Roger Hackstock • Energiewende

Roger Hackstock

Energie­wende

Die Revolution
hat schon begonnen

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00920-1
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Kurt Hamtil, Wien
Unter Verwendung eines Fotos von © cienpiesnf/fotolia.de
Typografische Gestaltung: Kurt Hamtil, Wien
Datenkonvertierung E-Book:
Nakadake, Wien

Inhalt

Der Klimawandel ist da

Das Ende des Ölzeitalters

Machtspiele um Energie

Die Energiewende hat begonnen

Die neue Energieversorgung

Erneuerbare Energie übernimmt Komplettversorgung

Das nächste Jahrzehnt

Was wir alle für die Energiewende tun können

Jetzt die entscheidenden Weichen stellen

Literatur

Der Klimawandel ist da

„I am here to speak for all generations to come.
Make your actions reflect your words.“
Severn Cullis-Suzuki (12 Jahre)
beim Erdgipfel in Rio de Janeiro 1992

Als Kind nahmen mich meine Eltern einmal zu einem Ausflug auf Österreichs größten Gletscher, die Pasterze am Großglockner, mit. Es war das Jahr 1966, und meine Eltern gingen in ihrer Freizeit oft wandern, da beide auf dem Land aufgewachsen waren und die Natur liebten. Ich lernte viele bezaubernde Orte in den Alpen kennen, auch den höchsten Berg Österreichs, an den ich mich noch heute erinnere. Ein vergilbtes Foto zeigt mich als dreijährigen Knaben an der Hand meiner Eltern, auf dem Gletscher stehend. Die Stelle, an der ich damals stand, gibt es heute nicht mehr. Sie liegt jetzt viele, viele Meter tiefer. Allein im Jahrhundertsommer des Jahres 2003 verlor der Eisriese sechs Meter an Höhe und 30 Meter an Länge. Im Jahr 2004 sank er weiter um mehr als viereinhalb Meter ab, in den Jahren danach um über zweieinhalb Meter. Wir fuhren damals mit der Gletscherbahn von der Franz-Josefs-Höhe hinunter zur Pasterze. Die Bahn gibt es immer noch, sie verläuft allerdings inmitten von Geröllmassen. Entlang der Strecke findet man ein verloren wirkendes Schild mit dem Hinweis, bis wohin die Pasterze im Jahr 1960 reichte. Der Gletscher ist heute Hunderte Meter davon entfernt. In geologischen Zeiträumen gemessen läuft hier eine Veränderung in ziemlich kurzer Zeit ab.

Erste Warnung vor über 100 Jahren

Menschen, die nicht an den Klimawandel glauben, weisen gerne darauf hin, dass die Menschheit seit Jahrtausenden mit Feuer und fossiler Energie hantiere und es unseriös wäre, sie jetzt deshalb für die aktuelle Änderung des Weltklimas verantwortlich zu machen. In China wird seit 2000 Jahren Kohle verbrannt, die Burmesen bohrten vor 1000 Jahren erstmals Ölquellen an. Seit dem 16. Jahrhundert wurde in England Kohle für den Hausbrand und im Gewerbe verwendet.

Die Verbrennung fossiler Brennstoffe hat tatsächlich eine lange Tradition, aber über Jahrhunderte blieb die Menge unerheblich. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreichte die Nutzung von Kohle, Öl und Gas eine Größenordnung, die den Kohlendioxidgehalt in der Atmosphäre merklich ansteigen ließ. Fast 80 Milliarden Tonnen Kohlenstoff wurden zwischen 1860 und 1960 in die Atmosphäre geblasen. Von 1960 bis 1990 waren es nochmals 80 Milliarden. Ebensoviel kam zwischen 1990 und 2005 hinzu. Wofür wir früher 100 Jahre gebraucht haben, brauchen wir heute 30, mittlerweile sogar weniger als 15 Jahre. Und wir beschleunigten in den letzten Jahren weiter. Das Carbon Dioxide Information Analysis Center des U.S. Department of Energy meldete im Jahr 2006 erstmals die Überschreitung von acht Milliarden Tonnen Kohlenstoff pro Jahr, die neu in die Atmosphäre geblasen wurden. Im Jahr 2011 waren es bereits über neun Milliarden Tonnen. 2012 war erstmals eine Verlangsamung des Anstiegs zu beobachten. Die Treibhausgas-Emissionen lagen laut der niederländischen Umweltagentur PBL und des europäischen Forschungszentrums JRC um knapp ein Prozent über dem Vorjahr. Das war weniger als die Hälfte des jährlichen Anstiegs im vergangenen Jahrzehnt. Ob es sich dabei um eine Trendwende bei den Emissionen handelt oder sie weiterhin zunehmen, wenn auch langsamer, werden erst die nächsten Jahre zeigen.

Diese enormen Mengen an zusätzlichem Kohlenstoff in der Luft bleiben nicht ohne Wirkung. Der erste, der dies bemerkte, war der Chemiker Svante Arrhenius. Der Sohn eines schwedischen Landvermessers war ungewöhnlich begabt, bereits als dreijähriger Knabe konnte er einfache Texte lesen. Mit 22 Jahren kam er an die Universität Stockholm, um Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren. Sein Hauptinteresse galt dem Verhalten von Salzen in Wasser, diesem Thema widmete er auch seine Doktorarbeit. Er fand heraus, dass der elektrische Widerstand einer Flüssigkeit oder eines Körpers mit steigender Temperatur zunimmt. Dies hieß umgekehrt, dass es Stoffe geben musste, deren elektrischer Widerstand unter einer bestimmten Temperatur auf Null sinkt. 20 Jahre später sollte diese Erkenntnis zur Entdeckung von sogenannten Supraleitern führen, die uns vielleicht in Zukunft helfen werden, überschüssigen Strom zu speichern.

Neben den Salzen galt sein Interesse auch der Kosmologie, er saß oft stundenlang am Fenster und betrachtete den Abendhimmel über Stockholm, wobei er darüber sinnierte, wo das Leben auf der Erde wohl herkam. Dabei fielen ihm seltsame Lichterscheinungen auf, die in leuchtenden Farben über den ganzen Himmel tanzten. Diese Lichtspiele wiederholten sich in den darauffolgenden Wochen, er wurde neugierig und begann sich näher mit ihnen zu befassen. Polarlichter waren den Menschen zwar seit jeher bekannt, von der Wissenschaft aber nicht völlig erklärbar. Arrhenius begann, alle Erkenntnisse über die Atmosphäre zusammenzutragen, die damals verfügbar waren. Dabei fiel ihm auf, dass jedes Jahr eine steigende Menge Kohlendioxid in der Luft gemessen wurde. Diese konnte nur von Vulkanausbrüchen stammen, so folgerte er, und aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Holz durch die Menschen. Je mehr Daten er über Kohlendioxidemissionen zusammentrug, desto klarer wurde das Bild, das sich ihm bot. „Wir blasen unsere Kohlenminen in die Luft“, fasste er die Situation in einem Artikel im Jahr 1896 zusammen, „dies könnte den Planeten derart aufheizen, dass es jenseits aller menschlicher Vorstellung liegt.“

Diese frühe Warnung vor einem von Menschen verursachten Klimawandel verhallte jedoch ungehört. Man hatte noch keine Vorstellung vom Ausmaß der Veränderung, die ein weiterer Anstieg der Emissionen mit sich bringen würde. Selbst Arrhenius meinte, der menschliche Einfluss auf den Treibhauseffekt könne womöglich sogar positive Seiten haben: „Der Anstieg des Kohlendioxids wird zukünftigen Menschen erlauben, unter einem wärmeren Himmel zu leben.“ Arrhenius’ Zeitgenossen sahen daher keine Veranlassung, sich eingehender mit dem Problem zu beschäftigen. Die vielen kritischen Reaktionen auf seinen Artikel, vor allem von Kollegen aus der Wissenschaft, führten schließlich dazu, dass er das Thema fallen ließ und seine Aufmerksamkeit wieder der Chemie zuwandte. Mit der Theorie der elektrolytischen Dissoziation, für die er 1903 den Nobelpreis für Chemie erhielt, ging er später in die Geschichte ein. Seine frühen Erkenntnisse rund um den Klimawandel gerieten dagegen in Vergessenheit.

Der von Arrhenius beobachtete Trend steigender Kohlendioxidemissionen setzte sich auch in den darauffolgenden Jahren fort. Die industrielle Revolution erforderte Unmengen an Kohle, die immer schneller zu Tage gefördert und in Dampfloks und Fabriken verbrannt wurden. Im Jahr 1896, als Arrhenius seinen Artikel veröffentlichte, konnten sieben Bergleute bis zu 600 Tonnen Steinkohle im Jahr abbauen, vier Jahre später brauchte man nur noch zwei Bergleute dafür. Im Jahr 1900 wurde bereits zehnmal so viel vom „schwarzen Gold“ gefördert wie 50 Jahre davor. Kohle war der Motor des Fortschritts und deckte 90 Prozent des damaligen Brennstoffbedarfs.

Ein englischer Kohleingenieur und Amateurmeteorologe, dem Arrhenius’ Überlegungen in die Hände gefallen waren, begann sich erneut für die Auswirkungen der Kohleverbrennung auf die globale Temperatur zu interessieren. In seinem Haus im englischen Ort Sussex trug Guy Stewart Callendar alle weltweit gemessenen Kohlendioxidwerte der vergangenen 100 Jahre zusammen, deren er habhaft werden konnte. Als er die Zahlenkolonnen verglich, stellte er eine stetige Zunahme der Emissionen über den gesamten Zeitraum fest. Auch die Temperatur der Atmosphäre hatte sich in den 100 Jahren verändert, es wurde langsam immer wärmer. Er veröffentlichte seine Erkenntnis im Jahr 1938 im Quarterly Journal of the Royal Meteorological Society, wo sie allerdings auf empörte Ablehnung stieß. Für die kritischen Kollegen der Royal Society waren die Ergebnisse nicht aussagekräftig genug, um ihm zu glauben. Die zusammengetragenen Messergebnisse waren aus ihrer Sicht lückenhaft und zum Teil widersprüchlich. Die Forscherkollegen sahen jedoch keine Notwendigkeit, der Sache mit weiteren wissenschaftlichen Arbeiten auf den Grund zu gehen.

Der weltweite Kohlendioxidausstoß lag damals bei 4500 Tonnen pro Jahr, ein Zweimillionstel des Ausstoßes von über neun Milliarden Tonnen im Jahr 2011. Der Klimawandel war zu Zeiten Callendars kein vordringliches Forschungsthema, seine Theorie der Erderwärmung fand nur wenige Anhänger. Die Wirren des Zweiten Weltkriegs führten schließlich dazu, dass eine warnende Erkenntnis um den Zustand der Atmosphäre für längere Zeit in Vergessenheit geriet.

Die Keeling-Kurve

Ab den 1930er Jahren waren riesige Erdölvorkommen im Nahen Osten entdeckt worden. Die üppig sprudelnden Quellen bedeuteten nicht nur für Saudi-Arabien, Kuwait, Iran und den Irak den Beginn eines neuen Zeitalters. Die Ölfunde hatten unvorstellbare Ausmaße, eine fast unendliche Menge billigen Erdöls für die ganze Welt schien auf Jahrzehnte gesichert. Allein das 1948 entdeckte Erdölfeld Ghawar, das größte der Welt, liefert bis heute etwa sechs Prozent der Weltölförderung. Damit wurde die Kohle als wichtigste Energiequelle endgültig durch Erdöl abgelöst. Die Folge war ein rasanter Anstieg des weltweiten Energieverbrauchs, der den industrialisierten Ländern den Weg in die Konsumgesellschaft ebnete.

Über die Folgen dieser Entwicklung auf das Weltklima machte sich damals niemand Gedanken. Auch Charles David Keeling nicht, der in den 1950er Jahren begann, Messreihen des Kohlendioxidgehalts der Luft an verschiedenen Orten zu sammeln. Der aus Pennsylvania stammende Chemiker war einfach versessen darauf, Kohlendioxid zu messen. „Er misst es schon sein ganzes Leben lang. Sehr zielstrebig denkt er nur über dieses eine Problem nach. Er ist sturer als alle Wissenschaftler, die ich je kennenlernte“, meinte sein Chef Roger Revelle gegenüber dem Wissenschaftsjournalisten Jonathan Weiner, der ihn am Scripps Institute of Oceanography besuchte. Weiner recherchierte gerade für sein Buch Die nächsten 100 Jahre – Wie der Treibhauseffekt unser Leben verändern wird und wollte den Ursprung des heutigen Wissens über Treibhausgase und ihre Wirkung aufspüren. Das Buch war mir 1992 in die Hände gefallen, es war mein erstes über den Klimawandel und hinterließ einen nachhaltig tiefgreifenden Eindruck bei mir. Ich war gerade das erste Mal Vater geworden und machte mir Gedanken über die Welt, die wir unseren Kindern hinterlassen. Weiner beschrieb auf eindrucksvolle Weise, welche Folgen ein weiter ungehemmter Ausstoß von Kohlendioxid auf das Klima haben würde. Ich war erschüttert und beschloss, meinen persönlichen Beitrag dazu so weit wie möglich zu verringern. Diese Haltung ist mir bis heute geblieben, was immer wieder zu amüsanten Begebenheiten führt. Ich kann mich noch gut an die Irritation der Firmenchefs einiger Solarunternehmen erinnern, als ich sie, als Geschäftsführer ihres Branchenverbandes, zum ersten Mal in ihrem Unternehmen besuchte. Sie mussten mich vom Bahnhof abholen und die letzten zwei Kilometer zu ihrem Firmenstandort irgendwo auf dem Land chauffieren, da ich ohne Auto angereist war. Ich konnte es ihren Gesichtern ansehen, dass sie nicht wussten, was sie von diesem „seltsamen Menschen“ halten sollten, der als Geschäftsführer mit Zug und Bus angereist kam.

Weiner hätte diese Haltung sicher gefallen – vielleicht lerne ich ihn ja einmal kennen, falls ihm dieses Buch in die Hände fällt. Für seine Recherchen sprach er mit über 100 Wissenschaftlern, um das Wissen der 1980er Jahre zum Klimawandel zusammenzutragen. In einem Labor der Berner Universität lauschte er fasziniert dem Blubbern von 12.000 Jahre alten Gasbläschen, die aus einem schmelzenden Eisbohrkern aus der isländischen Eisdecke entwichen. Auf Hawaii erklomm er das 3400 Meter hoch gelegene Mauna Loa Observatorium, wo Keeling seine Kohlendioxidmessung begonnen hatte. Mit Unterstützung von Revelle hatte Keeling ein weitläufiges Netz aus Messstationen aufgebaut, um in allen Teilen der Welt die Konzentration von Kohlendioxid gleichzeitig messen zu können. Jedes Jahr landeten mehr als 6000 Flaschen mit Luftproben aus Alaska, Samoa, den Weihnachtsinseln, Neuseeland und dem Südpol in Keelings Labor. Er hatte ein neues Gerät zur Gasanalyse entwickelt, das es ermöglichte, den Anteil von Kohlendioxid auf Millionstel Teile genau zu bestimmen. Der Prototyp wurde im März 1958 am Hang des Vulkans Mauna Loa aufgestellt. Das Gerät ist immer noch in Betrieb und zeichnet bis heute jeden Tag die Konzentration des Treibhausgases in der Luft auf, genau wie alle anderen Messapparate rund um die Welt.

Ein Jahrzehnt lang beobachtete Keeling, wie der Gehalt von Kohlendioxid in der Luft jedes Jahr um einen Teil pro Million zunahm. Das Erstaunliche war die gleich große Zunahme überall auf der Welt, egal woher die Luftprobe stammte. Im nächsten Jahrzehnt erhöhte sich die Zunahme auf eineinhalb Teile pro Million. Die zentrale Frage für Keeling war, ab wann man bei einer solchen Entwicklung gesichert von einem eindeutigen Trend sprechen können würde. Saul Price, ein amerikanischer Wetterforscher, schildert seine Erfahrung dazu: „Wie soll man sicher sein, dass die verdammte Sache nicht nach zwei oder drei oder vier Punkten wieder umkehrt? Was ergibt einen Trend? Erst nach ziemlich langer Zeit – vielleicht nach zehn Jahren – sind Sie sicher, dass Sie sich mit etwas Realem befassen. Trotz der enormen Schwankungen auf der ganzen Welt, in der Atmosphäre, der Biosphäre und der Hydrosphäre, zeigt sich der Gesamteffekt noch immer, Jahr um Jahr um Jahr. Schließlich rufen Sie: ,Mein Gott!‘“

Keeling wurde mit der Zeit neugierig herauszufinden, wo die Ursache für die kontinuierliche Zunahme lag. Er hatte eine Vermutung und machte sich auf den Weg nach New York, um die Bibliothek der Vereinten Nationen aufzusuchen. Dort blätterte er in den Statistischen Jahrbüchern, wo er seine Überlegung bestätigt fand. Seine Messergebnisse zeigten eine verblüffende Ähnlichkeit mit der Zunahme der weltweit geförderten Mengen an Öl, Gas und Kohle im jeweiligen Jahr. Die Statistiken reichten zurück bis ins 19. Jahrhundert, als seine Urgroßeltern noch lebten. Keeling nahm ein Blatt und zeichnete eine Kurve, die den Verlauf des Kohlendioxidausstoßes seit 1850 aufzeigte. Diese von Hand gezeichnete Grafik hängt noch heute im Gang seines Büros, wie Weiner berichtet.

Unübersehbar zeigt die Linie der mehr als 100 Jahre zurückreichenden Entwicklung einen eindeutigen Trend. Die Emissionen folgen einer exponentiellen Kurve, die sich immer steiler nach oben fortsetzt. Diese sogenannte Keeling-Kurve wurde zum Sinnbild des Treibhauseffekts und zum wichtigsten Symbol für die Erklärung der Erderwärmung. Im Jahr 2001 wurde Keeling dafür die Nationale Wissenschaftsmedaille verliehen, die höchste Wissenschafts-Auszeichnung der USA. In den Jahren davor hatte der Süden des Landes die Auswirkungen des Klimawandels bereits schmerzhaft zu spüren bekommen.

Auf einmal spielt das Wetter verrückt

Im Sommer 1988 waren die US-amerikanischen Klimaforscher von Kameras nur so umringt. Seit Wochen lag eine drückende Hitze über New York City, das Thermometer war an 32 Tagen auf über 30 Grad geklettert. Es war das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1850. Bereits im Jahr 1981 hatte eine Hitzewelle den Rekord der letzten 100 Jahre gebrochen. Zwei Jahre später folgte ein noch heißeres Jahr, 1987 dann der nächste Rekord. Im November 1987 gab es erstmals öffentliche Hearings mit Politikern über die globale Erwärmung und den Treibhauseffekt. Präsident Ronald Reagan ließ sich im Juli in einem Maisfeld in Illinois fotografieren, die Halme reichten ihm gerade bis zur Hüfte. Die Maispflanzen hätten ihn zu dieser Jahreszeit eigentlich überragen müssen, die anhaltende Dürre hatte die Pflanzen klein gehalten. Die gesamte nordamerikanische Landwirtschaft war schwer in Mitleidenschaft gezogen, die Bauern erlebten einen historischen Notstand. Die Menschen litten und fragten sich zum ersten Mal, ob sie den Treibhauseffekt nun schon spüren konnten.

Im Juni 1988 lud eine Gruppe von Senatoren die Klimaforscher ins Capitol nach Washington, um über die Ursachen für die anhaltenden Wetterextreme zu sprechen. Ein Senator aus Louisiana eröffnete das Treffen vor versammelter Presse mit den Worten: „Wir haben mit einer Mischung aus Unglauben und Besorgnis gehört, das zu erwartende Ergebnis des Treibhauseffekts sei eine Austrocknung des Südostens und Mittelwestens. Heute ist daraus nicht nur eine Quelle der Sorge, sondern des Alarms geworden. Wir haben nur diesen einen Planeten. Wenn wir ihn zugrunde richten, bleibt uns kein Ort, an den wir gehen könnten.“ Unter den Forschern im Capitol war auch James Hansen vom Raumfahrtinstitut der NASA. Einige Jahre davor hatte er mit Kollegen Millionen von Daten über globale Temperaturen ausgewertet. Das Ergebnis zeigte eindeutig, dass die Erde heute wärmer war als in den letzten 100 Jahren. Seine Analyse gipfelte in der Aussage: „Wenn man alle Daten berücksichtigt, ergeben sie einen sehr starken Beweis dafür, dass der Treibhauseffekt entdeckt wurde und in diesem Augenblick das Klima verändert.“

15 Jahre später machte Europa eine ähnliche Erfahrung. Im Sommer 2003 wurden in Österreich so viele heiße Tage gezählt wie nie zuvor. Die Felder waren völlig vertrocknet, in den Fischteichen verendeten Hunderte Karpfen und Forellen. Die Bauern waren verzweifelt, sie mussten sich mit der halben Erntemenge zufrieden geben, die zweite Heuernte fiel in weiten Teilen des Landes komplett aus. Drei Jahre später folgte neuerlich ein Rekord, im Juli stieg die Temperatur an 17 Tagen auf über 30 Grad Celsius. Es war der heißeste Juli seit 155 Jahren. Im November zog erneut eine Warmfront übers Land und sorgte in fast allen Skigebieten für blühende Bäume und grüne Wiesen. Für eine alpine Skination wie Österreich war das eine Katastrophe. Fast alle Ski-Openings mussten abgesagt werden, viele Wintersport-Orte standen vor der Pleite, weil die Gäste ausblieben.

Die Zeitungen titelten „Winter fällt aus!“, als eine Studie von Wetterforschern für neuerliche Aufregung sorgte. Wissenschaftler aus ganz Europa hatten sich die Mühe gemacht, Tausende Wetterdaten auszuwerten, die zurück bis ins 8. Jahrhundert reichten. Sie wollten herausfinden, ob das Wetter bereits in früheren Zeiten einmal ähnlich verrückt gespielt hatte, wie wir es gerade erlebten. Das überraschende Ergebnis war, dass die europäischen Alpen gerade den wärmsten Winterbeginn seit 1300 Jahren erlebten. Die Ursache war der seit Jahrzehnten ständig steigende Ausstoß von Treibhausgasen wie Methan und Kohlendioxid, wie die Forscher feststellten. „Die Modelle deuten darauf hin, dass es in Zukunft noch wärmer wird“, prognostizierte der österreichische Klimaforscher Reinhard Böhm.

Die Zukunft folgte zwei Monate später. Normalerweise herrscht im Januar in Mitteleuropa klirrende Kälte, das einzige Vergnügen im Freien ist Eislaufen. Doch diesmal waren auf den Straßen die Gastgärten geöffnet, die die Gastwirte schnell herbeigeschafft hatten, als die Temperatur tagelang auf angenehme 18 Grad gestiegen war. Man fühlte sich wie im Frühling, selbst die Bäume fingen mitten im Winter an, erste Knospen zu zeigen. Dann fiel die Temperatur überraschend innerhalb weniger Stunden um 20 Grad, es begann zu schneien. Verdutzt stapften viele mit Halbschuhen durch den Schnee, da keiner mit einem so plötzlichen Wetterumschwung gerechnet hatte.

Das war jedoch das kleinere Problem, das die starke Temperaturschwankung mit sich brachte. Die enormen Temperatursprünge im Januar 2007 lösten den Orkan Kyrill aus, der zwei Tage lang mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 225 Kilometer in der Stunde über Europa fegte. Der gewaltige Sturm riss Dächer mit sich, legte den Flugverkehr und die Bahn lahm und führte vielerorts zu Stromausfällen. Derartige Stürme über dem Festland waren äußerst selten und entsetzten die Menschen. „Das hatten wir noch nie in Deutschland“, konstatierte der Chef der Deutschen Bahn, Hartmut Mehdorn, verblüfft. „An einen solchen Sturm in diesem Ausmaß können sich auch die älteren Bahnmitarbeiter nicht erinnern.“ Den Namen erhielt der Orkan übrigens vom Institut für Meteorologie der Freien Universität Berlin, das die zweifelhafte Ehre hat, die Wirbelstürme über Deutschland zu benennen.

Eine historische Chance wird verpasst

Die jüngsten Wetterkapriolen waren noch in frischer Erinnerung, als die Vereinten Nationen im April 2007 ihren Weltklimareport veröffentlichten. Die Wissenschaftler hatten 30.000 Messreihen ausgewertet und waren zum Ergebnis gekommen, dass der Klimawandel bereits viel weiter fortgeschritten war als bisher angenommen. Die Tagesschau des deutschen Fernsehsenders ARD brachte noch am Abend der Veröffentlichung die aufrüttelnde Nachricht: „Ganz eindeutig stellten die 2500 beteiligten Wissenschaftler fest, dass der Mensch die Schuld am Klimawandel trägt. Zwar war auch zuvor schon von Wissenschaftlern eindringlich vor den Folgen der Erderwärmung gewarnt worden, zum ersten Mal jedoch scheint es keinen Zweifel mehr an den Erkenntnissen zu geben. Zudem sind die Folgen weit dramatischer als bislang angenommen.“ Zum ersten Mal widmeten fast alle Tageszeitungen der Geschichte die ganze Titelseite. Damals dachten viele, die Gefahren des Klimawandels seien nun endlich in den Köpfen der Bevölkerung angekommen. Tatsächlich zeigten die Umfragen, dass viele Menschen bereit waren, Maßnahmen und Gesetze zu akzeptieren, die den Klimawandel wirksam eindämmten. Das Jahr 2007 wäre die ideale Gelegenheit gewesen, eine europaweite Steuer auf Kohlendioxid einzuführen, um die fossilen Energien vom Markt zu verdrängen. Nie wäre das Verständnis dafür bei Bevölkerung und Wirtschaft höher gewesen als damals. Doch die Politik verpasste diese historische Chance, das wachgerüttelte Bewusstsein für den Klimaschutz zu nutzen. Das verzeihe ich ihr bis heute nicht.

Im Jahr darauf mussten die Wetterforscher der Universität Berlin wieder einen neuen Namen finden. Anfang März 2008 wurde Mitteleuropa großflächig von spontanen Temperaturstürzen heimgesucht. Die Folge war Emma, ein Orkan begleitet von sintflutartigen Regenfällen, der die Zerstörungskraft von Kyrill noch übertraf. Überall drang das Wasser in die Keller, allein in Wien musste die Feuerwehr über 1000 Mal an einem Tag ausrücken. Wieder kam das Leben in Europa für kurze Zeit zum Erliegen, alle Transportverbindungen waren unterbrochen, die Straßen von entwurzelten Bäumen gesäumt. Kaum waren die Aufräumarbeiten einigermaßen erledigt, folgte ein unruhiger Sommer mit erneut starken Temperaturschwankungen. Hitze und Unwetter wechselten sich täglich ab, an manchen Tagen fiel das Thermometer binnen Stunden um 15 Grad. „Solche Wetterumschwünge im Sommer sind nichts Ungewöhnliches, in der Intensität war es diesmal aber doch besonders heftig“, urteilte Thomas Turecek von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien.

Er traf damit den Kern der Sache, auf den schon Jonathan Weiner hingewiesen hatte. Der Klimawandel sorgt dafür, dass Stürme stärker werden, Hochwasser höher, die Sommer heißer, der Regen geballter, die Trockenperioden länger. Die Jahreszeiten kommen durcheinander, mal gibt es Frühlingswetter im Januar, dann wieder Tropentage im September wie im Jahr 2008. Statt mildem Herbstwetter zeigte das Thermometer eine ganze Woche lang über 30 Grad, wie im Hochsommer. Es war nicht nur bei uns in Mitteleuropa so heiß, selbst in der Arktis stiegen die Temperaturen auf ein Rekordhoch. Die amerikanische Wetterbehörde NOAA meldete, dass es am Nordpol um fünf Grad zu warm war, weil in den vergangenen Jahren enorme Mengen an Eis geschmolzen waren und die Sonne dadurch das Meer stärker erwärmte.

Da immer mehr sonnenerwärmtes Wasser die Eisdecke umspült, hat eine Kettenreaktion begonnen, die den Nordpol über Jahre langsam abtaut. Keiner kann mit Sicherheit sagen, welche Folgen das aufs Weltklima haben wird, die Vermutungen der Wissenschaftler sind aber alles andere als beruhigend. Schmilzt der Nordpol, so gelangen große Mengen kaltes Süßwasser ins Meer, die an der Oberfläche nach Süden fließen, dem Golfstrom entgegen. Diese Strömung pumpt seit 10.000 Jahren gigantische Mengen warmen Meerwassers aus dem Golf von Mexiko quer über den Atlantik nach Europa. Sie ist der Grund für das milde Klima in unseren Breiten, da Europa eigentlich ziemlich weit im Norden liegt, wenn man den Erdball betrachtet. Der Golfstrom ist sozusagen die Standheizung Europas. Ohne ihn würden in Paris ganzjährig Temperaturen herrschen wie in Moskau, in London wäre Eisregen statt Nieselregen an der Tagesordnung. Trifft der warme Golfstrom auf kühles Wasser, sinkt er ab und kehrt nach Amerika zurück, wo der Kreislauf von neuem beginnt. Heute geschieht das weit, weit im Norden, oberhalb des Nordkaps. Kommt dem Golfstrom aber künftig immer mehr eisiges Schmelzwasser vom Nordpol entgegen, könnte er schon oberhalb Schottlands umkehren, sagen die Forscher. Dann würde Europa eine neue Eiszeit erleben, dagegen wären die heutigen Wetterextreme im Rückblick harmlose Unannehmlichkeiten.

Die Rekordjagd geht weiter

Den nächsten Rekordsommer lieferte das Jahr 2009. Im Juni fiel im Norden Österreichs viermal so viel Regen wie im Durchschnitt der letzten 50 Jahre. Auffallend war der viele Starkregen, in zwölf Stunden regnete es über 100 Liter pro Quadratmeter vom Himmel. Hunderte Hauskeller wurden überflutet und zahlreiche Straßen überschwemmt. Zwei Monate später folgte eine Hitzewelle, die Temperatur lag über Wochen durchgehend bei über 30 Grad im Schatten. Die Freibäder hatten Hochsaison, ebenso die Verkäufer von Klimaanlagen. Die Meteorologen verglichen ihre Aufzeichnungen und kürten den August 2009 zum heißesten aller Zeiten. Auch der Winter dieses Jahres fiel ungewöhnlich warm aus. Wieder bangten Hunderte Hoteliers bei wohligen 16 Grad Außentemperatur um den Beginn der Skisaison, die Pisten zeigten sich noch Ende November in sattem Grün. Dann wurde es endlich kalt, es begann zu schneien und alles schien wieder in Ordnung. Die Temperatur sank auf minus 24 Grad, es schien ein strenger Winter ins Haus zu stehen. Zwei Tage vor Weihnachten schnellte die Temperatur plötzlich in die Höhe, binnen 24 Stunden wurde es um sagenhafte 36 Grad wärmer. Meine Tochter saß enttäuscht am Fenster und musste zusehen, wie ihr liebevoll errichteter Schneemann bei 12 Grad plus dahinschmolz.

Und das Jahr 2010? Sie haben es erraten, es war wieder ein Rekordjahr. Diesmal wurden gleich zwei Rekorde gebrochen, wie die NASA und die amerikanische Wetterbehörde NOAA bestätigten. Es war das wärmste und niederschlagsreichste Jahr, das jemals verzeichnet wurde. Das war natürlich schwer zu überbieten, also legte das Klima im Jahr 2011 erstmal eine Pause ein. Nachdem das Wetter bis zum Sommer einigermaßen normal verlaufen war, brachte die Kronen Zeitung im August einen ganzseitigen Artikel, der von Satellitenmessungen der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA berichtete, die angeblich den Klimawandel widerlegten. Das macht die Diskussion so mühsam, wenn jede kurze Periode ohne Wetterextreme sofort genutzt wird, um den Klimawandel generell in Frage zu stellen. Die Zweifler und Skeptiker bauen dabei auf die Tatsache, dass kaum jemand sich ans Wetter des letzten Jahres oder noch weiter zurückerinnern kann. Oder war Ihnen die Häufung der oben im Zeitraffer beschriebenen Wetterextreme seit dem Jahr 2003 bewusst? Eben.

Zum Kronen-Zeitungs-Bericht über die NASA: Der NASA-Experte Roy Spencer hatte herausgefunden, dass während und nach einer Klimaerwärmung viel mehr Energie in den Weltraum entweicht, als die Klimamodelle besagen. Jede zusätzliche Erwärmung der Atmosphäre würde sofort ins All abgestrahlt, die Erde würde somit auf einer konstanten Durchschnittstemperatur gehalten, folgerte Spencer. Die Erde könne sich demnach gar nicht durch mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre erwärmen, sagten die Skeptiker. Das war natürlich Unfug, die Auswertung von Eisbohrkernen zeigt, dass seit 12.000 Jahren ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Temperatur und Kohlendioxid in der Atmosphäre besteht. Dennoch finden solche Berichte große Aufmerksamkeit, weil sie Entwarnung versprechen – nicht für die Atmosphäre, wo der Klimawandel weiter ungehindert im Gange ist. Die Beruhigung findet im Kopf der Leser und Leserinnen statt.

Vielleicht haben auch Sie sich gefragt, ob Spencer nicht vielleicht Recht hat und unser Einfluss auf den Klimawandel viel, viel kleiner ist, als wir glauben. Die Psychoanalyse hat dafür Anfang des 20. Jahrhunderts einen Begriff geprägt: Verdrängung. Damit wird ein grundlegender Abwehrmechanismus bezeichnet, durch den bedrohliche Vorstellungen von der bewussten Wahrnehmung des Menschen ausgeschlossen werden. Es ist ein Schutzmechanismus unseres Geistes, zu verdrängen, was uns Angst macht. Wir suchen nach einfachen Antworten, die das Problem kleiner und harmloser erscheinen lassen. Das Problem ist dann zwar immer noch da, belastet aber nicht mehr und man kann wieder ruhig schlafen. Am nächsten Morgen erwacht man frohen Mutes, steigt gelassen in sein Auto und trägt weiter dazu bei, pro Jahr mehr als neun Milliarden Tonnen Kohlenstoff zusätzlich in die Atmosphäre zu blasen.

Vielleicht sind Sie aber schon einen Schritt weiter. Wenn Sie der Meinung sind, der Klimawandel finde zwar statt, werde aber erst im Zeitraum von 100 oder 1000 Jahren seine volle Wirkung entfalten, dann haben Sie die nächste Stufe der Verdrängung erreicht. Sie sind sich des Problems bewusst, befürchten für sich aber keine Auswirkungen, erst die nächste Generation wird betroffen sein. In diesem Fall empfehle ich, noch einmal zu den ersten Seiten dieses Buches zurückzukehren. Können Sie sich an die Geschichte mit dem vergilbten Foto erinnern?

Hurra, wir machen Wetter!

Wird heute ein Rekordjahr verzeichnet, so übertrifft es immer alle Aufzeichnungen seit dem Jahr 1850, als die meisten Messungen begannen. Was aber war davor, hat es nicht immer schon Klimaänderungen gegeben, lange bevor wir Menschen Autos und Kraftwerke in die Welt setzten? Seit wann besitzen wir überhaupt verlässliche Daten zu Wetter und Klima? Rüdiger Glaser, ein deutscher Wetterforscher, beschäftigte sich mehr als zwei Jahrzehnte lang mit dieser Frage. Er durchforstete Dutzende Archive und Bibliotheken, wie ein Detektiv heftete er sich dem vergangenen Wetter an die Fersen. Er las mittelalterliche Wetterjournale, die von Mönchen angelegt worden waren, um die Bestellung der Felder ihrer klostereigenen Landwirtschaft zu planen. Er vertiefte sich in Schiffstagebücher von Seefahrern, um mehr über die Wetterverhältnisse im 15. Jahrhundert zu erfahren. Er fotografierte Hochwassermarken an den Stadttoren entlang des Mains, um die großen Überschwemmungen der letzten 700 Jahre zu dokumentieren.