cover
Liliana Wildling

Das Geheimnis von Greenlake Hill





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Prolog

 

Lucian packte Nelly am Handgelenk und zog sie in ein Gebüsch neben dem dicken Stamm einer großen Tanne. Der halbdurchsichtige Geist des Gärtners versteckte sich ebenfalls.

»Du bleibst hier«, wies er Nelly an. Sie nickte zustimmend. Was sollte sie sonst tun? Sie würde sich bestimmt nicht mit den Eindringlingen anlegen.

»Sei vorsichtig!«

Fremde Stimmen näherten sich. Nellys jagender Herzschlag legte noch einen Zahn zu.

»38, 39, 40 …«, zählte eine tiefe Stimme. Die drei duckten sich tief in das Gebüsch. Der Geist des Gärtners versank buchstäblich im Erdboden und verschwand. Nelly lugte durch ein Loch im Blattwerk. Zwei hagere Gestalten tauchten auf, in braune Kutten und Umhänge gekleidet. Einer hatte blondes Haar, der andere schwarzes. Auf den ersten Blick konnte man denken, es würde sich um zwei Mönche handeln. Der verschlagene Gesichtsausdruck passte jedoch nicht zu dieser Vorstellung. Zudem hielt der Blonde ein langes, scharf aussehendes Messer in der Hand. Er kratzte sich an seiner schiefen Hakennase und ging seinem Begleiter hinterher, der weiter die Reihen zählte.

»41, 42 … Da ist es!«

Die Männer machten Halt. Kaum eine Handbreit vor dem Gebüsch. Der Schwarzhaarige beäugte die Grabsteine zu seinen Füßen und zog eine weiße Karte aus seinem Ärmel hervor. Darauf standen einzelne Wörter in großen Buchstaben. Er berührte mit seinem Zeigefinger eines davon. Im selben Moment erzitterte die Erde unter Nellys Füßen. Der Boden bekam Risse und brach auf. Erdreich rutschte in den entstehenden Spalt. Unter dem Grabstein, den der Mann anvisierte, tat sich ein Loch auf und gab die Sicht auf einen halb vermoderten Sarg frei. Sie musste sich mächtig zusammenreißen, um nicht in kopfloser Panik wegzulaufen.

Lucian packte den Spaten mit beiden Händen und stürmte auf die Fremden zu. Er schlug dem Schwarzhaarigen mit der flachen Seite fest auf den Rücken. Der Mann gab einen unartikulierten Schrei von sich und fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Die weiße Karte landete neben seinem Kopf. Sein blonder Begleiter riss die Hand mit dem Messer hoch und attackierte Lucian damit. Nelly erschrak sich beinahe zu Tode und hielt vor Angst die Luft an.

Lucian wich behände aus, drehte den Spaten ein wenig und stieß dem Mann in einer raschen Abfolge von kurzen, harten Schlägen auf die Hand. Das Messer fiel ins Moos zwischen zwei Steine. Gleich darauf sprang Lucian nach links zu dem anderen Mann, der bereits am Boden lag. Er rollte ihn mit dem Fuß auf den Rücken und platzierte die Spitze des Spatens an seinem Hals.

»Stopp!« Seine Stimme klang eiskalt.

Nelly sah nur sein Profil. Sie konnte sich trotzdem lebhaft vorstellen, wie seine eisgrauen Augen unter den wütend zusammengezogenen Brauen blitzten. Er würde doch nicht wirklich …

Der blonde Mann, dem vor Schreck der Mund offenstand, blieb wie erstarrt stehen. Sein Blick schweifte rastlos hin und her. Er überschlug offenbar seine Möglichkeiten. Nelly wollte mehr sehen und schob den Kopf ein wenig aus dem dichten Grünzeug, in dem sie steckte. Der am Boden liegende Angreifer wurde weiterhin von Lucian mit dem Spaten bedroht und regte sich. Er griff nach der weißen Karte, die mithilfe einer Schnur an seinem Handgelenk befestigt war. Sie erhaschte ein paar Wörter. Sturm, Flut, Erdrutsch, Blitz, …

Er berührte das Wort Sturm. Kaum einen Wimpernschlag später wütete die Naturgewalt über ihnen und verfinsterte den Himmel. Sein blonder Begleiter gab seine Angriffshaltung mit angstvoll verzerrtem Gesicht auf, machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon. Heftiger Wind pfiff lautstark durch die Bäume und rüttelte die Stämme durch. Schwerer Regen fiel unvermittelt herab. Das Prasseln vervollständigte die unheilvolle Melodie des Windes und der knarzenden Bäume. Donnergrollen ertönte in nächster Nähe. Als läge das Zentrum des Sturms direkt über dem Waldrand. Gleich darauf wirbelten abgerissene Blätter und kleine Zweige durch die Luft. Lucian hob eine Hand und schirmte seine Augen ab. Er sah nicht, dass der Finger des Schwarzhaarigen ein anderes Wort ansteuerte: Blitz. Es fehlten nur noch wenige Millimeter.

Nelly schrie gegen das Tosen des Windes:

»Pass auf!«

Als er das Vorhaben des am Boden Liegenden erkannte, ihn mit einem Blitz zu erschlagen, blieb keine Zeit zu überlegen. Während er zu einem Tritt ausholte, hätte der Mann das Wort längst erreicht. Lucian konnte die weit vom Körper gestreckte Hand unmöglich rechtzeitig erreichen.

 

Der Gargoyle von Greenlake Hill

 

Drei Tage zuvor.

 

Nelly stürmte mit einer Mischung aus Hilflosigkeit und Zorn die Treppe zum Dachboden hoch. Oben angekommen schlüpfte sie schnell in den düsteren Raum, warf die massive Tür aus Eichenholz zu und schloss ab. Das leichte Tappen einer schlanken Person mit kleinen Füßen kam näher, die Treppe herauf. Dazu gesellte sich das Poltern schwerer Schritte.

Heftig atmend ließ sich Nelly mit dem Rücken zur Wand zu Boden sinken. Sie strich das kinnlange braune Haar zurück, fuhr sich über das tränennasse Gesicht und schlang die Arme um ihre Knie. Die Geräusche aus dem Treppenhaus verstummten. Das trübe Zwielicht der Abenddämmerung erzeugte in den Winkeln ihres Zufluchtsortes tiefe Schatten.

»Mensch Cornelia, du kannst dich nicht immer im Dachboden einschließen«, schallte es vom Treppenaufgang her durch die Tür. Der anklagende Tonfall ihrer Mutter schürte ihren Zorn. Zudem hasste sie es, wenn man sie Cornelia nannte.

»Ihr habt doch keine Ahnung!«, schrie die 16-Jährige trotzig. Sie hörte selbst, wie dünn und zerbrechlich ihre Stimme klang. »Ihr wollt mich von hier wegzerren. Von meinen Freunden, von … Mich braucht man ja nicht zu fragen.« Nur mühsam unterdrückte sie ein Schniefen.

»Nelly, bitte … «, setzte ihr Vater an. Bestimmt schloss er dabei wie üblich die Augen, um dem gebieterischen Ausdruck im Gesicht seiner perfekt gestylten Frau zu entgehen. Nelly konnte förmlich sehen, wie die ehemalige Schönheitskönigin ihre aufwendig lackierten Fingernägel betrachtete, ehe sie sich mit den Fingern durch die blonde Wallemähne fuhr und ihren Mann missmutig anguckte. Er ergänzte: »Das haben wir doch schon besprochen.«

In seinem tiefen Bass schwang kein Tadel mit, nur Resignation.

Nelly schnaubte und verschränkte die Arme.

»In der Stadt ist es hektisch und laut und es stinkt. Man kann nicht auf einen Baum klettern und in Ruhe lesen. Dort gibt es noch nicht mal ansatzweise sowas wie eine Wiese! Da wohnen Millionen Menschen und die meisten davon sind bis an die Zähne bewaffnet.« Sie fixierte das Fenster am anderen Ende des Raumes mit fest zusammengekniffenen Augen. »Laut Statistik ist die Wahrscheinlichkeit, dort erschossen zu werden, zehn Mal höher als hier.«

»Kann sie statt Statistiken nicht einfach mal Schminktipps googlen, wie alle anderen Mädchen in ihrem Alter?«, ertönte die gereizte Stimme von Nellys Mutter. Ihr Mann antwortete nicht. Er wollte wohl keinen Streit vom Zaun brechen, der mit Gekreische und den Worten »Musst du mir in den Rücken fallen?« und knallenden Türen endete. Nelly ärgerte sich darüber, dass er nie seine Meinung sagte und immer nachgab. Nie ergriff er Partei für sie.

»Komm jetzt sofort raus!«, forderte ihre Mutter.

»Geht weg!«

»Lass sie«, beschwichtigte ihr Vater. »Sie wird schon kommen.« Seine Schritte entfernten sich langsam.

»Cornelia! Argh!« Der schrille Ton ließ Nelly zusammenzucken. Endlich gab auch ihre Mutter nach und schlurfte die Treppe hinab.

Nelly kannte das alles zur Genüge. Ihre Mutter wollte einfach nicht begreifen, dass sie Bücher nun mal liebte und ihre Schätze am liebsten unter freiem Himmel las. Und immer dieses abfällige Gerede von wegen vermasselter Zukunft – als wäre es eine Schande, wenn man Bibliothekarin in einem kleinen Ort wie Greenlake Hill werden wollte. Nicht jeder war zu Größerem geboren. In der Stadt wäre alles anders. Tränen bahnten sich ihren Weg und verschleierten ihren Blick.

Um sich abzulenken, stand sie auf und krabbelte im schwindenden Licht in den dick gepolsterten Ohrensessel, der früher ihrer Oma gehört hatte. Über der Lehne hing eine alte rosafarbene Decke. Sie verströmte immer noch einen Hauch von Maiglöckchen. Omas Lieblingsduft.

Auf dem kleinen Abstelltischchen daneben lag ein dickes Buch. Übernatürliche Wesen von A-Z.

Sie nahm den abgegriffenen Wälzer in die Hand. Den Streit in den Hintergrund rückend, wickelte sie sich in die flauschige Decke, die ihr schon häufig Aufmunterung und Wärme gespendet hatte. Der weiche Stoff eignete sich auch prima, um Tränen damit zu trocknen. Da es zu dunkel zum Lesen war, holte Nelly die Taschenlampe hervor, die in der Spalte zwischen Sitzfläche und Lehne klemmte.

Wie so oft versank sie völlig in den magischen Welten, die ihr Ablenkung von ihrer trostlosen Zukunft boten. Sie las eben die Beschreibung von Nixen, als das widerliche Kratzen von etwas Hartem auf Glas ihre Konzentration störte. Ein schnell vorbeihuschender Schatten vor dem Fenster riss sie vollends zurück in die Realität. Das Flattern von Schwingen ertönte, gleich darauf ein merkwürdiges Schaben. Sie schälte sich hastig aus der Decke, legte das Buch ab und huschte im hellen Kegel der Taschenlampe zum Fenster. Plötzlich prallte ein dunkler Schemen an die Scheibe. Nelly zuckte zurück und starrte für einen kurzen Augenblick in ein hellgrünes Auge, umrandet von einem schwarzen, schuppigen Gesicht. Die große, gedrungene Pupille verengte sich im hellen Schein zu einer schmalen aufrechtstehenden Sichel. Der drachenähnliche Kopf wich ruckartig zurück. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf spitze Zähne und scharfe Krallen. Die Taschenlampe entglitt ihren zittrigen Fingern und fiel zu Boden.

Das Licht erlosch.

Nelly stand wie angewurzelt zwei Schritte vor dem Fenster, unfähig sich zu rühren. Heftig atmend starrte sie weiter hinaus, während ihre Augen sich an das schummrige Dämmerlicht im Raum gewöhnten. Ihr Herz hämmerte so wild gegen ihre Rippen, als wollte es demnächst herausspringen. Das Tier schüttelte sich, drehte sich zur Seite und flog weg. Ein stachelbewehrter, langer Schwanz zog vor der Scheibe vorbei, dann verschwand das Ding im Baum gegenüber.

Ihr Blick glitt durch die ausladende Krone der großen Linde vor dem Haus. Schwaches Mondlicht leuchtete herab, doch der silberne Schein vermochte das dichte Blattwerk nicht zu durchdringen.

Nelly ließ die Taschenlampe einfach liegen und ging langsam rückwärts. Sie kannte den Dachboden wie ihre Westentasche und musste nicht fürchten, über irgendetwas zu stolpern. Das Wummern ihres Herzschlages dröhnte in der Stille. Sicheren Schrittes erreichte sie die Tür. Sie schloss schnell auf und schlich im Dunkeln die Treppe hinunter.

In ihrem Zimmer angekommen kroch sie mit zittrigen Gliedern ins Bett. Sie zog sich die Decke bis zum Kinn und versuchte, ihre aufgewühlten Gedanken zu sortieren. Hatte sie eben tatsächlich gesehen, wie ein schwarzer Gargoyle am Fenstersims gelandet war? Oder hatte sie nur zu lange gelesen und ihre Sinne spielten ihr einen Streich?

Sie wusste es nicht.

 

***

 

Nelly machte in dieser Nacht kein Auge zu. Das Bild des Gargoyles vor dem Fenster blitzte immer wieder in ihren Gedanken auf und brachte ihr Herz vor Aufregung zum Stolpern. Sie wälzte sich stundenlang herum, fand jedoch keine Ruhe. Bestimmt musste sie nur einen Blick in den Baum und auf das leere Fenster werfen, um die Erinnerung abzuschütteln.

Völlig gerädert und hundemüde schlüpfte sie in Jeans, streifte ein lila T-Shirt über und schleppte sich nach oben. Dem heller werdenden Zwielicht nach zu urteilen, war es kurz vor Einbruch der Dämmerung. Die Tür zum Dachboden stand immer noch offen. Sie tapste schwerfällig hinein. Der rechteckige Raum, der in der Länge kaum zehn Schritte maß, lag still und verlassen da. Nelly schlurfte zum Fenster und hob die Taschenlampe auf.

Auf einem dicken Ast der Linde, der bis zur Hauswand reichte, regte sich etwas. Wie schon am Abend sah sie gebannt hinaus in das dichte Blattwerk. Die feinen Härchen an den Armen und im Nacken stellten sich furchtsam auf. Im Schatten unter den üppig belaubten Zweigen glaubte sie, eine schuppige Kreatur zu sehen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie trat näher ans Fenster und sah konzentriert auf den dunklen Fleck. Ihr Atem beschlug an der Scheibe.

Da! Eine krallenbewährte Tatze bewegte sich in ihre Richtung. Ein schwarzer Kopf mit gewundenen Hörnern fuhr wie in Zeitlupe zwischen den Blättern hervor. Angst und Neugier brandeten abwechselnd durch Nellys Inneres. Hin- und hergerissen, ob sie schnell weglaufen oder abwarten sollte, blieb sie letzten Endes an Ort und Stelle. Das drachenähnliche Wesen, kaum größer als ein durchschnittlicher Retriever, trat langsam aus seinem Versteck. Eindeutig ein Gargoyle. Sie hatte sich nicht getäuscht.

Sein schwarzer Kopf mit den großen hellgrünen Kulleraugen schwenkte nach rechts und fixierte etwas, das sie von ihrer Warte aus nicht sehen konnte. Dann guckte er direkt zum Dachfenster und ließ ein tiefes Wimmern hören. Noch ein Schwenk nach rechts. Und wieder zurück. Sein Blick glitt mehrmals hin und her. Als wüsste er nicht, was er jetzt tun sollte. Nelly hatte gelesen, dass seine Art sich nur in der Nacht herumtreiben konnte und sich in Stein verwandelte, sobald die Sonne sie berührte. Sie blickte Richtung Hügel, hinter dem der helle Himmelskörper in Kürze aufgehen würde. Der Gargoyle tat es ihr nach und gab erneut ein kehliges Wimmern von sich. Sie hob ihre rechte Hand an und drückte sie auf die Fensterscheibe. Ihr Besucher schlich tief geduckt zu ihr hin. Flügel und Schwanz eng an den schuppigen Körper gepresst, um sie nicht zu verschrecken. Er balancierte auf einem dicken Ast bis ans Fenster, hob dort seinen Kopf und den linken Vorderlauf zugleich an. Langsam, zaghaft. Nellys Herz geriet für einen Moment aus dem Takt. Weniger aus Angst, denn aus Aufregung. Er guckte sie direkt an und legte eine schwarze Tatze von außen genau an die menschliche Handfläche. Das entlockte ihr ein Lächeln. Der Gargoyle wollte diese Mimik offenbar nachmachen, aber das Ergebnis sah durch die spitzen Zähne eher furchteinflößend als freundlich aus.

»Was machst du da?«, schallte die genervte Stimme ihrer Mutter von der Treppe her. Nelly zog hastig ihre Hand weg und drehte sich zur Tür. »Nichts.«

»Nichts, so so.« Ihre Mutter stakste eilig durch den kleinen Raum und linste zum Fenster hinaus. Nelly erwartete einen Schrei, doch sie vernahm nur ein gereiztes Seufzen. War der Gargoyle weg? Sie drehte sich zum Fenster und sah wie zuvor sein schuppiges, schwarzes Gesicht. Natürlich. Abgestumpfte Erwachsene konnten übernatürliche Wesen nicht sehen. Erleichtert und auch belustigt grinste sie zum Fenster. Das Wesen legte den Kopf schief. Nelly interpretierte es als Geste für Ratlosigkeit.

Sie wandte sich wieder zu ihrer Mutter, die sich etwas pikiert in dem Raum umsah. Offensichtlich gefiel der modernen Karrierefrau das altbackene Interieur nicht. Nelly setzte eine unschuldige Miene auf und rieb sich die Unterarme. »Ich kann nicht schlafen.«

Der fleischgewordene Wasserspeier vor dem Fenster richtete sich auf und beäugte das verquollene Gesicht ihrer Mutter. Die dunklen und vor allem tiefen Augenringe vermochte der beste Abdeckstift der Welt nicht zu kaschieren.

»Ich kann auch nicht schlafen, deinetwegen«, antwortete sie mit eisigem Tonfall. Der Gargoyle brachte sein Gesicht draußen vor der Glasscheibe ganz nah an ihres. Er hockte sich auf die Hinterbeine und verschränkte die Vorderläufe vor der Brust. Dabei guckte er grimmig und bleckte die Zähne. Nelly sah ihm fasziniert zu.

Ihre Mutter fuhr fort: »Ist dir eigentlich klar, was du uns mit deinem Starrsinn antust?« Sie rollte genervt mit den Augen und seufzte tief.

Der Gargoyle äffte sie nach. Er plapperte erst lautlos vor sich hin, verdrehte dann die Augen nach oben und seufzte zum Schluss theatralisch. Naja, es klang eher wie Grunzen als Seufzen. Nelly unterdrückte ein Grinsen.

»Wir werden so oder so umziehen, ob du nun willst oder nicht.« Sie reckte das Kinn kampflustig vor und strich eine blonde Haarsträhne zurück. Der Gargoyle ahmte wieder Mimik und Gestik nach. Nelly spürte, wie ein Glucksen ihre Kehle hochstieg. Sie drehte sich weg, um nicht loszuprusten.

Ihre Mutter sah wohl trotzdem die zuckenden Mundwinkel. Ihre perfekt manikürten Fingernägel bohrten sich vor unterdrückter Wut tief in ihre Unterarme.

»Ich fasse es einfach nicht!«, fauchte sie und bedachte Nelly mit einem vernichtenden Blick. »Wir müssen jetzt los, den Kaufvertrag für das neue Haus unterzeichnen. Anschließend fahren wir in den Baumarkt und suchen die Bodenbeläge für Wohnzimmer und Küche aus. Danach …«, sie stockte und tippte ungehalten mit der Schuhspitze auf den Boden. »Hörst du mir überhaupt zu?« Ein wenig damenhaftes Grollen kam über ihre Lippen. »Es wird spät, dein Bruder passt auf dich auf«, zischte ihre Mutter und rauschte wutentbrannt aus dem Raum. Der Gargoyle streckte ihr die Zunge heraus. Dann ließ er bellendes Lachen hören, das wie das Husten eines Hundes klang. Nelly schlug die Hände vor den Mund, um ein Kichern zu dämpfen.

Plötzlich verrutschte sein Lachen und wich großem Kummer. Er blickte sorgenvoll zum Hügel, wo die Sonne demnächst aufgehen würde. Einen Moment später schlug er seine Flügel auf, stieß sich vom Ast ab und flog davon. Sie sah ihm hinterher. Er flatterte genau in die Richtung, in die er zuvor mehrmals gesehen hatte.

Was lag an diesem Ort?

Nelly lief zu den Sprossen am Kamin, die dem Schornsteinfeger als Aufstiegshilfe dienten. Sie hangelte sich hoch. Dort war sie schon mal raufgeklettert, daher wusste sie, wie man die Abdeckung am Dach entriegelte. Das runde Stück Blech ließ sich problemlos aufklappen. Es gab lediglich ein Quietschen von sich. Sie steckte den Kopf aus der Luke und schaute in die Richtung, in die ihr neuer Freund sich verdrückt hatte. Er flog zielgerichtet auf die alte Klosterruine zu, die auf einem Hügel mitten im Wald thronte. Das rußschwarze Gemäuer mit den leeren Fensterrahmen, die wie offene Mäuler klafften, schien sein Zuhause zu sein. Der Gargoyle steuerte die größte der Öffnungen an und verschwand darin.

Nelly überlegte, was sie jetzt tun sollte. Sie brauchte Informationen. Die kleine Bibliothek in Greenlake Hill gab diesbezüglich sicher nichts her, deshalb holte sie fürs Erste den Laptop aus ihrem Zimmer und ging wieder nach oben. In den Ohrensessel geschmiegt, begann sie mit der Recherche. Sie suchte zuerst alles über Gargoyles heraus, und danach über das halb verfallene Kloster, hinter dem sich ein moosgrüner See bogenförmig an den Hügel schmiegte. Wenigstens waren ihre Eltern aus dem Haus. Ihr älterer Bruder Cameron würde sich wie üblich in seinem Zimmer verschanzen und für die Aufnahmeprüfung an der Uni lernen. Umso besser.

Über den schuppigen Besucher gab es eine Reihe an widersprüchlichen Informationen – in einem Artikel konnten sie fliegen, im nächsten nicht. Mal verwandelten sich ihre steinernen Leiber nachts in Fleisch und Blut, mal blieben sie aus Stein und knirschten bei jeder Bewegung. Einer Legende nach beschützten sie ein Gebäude und dessen Bewohner – eine andere Geschichte erzählte von einem Schatz. Es ergab überhaupt keinen Sinn. Nelly gab trotzdem nicht auf und sammelte im Laufe des Tages Links zum Thema Gargoyles. Mittags machte sie sich ein paar Brote zurecht und suchte weiter, während sie aß.

Über das Kloster fand sie nur wenig. Es gab weder Aufzeichnungen das genaue Baujahr betreffend, noch Details zu den einstigen Besitzern. In einem Zeitungsartikel war von einer Reihe an Katastrophen die Rede. Beginnend im frühen 17. Jahrhundert bis zu einem verheerenden Brand 1892 hatte das aus Stein errichtete Bauwerk allen Bewohnern den Tod gebracht. Pest, Pocken und andere Seuchen hatten die Leute im Lauf der Zeit dahingerafft. Es hieß, das alte Gemäuer sei verflucht.

Als die Sonne unterging, fand sie endlich etwas Interessantes. In einem kurzen Artikel auf der Klatschseite des örtlichen Tagesblattes berichtete ein Mann von einem seltsamen gelben Licht in der Ruine des Klosters. Im letzten Satz stand, dass der Zeuge an schwerer Verwirrtheit leide, aber es hätte zuvor schon Berichte über das Licht gegeben. Von Kindern.

Das Zuknallen von Autotüren kündigte die Rückkehr ihrer Eltern an. Um nicht wieder mit ihnen streiten zu müssen, suchte Nelly in Windeseile die Toilette auf und begab sich danach mit einer Flasche Wasser und einer Packung Kekse sofort zurück auf den Dachboden.

Sie machte es sich im Ohrensessel bequem, platzierte den Laptop auf ihrem Schoß und durchforstete das Internet weiter nach Informationen. Die bisher entdeckten Texte ließen kaum weiterführende Schlüsse zu. Zudem blieb die Frage offen, wieso der Gargoyle nicht schon früher aufgetaucht war. Sie wohnte ihr ganzes Leben lang hier, hatte ihn aber nie zuvor gesehen.

Warum tauchte er ausgerechnet jetzt auf?

Sie überflog ihr liebstes eBook-Portal zu dem Thema und fand ein vielversprechend klingendes Buch: Die Gargoyles von Darkwood Castle. Eine Neuerscheinung, die es im Moment noch als Gratis-Download gab. Nelly lud es sogleich auf den Laptop und begann ohne Umschweife mit dem Lesen. Entgegen ihrer Erwartung wurde sie nicht von ihren Eltern gestört; jenseits der dicken Holztür blieb alles ruhig.

Leider handelte die Geschichte mehr von einem herrschsüchtigen Hexenmeister, der seinen schuppigen Begleiter zu einer Waffe formte, als von dem Gargoyle selbst. Es gab nichts Neues über die Wesen zu erfahren. Eine Enttäuschung auf der ganzen Linie. Nelly las dennoch weiter. Hauptsächlich, um das Warten bis zum Mondaufgang zu überbrücken. Sie ließ sich hinabziehen in epische Kämpfe um Land und Herrschaft in einer fremden Welt. Seite um Seite verschlang sie das Buch und merkte gar nicht, wie die Zeit verging.

Das Kratzen von spitzen Krallen auf Glas riss sie aus dem Lesefluss.


Aufbruch ins Ungewisse

 

Silbern schimmerndes Mondlicht schien durchs Fenster. Der schwarze Gargoyle saß davor. Nelly legte den Laptop beiseite und ging zu ihm hin. Ihr Herz schlug nicht ganz so wild wie bei ihrer ersten Begegnung. Schließlich schien er recht freundlich zu sein.

Sie drückte das Schiebefenster hoch und sah ihn erwartungsvoll an. Sein Blick schweifte hin und her. Von ihrem Gesicht zur Ruine am Hügel und wieder zurück. Genau wie am Vortag. Er deutete ihr mit einem Nicken, ihm zu folgen und segelte ins hohe Gras unter der Linde. Nelly verharrte unentschlossen auf der Stelle. Ihre Neugier siegte letzten Endes. Wann bekam man schon die Möglichkeit, einen Ausflug mit einem echten Gargoyle zu machen? Angespannt lauschte sie ins Treppenhaus. Alles ruhig. Mit klopfendem Herzen streckte sie ihren Kopf aus dem Fenster und sah nach unten.

»Und wie soll ich da runterkommen?«, flüsterte sie. Mehr zu sich selbst als zu ihrem Besucher. Dieser schien sie jedoch zu verstehen, denn er ging schnurstracks auf die Regenrinne zu und tippte mit seinen Krallen an das Blech. Nelly riss die Augen auf.

Das schuppige Vieh grinste – zumindest interpretierte sie es als solches – und setzte sich unweit der Hausmauer ins Gras. Prüfend betrachtete Nelly die Regenrinne, die sich vom Fenster aus in Reichweite befand. Beim Blick nach unten rebellierte ihr Magen. Der Gargoyle nickte ihr aufmunternd zu. Aus seiner Kehle ertönte ein Laut, der entfernt wie das Gurren einer Taube klang. Sie fasste sich ein Herz und kletterte hinaus auf den Fenstersims. Ein leichter Wind zerrte an ihr und Übelkeit stieg ihr hoch. Der Boden tief unter ihr schien zu verschwimmen. Sie krallte sich an den Fensterrahmen, schloss die Augen und atmete tief durch.

 

Der Abstieg über die Rinne war viel leichter als gedacht. Es bereitete ihr nicht mehr Mühe, als von einem Baum hinunter zu klettern. Unten angekommen, erhob sich der Gargoyle in die Luft und flog Richtung Ruine.

Es war unmöglich, ihm zu Fuß zu folgen, deshalb schnappte sich Nelly ihr Fahrrad, das neben der Wassertonne lehnte. Sie trat fest in die Pedale und holte ihn schon bald ein. Statt eine gerade Linie zu fliegen, lotste er sie einen schmalen Kiesweg entlang, der sich zwischen Wiesen und Pinienansammlungen durchschlängelte. Sie passierten den Waldrand. Zwischen den Bäumen war es stockdunkel und irgendwie unheimlich. Kein Mondlicht durchdrang das Geflecht aus dichten Baumkronen über dem schmalen Weg. Nelly konnte den pechschwarzen Gargoyle kaum ausmachen und orientierte sich am Hall seiner Flügelschläge. Mit dem Fahrrad konnte sie den gruseligen Bereich allerdings schnell durchqueren. Hinter dem breiten Band aus hohen Nadelbäumen tat sich eine weite, kreisrunde Fläche auf. Kahl und tot. Blanker Stein lugte hier und dort aus der staubtrockenen Erde. In der Mitte ragte ein Hügel auf, zu dem eine gewundene Straße mit steil abfallenden Rändern führte. Auf dessen Spitze thronte ein verfallenes Kloster. Es strahlte Kälte und Boshaftigkeit aus. Als lauerte etwas darin, das sie beobachtete. Der einzige Baum am Fuß des Hügels sah tot aus. Abgestorben.

Der Weg wand sich leicht ansteigend und endete dicht vor dem Gemäuer an einer kurzen steinernen Treppe. An deren Fuß landete der Gargoyle und ging auf allen Vieren weiter. Nelly hielt keuchend an. Sie legte das Rad neben der untersten Stufe auf die Erde, beugte sich vor und stützte ihre Hände an den Knien ab.

»Ich krieg …«, presste sie mühsam hervor, »… keine Luft.«

Während Nelly um Atem rang, setzte sich ihr schuppiger Begleiter auf einen bemoosten Baumstumpf und beäugte sie neugierig.

Sie richtete sich nach einer Weile auf und musterte das vom Brand geschwärzte Bauwerk. Tiefe Risse durchzogen die uralten Steine. Trockener Efeu wucherte vom Boden bis knapp unter die Fenster. Das Dach fehlte und von der Existenz des Dachstuhls zeugten nur noch verkohlte Reste von Balken, die wie schwarze Rippen in den Himmel ragten. Seltsam. Man sollte denken, Wind und Wetter hätten die Überreste längst verfaulen lassen.

Der rechteckige Bau verfügte über zwei Etagen. Am linken Ende schraubte sich ein gewundener Turm in die Höhe. Ganz oben brannte Licht. Der gelbe Schein sah unnatürlich aus. Er waberte wie eine Wolke aus dem schmalen Fenster und änderte ständig seine unregelmäßige Form, statt konstant zu bleiben. Als besäße er ein Eigenleben.

Der Gargoyle gab ein maunzendes Geräusch von sich und deutete ihr mit dem Kopf, hinein zu gehen. Er sprang leichtfüßig die wenigen Stufen hoch und machte vor dem Eingang des Gemäuers halt. Nelly folgte ihm langsam und sah sich aufmerksam um. Der gigantische Torbogen wies unzählige tiefe Kerben und abgeplatzte Steine auf. Stumme Zeugen eines lang zurückliegenden Kampfes. Verunsicherung machte sich in ihr breit und sie unterdrückte den Instinkt, vom Gebäude wegzulaufen. Der modrige Geruch eines selten gelüfteten Kellers sickerte aus dem düsteren Inneren der Ruine. Im schwachen Mondlicht, das durch die leeren Fensteröffnungen drang, entdeckte sie nichts als verbrannte Wände, rissigen Untergrund und herabgefallene Steine und Balkenreste. Am hinteren Ende befanden sich die kläglichen Überreste einer Treppe. Der größte Teil davon war eingestürzt und lag als loser Haufen schwarzer Steinbrocken am Boden.

»Ich gehe da auf keinen Fall rein«, flüsterte Nelly und warf ihrem Begleiter einen mahnenden Blick zu. Er machte einen Schritt zurück und grunzte. Ehe sie bemerkte, was er da tat, platzierte er sich hinter ihrem Rücken und schubste sie hinein.

Ein Schrei bahnte sich seinen Weg, doch was sie im Inneren des verfallenen Gemäuers erblickte, raubte ihr den Atem. Nur ein leiser Hauch entwich ihrer Kehle. Der gelbe Schein, der sich auch oben aus dem Turm wölbte, stieg zu ihren Füßen hoch und breitete sich ringförmig nach vorne aus. Er glitt wie eine Welle über den Grund und verhalf allem, was er berührte, zu neuem Glanz. Nelly wagte nicht, sich zu rühren und starrte nur staunend um sich. Die rissigen schwarzen Steinplatten am Boden verwandelten sich in eine ebene Fläche hellgrauen, glänzenden Marmors, wie frisch poliert. In der Mitte erschien ein langer Läufer aus dickem, bordeauxfarbenem Samt. Der schmale Teppich führte zu der halb eingestürzten Treppe. Als der Ring aus Licht sie erreichte, schwebten die Bruchstücke entgegen der Schwerkraft zurück an ihren ursprünglichen Platz und fügten sich wieder zu einem Ganzen zusammen. Binnen weniger Augenblicke erstrahlten die weißen Stufen wie neu. Die gelbe Welle brandete die Wände hoch und brachte prunkvolle Malereien auf grauem Granit hervor. Unzählige Wandfackeln erschienen in ihren Halterungen, als wäre es nie anders gewesen. Das Licht schwappte weiter nach oben und offenbarte eine Kuppel, welche an die filigranen Gewölbe von gotischen Kirchen erinnerte. Am höchsten Punkt zog sich der Ring zusammen und verschlang sich selbst. Der unverkennbare Duft von frisch gepflücktem Lavendel und Salbei erfüllte plötzlich den Raum.

»Wie um alles in der Welt …?«

Der Gargoyle ließ sein bellendes Lachen hören und huschte zur Treppe. Das Klacken von Krallen auf Marmor hallte von den hohen Wänden, bis er den Teppich erreichte. Der dicke Stoff schluckte sämtliche Geräusche.

»Du hast mich geschubst«, stellte sie fest und guckte ihn tadelnd an. Er zuckte die Schultern und trippelte die Stufen hoch. Nelly lief hinterher. Er bog an einem Absatz der Treppe ab, der im rechten Winkel in einen langgezogenen Gang führte. An dessen Ende tat sich ein kreisrunder Platz auf. Nelly lugte zaghaft hinein.

In der Mitte lag ein alter Mann mit langem, weißem Haar und wettergegerbtem Gesicht auf den blanken Fliesen. Der buschige Bart reichte dem faltigen Greis bis an den Bauchnabel. Er trug eine bodenlange graue Robe aus rauen Fasern, die ziemlich kratzig aussah und an Kutten von Mönchen erinnerte. Die Handgelenke des Alten lagen in dicken Eisenschellen, die ihn mit Ketten am Boden fixierten. Der Gargoyle stieß ein markerschütterndes Wimmern aus.

»Dragana?« Die krächzende Stimme des Alten klang erschöpft. »Hast du jemanden gefunden, der den Schlüssel sehen kann?«

»Dragana«, hauchte Nelly. Offensichtlich also ein Weibchen.

Das Schuppenvieh tapste langsam zu dem Alten und setzte sich neben seine Mitte. Es folgte eine ganze Reihe kehliger Laute. Der Greis drehte den Kopf ein wenig zur Seite und sog bei Nellys Anblick erschrocken die Luft ein.

»Bist du verrückt geworden?«

Die Antwort war ein Grunzen und ein paar Geräusche, die an einen kotzenden Hund erinnerten.

»Was soll ich mit einem Mädchen? Ich brauche einen erfahrenen Magier.«

Die schwarze Gargoyle rollte mit den hellgrünen Augen und würgte eine Abfolge an Maunzen und Prusten hervor.

»Ja, ja. Ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden.«

Dragana klopfte mit den Krallen auf die grauen Fliesen, schlug unwirsch mit den Flügeln und legte den Kopf schief.

»Und wie willst du das machen?«

Nelly spürte Wut in sich hochsteigen. Wie immer, wenn andere in ihrer Anwesenheit über sie redeten als wäre sie gar nicht da. Wie ihre Eltern. Die Gargoyle antwortete dem am Boden liegenden Greis mit einer Mischung aus Kotzgeräuschen und Schmatzen.

Nelly ballte die Fäuste und ging zu den beiden hin. Der alte Mann mit dem langen weißen Bart drehte den Kopf ächzend zu ihr. Neben seiner Schulter lag eine zerknüllte Augenbinde.

Sie guckte den Mann mit dem ausgezehrten blassen Gesicht und Dragana abwechselnd an und zog fragend die Brauen hoch. »Kann mir mal jemand sagen, was hier los ist?«

Dragana hockte sich auf die Hinterbeine, gestikulierte wild mit den Vorderläufen und plapperte mittels kehliger Laute drauf los. Sie spuckte und sabberte bei ihrem Versuch, die Lage zu schildern. Nelly hob abwehrend ihre Hände, um den Redefluss der Gargoyle zu stoppen.

»Halt. Ich verstehe kein Wort.« Sie beugte sich über den weißhaarigen Mann. »Warum sprechen Sie nicht mit mir, das wäre wesentlich einfacher.«

Dragana hielt sich mit den Vordertatzen die Ohren zu und schüttelte den Kopf.

»Er kann mich nicht hören«, mutmaßte Nelly. »Aber dich. Du kannst meine Fragen für mich stellen.«

Die Gargoyle nickte.

»Also gut. Warum liegt der Mann angekettet am Boden und wie kann ich ihm helfen?«

Dragana übersetzte mit ihrem ganzen Repertoire an Lauten und der Alte antwortete: »Ich wurde überfallen … die Chroniken des Ordens wurden gestohlen. Diese unschätzbar wertvollen Aufzeichnungen dürfen nicht in die falschen Hände geraten.« Er musste husten. »Jemand hat mir die Augen verbunden und mich in Ketten gelegt.«

»Warum sieht das Kloster von außen wie eine Ruine aus?«

»Weil zu meinem Schutz ein Zauber auf dem Gemäuer liegt. Er soll Eindringlinge abwehren. Das gelingt meistens, aber es gibt Wesen, die Magie durchschauen können.«

»Wo ist der Schlüssel zu den Eisenfesseln?«

Dragana übersetzte nicht, sondern stand auf und zockelte Richtung Treppe. Nelly ging hinterher. Ratlos, aber sehr neugierig.

Im Erdgeschoss gab es noch eine andere Treppe. Die hellgrauen Stufen aus Stein führten spindelförmig nach unten, tief in die Erde hinein. Sie spürte beim Abstieg Nervosität in sich aufsteigen. Vermischt mit dem mulmigen Gefühl, geradewegs in eine Falle zu tappen. Das Bedürfnis, sofort umzukehren, nahm mit jedem weiteren Schritt zu. Was wusste sie schon groß über den Alten, der oben in Eisenketten lag? Über die Gargoyle an ihrer Seite? Über das verwitterte Kloster, auf dem ein Zauber lag?

Als sie dachte, es keine einzige Minute länger auszuhalten, erreichten die beiden den Fuß der Treppe in einem kleinen, runden Raum. In der Mitte stand eine hüfthohe rechteckige Kiste aus Metall. In der matt silbernen Truhe lagen Schlüssel in sämtlichen Größen, Formen und Materialien. Von modernen Hausschlüsseln, über kunstvoll geschnitzte Exemplare aus Holz bis hin zu einfachen Bartschlüsseln. Es mussten tausende sein. Ach was, zehntausende! Sie sog vor Entsetzen scharf die Luft ein.

»Wie soll ich denn da jemals den richtigen finden?«, murmelte sie verdattert. Selbst wenn sie alle mit nach oben nehmen könnte, was alleine schon wegen des enormen Gewichts unmöglich war, müsste sie jeden einzelnen ausprobieren. Das würde Wochen dauern. Sie setzte sich auf die unterste Stufe der Treppe und legte den Kopf in ihre Hände.

»Was soll ich nur tun?«

Die Gargoyle schlenderte zur Truhe und richtete sich auf. Sie bedeckte mit einer Tatze ihre Augen und fuhr mit der anderen suchend durch die Schlüssel. Dann nickte sie Nelly auffordernd zu.

»Und jetzt?«

Dragana ging zu ihr, schnappte mit den Zähnen vorsichtig den Ärmel ihres Shirts und zog daran. Nelly ließ sich widerstandslos zur Truhe zerren.

»Was willst du?«

Die Gargoyle hielt sich erneut die Augen mit einer Tatze zu und tappte mit der anderen über die Schlüssel. Danach stupste sie Nelly mit der Nase an. Als wollte sie sagen: Jetzt du.

Nelly kam sich blöd vor, doch tat wie geheißen. Sie bedeckte ihre Augen und steckte die freie Hand in die Truhe. Statt nur die verschiedenen Materialien der Schlüssel unter ihren Fingerspitzen zu spüren, sah sie bei jedem einzelnen das dazugehörige Schloss vor ihrem inneren Auge. Sie wich rasch zurück und guckte ihre schuppige Begleiterin fassungslos an. Diese nickte freudig, was mit seitlich heraushängender Zunge ziemlich albern aussah.

»Das ist … irre.«

Nelly versuchte es gleich nochmal. Sie fasste anscheinend mehrere Schlüssel gleichzeitig an, denn sie sah verschiedene Schlösser, aber keines davon zur Gänze. Sie nahm bewusst einen der Schlüssel in die Hand und hob ihn hoch. Jetzt war es besser. Nelly probierte einen nach dem anderen aus. Sie sah Schlösser von silbernen Kisten, filigranen Bronzeschatullen, hölzernen Türen und eisenbeschlagenen Toren. Ihre tastenden Finger wanderten dabei unbewusst nach rechts. Im zweiten Drittel der oberen Schicht angelangt, verspürte sie plötzlich ein seltsames Kribbeln wie von Elektrizität an den Fingerspitzen. Sie tauchte ihre Hand einem Bauchgefühl nachgebend tief in die Masse an Schlüsseln. Das Gefühl verstärkte sich. Sie bohrte ihre Finger noch weiter hinein, obwohl ihr die teils scharfkantigen Metallschlüssel die Haut aufritzten. Mit einem Mal sah sie ein Detail. Die Rundung der Eisenschellen, mit denen der alte Mann im Obergeschoss gefesselt war. Sie umklammerte den dazu passenden Schlüssel und zog ihn mit zusammengebissenen Zähnen heraus. Rote Schrammen verunzierten ihre Hand, doch sie spürte die Schmerzen nicht und stieß einen Freudenschrei aus. Dragana ließ ein schmatzendes Glucksen hören.

»Ich hab ihn«, trällerte Nelly überschwänglich und lief sofort die Treppe hoch. Sie flog die letzten Stufen zum Obergeschoss von Euphorie durchflutet förmlich hinauf. Die beiden rannten durch den schmalen Flur. Dragana blieb ihr dabei dicht auf den Fersen. Nelly rief noch einmal: »Ich hab ihn!«

Erst als sie die reglose stille Gestalt des weißhaarigen Mannes in der seltsamen Robe sah, fiel ihr wieder ein, dass er taub war. Die Gargoyle gab eine Reihe merkwürdiger Laute von sich. Der an den Boden gekettete Greis regte sich. »Wie?«

Dragana erläuterte, ihrem langen Monolog nach zu schließen, die genaue Vorgehensweise recht detailreich. Nelly erlöste in der Zwischenzeit den Alten von seinen Fesseln.

Er richtete sich stöhnend in eine sitzende Position auf.

»Vielen, vielen Dank.«

Seine Stimme klang trotz der freundlichen Worte irgendwie verbittert. In seinen trüben Augen konnte sie eine uralte Traurigkeit ablesen. Sie half ihm hoch und dachte, dass er bestimmt wegen der gestohlenen Chroniken so niedergeschlagen war. Warum sonst sollte er dermaßen unglücklich sein, statt sich über die wiedergewonnene Freiheit zu freuen?

Der hagere Greis, dessen eckige steife Bewegungen von der Zeit der Reglosigkeit in Fesseln zeugte, führte Nelly unter gelegentlichem Stöhnen hinunter zum Torbogen und sagte dort feierlich: »Hab Dank für deine Hilfe, das werde ich dir nie vergessen.«

Er wollte sie offenbar nach Hause schicken.

Dragana war anderer Ansicht. Die schwarze Gargoyle baute sich vor den beiden auf und versperrte den Durchgang. Sie faltete ihre Flügel zu voller Größe auseinander und verschränkte die Vorderläufe mit einem dumpfen Knurren vor ihrer Brust. Die nachfolgende Schimpftirade, die aus Grunzen, Grollen und Knacklauten bestand, galt dem weißhaarigen Mann. Sie fixierte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Ihre Ohren lagen eng am Kopf an. Er ließ sie wettern. Als sie fertig war, wedelte er beruhigend mit den Händen.

»Schon gut, du hast ja Recht.« Seine tiefe Stimme klang jetzt angenehm und freundlich. Er wendete sich Nelly zu. »Wenn du das Tor durchschreitest, wirst du alles vergessen. Dieses Gemäuer«, er vollführte eine ausladende Handbewegung, »Dragana … und natürlich unsere Begegnung.«

Nelly wich einen Schritt zurück in die Eingangshalle. Sie wollte die seltsamen und wunderbaren Dinge, die sie eben erst entdeckt hatte, nicht vergessen. Sie wollte mehr erfahren und am liebsten nie wieder nach Hause gehen.

Dragana gab ihre Haltung auf, durchschritt die kurze Distanz zu dem alten Mann und öffnete ihr Maul. Sie deutete an, ihn in die Wade zu beißen. Ehe ihre kräftigen Kiefer sich um sein Bein schließen konnten, fuhr er fort: »Wenn du hierbleibst, kann ich dir den Umgang mit der Magie beibringen. Dass du Zugang zu ihr hast, steht außer Frage. Ein normaler Mensch hätte den richtigen Schlüssel in tausend Jahren nicht gefunden.« Er stockte und fixierte den Sabber am Saum seiner bodenlangen grauen Robe. Dragana ließ ein gedämpftes Grummeln hören und stupste ihn sachte mit der Schwanzspitze an.

»Aber falls du dich für diesen Weg entscheidest, kannst du nie mehr zurück.«

Nelly spürte, wie Adrenalin durch ihre Adern rauschte. Und zum wiederholten Mal in dieser Nacht fragte sie sich, ob sie träumte.

Doch die Berührung von Draganas Flügeln, als sie sich umdrehte und zu ihren Füßen legte, fühlte sich real an. Realer als der Umzug, als die Schule, als der Umgang mit ihrer Familie. Sie fühlte sich hier, in diesem merkwürdigen Gemäuer, mehr zuhause als irgendwo sonst. Es erfüllte sie mit Euphorie und spülte die Frage, wofür sie sich entscheiden sollte, fort.

»Ich bleibe hier.«

Dragana übersetzte für den alten Mann. Er sah Nelly forschend an und nickte schließlich. Die Gargoyle gab ein freudiges Glucksen von sich. Sie setzte sich auf den Boden und drückte ihre schuppige Schnauze gegen Nellys Hand.