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Florian Tietgen

Aus sich hinaus ... Ein tiefer See





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Ein tiefer See

 

 

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Impressum

Texte © Copyright by
Florian Tietgen, webmaster@floriantietgen.de
Lektorat: Satzklang www.satzklang.de

Bildmaterialien © Copyright by
Cover: Jacqueline Spieweg, http//jspieweg.de/ unter Verwendung des Bilds "Farbkleckse" von Isabel Meyer, http://www.isabelmeyer.de

Alle Rechte vorbehalten.

 

 

1

 

Du irrst ziellos durch den Flur der Jugendherberge. Die Betten sind längst aufgeteilt. Doch du musst warten.

Warten, ob in irgendeinem Zimmer ein Bett übrig bleibt. Anscheinend hast du gehofft, die Herbergseltern hätten falsche Angaben gemacht und wie durch ein Wunder befände sich in einem der Zimmer ein Bett mehr. Ein Bett, in dem man dir ohnehin keine ruhige Minute gönnen würde.

Du zerrst deinen Koffer von Zimmertür zu Zimmertür, hältst dich an ihm fest und wirfst sehnsüchtige Blicke auf die Jungen, die tobend schon die Bettwäsche aus dem Gepäck gezerrt haben.

»Wir können gerne ein Bett aus einem anderen Zimmer holen«, schlägt Herr Zabel vor. Dein Lehrer schaut voll zweifelnder Hoffnung die Jungen an.

Höhnische Kommentare lassen ihn mit seiner Hilflosigkeit allein. Noch besser als dich zu piesacken ist es, dich gar nicht erst im Zimmer zu haben.

Nein, er hat auch nicht damit gerechnet, dass der Vorschlag des Herbergsvaters auf Begeisterung stoßen würde. Am liebsten befähle er den Jungen aus einem der Zimmer, dich aufzunehmen, doch er zögert.

Weiß er, was er dir damit antäte?

»Du könntest auch in meinem Zimmer schlafen«, schlägt er vor.

In diesem Moment trifft mich dein Schrei, lautlos und schmerzhaft. Deine dunklen Augen wissen, du kannst von niemandem, der mit dir aus dem Bus gestiegen ist, Hilfe erwarten.

Nein, so gut er es auch meinen mag, dein Lehrer weiß nicht, was er dir antut.

»Komm mit!« Ich nehme dir deinen Koffer ab. Du leistest kaum Widerstand, trottest mir durch den Flur der Jugendherberge hinterher, begleitet von deinem Lehrer, der hektisch fragt, was ich denn vorhätte. Er hatte doch ohnehin keine Kontrolle mehr. Warum klammert er sich jetzt so daran?

»Ich besorge ihm ein Bett.«

»Verrätst du mir auch, wie und in welchem Zimmer? Wir können Ole ja nicht irgendwo unterbringen.«

»Du heißt also Ole.« Ich lächle dich an, doch du nimmst nichts wahr. Anscheinend hast du Angst, über die Fugen des Fußbodens zu stolpern. Du tastest jeden Zentimeter ab, den du betrittst.

»Ich bringe ihn in mein Zimmer. Das befindet sich am Ende des Flurs. Er wird Ihrer Aufsicht nicht entzogen.«

Dein Lehrer wird rot.

»Wenn es dir nicht zu viele Umstände macht.« Er möchte das verbieten. Das sieht man an der zitternden Unterlippe. Er möchte immer noch ein Bett in eines der Zimmer stellen lassen, die deiner Klasse zugeteilt sind. Er möchte immer noch ignorieren, dass du nicht willkommen bist. Er möchte eine Entscheidung fällen. Er möchte keine Entscheidung fällen. Wahrscheinlich wünscht auch er sich, du wärest daheimgeblieben.

»Nein, es macht mir keine Umstände.« Ich stelle deinen Koffer ab.

»Du musst die nächsten zehn Tage aus dem Koffer leben«, starte ich einen erneuten Versuch, dich anzusprechen, »ich habe zwar ein Bett für dich, aber leider keinen Platz mehr in den Schränken.« Dabei schaufle ich meine schmutzige Wäsche von dem freien Bett auf den Fußboden.

Dein Lehrer steht unsicher in meiner Unordnung. Er schaut abwechselnd auf dich und auf mich. Er möchte etwas fragen oder sagen, doch ihm fehlen die gewohnten Antworten, die er mit richtig oder falsch benoten könnte.

»Wann müssen wir zum Essen fertig sein?« Erleichtertes Aufatmen begleitet seine Frage. Endlich ist ihm wenigstens etwas halbwegs Sinnvolles eingefallen.

»In einer Stunde«, antwortet Herr Zabel, der uns gefolgt ist, und schlägt ihm vor, bis dahin auch sein Zimmer zu beziehen. Dein Lehrer geht zur Tür, dreht sich noch einmal um. Dann verlässt er uns doch kommentarlos.

»Danke«, höre ich es erstaunlich forsch aus deiner Richtung, als ich die Tür geschlossen habe.

»Du heißt also Ole?«

Du nickst. Solange ich dich ansehe, kannst du nicht sprechen. Ich muss dich aber ansehen.

»Ich bin Simon. Verzeih die Unordnung, ich hatte nicht mit Besuch gerechnet.«

Du bleibst unentschlossen bei deinem Koffer stehen, den Blick weiterhin auf den Fußboden geheftet, von dem ich jetzt die schmutzige Wäsche in meinen Koffer sammle.

»Soll ich dir dein Bett beziehen?«

Du schüttelst den Kopf.

»Das mit dem Schrank war ein Scherz«, erkläre ich und öffne mit lautem Tatatataa die Tür, um dir den Platz für deine Sachen zu präsentieren.

Immerhin schaffst du es, deinen Kopf zu heben. Du schaffst es sogar, mich anzulächeln. Eigentlich ist es kein Lächeln, sondern ein zaghaftes, flackerndes Grinsen, das um deine Mundwinkel zuckt.

»Du musst also jetzt mit mir vorlieb nehmen. In einem der anderen Zimmer hättest du ohnehin nicht wirklich Spaß gehabt.«

Schnell ziehst du es vor, wieder den Fußboden anzugrinsen. »Schon okay«, sagst du dabei, also zwei Wörter, die du bewältigst, während ich über den tiefen Ton deiner Stimme staune.

»Das mit den zehn Tagen war übrigens auch ein Scherz. Wir fahren in drei Tagen wieder ab. Ab dann hast du ein Einzelzimmer.«

Du regst dich nicht. Du stehst in der Mitte des Raumes mit deinem schweren Koffer. Du bist da, aber du bist noch nicht angekommen.

»Glaube mir. So ein Einzelzimmer bei einer Klassenreise ist purer Luxus.« Man muss es sich nur oft genug erzählen, um es zu glauben. »Möchtest du, dass ich gehe, während du dich hier häuslich einrichtest?«

Dir schießt ein wenig Blut in den Kopf, so, als schämtest du dich für einen Gedanken, bei dem ich dich ertappt habe, doch du stimmst nicht zu. Das Grinsen wird etwas unruhiger, und deine Muskeln scheinst du vor Anspannung nicht bewegen zu können.

»Weißt du, wo die Essräume sind?«

Ein Hauch der Erleichterung pfeift, von einem tiefen Nein begleitet, aus deinem Mund. Dabei schüttelst du vorsichtig dein nach unten gerichtetes Haupt.

»Gut, dann lasse ich dich jetzt in Ruhe deinen Koffer auspacken und hole dich pünktlich hier ab.«

»Bis nachher«, rufe ich noch in den Raum, bevor ich die Tür schließe und mich in die Sonne begebe.

 

2


Dicht hinter dem Haus fließt ein kleines, unkrautumwuchertes Flüsschen. Dort lehne ich mich an einen Baumstamm und verfolge das kreischende Toben meiner Klassenkameraden. Fabian zerrt gerade Svenja in das kalte Wasser, während Thomas an einem Seil von Ufer zu Ufer pendelt, verfolgt von der Hoffnung der anderen, er möge fallen. Die Sonne spiegelt sich in den Wassertropfen auf Fabians Haut. Der ist zum Glück zu beschäftigt, um die Wehmut mitzubekommen, mit der ich ihn anstarre, seine glänzenden Muskeln und den Haarstreifen, der in orangefarbenen Badeshorts verschwindet. Jedes Mal, wenn er aus dem Wasser kommt, werden sie für kurze Zeit durchsichtig genug, um zu offenbaren, was sich in ihnen befindet. Es ist schön, diese Momente zu erhaschen.

»Guter Platz!«, sagt Tascha und stößt mich an.

»Gute Aussicht«, antworte ich grinsend. »Ob Fabian wohl um die Transparenz seiner Hose weiß?«

»Dann würde er sich nicht in so kaltes Wasser begeben.«

»Warum müssen die größten Arschlöcher immer so verdammt gut aussehen?« Als Tascha neu in unsere Klasse kam, war sie natürlich auch erst einmal verknallt in ihn, in das blonde, kurze Haar, das Lächeln, die Grübchen im Kinn, die strahlend blauen Augen, deren Iris von einem tiefschwarzen, geheimnisvollen Rand umzogen ist. Doch irgendwann ging es ihr einfach auf die Nerven, dass ihm nie jemand widersprach. Die ganze Klasse schien nur zu einer eigenen Meinung fähig zu sein, wenn er nicht da war.

»Vielleicht sind sie Arschlöcher, weil sie gut aussehen?«

»Zumindest, weil es ihnen ja immer wieder reingeblasen wird.«

»He, es ist viel zu schön hier in der Sonne, um sich aufzuregen.« Ich ziehe sie nach hinten zu mir in den Arm. Es tut gut, den Duft ihres kurzen, nussbraunen Haars einzuatmen, während sie sich still blinzelnd an meine Brust lehnt.

»Du hast jemanden in dein Zimmer bekommen, habe ich gehört?«

»Ich habe jemanden in mein Zimmer genommen.«

»Ist er nett?« Sie schaut mich aus grünblauen Augen an. Warm sind sie, diese Augen, tief und warm und voll Freundlichkeit. Es gibt nichts, was ich diesen Augen verschweigen könnte.

»Nett und hübsch.« Das weiß ich doch gar nicht. Ich habe ja nicht mal eine Vorstellung davon, warum niemand aus deiner Klasse dich im Zimmer haben wollte.

Fabian baut sich nass und glänzend vor uns auf. »Natascha, du kannst bei Simon nicht landen, wann begreifst du das endlich?« Er sieht aus wie schwarzer Samt zwischen uns und der Sonne, und ich bin mir nicht sicher, ob es die Kälte des Wassers oder seine eigene ist, die er verströmt. »Glaub es mir endlich. Simon ist eine Tucke.«

»Genau deshalb darf er mich in den Arm nehmen, Schätzchen. Ein Glück, das du nie haben wirst.«

Um Fabian herum würden gerne einige lachen, verbeißen es sich aber. Zum Glück haben sie Ihre Handtücher, in denen sie ihre zuckenden Mundwinkel verbergen können. Nur an Thomas' Bauchmuskeln ist verräterische Anspannung zu bemerken.

»Du weißt eben wahre Männlichkeit nicht zu schätzen.«

Auch Fabian greift nach seinem Handtuch und reibt sich hart und erbarmungslos trocken. Er hat eine leichte Gänsehaut, aber der Abdruck in den Shorts ist jetzt doch deutlich größer als vorhin. Das Flusswasser läuft ihm in kleinen Rinnsalen an den Haaren der Schenkel entlang, und rutschte ich unauffällig am Baumstamm etwas weiter nach unten, könnte ich bis zu deren Quelle schielen. So dicht steht er vor mir.

»Gerade, weil ich sie zu schätzen weiß, lehne ich mich an Simon an.«

Oh tut das gut, Tascha zu hören. Vor allem ist es schön, sie zur Freundin zu haben, sie an meiner Seite zu wissen, wenn Fabian seine Schwulenwitze bringt, mich vor der Klasse bloßstellt, indem er alles, was ich ihm je über mich erzählt habe, benutzt. Denn es ist nicht die Erotik des Wassers auf seiner Haut, nicht die durchsichtige Badehose, nicht seine muskulöse Silhouette im Gegenlicht, weshalb ich íhn anstarre. Es ist nicht die unerfüllte Liebe zu einem hübschen, arroganten Arschloch, es ist die Sehnsucht nach dem Freund meiner Kindertage, nach der Vertrautheit, die einst zwischen uns war.