiele und daher auch keine Schauspielgruppe mehr. Unsere Tanzgruppe hingegen war weiterhin Mitglied im Tanzensemble der „Volksbühne Berlin“. Damit wurde nur noch auf öffentlichen Veranstaltungen zu Betriebs- und Maifeiern usw. getanzt.

Mit Zeitungen bergauf, bergab

Meine Mutter musste nach dem Krieg sehen, dass wir beiden über die Runden kamen. Mein Vater war noch in der Kriegsgefangenschaft, beim Engländer, in Norwegen. Arbeit war generell gesucht und wenig vorhanden. Und so stand meine Mutter als Zeitungsausträgerin jeden Tag gegen vier Uhr früh auf und verteilte die Zeitungen. Es war damals noch üblich, dass jede Zeitung ihren eigenen Zeitungsboten hatte. Die Tageszeitung, die meine Mutter damals austrug, erschien in Westberlin – für meine Mutter zufällig und unspektakulär. Der Vertrieb dieser Zeitung im Ostsektor Berlins wurde aber, wie bei allen anderen westlichen Zeitungen auch, von der sowjetischen Verwaltung per 16. April 1948 verboten. Mutters Zustellrevier war nicht weit von unserem Zuhause entfernt. Es begann gleich hinter der Schönfließer Brücke und reichte von da bis zum „Cantianstadion“ und von der Schönhauser Allee bis zum Gleimtunnel, eine spätere Grenze nach Westberlin. Kein kleines Revier. Diese Zeitung war ja auch nicht eine, die jeder las. Damals gab es noch keine Briefkästen in den Hausfluren und auch keine Hausschlüssel für die Zeitungszusteller. Wenn die Haustür noch verschlossen war, dann musste man später noch mal hin und wieder an der Haustür klinken. Jede Zeitung musste rauf bis an die Wohnungstür gebracht und durch den Briefschlitz gesteckt werden. Vor diesem Schlitz befand sich meist eine gusseiserne Metallklappe, die Krach machte, wenn mit ihr nicht vorsichtig genug umgegangen wurde. Hinter der Tür hing an dem Türschlitz innen meist noch ein Tuch, damit niemand durch den Schlitz in die Wohnung sehen konnte. Dieses indirekte Verbot des Abonnenten verleitete manchmal erst recht dazu, die vierfach gefaltete Zeitung ganz am Rand durchzuschieben. Dann blieb noch eine Öffnung, durch die doch in die Wohnung gelinst werden konnte. Viel gab es meist nicht zu sehen, trotz Tuch, aber die gewollte Absicht des Mieters war besiegt. Woher ich das weiß? Weil ich so etwas ab und zu mal tat, wenn ich meiner Mutter beim Zeitungsaustragen geholfen habe. Das Helfen hatte sich bald so organisiert, indem ich fast jeden Morgen wach geworden bin, wenn meine Mutter losgegangen ist. Dann bin ich ihr nachgestiefelt, habe ihr für eine Straße die Zeitungen abgenommen und bin nach dem Austragen in die Schule gegangen. Bald erhielt ich von ihr ein eigenes Zustellungsterrain. Die Zeitungsgebühren wurden monatlich mit 6,00 Reichsmark persönlich abkassiert. Da ich auf meiner Tour nun fast immer der Zeitungsbote war, was einige Abonnenten mitbekamen, gestattete mir meine Mutter, dass ich auch abkassierte. Trinkgeld gab es manchmal.

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir, dass ich von einer Frau jedes Mal eine belegte Klappstulle bekam. Das war ein Fest, denn selbst 1 Jahr nach dem Krieg mussten wir mit unseren Lebensmitteln haushalten, besonders mit dem Brot. Von einer anderen, einer älteren Dame, wurde das Abkassieren besonders zelebriert. Ich musste jeden Tag bei der Zeitungszustellung Glück haben, um bei ihr eine offene Haustür vorzufinden, denn in dem Eckhaus wohnten nur vier Mieter. Und – die Haustür hatte einen Durchsteckschlüssel! Das heißt, der Mieter, der raus ging, musste auch wieder abschließen. Durch diese beiden Bedingungen war ein glücklicher Zufall notwendig, um der Frau die Zeitung zustellen zu können. Mit dieser inneren Einstellung, welch hohe Dankbarkeit diese Frau mir eigentlich entgegen bringen könnte, ging ich immer ans Abkassieren und somit an die aus meiner Sicht berechtigte Erwartung eines guten Trinkgeldes. Vergeblich, denn die Prozedur war immer die gleiche: Die Tür ging auf, die Frau sah mich. Die Tür schloss sich wieder, um sich sehr bald wieder zu öffnen. Die alte Dame hatte die sechs Reichsmark in der Hand. Sie gab mir die, griff dann anschließend noch mal hinter die Tür, um in ihr Portemonnaie zu fassen. Das war der Moment fürs Trinkgeld. Nun hatte sie es in der Hand, um es mir zu geben. Immer mit denselben Worten: „Und zehn Pfennig für dich!“ Und die Tür schloss sich.

Zu dieser Zeit kostete ein Pfund (500gr.) Mehl auf dem „Schwarzen Markt“ 20,- Reichsmark. Die 10 Pfennige waren daher fast eine Beleidigung, doch die Zeitungsleserin hatte sicher aus der Erinnerung ihrer Generation gehandelt.

Ein Pfund Mehl für 20,- RM konnte uns Fräulein Krause vom „Schwarzen Markt“ besorgen. Fräulein Krause wohnte jetzt als Untermieterin im kleinen Zimmer unserer Wohnung. Papa war aus der Gefangenschaft noch nicht zurück und so mussten wir sie amtlicherseits als Untermieterin aufnehmen, denn zu viele Menschen waren ausgebombt und daher ohne Wohnraum. Nur gelegentlich, alle zwei Monate, bat ich unsere Untermieterin, Schwarzmarkt-Mehl mitzubringen und bezahlte es von meinem Verdienst, denn Mutti gab mir jeden Monat 10,- RM als Belohnung fürs „Treppentigern“ mit den Zeitungen. Dass ich für das Geld das Mehl kaufte, stieß zwar immer auf Protest bei meiner Mutter, doch die daraus entstandenen Suppen schmeckten uns beiden trotzdem und gut.

Zwei Varianten gab es, um an die „Wunschware“ ranzukommen: Erstens: Auf dem „Schwarzen Markt“ sehr teuer bezahlen oder zweitens: tauschen, ein Kompensationsgeschäft also, wie es vornehm hieß. Der Ort des Geschehens war in beiden Fällen der „Schwarze Markt“ irgendwo in der Stadt, auf der Straße – und das natürlich unerlaubt. Auf diesen illegalen Handelsplätzen tauschte man das, was man noch sein Eigen nannte und verschmerzen konnte, es wegzugeben. Gegen das, was man haben wollte, ohne zu fragen nach dem Woher. Da wurden die früheren Werte der beiden Tauschobjekte nicht gegenüber gestellt, weil der Zeitwert des Tages zählte. Dieser „Handel“, der vorbei an Behörden und Steuern verlief, wurde von der Polizei mit Razzien bekämpft, und das mit großem Aufwand. Aber immer mit einem erfolglosen Ergebnis, denn der Handel funktionierte nach der Razzia weiter wie bisher. Der Bedarf bestimmte die Gesetzlosigkeit. Der „Schwarze Markt“-Preis explodierte in astronomische Höhen gegenüber den offiziellen Preisen. So kostete 1947 ein Kilogramm Fleisch 60,- bis 80,- Reichsmark gegenüber dem offiziellen Preis von 2,20 RM.

Weitere Kilopreise, die unser Portemonnaie erschüttert hätten, wenn Geld vorhanden gewesen wäre:

Brot 20,- bis 30,- RM

Kartoffeln 10,- RM

Zucker 120,- RM

Butter 350,- RM

Eine Zigarette 5,- bis 9,- RM, entsprechend, ob Ami-Zigarette oder eine andere Sorte.

Zu den Kompensationsgeschäften gab es einen Artikel im „Berliner Telegraf“ vom 24. Juni 1947: „Einem hungrigen Freunde wurde ein Pfund Butter für 320 RM angeboten. Er nahm die Butter auf Kredit, weil er so viel Geld nicht hatte. Morgen wollte er die Butter dann bezahlen. Ein halbes Pfund bekam seine Frau. Mit dem Rest gingen wir ‚kompensieren‘. In einem Tabakladen gab es für das halbe Pfund 50 Zigaretten. Zehn Stück behielten wir für uns. Mit dem Rest gingen wir in eine Kneipe. Wir rauchten eine Zigarette und das Geschäft war perfekt. Für die 40 Zigaretten erhielten wir eine Flasche Wein und eine Flasche Schnaps. Den Wein brachten wir nach Hause. Mit dem Schnaps fuhren wir aufs Land. Bald fand sich ein Bauer, der uns für den Schnaps zwei Pfund Butter eintauschte. Am nächsten Morgen brachte mein Freund dem ersten Butterlieferanten sein Pfund zurück, weil es zu teuer war, sagte er ihm.

Unsere Kompensation hatte ein halbes Pfund Butter, eine Flasche Wein, zehn Zigaretten und das Vergnügen eines steuerfreien Gewerbes eingebracht.“

War der Inhalt dieses Artikels Dichtung oder Wahrheit? Ich weiß es nicht. Er war aber der Wirklichkeit sehr nahe. Erst mit Einführung der Währungsreform im Sommer 1948 und mit den damit wesentlich größeren Warenangeboten in den Westsektoren Berlins löste sich der „Schwarze Markt“ von selbst auf. Er hatte sich überholt.

Wir, mit der Währungsreform

Um das von den drei Westalliierten verwaltete Wirtschaftsgebiet zu stärken, verkündeten am 18. Juni 1948 die drei Westmächte mit der Einführung der D-Mark eine Währungsreform. Die Marktwirtschaft mit einer Wirtschaftsreform in den Westzonen Deutschlands und Westberlin zu etablieren, war das Ziel. Bisher hatte ganz Deutschland die Reichsmark als Währung. Doch in den Tagen nach der Währungsreform galt die bisherige Reichsmarkwährung nur noch im Osten Deutschlands. Das hatte zur Folge, dass für den Teil des von der Sowjetunion verwalteten Deutschlands eine eigene Währungsreform zügig (am 23. Juni 1948) nachvollzogen werden musste. Die Teilung Deutschlands war eigentlich von dem Moment an vollzogen, von dem an auch ganz Berlin nicht mehr über eine einheitliche Währung verfügte.

Die Währung, und was ich durch sie machte

Ich war bei Rezitationen vielleicht ihr Lieblingsvortragender, denn eines Tages sprach meine Lehrerin, Fräulein Rompf, mich an und fragte mich, ob ich bei einem Rundfunksender mal ein Sprecherkind sein möchte. Ja, natürlich wollte ich. Ich fühlte mich durch diese Anfrage sogar geschmeichelt und sagte gerne zu. Irgendwann erzählte sie mir, dass sie sich beim Berliner Rundfunk in der Masurenallee ein zweites Standbein geschaffen hätte. Der „Berliner Rundfunk“ war ein deutscher Sender im britischen Sektor, unter Kontrolle der sowjetischen Militäradministration.

„Radio Berlin“, wie der “sowjetische“ Sender in der Masurenallee anfänglich nach dem Krieg hieß, nahm schon am 13.05.1945 seinen Sendebetrieb auf. Im Herbst 1945 kollidierte die Spannung um den „Berliner Rundfunk“, wie jetzt sein Name war, mit den Westmächten. Die Sowjetunion beanspruchte diesen Sender allein für sich.

Das führte zur Gründung des RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) in den Westsektoren.

Er war natürlich immer tendenziell. Daher war seine Nachricht bei den politischen Kreisen Ostberlins unerwünscht.

Aus den gleichen Gründen wurde der „Berliner Rundfunk“ den Westmächten lästig. Die sowjetischen Soldaten, die im Inneren des Funkhauses die besondere Sendetechnik sicherten, wurden durch die Briten, außen, bewacht. Sie liefen vor dem „sowjetischen“ Sender Streife.

Die britischen Soldaten befanden sich aber eigentlich auf dem exterritorialen Gebiet Westberlins, das sich seinerseits auf dem Gebiet der Sowjetisch besetzten Zone (später DDR) befand. Eine kuriose und zugleich gefährliche Situation. So war damals Berlin. Vor dem Funkhaus hatten die Briten Warnschilder mit der Aufschrift aufgestellt: „Achtung! Dies ist kein Westberliner Sender.“ Damit wollten sie Irritationen verhindern.

Meine Fahrt zum Sender

Die hatte eine Kuriosität, die zur damaligen Zeit für uns ganz normal geworden war, denn wir mussten unter den Ost-West-Bedingungen in Berlin täglich damit umgehen. Es war die Zeit nach der Währungsreform, wo es schon Ost- und West-Geld gab. Ich wohnte noch immer am U- und S- Bahnhof Schönhauser Allee – im sowjetischen Sektor. Um zum Rundfunk zu kommen, konnte ich mit der S-Bahn oder auch mit der U-Bahn fahren. Die S-Bahn war in ganz Berlin den Sowjets unterstellt. Wenn ich mit der S-Bahn von der Schönhauser Allee zum Sender hin und zurück fahren wollte, kaufte ich zwei Fahrkarten mit Ostgeld. Eine schwarze für die Hinfahrt und eine rote Fahrkarte, um vom Westbahnhof zurück fahren zu können. Sonst hätte die Rückfahrt Westgeld gekostet. Wollte ich das gleiche Abenteuer mit der U-Bahn unternehmen, war das anders, weil es inzwischen eine Ost- und eine West-BVG gab. Das hieß, ich konnte für Ostgeld mit der U-Bahn hinfahren und hätte, um wieder mit der U-Bahn zurück fahren zu wollen, die Rückfahrkarte mit Westgeld bezahlen müssen. Daher erzählte ich beim Sender, dass ich nur mit der U-Bahn zurück könnte. Das war von Fräulein Rompf für mich so eingefädelt, denn ich bekam das Westgeld für die U-Bahn-Rückfahrt vom Sender, fuhr aber mit der S-Bahn, wenn auch dadurch etwas länger. Der Weg zum S-Bahnhof war auch weiter, aber so konnte ich mir von dem Fahrgeld, den beiden Westgroschen, damals aus Papier, etwas für Zurück zum Naschen kaufen. Clever, was? Na ja, das Naschbedürfnis machte halt erfinderisch. Diese kleine Mogelei wäre mir sicher verziehen worden, wäre sie aufgeflogen. Der Bonbongenuss überdeckte das vielleicht bei mir aufgekommene schlechte Gewissen der „Vorteilsnahme“ mit den zwei Westgroschen bzgl. der Fahrkartenmanipulation, aber sonst hätte ich mir nur an den Westkiosken die Nase platt drücken können, weil ja ab Juni 1948, nach der Währungsreform, ein Berliner für sein Geld nicht überall was zu kaufen bekam.