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Jürgen Hosemann

Das Meer am 31. August

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»du sollst nicht bedauern;
wie kurz die Tage dauern
die Verzauberung ist lang.«

Biagio Marin

»Alles ist einzigartig. Nichts geschieht mehr als ein Mal im Leben (…) Nichts wiederholt sich, alles ist noch nie dagewesen.«

Edmond de Goncourt/Jules de Goncourt

Wann wird das Licht kommen, und wie? Wird es sich als heller, sich ausbreitender Fleck am Nachthimmel zeigen? Oder wird es sich aufs Meer legen, ganz sanft? Wird ein Strich aus Licht plötzlich zum Horizont werden und das Meer vom Himmel trennen?

Aber das Licht kommt nicht, es ist einfach da.

Vielleicht waren es die Rufe, die mich einen Moment abgelenkt haben, dann der kleine Lastwagen der Müllabfuhr, der mit kreisenden Warnlichtern hinter mir vorbeigefahren ist. Vielleicht habe ich ein paar Sekunden zu lang überlegt, was diese Rufe bedeuten sollten und von wo und wem sie kamen, halblaut, nicht weit entfernt. Eine einzelne Stimme, als riefe da jemand sich selbst.

Als ich wieder nach dem Licht schauen will, ist es schon da. Es ist 5 Uhr 15. In einer scheinbaren Höhe von vielleicht dreißig Grad über dem östlichen Horizont … ein Streifen veränderter Farbigkeit, ins Violette oder Bräunliche spielend.

Ist das das Licht, oder bilde ich es mir nur ein? Es ist ja auch vorher nicht dunkel gewesen, im Westen der Mond, an Land die orangefarbenen Lichter der Strandpromenade. Sind nicht einfach meine Augen überfordert?

Als habe jemand das Schwarz um mich herum verdünnt. Ich möchte die Hand ausstrecken, um zu fühlen, ob die Luft nun anders ist. Ob das Gewicht der Dunkelheit abnimmt.

5 Uhr 21, jetzt deutlicher: eine schwarze, an den Rändern schwach leuchtende Scheibe, die im Nordosten über der Küste schwebt.

Etwas bewegt uns alle über die Grenze von Tag und Nacht.

Ich kann zusehen, wie die Dunkelheit sich zurückzieht, weiter an Boden verliert.

Das ist keine Scheibe, das ist der nach oben offene Himmel. Dort, wo er schon heller ist, erscheint er geriffelt wie eine Wasserfläche, über die der Wind streicht, ein zweites Meer.

Wie schnell es hell wird. Ich spüre die Drehung der Erde.

Ich kann jetzt deutlich die Küste auf der anderen Seite der Bucht sehen, ein mittleres Grau, über dem ein helleres Grau liegt. Darüber Rosa, Orange und ein fast grünlicher Ton und noch höher das in den Weltraum fliehende Schwarz.

Die Lichter von Triest wie die glimmenden Reste eines Feuers, das die Nacht über durchgebrannt hat.

Alles da?

Nur über mir hängt noch die Finsternis wie eine Regenwolke, die unten in Schleiern ausfranst. Ein schwarzer Regen aus Nacht.

Es war eine Männerstimme, die ich gehört hatte, vielleicht einer der Müllmänner, die den kleinen Lastwagen zu Fuß begleitet hatten. Aber was hatte er gerufen?

5 Uhr 45. Das Meer ist längst da. Aber ist es schon wach, schon ausgeschlafen? Oder räkelt es sich noch träge unter seiner grauen Decke?

Ein Schiff, das seinen Weg zurück in die Nacht zu suchen scheint, wie ein undeutlicher, schwach beleuchteter Traum.

Als ich an diesem Morgen ans Meer kam, war es nicht allein. Auf dem Wellenbrecher, der von der Strandpromenade etwa hundert Meter ins Wasser hinauslief, fotografierte sich ein junges Paar, das der Blitz immer wieder aus der Dunkelheit riss. Ein Jogger, der so schnell verschwand, wie er gekommen war. Und natürlich waren auch die beiden Radlader schon wach, die leuchtend und lärmend den Strand planierten und für den Tag herrichteten.

Als das Paar den Wellenbrecher verlassen hatte, ging ich selbst hinaus. Es war 4 Uhr 45, Ebbe, und um mich herum lag eine undeutliche Landschaft aus Sandbänken und silbern schimmernden Prielen, der Wellenschlag nicht stärker als der eines großen Sees. Der Mond, abnehmend, aber fast voll, stand noch hoch am Himmel und hatte im Westen das Wasser in eine große Eisfläche verwandelt. Ein leichter, gleichmäßiger Wind drückte aus der entgegengesetzten Richtung, wo Slowenien lag und dahinter die unüberschaubare Landmasse des südöstlichen Europas. Darüber schienen sich zwei tiefstehende rötliche Sterne langsam nach oben zu arbeiten.

Ich blieb eine halbe Stunde an der Spitze des Wellenbrechers. Vom Meer kam das konstante Motorgeräusch von Fischerbooten, deren Lichter kaum von denen der Küste im Osten zu unterscheiden waren. Am Strand fuhren pausenlos die beiden Radlader herum, ihre zahlreichen Scheinwerfer wie suchend auf den Boden gerichtet. Ich hörte deutlich das ungeduldige, fast böse Aufbrummen der Motoren, und als sie näher kamen, konnte ich die warmen Abgase riechen, die der Wind zu mir hinaustrug.

Als mir kalt wurde, ging ich langsam zum Land zurück. Auf halbem Weg lag zwischen den seitlich aufgeschütteten Felsbrocken etwas, das aussah wie ein abgefallener Auspuff oder Weltraumschrott. Der Auspuff eines Raumschiffs, frisch vom Himmel gefallen. Ich hatte das Teil beim Hinausgehen nicht bemerkt, als habe es die Nacht soeben erst freigegeben. Ich trat näher und bewegte es vorsichtig mit dem Fuß, wie etwas, bei dem man sich nicht sicher sein kann, ob es noch lebt oder irgendeine Gefahr davon ausgeht.

Allein in der Mitte des Wellenbrechers fühlte ich mich plötzlich wie ausgesperrt, als gäbe es nicht nur das Zimmer im Hotel Eliani nicht, in dem meine Frau und meine Tochter noch in tiefem Schlaf lagen, sondern als hätte ich gar kein Zuhause mehr. Als hätte ich meinen Schlüssel verloren oder sogar absichtlich weggeworfen, mit dem ich wieder in die alltägliche Welt zurückkehren konnte. Als würde ich, wenn ich irgendwann von hier wegging, niemanden mehr finden, der mir die Tür aufmachte.

Dann war das Licht gekommen.

Ist das nicht der Tag von gestern?

Irgendwie beginnt der Morgen anders, als ich erwartet habe. Am Strand, der sich links des Wellenbrechers erstreckt, geht es zu wie auf einer Baustelle: ein Lastwagen, der mit einem Greifarm den Schlick aufnimmt, den die Radlader noch immer zusammentragen … ein Traktor, der mit einem großen Rechen den Sand kämmt, der Fahrer wie unbeteiligt im fahlen Licht seiner Kabine.

Auch das Meer ist anders, als ich erwartet habe. Ich sehe eher eine hirngraue Masse, die sich langsam und brummend in sich bewegt, ein träges, riesiges Lebewesen, das seine Kräfte zu sammeln scheint und irgendwann das Land verschlingen wird, von dem aus ich es beobachte, alles Land. Ich kann seine Gleichgültigkeit spüren, sein Desinteresse an allem, was an seinen Rändern geschieht, sein Desinteresse an überhaupt allem, einschließlich seiner selbst.

Ich bin erst bis zu den Knöcheln im Tag, und dann das. Etwas hat meine schlechte Laune in mir geweckt, bevor ich selbst ganz wach bin, meine Unsicherheit, meine Ängste.

Oder nervt dich einfach das Dröhnen der Fischerboote, die irgendwo da draußen herumkreuzen? Die Dieselschwaden, die schwer über dem Wasser zu liegen scheinen, und der faulige Geruch dessen, was die Ebbe am Strand freigelegt hat?

Das ist das Meer?

Ein Licht wie das eines Büros, in dem ich zu lange gesessen habe.

ich beginne den missglückten tag

Was hast du denn erwartet, eine unbeschädigte Stille und Luft wie gerade entstanden, frisch wie soeben verdunstetes Wasser?

Enttäuscht dich das Meer? Hält es nicht, was es versprochen hat, was du dir versprochen hast?

Oder war ich vielleicht einfach zu früh aufgestanden? War ich vorhin, noch im Eliani, auf irgendeine Weise falsch aufgewacht, und würde ich es jetzt noch einmal richtig machen müssen? Es kommt mir vor, als hätte ich den Tag nicht ordnungsgemäß betreten … oder zu früh. Als befände ich mich noch in einer Zone, die weder zum Schlaf noch zum Tag gehört, oder zu beidem – so wie der Saum des Meeres weder Wasser noch festes Land ist.

Auf dem Weg von unserer Unterkunft zum Strand war ich nur einem einzigen Menschen begegnet, und das war der Nachtportier des Hotels Metropole, der mit kleinen, eckigen Bewegungen um die draußen aufgestellten Tische herumfegte, als gehörte er noch in meinen Traum. Sonst hatte ich niemanden gesehen, und niemand hatte mich gesehen. Wie abgenagt hatten die kleinen Straßen im gelben Licht der Laternen gelegen. Vermutlich war ich in Wirklichkeit noch immer im Eliani und träumte.

Da, wo ich lebte, war der Tagesbeginn anders, aber wie? Seit Jahren wurde ich meistens am frühen Morgen wach, aber hatte ich je genau hingeschaut? Ich hatte dem Hellwerden so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wie meinem täglichen Weg zur Arbeit. Nie sah ich, wie es über den Bäumen und Hochhäusern, die ich von unserer Wohnung aus sah, hell wurde, ich sah immer nur, dass es hell war. Und bestenfalls der wie Rauch über der Stadt abziehenden Nacht hinterher.

Und hier?

Überrascht es dich, dass es jetzt hell ist?

5 Uhr 30. Auf der Promenade der erste Radfahrer, schnell wie eine Erscheinung.

Aber der Tag zögert.

Das Morgenlicht flackert noch, als könnte es jederzeit wieder ausgehen.

Ein aus Helligkeit und Dunkelheit gemischtes Licht.

Eine Welt des Halbschlafs, die ich nicht stören will und höchstens auf Zehenspitzen betreten.

Die Dinge wissen noch nicht, ob sie endgültig aus der Finsternis hervortreten oder sich wieder in sie zurückziehen sollen, wie das Schiff, das sich weit draußen beeilt, in die Nacht, in die Vergangenheit zurückzukehren.

Es gibt noch dunkle Ecken, wo sich die Nacht hält.

Die Schirmpinien schlafen noch und die Häuser an der Promenade. Ist es an mir, jedes einzelne Ding in meiner Reichweite zu wecken? Aufwachen, Mülleimer und Münzfernglas! Aufwachen, Pizzeria Vistamare, Ristorante Adriatico, Bar Max’in, Terrazza al sul!

Ein Schlauchboot ist schon wach, das mit dem sägenden Geräusch seines Außenborders sehr schnell hinausfährt.

Eine einzelne, leise Schreie ausstoßende Möwe ist schon wach, dann eine zweite, dritte, vierte, als habe die erste sie geweckt.

Der Wind ist schon ein bisschen wach, oder er hat gar nicht geschlafen und ist jetzt müde.

Ein paar Geräusche sind wach, noch kann man sie auseinanderhalten, eins nach dem anderen: erst das Klappern der Müllmänner, dann das Klopfen von Joggingschuhen auf der Promenade. Wie bei der Vogeluhr, wenn im Morgengrauen die Stimmen der Singvögel nacheinander einsetzen.

Eine Joggerin ist schon wach, mit kurzen Trippelschritten folgt sie der Rundung der Promenade, als müsse sie jeden Meter nutzen.

Ich bin wach, überwach, während sich die Welt um mich herum noch aus einem schweren Schlaf befreien muss, beschäftigt mit einem langsamen, weichen Erwachen.

Und wie der Schlaf zieht sich auch das Meer noch immer zurück. Ein Ozean des Schlafs.

Um zehn vor sechs erlosch die Beleuchtung der Promenade hinter dem Strand. Ein Vogel schlug, ein kurzes, heftiges Aufschnattern. Zwei Minuten später ging auch die Beleuchtung der Promenade rechts des Wellenbrechers aus. Meine Augen reagierten so träge, dass ich noch in der Sekunde danach das Licht sah.

Als die Reinigungsfahrzeuge abrückten, erschien der Strand trotz der langen Reihen von Sonnenschirmen, Liegen und Badekabinen völlig leer. Als müsste man jeden Augenblick damit rechnen, dass sich dort etwas ereignete. Alles schien vorbereitet, aber wofür? Es gab auch keine Zuschauer, außer mir war niemand da, der sich dafür interessierte. Zeit breitete sich vor mir aus, saubere, unbeschriebene Zeit. Der Tag würde sich hier ereignen.

Aber es beginnt nur der Tag neu und nicht dein Leben!

6 Uhr 1, das Geräusch rutschender Badeschlappen. Zwei Frauen, eine kleine rundliche in einem tiefblauen Bademantel und eine hagere im Kleid. Die rundliche schlittert schnell die Schräge am Wellenbrecher hinunter, streift den Mantel ab, unter dem ein roter Badeanzug zum Vorschein kommt, und ist im nächsten Moment schon im Wasser, die andere stochert noch ein bisschen den Strand entlang, dann ist sie auch drin. Ein paar kräftige Stöße, und sie ist weit draußen, die Rundliche ist schon gar nicht mehr zu sehen.

Dem Meer ist kalt, es hat eine Gänsehaut. Es sieht aus, als ginge ein unsichtbarer Regen darauf nieder, der Millionen kleiner Krater hinterlässt.

Ich gehe langsam wieder den Wellenbrecher hinaus und erschrecke, als ich die Frau im roten Badeanzug auf dem Rücken treiben sehe. Auf einem Felsbrocken liegt der blaue Bademantel sorgfältig zusammengefaltet, er kommt mir jetzt vor wie die Spur eines Verbrechens.

Es wird wieder dunstiger, schon ist die Küste auf der anderen Seite der Bucht schlechter zu erkennen, es wird kühler und feuchter. Der Tag möchte sich noch einmal umdrehen und weiterschlafen. Oder ist der Tag schon vorbei, und ich habe es nicht gemerkt?

Mir gefällt die Vorstellung, dass sich die Sonne aus der Tiefe des Meeres nach oben arbeitet, um irgendwann, bald, die Wasseroberfläche zu durchbrechen. Dann würde der Tag kommen. Oder würde sie es sich noch einmal anders überlegen? Aber eins ist sicher, die Sonne wird hier nicht über dem Meer aufgehen. Sie hält sich noch irgendwo hinter den slowenischen Bergen verborgen, als bereite sie eine Überraschung vor.

Der Tag lässt auf sich warten, wie ein Zug, der angekündigt ist und doch nicht kommt. Was soll man tun? Den nächsten nehmen?

Fängt der Tag jetzt an? Es ist hell, ein leichter Wind geht, und überall in den Ritzen regt sich das Leben – aber ist das schon der Tag?

Die Zeit vor Sonnenaufgang erscheint mir jetzt wie der Vorspann eines Films: Die Atmosphäre ist schon da, aber man würde erst am Ende wissen, was die Bilder bedeuten. Jedes Ding ist noch allein mit sich und scheint sich still vorzubereiten auf die Rolle, die es an diesem Tag spielen wird. Ich kann zusehen, wie alles um mich herum seinen Platz einnimmt.