The fight you live

 

 

 

 

 

 

 

Spiele die Eröffnung wie ein Buch,

das Mittelspiel wie ein Zauberer

und das Endspiel wie eine Maschine.

 

RUDOLF SPIELMANN, Schachgroßmeister

TEIL EINS ERÖFFNUNG

Eine einzige Begegnung mit Schach genügt, um jeden mit einem Sinn für Abenteuer süchtig zu machen.

EDWARD LASKER (18851981)

HALLO WELT

Mein Name ist Leah – alias Chessgirl –, und das hier ist mein erster Post. Ich blogge für mich, nicht für euch. Wenn euch das, was ich hier schreibe, also nicht passt, verzieht euch. Keiner wird euch vermissen.

 

Mein Leben ist ein matschiger Kuchen aus fünf Zutaten.

  1. Schachspielen

  2. in Hotels abhängen

  3. von meiner Mutter zusammengeschissen werden

  4. von meinem Trainer zusammengeschissen werden

  5. Laufen, Schwimmen, Seilspringen und Schattenboxen

Im Moment bin ich in Indien, was aber nicht heißt, dass ich viel davon gesehen hätte. Ich bin in einem Hotel eingesperrt und spiele das Pune-Open-Turnier. Nach dem zweiten Tag habe ich drei Partien gewonnen, und mein Trainer fängt an zu glauben, dass ich gute Chancen habe, das Ding zu gewinnen.

 

Dritter Tag. Ich spiele gegen einen alten belgischen Großmeister mit der höchsten Stirn, die ich je gesehen habe. Sie ist, ohne zu übertreiben, mindestens viermal so hoch wie bei normalen Leuten. Nur so zum Spaß eröffne ich am Damenflügel mit einem Blackmar-Diemer-Gambit. Und mache ihn dann, während ich beobachte, wie sich seine olle Riesenstirn in tausend Falten legt, in fünfunddreißig Zügen platt.

 

Kaum bin ich aus dem Turniersaal raus, geht meine Mom wie eine wild gewordene Furie auf mich los. Sie wäre nicht mit mir um die halbe Welt geflogen, schreit sie mich an, damit ich halbgare Eröffnungen spiele. Danach ist mein Trainer an der Reihe, der mich für meine Respektlosigkeit gegenüber dem besten Großmeister Belgiens anblafft, und mir vorwirft, ich hätte mit Absicht die ganze Zeit auf die Stirn dieses Typen gestarrt, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Wo ich denn sonst hätte hinstarren sollen, verteidige ich mich, seine Stirn hat die komplette Halle ausgefüllt. Aber mein Trainer findet das null lustig. Spiel gegen das Brett, Leah, nicht gegen den Mann, brummt er, obwohl jeder weiß, was für ein Schwachsinn das ist. Oder ist es etwa das Schachbrett, das mir den Kopf runterreißen und ihn zum Abendessen verspeisen will? Wie auch immer. Die Zahlen sprechen für sich. Vier Runden, vier Siege, und meine Wertungszahl ist schon jetzt achtzehn Punkte nach oben geschnellt. Die beiden sollten froh und glücklich sein. Ich bin nur das, was sie aus mir gemacht haben.

KOMMENTARE

Roy: Ich spiele auch ab und zu Schach, aber ich verstehe deinen Post nicht ganz. Was ist ein Blackmar-Diemer-Gambit? Kannst du das erklären?

Chessgirl: Was soll ich dazu sagen, Roy? Ich bin ein IM (Internationaler Meister), bald GM (Großmeister), und du klingst wie ein Patzer. Dich würde ich selbst mit verbundenen Augen, Turmvorgabe und 30 Sekunden auf der Uhr noch komplett auseinandernehmen. Ich erkläre Patzern wie dir doch nicht das BDG. Dafür ist dieser Blog nicht gedacht. Ist das deutlich genug für dich?

Guppy: Du scheinst ja kein besonders netter Mensch zu sein, Chessgirl. Und nur zur Info, es hat sich gezeigt, dass das Blackmar-Diemer-Gambit seine Schwächen hat. GM Cornelius Hammett sagt, wer das BDG in einem Turnier spielt, kann auch gleich aufs Brett klettern und sich vor aller Augen selbst ausweiden.

Chessgirl: Hat Hammett das gesagt, bevor oder nachdem ich ihn 2011 mit ELF JAHREN beim Tradewise Gibraltar Chess Festival mit einem Blackmar-Diemer geschlagen habe? An dem Tag wurde nur einer ausgeweidet, und das war nicht ich.

Sokrates: Hast du einen Freund?

Chessgirl: Trink den Schierlingsbecher, Sokrates. Oder geh ins Exil. Du kannst es dir aussuchen.

Roy: Warum bist du so überheblich? Glaubst du, wenn du andere Schachspieler und Leute, die einen Kommentar schreiben, beleidigst, hat irgendjemand Lust, deinen Blog zu lesen?

Chessgirl: Idiot.

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50 DINGE ÜBER MICH

  1. Der Name Leah stammt aus dem Hebräischen und bedeutet »müde«.

  2. Ich hab keinen zweiten Vornamen, aber wenn ich mir einen aussuchen könnte, dann einen dieser Mit-mir-legst-du-dich-besser-nicht-an-Namen wie Scout oder Jade.

  3. Ich lebe mit meiner Mutter im ersten Stock eines Wohnblocks in Manhattan, New York.

  4. Ich bin 17 Jahre alt. Gerade geworden.

  5. Mein Geburtstag ist der 1. April. Ganz genau, mein Leben ist ein Aprilscherz.

  6. Mein Dad ist Ingenieur auf der ISS. Um die Erde einmal zu umkreisen, braucht er anderthalb Stunden. Er sieht jeden Tag sechzehn Sonnenauf- und sechzehn Sonnenuntergänge.

  7. Ich bin überhaupt nicht wie mein Dad. Ich habe Flugangst, was echt mies ist, weil ich wirklich ANDAUERND mit dem Flugzeug unterwegs bin.

  8. Höhenangst habe ich auch.

  9. Das habe ich im JW Marriott Marquis Hotel in Dubai herausgefunden. Mein Zimmer war im neunundsechzigsten Stock, und es endete damit, dass ich unten in der Hotellobby hinter einer Couch geschlafen habe.

  10. Meinen ersten Großmeister habe ich mit sechs geschlagen. Nach dem Spiel behauptete er, er hätte Zahnschmerzen gehabt und nicht klar denken können.

  11. Einen Schachgroßmeister zu schlagen, ist ein unglaubliches Gefühl. Wenn er seinen König umstößt, läuft ein Kribbeln durch deinen Körper, das du bis hinunter in die kleinen Zehen spürst.

  12. Meine erste Vorstellung im Simultanschach habe ich mit zehn gegeben, gegen vierzig starke Clubspieler. Gegen dreißig habe ich gewonnen, gegen neun Remis gespielt und gegen einen verloren.

  13. Die eine Niederlage hat mich wahnsinnig wütend gemacht, und ich habe so hart gegen eine Säule geschlagen, dass ich mir die Hand gebrochen habe.

  14. Intelligenz und Reizbarkeit sind keine gute Kombination.

  15. Während eines Turniers in Mailand habe ich einmal laut »Warum verliere ich gegen einen solchen Idioten?« gebrüllt und vom Schiedsrichter dafür einen offiziellen Verweis erhalten. Am Ende habe ich die Partie dann trotzdem gewonnen. Und das Turnier auch.

  16. Der Klingelton meines Handys ist Bobby Fischers Stimme, die sagt: »Ich liebe den Moment, in dem ich das Ego eines Gegners zerschmettere.«

  17. Ich hasse es, wenn ich gefragt werde, ob es einmal einen weiblichen Schachweltmeister geben wird. Natürlich wird es das.

  18. Meine Mom und mein Trainer sind sogar davon überzeugt, dass ich das sein werde.

  19. Im Moment liegt mein Rating im Schach bei 2480. Bei 2500 bin ich Großmeister.

  20. Wenn ich zu Hause Schachstellungen studiere, trage ich einen Krokodil-Onesie, den ich schon seit vielen Jahren habe. Damit ich nicht rauswachse, habe ich die Füße abgeschnitten.

  21. Eins meiner Videos auf YouTube hat über eine Million Klicks. Zwei GMs knallen über einem Schachbrett versehentlich mit den Köpfen zusammen und fangen an, auf Russisch zu fluchen.

  22. Meine beste Freundin heißt Rybka. Wir spielen jeden Tag zusammen Schach.

  23. Rybka ist ein Computerschachprogramm.

  24. Mein letzter Freund, Sergey, war ein IM aus Russland mit einem zu langen Pony. Wir haben uns vor drei Jahren bei der Juniorenweltmeisterschaft kennengelernt.

  25. Er war mein erster und auch mein letzter Freund.

  26. Um ihn zu beeindrucken, habe ich jede Menge obskure russische Sprichwörter auswendig gelernt.

  27. Hätte ich mir sparen können.

  28. Inzwischen habe ich es mir zur Regel gemacht, nie wieder etwas mit einem Schachspieler anzufangen.

  29. Sollte irgendwann der Richtige kommen, werde ich diese Regel allerdings brechen.

  30. Mit sechzehn habe ich die AP-Prüfungen für Hochbegabte abgelegt. Nur Einsen, versteht sich.

  31. Ich wurde zu Hause unterrichtet, was ihr euch wahrscheinlich schon gedacht habt.

  32. Zu meinem Unterricht zählten im Schnitt auch fünf Stunden Schach täglich.

  33. Einmal saß ich die ganze Nacht in meinem Zimmer und habe auf ein Turmendspiel gestarrt. Ich habe die Figuren nicht einmal angefasst, aber mein Hirn hat sieben Stunden am Stück rotiert.

  34. Ich fürchte, ich leide unter einer Art Geisteskrankheit.

  35. Wer Schach langweilig findet, tut mir echt leid. Schach macht süchtig, verrückt, ruiniert dein Leben – aber es ist nicht langweilig.

  36. Mein größter Held ist der lettische Großmeister Michail Tal. Seine besten Partien nachzuspielen, ist wie in Schokolade zu schwimmen.

  37. Nicht, dass ich schon einmal in Schokolade geschwommen wäre.

  38. Ich schwimme in Wasser. Täglich. 50 Meter schaffe ich in 40 Sekunden.

  39. Eine Meile laufe ich in exakt 5 Minuten.

  40. Ich kann in 30 Sekunden 74-mal auf einen Sandsack eindreschen.

  41. Beim Seilspringen schaffe ich 100 Mal, bevor ich hängen bleibe.

  42. Ich mache nur deshalb so viel Sport, weil ich für lange Schachpartien eine gute Ausdauer brauche.

  43. Mit vierzehn waren meine Haare so lang, dass ich darauf sitzen konnte.

  44. Anstatt darauf zu sitzen, habe ich sie abgeschnitten und für 80 Dollar an einen Perückenmacher verkauft.

  45. Die 80 Dollar habe ich in hochriskante Stammaktien investiert, die jetzt 254 Dollar wert sind. Von diesem Haargeld weiß nicht mal meine Mom.

  46. Ich mag klassische Musik: Bach, Beethoven und vor allem Mahler.

  47. Die Musik aus Star Wars mag ich auch. Eigentlich mag ich alles an Star Wars.

  48. Nach dem chinesischen Horoskop bin ich ein Metalldrache. Das heißt, ich kann in kürzester Zeit sehr viel Geld verdienen.

  49. Aber das chinesische Horoskop ist natürlich totaler Schwachsinn.

  50. Wenn ich niesen muss, klingt es wie Husten, weshalb mir nie jemand »Gesundheit!« wünscht.

KOMMENTARE

Kaixxo: Faktencheck: Die einzige Leah in den FIDE-Ratings heißt Leah Baxter, auf der ISS gibt es aber keinen Baxter. Also bist du entweder kein IM, oder dein Vater ist nicht im All.

Chessgirl: Oder wir haben nicht denselben Nachnamen. Oder es hat einen von über einer MILLION anderer Gründe.

Kaixxo: Und wie heißt er?

Chessgirl: Er heißt Yuri Blockiert.

Guppy: Blockierst du jeden, der dich beim Lügen erwischt?

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SPRINGEROPFER

Runde 5 in Pune. Ich spiele Schwarz gegen einen serbischen GM mit Glasauge. Die Partie ist ein Sizilianischer Drachen, Soltis-Variante. Im einunddreißigsten Zug opfere ich einen Springer für einen Stellungsvorteil, aber Glasauge macht die richtigen Züge, und meinem Königsflügelangriff geht die Luft aus. Keine Chance, mir mein Material zurückzuholen. Er kämpft sich durch bis zum Sieg.

 

Flankiert von meiner Mom und meinem Trainer, verlasse ich die Halle in Richtung Aufzug. Ich fühle mich wie Prinzessin Leia, die von Sturmtrupplern zum Imperator eskortiert wird. Die beiden schauen so grimmig aus der Wäsche, dass es fast schon wieder lustig ist.

 

»Warum hast du den Springer geopfert?«, knurrt mein Trainer. »Die Kiebitze im Aufenthaltsbereich waren der einhelligen Meinung, dass das unklug war.«

»Kam mir in dem Moment aber richtig vor.«

»Opfer machen sich nicht immer bezahlt, Leah. War es nur ein Gefühl, oder hast du es berechnet?«

»Berechnet.«

»Hast du die h4-Linie der Dame gesehen?«

»Klar.«

»Warum hast du dann den Springer geopfert?«

»Michail Tal hätte es auch getan.«

»Du bist aber nicht Tal«, bellt mein Trainer und hämmert auf den Aufzugknopf.

»Okay, Tal war Tal, und ich bin nicht Tal. Soll ich mir das in mein Notizbuch mit wichtigen Fakten der Schachgeschichte schreiben?«

Mom wirbelt herum und giftet mich an: »Den Sarkasmus kannst du dir sparen, Leah. Ist dir klar, dass wir jetzt eine GM-Wertung hätten, wenn du nicht beschlossen hättest, dieses Spiel zu verschenken?«

Die Aufzuganzeige ist bei 4 stecken geblieben. Ich starre auf die 4 und knete die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Ich glaube, der Aufzug ist kaputt«, merke ich an.

Aber meine Mom ist noch nicht fertig. »Weißt du, was ein Flug von New York nach Pune für drei Leute kostet? Weißt du das, Leah?«

»Ich nehme die Treppe.«

»Bleib gefälligst hier, wenn ich mit dir rede!«, schreit Mom mir hinterher. »Weißt du eigentlich, auf was ich deinetwegen alles verzichte?«

»Na, dann hat der Trainer wohl recht«, schreie ich zurück. »Opfer machen sich nicht immer bezahlt!«

Ich presche durch die Doppeltür und flüchte, drei Stufen auf einmal nehmend, ins Untergeschoss. Im Treppenhaus stinkt es nach Desinfektionsmittel und Samosas. Im Keller renne ich direkt in den Fitnessraum und stemme auf der Bank 23 Kilo. Bam. Persönlicher Rekord.

KOMMENTARE

Roy: Was ist ein Kiebitz?

Chessgirl: Frag Google.

SirLancelot: Hey, Roy. Du kennst doch sicher diese Leute, die einem beim Spielen immer über die Schulter gucken und unerwünschte Kommentare und Ratschläge abgeben? Das sind Kiebitze.

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SABOTAGE

Nach dem Mittagessen erklären mir Mom und der Trainer, dass ich eine Therapie brauche. Ist das zu fassen? Fünf Minuten auf einer Psychologiewebsite für Dumpfbacken, und die zwei glauben zu wissen, was für ein Problem ich habe.

Selbstsabotage. Das ist ihre Diagnose. Tief in meinem Innersten, sagen sie, hätte ich Angst vor dem Gewinnen. Jedes Mal, wenn ich kurz davor wäre, Großmeister zu werden, würde ich leichtsinnig werden. Ich werde nicht auf dem Brett geschlagen, sondern von meinem inneren Kritiker.

Bescheuert. Wozu sollte ich einen inneren Kritiker brauchen, wenn ich permanent Kritik von außen bekomme?

»Du kannst das Turnier noch retten«, brummt der Trainer. »Heute Nachmittag spielst du Weiß gegen Sivenko. Spiel die Partie so ruhig du kannst. Eröffne mit e4. Sei kein Bulle, sei eine Boa constrictor. Zerquetsche sie ganz langsam.«

Während der Trainer redet und redet und auf eine Million Arten immer wieder dasselbe sagt, vermisse ich meinen Dad mehr denn je. Er weiß, wie man mich auf Turnieren beruhigt. Er würde mir die Hand auf die Schulter legen und mit gespielt ernster Miene unsinnige Ratschläge geben. Wenn ich du wäre, Champ, würde ich es heute mit dem Kasparow-Gambit versuchen. »Es gibt kein Kasparow-Gambit, Dad.« Umso besser! Dann hast du das Überraschungsmoment auf deiner Seite.

Mein Dad findet es großartig, eine Tochter zu haben, die Schach spielt. Und ich, einen Dad zu haben, der nicht spielt.

Schade, dass er im All ist.

Mom und der Trainer gehen in den Aufenthaltsbereich, ich in die Halle. Larissa Sivenko, die stärkste GM der Ukraine, sitzt schon am Tisch. Sie isst einen Marmeladendonut und leckt sich die Finger ab.

»Ekelhaft«, sage ich. »Willst du mir so etwa die Hand geben?«

Sie sieht mich böse an, hält mir aber stattdessen die Faust zum Dagegenboxen hin.

»Starten Sie Ihre Uhren.« Der Turnierleiter kündigt den Spielbeginn an.

Ich spiele mit Weiß, was auf diesem Level ein großer Vorteil ist. Ich eröffne mit e4, stark und ruhig, wie mein Trainer gesagt hat. Sivenko überlegt kurz und kommt mit dem Springer des Königsflügels heraus.

Aljechin-Verteidigung. War ja klar.

Die Aljechin-Verteidigung ist nach Alexander Aljechin benannt, der selbst für Schachspielerverhältnisse ein echter Vollidiot war. Er hatte eine Katze, die er »Schach« nannte und zu jedem seiner Turniere mitbrachte. Die beiden saßen einträchtig nebeneinander und starrten gedankenverloren aufs Brett. Aber damit nicht genug, Aljechin soll, wenn er am Schachbrett saß, auch immer auf den Boden gepinkelt haben. Keine Ahnung, warum er das tat. Aber hey, er war einer der stärksten Spieler, den die Welt je gesehen hat. Er war siebzehn Jahre in Folge Weltmeister. Wer so gut spielt, kann vormittags auf den Boden pinkeln, und nachmittags wollen trotzdem noch alle ein Autogramm von ihm.

Gegen mich spielen sie gern die Aljechin-Verteidigung, weil sie davon ausgehen, dass ich einem frühen Angriff nicht widerstehen kann.

Und sie haben recht. Kann ich nicht.

Ich attackiere Sivenkos Springer mit meinen Bauern und jage ihn quer übers Brett von f6 nach d5 nach b6. Noch bevor meine Gegnerin ihren Donut verputzt hat, schiebe ich meinen Königsbauern ein Feld vor, mitten rein in ihre Stellung. Es ist der aggressivste Theoriezug, den ich gegen die Aljechin-Verteidigung kenne, und im Blitzschach habe ich ihn schon wer weiß wie oft gespielt. Der Gegner soll deinen Bauern schlucken, und das verursacht ihm dann solche Verdauungsbeschwerden, dass er langsamer wird.

Sivenko wird nervös. Sie rutscht nach vorn auf die Stuhlkante und wischt sich mit einer Papierserviette zuerst den Zucker von den Lippen und dann den Schweiß von der Stirn. Das letzte Stück Donut liegt unbeachtet auf ihrem Teller. Ich habe noch nicht gewonnen, aber das Spiel ist rasiermesserscharf. Um da lebendig herauszukommen, braucht sie die richtigen Züge.

Tick-tack, tick-tack. Denk gut nach, Sivenko. Wenn du mich mit dem Läufer schlägst, gable ich dich auf d5 auf und hol mir eine Figur. Wenn du mich mit dem f-Bauern schlägst, habe ich eine offene Diagonale zu deinem König.

Ich weiß, dass Mom und der Trainer dem Spiel auf einem der Bildschirme im Aufenthaltsbereich folgen. Ich liebe solche Stellungen, aber sie sind wohl kaum das, was der Trainer mit stark und ruhig gemeint hat. Wenn ich diese Partie verliere, wird er mir das Leben zur Hölle machen.

Sivenko denkt zwanzig Minuten nach, dann schlägt sie mit dem f-Bauern. Ich gehe mit dem Randbauern auf sie los, Bauer auf h4, und schlage so kräftig auf die Uhr, dass meine Gegnerin erschrocken zusammenzuckt. Mit gerunzelter Stirn denkt sie noch einmal zwanzig Minuten nach.

Ganz offensichtlich hat sie diese Stellung noch nie gesehen. Ich schon. Michail Tal gegen Bent Larsen 1969. Ich habe sie vor ein paar Jahren in meinem Zimmer und natürlich wie immer in meinem Krokodil-Onesie ausgiebig studiert. Tal hat in der Partie einen Freibauern auf der a-Linie bekommen. Eigentlich hätte er gewinnen müssen, aber er hat den Bauer nicht schnell genug bewegt, und die Partie ist ihm entglitten. Ich werde nicht denselben Fehler machen.

Tick-tack, tick-tack. Zuversicht macht sich in mir breit. Ich habe auf meiner Uhr erst elf Sekunden verbraucht und Sivenko fünfzig Minuten!

Endlich zieht meine Kontrahentin, aber anstatt einen Gegenangriff zu starten, wie Larsen gegen Tal, spielt sie Bauer auf g6. Ein flinker, verdichtender Zug, der an ein Wiesel erinnert. Nein, nicht an ein Wiesel, eher an einen Igel. Sie wird sich zu einer stacheligen Kugel zusammenrollen und beten, dass ich sie nicht überfahre.

Ich sehe vom Brett auf. Ich will, dass sie mir in die Augen sieht. Was ist los, Sivenko? Hast du Angst?

Sie weigert sich, mich anzusehen. Mit leerem Blick starrt sie aufs Brett und tupft sich die Stirn mit der Serviette. Ein Fehler. Wenn du bei einer Schachpartie nervös wirst, versuchst du alles, um es zu verstecken. Weder wischst du dir permanent über die Stirn, als hättest du gerade einen Malariaanfall, noch fängst du an, zu hyperventilieren, wie die Blondine in einem Slasherfilm. Du überspielst die Nervosität.

Jetzt hab ich’s kapiert. Diese hinterhältige Ukrainerin hat sich meine Partie in Runde 5 angesehen und ist zu demselben Schluss gekommen wie meine Mom und mein Trainer: Dass ich zur Selbstsabotage neige. Sie glaubt, ihre Zeitvergeudung und Stirnwischerei hätten mich getäuscht, und nun wartet sie darauf, dass ich vorpresche und sie mich mit ihren Igelstacheln aufspießen und qualvoll auf dem Brett verbluten lassen kann.

Ich strecke die Hand aus und schnappe mir meinen Königsspringer. Also gut, Sivenko, dann wollen wir mal sehen, wer zuerst verblutet. Ich hebe den Springer hoch in die Luft, und erstarre.

Fly high, Molotov Me!

Sky high, Molotov Me!

Ich schließe die Augen und versuche, den Song der Marsh Gibbons aus meinem Kopf zu verbannen. Keine Ahnung, wo der so plötzlich herkommt. Ich mag die Marsh Gibbons nicht einmal. Aber je mehr ich versuche, den Song loszuwerden, umso lauter wird er. Bis mein Schädel angefüllt ist von einem Geräusch, das klingt wie ein Sattelschlepper, der mit heulendem Motor die Gänge reinwürgt.

This pleasure dome is doomed to fall

Molotov Me will sabotage it all!

Vielleicht haben sie ja recht, meine Mom, der Trainer und Larissa Sivenko. Vielleicht bin ich nur eine leichtsinnige Göre, eine Möchtegern-Michail-Tal mit einer Schwäche für billige taktische Kombinationen. Vielleicht fehlt mir das besondere Etwas, das es zum Großmeister braucht.

Cry me a river in Memphis Mall

Molotov Me will sabotage it all!

Nun, da ich den Springer in der Hand halte, muss ich ihn irgendwo absetzen. Ich knalle ihn auf g5. Jetzt zeig, was du kannst, Donut-Mädchen.

Und das tut sie.

Das Spiel geht komplett den Bach runter.

Im Laufe der nächsten zwei Stunden macht Sivenko meine scharfe Stellung wieder stumpf. Sie neutralisiert jede einzelne Drohung, erzwingt einen Damentausch und marschiert, den zusätzlichen Bauer fest im klebrigen Griff, durch bis ins Endspiel. Es ist ein Freibauer und ihr König steht direkt davor, um ihn bis ins Umwandlungsfeld zu eskortieren. Ich bin im Zugzwang, und momentan ist jeder mögliche Zug schlecht.

Blowing the farm on the Powerball

Molotov Me will sabotage it all!

Ich hasse nichts mehr, als mit Weiß zu verlieren. Als Erste am Zug zu sein, ist auf GM-Niveau ein Riesenvorteil, und von Weiß wird ein Sieg, oder zumindest ein Remis, geradezu erwartet. Wer mit Weiß verliert, kann sich auch gleich beerdigen lassen.

Es bringt nichts, weiterzuspielen. Ich stoße meinen König um, und wir boxen die Fäuste gegeneinander. Sivenko legt den Kopf in den Nacken und wirft sich das letzte Stück Donut in den Rachen.

Es. Bringt. Nichts. Weiterzuspielen. Und wer glaubt, ich rede hier von der Sivenko-Partie, denkt besser noch mal nach. Ich bin fertig mit Schach.

KOMMENTARE

IbuprofenHarry: Was bedeutet Zugzwang?

Guppy: Hat sie doch schon erklärt. Wenn man in eine Stellung gerät, in der jeder mögliche Zug schlecht ist. Und, Chessgirl, was du über Aljechin gesagt hast, dass er während der Spiele immer gepinkelt hat, stimmt nicht. Er hat nur EINMAL während einer Partie auf Malta auf den Teppich gepinkelt (betrunken). Und ja, er hat seine Katze mit auf Turniere genommen, aber nicht zu allen Turnieren. Immer schön bei der Wahrheit bleiben.

Chessgirl: Yeah, als ob Aljechins Pinkelgewohnheiten und die Besuchsfrequenz von Katzen bei Schachturnieren gerade mein größtes Problem wären. Warum kommst du nicht nach Pune, und wir hängen ein bisschen ab? Wir könnten uns über russische Katzen unterhalten und uns dann gemeinsam die Pulsadern aufschlitzen.

Juna: Tut mir leid, dass du einen so miesen Tag hattest, Chessgirl. Ich dachte auch mal, ich wäre eine echt gute Trampolinspringerin, und dann habe ich eines Tages ein anderes Mädchen auf dem Trampolin gesehen und festgestellt, dass ich gar nicht so gut war.

Chessgirl: Entschuldige mal, Juna. Versuchst du gerade, zwischen deinem Erlebnis und meinem eine Parallele zu ziehen? Du und ich, wir haben beide Zugang zu einer Computertastatur, und das war’s dann aber auch schon mit Gemeinsamkeiten.

Angus: nicht aufgeben, mädel. kennst du die geschichte von robert the bruce, könig von schottland, der sich nach einer verlorenen schlacht in einer höhle versteckte und dort eine kleine spinne traf, die gerade ihr netz spann? Die kleine spinne hörte auf zu spinnen, sah robert the bruce direkt in die augen und sagte, wenn es beim ersten mal nicht klappt, musst du es einfach noch mal versuchen.

Chessgirl: Nein, mein Junge. Noch nie gehört die Geschichte. Aber hast du schon mal was von Großbuchstaben gehört?

Honeyboo: Angus will damit nur sagen, eine Niederlage ist kein Grund, nicht wieder aufzustehen. Schwing dich zurück in den Sattel! Kopf hoch, Schultern zurück! Und dann nimm all deinen Mut zusammen und zeig diesen Rotz fressenden Großmeistern, mit wem sie es zu tun haben!

Chessgirl: Zeig du es ihnen, Honeyboo. Aber tu mir bitte einen Gefallen, und verzichte darauf, dich fortzupflanzen.

Gibbonsfan1: Molotov Me feier ich total. Ist mein ABSOLUTER Lieblingssong von den Marsh Gibbons. Ich raste jedes Mal aus und headbange dazu wie ein Wackeldackel auf Speed. Das Beste ist, wenn Axel D am Ende schreit SABOTAGE IT AAAAAAAAAAAAAALLLLLLLLL!

Anonym: Dein Dad ist nicht im All oder, Leah? Hör auf, uns zu verarschen. Wenn er tot ist, dann sag es einfach. Du bist nicht der erste Mensch, der trauert.

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WAS ICH HASSE UND WAS ICH TUN KANN

Ich sitze im Flugzeug zurück nach New York. Hier eine Liste von sieben Dingen, die ich echt hasse.

  1. fliegen

  2. in der Mitte sitzen

  3. Indien

  4. Ukrainische Großmeister

  5. die Aljechin-Verteidigung

  6. in der Öffentlichkeit mit den Tränen kämpfen

  7. Schach

Und hier eine Liste von sieben Dingen, die ich tun kann, weil ich mit dem Schach aufgehört habe.

  1. mir einen Job suchen (bei dem ich nicht viel denken muss)

  2. mir ein Haustier zulegen (ich hatte nie eins, weil ich immer so viel unterwegs war)

  3. mich tätowieren lassen (ich muss irgendwas Krasses machen, als Zeichen für den Beginn meines neuen Lebens)

  4. Freunde finden

  5. schlafen

  6. meine Schachbücher verbrennen

  7. normal sein

Meine Mom und der Trainer wissen noch nicht, dass ich mit dem Schachspielen aufhöre. Ich warte noch auf den richtigen Moment, um es ihnen zu sagen.

KOMMENTARE

Hamsterfan: Kauf dir einen Hamster! Die sind superniedlich und ziemlich clever für ihre Größe.

Chessgirl: Gute Idee. Vielleicht kaufe ich mir gleich mehrere.

Hamsterfan: Coooooool!!! Du wirst es nicht bereuen.

Chessgirl: Wie viele Hamster frisst ein Königspython im Monat?

Hamsterfan: Ich habe deinen Kommentar dem Tierschutzbund gemeldet. Du bist wirklich eine ganz schreckliche Person.

Sokrates: Wo lässt du dir das Tattoo stechen?

Chessgirl: Manhattan.

Sokrates: Nein, ich habe gemeint, wo am Körper.

Chessgirl: Ich weiß, was du gemeint hast.

Tia: Warum hasst du ukrainische Großmeister? Dass das Donut-Mädchen dich mental ausgebootet hat, heißt nicht, dass alle ukrainischen Großmeister böse sind.

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WAS SIE GESAGT HABEN, ALS ICH ES IHNEN MITGETEILT HABE

Mom: Bitte, Leah, tu das nicht. Du kannst jetzt nicht aufhören.

Mein Trainer: Ich habe auch mal versucht, mit dem Schachspielen aufzuhören. Und ungefähr dreieinhalb Stunden durchgehalten.

KOMMENTARE

Guppy: Dein Trainer hat recht. Du spielst Schach, seit du fünf bist. Damit aufzuhören, wird härter, als du denkst.

SirLancelot: Kann ich deine Schachbücher haben, oder hast du sie schon verbrannt?

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HAARGELD

Wieder zu Hause, hole ich mein Haargeld von der Bank und kaufe davon:

  1. ein Glasterrarium mit Schiebetür

  2. ein Thermostat und eine Heizlampe

  3. einen Königspython

Als ich mit dem Python nach Hause komme, scheißt Mom mich ordentlich zusammen. Sie sagt, die Schlange würde aus dem Käfig ausbrechen und uns beide im Schlaf töten. Ruhig und höflich zähle ich ihr die Argumente auf, warum Schlangen die perfekten Haustiere sind.

  1. Sie stinken nicht.

  2. Sie sabbern nicht.

  3. Sie versuchen nicht, deine Beine zu poppen.

  4. Sie furzen nicht in den Teppich.

  5. Sie hinterlassen keine Haare auf den Klamotten.

  6. Sie zerkratzen die Couch nicht.

  7. Sie fressen dir nicht die Haare vom Kopf.

Mom holt ihr Tablet und fängt an zu googeln. Wahrscheinlich sucht sie nach Berichten über Königspythons, die durch Panzerglas gebrochen sind und Schachwunderkinder an einem Stück verschlungen haben. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie keine finden wird. Alles, was sie finden wird, ist, wie sanftmütig Königspythons sind und wie gut sich ihre Schuppen auf der Haut anfühlen.

Nach zehn Minuten klatscht sie das Tablet auf den Tisch und stolziert zur Tür raus. »Behalte die Schlange, wenn sie dir so wichtig ist«, brüllt sie von der Treppe zurück. »Ich hoffe, du wirst glücklich damit.«

Ich kann es Mom nicht verübeln, dass sie sauer ist. Sie wollte einen Schachgroßmeister im Haus, und stattdessen ist sie nun dazu verdammt, mit einer Schlange und einer Versagerin zu leben.

ZUCKERGUSS UND STREUSEL

Ich ziehe meine Turnschuhe an, setzte die Basecap auf und gehe im Central Park joggen. Ich laufe nicht die langweilige Asphaltrunde, die alle laufen, sondern nehme die wild verschlungenen Pfade jenseits des Rambles, wo man über Steine springen, Bäche überqueren und sich in den Schlamm stürzen kann. Es ist genial. Man vergisst komplett, dass man mitten in der Stadt ist.

Als ich an der 5th Avenue rauskomme, bin ich noch so fit, dass ich auch noch die fünfzehn Blocks bis zum Bryant Park laufe und dann noch mal fünfzehn bis zum Madison Square Park. Mein Körper schreit, ich soll anhalten, trotzdem laufe ich weitere fünfzehn Blocks, nur um den Schmerz zu fühlen. Erst am Brunnen im Washington Square Park bleibe ich stehen und halte den Kopf unter einen der Wasserstrahlen. Meine Beine sind Wackelpudding. Meine Lungen brennen. Ich setze mich auf den steinernen Brunnenrand und sehe den bescheuerten Tauben zu, wie sie rumstolzieren und irgendwelches Zeug aufpicken. Für ein paar wundervolle Minuten ist mein Kopf absolut leer.

In der Thompson Street gibt es einen Schachladen, den ich umgehen will, also verlasse ich den Park durch das Osttor und nehme den Waverly Place und dann die Greene Street. An der Ecke zur 8th Street komme ich an einem Laden namens Gonuts Donuts vorbei und muss natürlich sofort an Larissa Sivenko und meine monumentale Niederlage in Pune denken.

Ich jogge rüber, nehme die Mütze ab und lasse mich direkt vor dem Laden auf den Gehsteig plumpsen. Ich hätte mit Springer auf g5 nicht so aufs Tempo drücken dürfen und stattdessen den langsameren Zug auf d5 machen sollen. Ich habe gespielt wie ein Patzer und bekommen, was ich verdiene.

Als ich aufschaue, liegt ein Fünf-Dollar-Schein in meiner Cap.

»Hey, ich bin doch kein Penner!«, schreie ich. Aber von den Leuten, die auf dem Gehsteig hin und her rennen wie Ratten auf einem Getreidespeicher, beachtet mich keiner.

Jeder weiß, wenn dir das Schicksal direkt vor einem Donutladen fünf Dollar vor die Füße wirft, bringt es großes Unglück, die fünf Dollar nicht für einen Donut auszugeben. Also stehe ich auf und gehe hinein.

Das Mädchen an der Kasse grinst mich unter ihrer Donutverkäuferinnenkappe hervor an, als wäre sie bekloppt. Hinter ihr schrubbt ein Teenager, schwer atmend, eine Arbeitsfläche. Auf dem Rücken seines T-Shirts ist zu lesen: Ganz New York liebt unsere Donuts, was ganz offensichtlich nicht stimmt, denn der Laden ist halb leer.

»Hi, Ronda«, sage ich. Das Mädchen sieht mich an, als hätte ich gerade den Stammbaum ihrer Familien bis zurück zu den Gründungsvätern heruntergebetet. »Der Name steht auf deinem Schild«, füge ich hinzu.

Sie schlägt sich die Hand vor die Stirn. »Sorry, vergesse ich immer wieder. Was bekommst du?«

»Eiskaffee und zwei Zimtdonuts.«

Den d-Bauern bewegen und sie die Springer tauschen lassen, das hätte ich tun sollen. Wenn sie rochiert hätte, hätte ich Läufer auf d3 gespielt und wäre sobald wie möglich mit dem Bauern auf h5 gefolgt.

Mein Blick fällt auf einen Zettel am Tresen. MITARBEITER GESUCHT. Plötzlich durchzuckt es mein Gehirn, als hätte ich ein Matt in vier Zügen erkannt. »Ich möchte mich auf die Stelle bewerben«, höre ich mich sagen.

»Cool!« Ronda grinst von einem Ohr zum anderen. »Ein bisschen Hilfe können wir hier gut gebrauchen. Stimmt’s, Michael?«

Michael mustert mich mürrisch durch seine dicken Brillengläser. »Denke schon.«

Ich lächle. »Dann wäre das ja besprochen. Wann kann ich anfangen?«

Ronda fängt an zu lachen und wedelt auf diese Du-hast-vielleicht-Nerven-Art mit der Hand. Dann verschwindet sie in einem der hinteren Räume und kommt mit dem Geschäftsführer wieder, einem dünnen Schwarzen mit tiefen Sorgenfalten auf der Stirn. Er mustert mich von oben bis unten und seine Sorgenfalten werden zu Zornesfalten. »Na, du traust dich was«, murmelt er.

»Sir?«

»Kleiner Tipp von mir, Fräulein. Wenn du dich in einem Betrieb, der Backwaren verkauft, um einen Job bewirbst, solltest du weder völlig verschwitzt noch mit Schlammspritzern überzogen sein.«

»Betrachten Sie es einfach als Zuckerguss und Streusel, Sir.«

Der Geschäftsführer versucht, ernst zu bleiben, aber seine Zornesfalten zucken, und als sie anfangen, sich zu glätten, weiß ich, ich habe den Job.

KOMMENTARE

Leo: Warum bewirbt sich ein Genie wie du in einem Donutladen?

Chessgirl: Buße. Ich suche Vergebung für meine Sünden, indem ich irgendwelchen Idioten Donuts verkaufe.

Anonym: Wusstest du, dass es an der südwestlichen Ecke des Washington Square Parks Schachtische gibt? Du musst ganz in der Nähe gewesen sein. Du hättest dort auf ein oder zwei Spiele vorbeischauen können!

Chessgirl: Nur vier Arten von Typen spielen Schach in einem Park: Patzer, Spielsüchtige, Junkies und Ehemalige.

Dreadnought5: Da passt du doch gut dazu. Ich dachte, du wärst eine Ehemalige.

BarbaraB: Ich bin total süchtig nach Donuts, aber der Donutladen bei mir um die Ecke hat wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.

Chessgirl: Wahrscheinlich bauen sie breitere Türen für dich ein.

Roy: Dienstleistungsbetriebe legen sehr viel Wert darauf, ihre Kunden freundlich zu behandeln, und wollen, dass sie sich wohlfühlen. Herzlichen Glückwunsch zu deinem Job und so. Aber ich gebe dir keine fünf Sekunden, bis sie dich wieder rausschmeißen.

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NACHMITTAGSWARE

Ich arbeite jetzt seit drei Tagen im Gonuts Donuts. Ich fange um 14 Uhr an und bin um 22 Uhr fertig. Meine Aufgaben sind folgende:

  1. mit Ronda und Michael am Tresen bedienen

  2. beim Backen der Nachmittagsware helfen

  3. Donuts mit Marmelade füllen

  4. Donuts mit Zuckerguss und Streuseln überziehen

  5. Flächen wischen, Böden putzen, Geschirr spülen

  6. einen Tag alte Donuts für Obdachlose in Tüten packen

Der Geschäftsführer und Backshopleiter von Gonuts Donuts heißt Randal Johnson, und gerade habe ich erfahren, dass Ronda seine Tochter ist, obwohl sie ihn wie alle anderen »Sir« nennt.

Randal wird nicht müde, mich immer wieder an das erste Gebot von Gonuts Donuts zu erinnern, das da lautet: »Du sollst den Kunden anlächeln, bis dir die Wangen wehtun«, sowie an die EINS-ZWEI-DREI-Regel:

 

Nie mehr als EINE Minute zwischen Bestellung und Aushändigen der Ware.

Nie mehr als ZWEI Donuts auf einmal im Marmeladenfüllgerät.

Nie mehr als DREI Donuts pro Angestelltem am Tag und nur in den hinteren Räumen, niemals am Tresen.

 

Hin und wieder schreit Randal mich wegen irgendetwas an, aber nur hinten und nicht halb so oft wie Mom und mein Trainer mich angeschrien haben. Dafür lobt Ronda mich unentwegt, wie schnell ich die Arbeitsabläufe lerne. Wenn sie wüsste, dass ich viereinhalbtausend kommentierte GM-Schachspiele im Kopf habe, wäre sie wahrscheinlich nicht ganz so beeindruckt, dass ich mir merken kann, wo die gerösteten Kokosflocken zu finden sind.

Ich habe keinem meiner Kollegen von meinem früheren Leben erzählt. Die glauben alle, ich sei normal.

KOMMENTARE

Anonym: Ich muss mir’s niederschreiben: dass einer lächeln kann und immer lächeln und doch ein Schurke sein.

Chessgirl: Hää?

Anonym: Du kannst backen, Zuckerguss verteilen und lächeln so viel du willst, du wirst immer du bleiben. Noch drei Tage ohne den Adrenalinschub einer Schachpartie, und du wirst zusammenschrumpeln und sterben.

Chessgirl: Wer bist du?

Anonym: Ein Wohlmeinender.

Chessgirl: Gehab dich wohl, Wohlmeinender.

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ÖLFASS

Diesen Post schreibe ich auf meinem Handy, weil mein Tablet kaputt ist. Eigentlich will ich nur sagen: Meine Mutter ist verrückt, durchgedreht, völlig gaga.

Beim Frühstück stellt sie mich in der Küche zur Rede und fängt an loszuheulen, von wegen vergeudetem Talent.

»Warum hast du aufgegeben?«, schreit sie. »Hat Magnus Carlsen etwa aufgegeben, als Giri ihn mit Schwarz in zweiundzwanzig Zügen geschlagen hat? Hat Nakamura aufgegeben, als er aus den London Chess Classics rausgeflogen ist ohne einen einzigen Sieg? Hat Judit Polgár das Handtuch geworfen, als Kasparow ihr einen Vortrag über die »Unvollkommenheit der weiblichen Psyche« gehalten hat? Natürlich nicht. Sie haben weitergemacht, alle, und es zu wahrer Größe gebracht.«

Was sie natürlich nicht erwähnt, ist, dass Polgár fünfzehn war, als sie den GM-Titel erhielt, Nakamura vierzehn und Carlsen dreizehn.

Mom scheint zu glauben, siebzehn sei noch jung.

SIEBZEHN. IST. STEINALT.

»Du bist immer noch sauer wegen Pune«, mault Mom weiter. »Aber deine Gegner haben dich nicht auf dem Brett geschlagen. Sie haben dich im Kopf geschlagen.«

Im Kopf! Nicht zu fassen. Sie hat keine Ahnung, wie komplex die Partien in Pune waren. Die Sivenko-Partie war wie hundert Kilometer Kaninchenbau tief unter der Erde, und Mom kann froh sein, dass sie nicht das arme Schwein war, das da runter musste.

»Das mit deinem Kopf kann man in Ordnung bringen, Leah.« Mom zwingt sich zu einem Lächeln. »Mit ein bisschen Therapie und neuronalem Training kommt das wieder in Ordnung.«

Sie watschelt mit ausgestreckten Armen auf mich zu, als wollte sie mich umarmen, aber ich ducke mich unter ihr weg. »Bring deinen eigenen Kopf in Ordnung!«, brülle ich sie an. »Wenn da wieder alles stimmt, können wir über meinen reden!«

Ich denke, der Zeitpunkt ist gekommen. Wenn ich es jetzt nicht mache, mache ich es nie. Ich renne in mein Zimmer und reiße die Schachbücher aus dem Regal. Mit einem riesigen, wackeligen Bücherstapel zwischen Händen und Kinn renne ich durch den Flur.

»Leah, wo willst du hin? Komm zurück!«

Moms quäkende Stimme folgt mir durch die Hintertür hinaus in den Garten.

Ich werfe die Bücher in das leere Ölfass, in dem wir Laub und Gartenabfälle verbrennen. Dann gehe ich in den Schuppen, um Streichhölzer und einen Zehn-Liter-Kanister Benzin zu holen.

»Leah!« Mom kreischt wie eine Geisteskranke. Und da ist sie auch schon. Mit wehendem, wasserstoffblondem Haar kommt sie in den Garten gestürzt.

Ich schraube den Kanisterdeckel ab, und fange an, Benzin über die Bücher zu gießen.

»Leah, stopp!« Sie rennt auf mich zu und (wenn das nicht verrückt ist, weiß ich auch nicht) steigt in das Fass.

Ich höre auf, zu gießen. Der ätzende Benzingeruch hängt schwer in der Luft. Mit vor Kummer und Wut verzerrtem Gesicht steht Mom in unserem Fass, inmitten von Laub, Gartenabfällen und Schachbüchern.

»Komm aus dem Fass raus, Mom.«

»Nein.« Durch einen Schleier aus Tränen starrt sie mich an.

»Das sind meine Bücher.«

»Du bist nicht du selbst, Leah. Du liebst diese Bücher.«

»Ich hasse sie.«

Sie hat ihre Hände auf meine gelegt und versucht, mir den Kanister zu entwinden. »Die signierte Erstausgabe von Bobby Fischers Meine 60 denkwürdigen Partien«, flüstert sie. »Die hat dir dein Vater geschenkt, als du die Mailand Open gewonnen hast.«

»Lass Dad aus dem Spiel.«

»Das hier hast du auch von ihm, stimmt’s?« Sie deutet mit dem Fuß auf Bauernraubvarianten für Einsteiger. »Du hast dieses Buch ständig mit dir herumgetragen.« Mit einem kräftigen Ruck entreißt sie mir den Kanister. Benzin schwappt über ihre Bluse, ihren Rock und ihre Strümpfe.

Mein Blick wandert zu den Streichhölzern in meiner Hand.

»Leah?«, krächzt Mom. Plötzlich schwingt neben dem Wahnsinn Angst in ihrer Stimme. »Gib mir die Streichhölzer, Leah.«

Wie weit sind wir nur gekommen? Glaubt sie wirklich, ich bin so irre? Ich drehe mich um und renne zurück in die Wohnung. Oben in meinem Zimmer schließe ich die Tür ab, werfe mich aufs Bett und logge mich bei chess.com ein. Es dauert keine zwei Sekunden, bis mich irgendein Patzer in Deutschland zu einer Partie herausfordert.