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Marco Bode
Dietrich Schulze-Marmeling

Tradition

schießt keine Tore

Werder Bremen und
die Herausforderungen
des modernen Fußballs

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Covermotiv (Weserstadion): Carsten Heidmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Copyright © 2022 Verlag Die Werkstatt GmbH

eISBN 978-3-7307-0620-6

Inhalt

Prolog

Einleitung

KAPITEL 1

Kick it like Kahneman

KAPITEL 2

Die großen Erfolge

KAPITEL 3

Die Suche nach dem richtigen Trainer

KAPITEL 4

Verlust der Champions League und Ende einer Ära

KAPITEL 5

Crashkurs: Finanzen eines Fußballklubs

KAPITEL 6

Auf der Suche nach der VARheit

KAPITEL 7

Konsolidierung oder „Selbstverzwergung“?

KAPITEL 8

Wie bauen wir unser „Winning Team“?

KAPITEL 9

Aufbruch und Absturz

KAPITEL 10

Sportliches versus finanzielles Risiko?

KAPITEL 11

Werder muss sparen … und steigt ab

KAPITEL 12

Glück und Zufall

KAPITEL 13

Mit einem gewissen Abstand …

KAPITEL 14

In der zweiten Liga

KAPITEL 15

Fußball in der Krise?

KAPITEL 16

Blick in die Zukunft

Dank

Die Autoren

Prolog

22. Mai 2021, 00:02 Uhr

Dietrich erhält folgende Textnachricht von Marco:

„Die Zeit ist einfach verrückt geworden: Gestern wurden wir von unseren Sicherheitsleuten gebrieft, und die Polizei will bei unseren Privatwohnungen Streife fahren! Ich glaube, in Bremen würde nix passieren, aber allein die Vorstellung!“

#wirschaafendas

Es ist die Nacht vor dem 34. Spieltag der Saison 2020/21. Die Meisterschaft ist längst entschieden, aber noch ist unklar, wer den abgeschlagenen Tabellenletzten Schalke 04 in die zweite Liga begleitet. Um den sicheren Klassenerhalt auf Platz 15 und die Relegation auf Platz 16 ringen noch drei Teams: Arminia Bielefeld (32 Punkte), Werder Bremen (31 Punkte) und der 1. FC Köln (30 Punkte). Bielefeld muss in Stuttgart antreten, Köln empfängt Schalke 04. Weder für Stuttgart, geschweige denn für Schalke geht es noch um etwas. Werder spielt zuhause gegen Borussia Mönchengladbach. Für die Gladbacher hat das Spiel noch eine Bedeutung. Bei einem Sieg in Bremen und einer Niederlage von Union Berlin winkt die neue Europa Conference League.

Vor dem letzten Spieltag hat Werder den Trainer ausgetauscht. Florian Kohfeldt musste seinen Stuhl räumen. Alle Hoffnungen ruhen nun auf der Vereinslegende Thomas Schaaf.

Bielefeld gewinnt in Stuttgart mit 2:0, Köln schlägt Schalke mit 1:0, und in Bremen läuft alles schief. Werder, das in der „ewigen Tabelle der Bundesliga“ unter 56 Vereinen Platz drei belegt, steigt durch eine 2:4-Niederlage nach 41 Jahren zum zweiten Mal aus der Bundesliga ab.

Nach dem Abpfiff lassen einige Hundert Fans ihrem Frust freien Lauf. Sie fordern lautstark den Rausschmiss von Frank Baumann und der gesamten Vereinsführung. Als die Polizei eine Absperrung entfernt, stürmen einige in Richtung Zufahrtstor und versuchen, ins Stadion einzudringen. Die Polizei setzt Pfefferspray ein, wird mit Glasflaschen beworfen und nimmt anschließend zwei Randalierer fest. Später verlassen die Spieler das Stadion durch einen Hinterausgang, wo Kleinbusse auf sie warten, die sie sicher nach Hause bringen.

DIETRICH: Ich wurde nicht als Werder-Fan sozialisiert. Aber natürlich habe ich am letzten Spieltag mit Werder gefiebert. Bitte nicht ein weiterer Traditionsverein raus aus der Liga! Ich fand Werder seit Mitte der 1980er sympathisch, als sich der Verein zum Bayern-Herausforderer aufschwang. Für viele Nicht-Bayern-Fans, gleich welcher Vereinsfarbe, hatte die Saison 1985/86 ein geradezu traumatisches Finale. Am 33. Spieltag empfing Werder die Bayern im Weserstadion und hätte durch einen Sieg den Titel klarmachen können. Abgesehen von den Bayern-Fans drückte ganz Fußball-Deutschland Werder die Daumen. Ich weiß noch heute, wo und mit wem ich dieses Spiel gesehen habe. Aber dann hämmert Michael Kutzop in der 89. Minute und beim Stand von 0:0 einen Strafstoß an den Pfosten … Am letzten Spieltag verlor Werder in Stuttgart, während die Bayern Gladbach mit 6:0 aus dem Olympiastadion schossen – und nun zum ersten Mal in dieser Saison Tabellenführer waren, dank des besseren Torverhältnisses. Und natürlich Meister. Ich fand das furchtbar ungerecht. Zumal Bayerns Klaus Augenthaler im Hinspiel Rudi Völler so schwer verletzt hatte, dass dieser fast die komplette Rückrunde ausfiel und erst beim Rückspiel gegen Bayern wieder mitwirken konnte – aber auch nur für 13 Minuten.

Aber zu Deiner Textnachricht und dem Finale der Saison 2020/21: Ich habe in dieser Nacht noch länger darüber nachgedacht. Und mich gefragt: Was macht der Fußball eigentlich mit uns, den Fans, den Journalisten? Und mit seinen Verantwortlichen, den Präsidenten, Sportdirektoren, Aufsichtsräten, Trainern und Spielern? Ist das vielleicht alles eine Nummer zu groß geworden? Sind wir nicht mehr dazu in der Lage, zu akzeptieren, dass Sport Sport ist? Wer ist denn noch bereit, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, wenn dich das Fußball-Wutbürgertum im Falle des Scheiterns dermaßen an die Wand nagelt? Und die Polizei um dein Haus Streife fahren muss?

Verglichen mit einigen anderen Vereinen ging es in Bremen ja noch „harmlos“ zu. Nachdem der Hamburger SV im März 2018 beim FC Bayern eine 0:6-Klatsche bezogen hatte, stellten Fans am Zaun des Trainingsgeländes elf Kreuze auf. Dazu wurden Transparente aufgehängt, auf denen stand: „Eure Zeit ist abgelaufen! Wir kriegen euch alle!“ Und: „Bevor die Uhr ausgeht, jagen wir Euch durch die Stadt.“

Am 30. Spieltag der Saison 2020/21 unterlag Schalke in Bielefeld mit 0:1, wodurch der Abstieg der „Knappen“ besiegelt war. Bei der Rückkehr nach Gelsenkirchen wurde die Mannschaft mit massiven Aggressionen konfrontiert. Einige Spieler mussten die Flucht ergreifen. Hatten sie in Bielefeld und davor etwa extra verloren, um die Fans zu ärgern? Oder war diese Mannschaft einfach nicht gut genug für die Liga? Wird demnächst jeder, der sich in seinem Arbeitsfeld mit Besseren messen muss und dabei den Kürzeren zieht, physisch bedroht und gejagt?

Mir taten die Schalker Spieler in dieser Saison extrem leid, besonders die jungen Spieler. Die hatten doch gar keinen Spaß mehr, am Wochenende aufzulaufen. Die haben doch vor jedem Wochenende gezittert. Denn anschließend konnten nicht nur sie, sondern auch ihre Freundinnen und Freunde, Eltern und sonstige Verwandte, Nachbarn usw. im Netz lesen, was für Luschen und Versager sie seien. Ich tippe mal: 99 Prozent derjenigen, die über die Spieler herfielen, würden so etwas im eigenen Job nicht aushalten. Und auch viele Journalisten nicht.

Fußball war immer auch eine Bühne für aufgeregte und empörte Bürger, aber es ist schlimmer geworden. Manchmal denke ich: Das Spiel ist krank! Du solltest nicht mehr die Sportseiten lesen! Und dabei geht es mir nicht nur um die extremen Summen, die gezahlt werden, oder um Korruption. Es gibt Momente, in denen ich der geschlossenen Gesellschaft des US-Sports etwas abgewinnen kann. Etwas weniger Dramatik, etwas weniger Existenzängste, etwas mehr Raum für nachhaltiges Denken und Handeln.

MARCO: Ich weiß noch, dass ich eher überrascht als schockiert war über die Frage, ob es in Ordnung wäre, wenn jemand in unserer Straße ein wenig aufpassen würde. Am Ende ist ja auch gar nichts passiert, und mir persönlich sind die Menschen in Bremen zu allen Zeiten sehr freundlich begegnet. In der wirklichen Welt. Im Netz sieht das leider anders aus, da fallen immer mehr sämtliche Hemmungen. Aber das ist ein Phänomen, das es nicht nur im Fußball gibt. Wenn ich daran denke, wie mit Annalena Baerbock umgegangen wurde – wir müssen auf uns, auf unsere Demokratie und unsere Kultur aufpassen. „Rücktrittsforderungen, ‚Empörungssummsumm‘, Vernichtungslust: Die spontane öffentliche Beschämung ist Teil der Alltagskultur geworden“, schreibt die Kolumnistin Mely Kiyak in der ZEIT. Es ist nicht in Ordnung, wenn Menschen fertiggemacht werden, nur weil sie anderer Meinung sind, weil sie einen Fehler gemacht haben, oder weil sie irgendjemandem nicht gefallen.

Aber natürlich hatte ich Verständnis dafür, dass so viele Menschen traurig über den Abstieg von Werder waren, auch enttäuscht und verärgert. Und selbstverständlich habe ich mich auch mitverantwortlich gefühlt und viel darüber nachgegrübelt, welche Fehler ich und wir gemacht haben. Trotzdem habe ich versucht, alles auch ruhig einzuordnen. Im Sport lernst du schon als Kind, mit Niederlagen klarzukommen. Es tut immer weh, aber als Sportler hast du auch immer den Gedanken: Wie geht es weiter? Was muss ich tun, um wieder aufzustehen? Was kann ich lernen und besser machen? Auch wenn die Idee zu diesem Buch deutlich vor dem Abstieg entstanden ist, wollen wir uns ja auch auf eine Suche nach den Gründen für den Abstieg begeben.

DIETRICH: Mich hat in jenen Tagen noch etwas anderes sehr genervt. Und damit kommen wir zu dem Aspekt des Buches, den du ansprichst. Klar, vielleicht hätte man nur an diesem oder jenem Schräubchen drehen müssen und der Abstieg wäre vermieden worden. Werder wäre dann vielleicht 13. oder 14. geworden. Nachher ist man immer schlauer – vor allem im Fußball. Aber was mir viel zu wenig thematisiert wurde: Dass der Abstieg eine Vorgeschichte hatte. Dass man die Saison 2020/21, ja die gesamte Entwicklung des Vereins in den letzten zehn bis 15 Jahren in einem größeren Kontext sehen muss. Und dass der Abstieg auch etwas mit veränderten Rahmenbedingungen im Fußball zu tun hatte. Stattdessen nur: Dass ein Klub wie Werder, der schon viermal Deutscher Meister war, absteigt, das kann und darf doch gar nicht sein! Das geht doch gar nicht! Diese Haltung zeugt von großer Ignoranz gegenüber den Veränderungen, die die Fußballlandschaft erfahren hat. Aber auch gegenüber Vereinen wie Freiburg, Mainz oder Union Berlin, den sogenannten „Kleinen“, die einfach gut arbeiten.

Nach dem Abstieg warst Du Dir zunächst nicht sicher, ob wir das Buch noch machen sollten. Du hattest die Befürchtung, man könnte dies als Versuch einer Rechtfertigung betrachten. Ich sah dies anders. Ich dachte: Jetzt erst recht! Lass uns doch einfach mal am Beispiel Werder einen Abstieg sezieren, die Probleme von Traditionsvereinen wie Werder, Köln, Schalke oder dem HSV erörtern und der Frage nachgehen: Wie positioniere ich mich in einer sich stetig verändernden Fußballwelt, wenn ich ziemlich sicher sein kann, dass ich nie wieder Meister werde.

MARCO: Die Fragen, die du aufwirfst, haben wir ja auch schon vor dem Abstieg immer wieder diskutiert. Tatsächlich habe ich dann ein bisschen Muffensausen bekommen, weil ich befürchtete, dass alle sagen: „Jetzt will er uns erklären, was falsch gelaufen ist. Hätte er es doch gleich besser gemacht!“ Aber mir ist inzwischen klar geworden, dass ich den Mut aufbringen sollte, mich diesen Fragen zu stellen und auch so unaufgeregt wie möglich meine Zeit als Aufsichtsrat bei Werder zu reflektieren.

Dabei wollen wir neben den Themen, die du genannt hast, über den Fußball hinausdenken und uns fragen: Wie treffen wir Menschen eigentlich Entscheidungen? Und wie beurteilen wir, ob diese Entscheidungen richtig oder falsch waren? Mich interessiert immer auch die Idee hinter der einzelnen Situation.

Und schließlich wollen wir mit diesem Buch ja auch nicht nur zurückblicken, sondern auch darüber nachdenken, wie sich der Fußball in der Zukunft entwickeln wird oder entwickeln sollte. „Fairer, nachhaltiger“ vielleicht – „und auch weiblicher!“, könnte man einwenden, denn das müssen wir wohl selbstkritisch feststellen: Wir reden in diesem Buch vor allem über den Profifußball der Männer.

Einleitung

„Geld schießt keine Tore.
Es sei denn, man hat sehr viel davon!“

So hat es Jens Jeremies mal humorvoll formuliert und damit dem vielzitierten Spruch von Otto Rehhagel eine weitere Pointe gegeben. Die allermeisten Fußballinteressierten verwenden das ursprüngliche Zitat allerdings auf falsche Weise und meinen, Rehhagel habe tatsächlich behauptet, dass Geld im Fußball nicht so bedeutend sei. Das ist in mancherlei Hinsicht unwahr, weil Rehhagel erstens sehr genau wusste, dass man mit Geld gute Spieler bekommen kann und gute Spieler nun mal den Unterschied im Fußball machen. Und zweitens war der wirkliche Zusammenhang des Zitates so: Werder Bremen hatte Rudi Völler zum AS Rom transferiert, und darüber war Rehhagel sehr unglücklich. Als der Präsident Franz Böhmert ihm entgegnete, dass dafür doch eine Menge Geld eingenommen wurde, erwiderte Rehhagel eben: „Ja, aber Geld schießt keine Tore!“ und brachte damit zum Ausdruck, dass er lieber seinen besten Stürmer behalten hätte.

Dieses Buch ist ein Experiment. Auch, aber nicht nur, weil es zwei Autoren hat. Das allein ist ja auch noch nichts Besonderes, aber es hat doch Konsequenzen. Es erfordert, Entscheidungen zu treffen, wie man schreibt, wie man sich organisiert und wie man zu seinen Lesern spricht.

Hilfreich ist, wenn, wie in diesem Fall, die beiden Autoren hinreichend unterschiedlich, aber auch hinreichend ähnlich sind. Der eine war professioneller Fußballer und später Aufsichtsrat in der Bundesliga, zugegeben leider nur mit dem begrenzten Horizont eines einzigen Fallbeispiels, nämlich Werder Bremen. Der andere ist Autor von Fußballbüchern, die thematisch sehr vielfältig sind.

Der Fußball (und besonders das Fallbeispiel von der Weser) ist allgegenwärtig, und doch will dieses Buch nicht ausschließlich ein Fußballbuch sein.

Unsere Hoffnung ist zwar, dass es viele Fußballfans lesen und am Ende gnädig mit uns sein werden, wenn wir eben nicht nur liebevoll, sondern auch kritisch auf das erstaunliche Phänomen Fußball blicken. Aber unsere Hoffnung im Hinblick auf unsere Leserschaft soll noch ein bisschen weiter gehen. Und deshalb werden wir uns auch mit dem menschlichen Denken, Entscheidungen, dem Zufall, Logikrätseln, kognitiven Verzerrungen und Statistik beschäftigen.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass nicht nur die Sprache des Fußballs wunderbar geeignet ist, Ideen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen zu veranschaulichen, sondern dass es sogar zahlreiche Analogien zwischen den Ideen und Erfolgsfaktoren des Fußballs und den Ideen und Erfolgsfaktoren in der „normalen Welt“ gibt.

Wir werden hoffentlich verdeutlichen können, dass Menschen überall in ähnlicher Weise Entscheidungen treffen, Denkfehler begehen, in Teams arbeiten, den Zufall unterschätzen und (manchmal zu Unrecht) auf ihre Intuition vertrauen.

Kann ein Buch gelingen, das vielleicht selbst nicht so genau weiß, was es sein will? Stellte nicht schon Mark Twain fest: „Wer nicht weiß, wohin er will, der darf sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt.“?

Andererseits muss derjenige, der in ein Spiel geht, mit der Möglichkeit rechnen, dass er verlieren wird. Mut ist also angebracht. Und der eine Autor, der noch nie ein Buch geschrieben hat, ist ganz fest davon überzeugt, dass der andere Autor, der das schon sehr häufig getan hat, einschätzen können sollte, was wir hier getan haben.

Bevor wir im Überblick darstellen, wie dieses Buch inhaltlich strukturiert ist, soll hier noch gesagt werden, was wir mit diesem Buch nicht wollen. Das tun wir, weil auch am Beispiel Werder gezeigt werden kann, dass falsche oder zu hohe Erwartungen zu Problemen führen können.

Also, wir wollen nicht …

… den Eindruck erwecken, wir wüssten, wie alles im Fußball oder sonst wo funktioniert.

… Entscheidungen, die der eine Autor (als Aufsichtsrat) getroffen hat, rechtfertigen – eher schon unaufgeregt erklären.

… behaupten, früher sei (im Fußball) alles besser gewesen. Mit Hans Rosling1 gibt es eher viele Hinweise, dass das Gegenteil der Fall sein könnte.

… Anekdoten über Werder Bremen erzählen. Es sei denn, sie sind gut! Wir sagen das mit den Erwartungen nur, damit die Leser und Leserinnen nicht am Ende enttäuscht sind. So wie beim Fußball, wo ein genialer Pass nur dadurch genial wird, dass ein anderer Spieler im richtigen Moment in einen freien Raum hineinläuft und diesen Pass erreicht, entsteht ein „Lesevergnügen“ erst im Zusammenspiel zwischen Buch und Leser.

Gegen die „Empörungsunkultur“

Wir haben uns um einen sachlichen, unaufgeregten Stil bemüht. „Unaufgeregt zu sein“ gehört zu den Dingen, die die beiden Autoren verbindet. Beide bevorzugen eine Herangehensweise, bei der man zwei- oder dreimal auf die Dinge schaut und auch aus einer gewissen Distanz, um anschließend möglichst rational zu entscheiden oder möglichst korrekt zu urteilen.

Das Buch ist deshalb auch hoffentlich ein kleiner Kontrapunkt zur übertriebenen – manchmal geradezu hysterischen – Aufregung im und um den Fußball. Und zu der Berichterstattung über ihn, in der ständig Zensuren verteilt werden, in der von „Schuld“, „Desastern“, „Katastrophen“, „Nieder- und Untergängen“ die Rede ist. Es ist auch ein bisschen der Versuch, den Fußball, ein überdrehtes Gewerbe, vom Kopf auf die Füße zu stellen. Aber auch die Autoren sind sich nicht immer sicher, wenn es um die Frage geht, was die richtige Entscheidung wäre. Auch sie können sich von Nebengeräuschen nicht völlig freimachen.

Manchmal haben wir die Form des Gesprächs gewählt. Denn große Teile des Buches entstanden im direkten Dialog. Wir trafen uns im Weserstadion, sprachen manchmal über vier Stunden miteinander und ließen das Aufnahmegerät laufen und laufen. Und sehr selten, wenn es sich nicht vermeiden ließ, sprechen wir von uns in der dritten Person (heißt übrigens „Illeismus“!). Das fühlte sich immer merkwürdig an.

An einigen (wenigen) Stellen sind die Autoren nicht einer Meinung. Dies ergibt sich auch aus ihren unterschiedlichen Perspektiven. Gerade diesen Austausch fanden wir spannend. Das muss Sie als Leser nicht weiter interessieren. Abgesehen von den Dialogen sprechen wir mit einer Stimme.

Darum soll es gehen

Der inhaltliche rote Faden des Buches ist die jüngere Geschichte von Werder Bremen als Beispiel eines Traditionsklubs, so wie wir ihn für uns definiert haben. Zunächst blicken wir kurz auf die „gute alte Zeit“. Der Fokus liegt aber auf der Betrachtung des Zeitraumes seit der Saison 2010/11, die die letzte war, in der der Verein in der Champions League spielte.

Unterbrochen wird dieser Erzählstrang immer wieder von Exkursen zu verschiedenen Themen, die aus unserer Sicht eine Relevanz auch, aber nicht nur, für den Fußball haben. Ein zentrales Thema dabei ist die Betrachtung von Entscheidungen. Inspiriert wurden wir vor allem von den Arbeiten und Ideen des Psychologen und Nobelpreisträgers Daniel Kahneman, den beide Autoren sehr schätzen.

Schließlich behandeln wir im letzten Kapitel des Buches Fragen, die die Zukunft von Traditionsvereinen in einem veränderten Umfeld betreffen. Wie sollten sich die Klubs aufstellen, welche Strategien sollten sie verfolgen oder wie müssen sie sich verändern, um auch in Zukunft noch eine Bedeutung zu haben? Und wir diskutieren kritisch, welche Veränderungen im Fußball möglicherweise in eine falsche Richtung gehen, wie man einen integren und fairen Wettbewerb erhalten bzw. dazu zurückfinden könnte, und wie die Identifikation der Fans mit ihrem Lieblingssport erneuert werden kann.

Was meinen wir mit „Traditionsklub“?

Streng betrachtet kann fast jeder Klub das Etikett „Traditionsklub“ für sich beanspruchen – abgesehen vielleicht von solchen wie RB Leipzig. Jedenfalls dann, wenn das vorrangige Kriterium das Gründungsdatum sein soll. Allerdings kommt kaum jemand auf den Gedanken, Hoffenheim als Traditionsklub zu bezeichnen – obwohl bereits 1899 gegründet und somit (theoretisch) älter als Bayern München, Borussia Mönchengladbach, Schalke 04 oder Borussia Dortmund.

Der Fußballhistoriker Hardy Grüne, ein Experte auf dem Gebiet der Fußballtradition, nennt deshalb andere Kriterien: sportliche Kontinuität und eine gewisse Sichtbarkeit über einen längeren Zeitraum hinweg, dazu eine echte Fanbasis. Auch der erst 1945 gegründete VfL Wolfsburg könne sich somit als Traditionsklub bezeichnen. Der VfL war immerhin fünf Jahre (1954 – 1959) in der alten Oberliga Nord dabei, bis zur Einführung der Bundesliga 1963 die höchste Spielklasse. In der Bundesliga spielt er seit 25 Jahren. Und Bayer Leverkusen? Die Fußballabteilung wurde 1907 ins Leben gerufen. Bayer gehörte zum Inventar der alten Oberliga West und ist in der Bundesliga seit 43 Jahren dabei.

Wir sehen: Mit der Tradition ist es nicht so einfach. Die Debatte über Traditionsvereine ist ein bisschen eine deutsche und auch ein wenig schräg. Auch gerät „Traditionsverein“ manchmal zu einem Kampfbegriff, mit dem anderen Vereinen die Legitimität abgesprochen wird.

Wenn wir hier von Traditionsklubs sprechen, dann geht es um Klubs, die schon in den Anfangsjahren der Bundesliga dabei waren, in ihrer Geschichte schon Titel gewonnen haben, traditionell über eine große Fanbasis verfügen und mit denen sich hohe Erwartungen verknüpfen – also Bayern München, das mit Werder die meisten Erstligajahre auf dem Buckel hat (57), VfB Stuttgart, Hamburger SV, Borussia Mönchengladbach, Borussia Dortmund, Eintracht Frankfurt, 1. FC Köln, 1. FC Nürnberg, Schalke 04 u. a.m.

Zwei Gruppen von Klubs fallen hingegen aus unserer Definition von Traditionsklubs heraus: Klubs, für die die 50+1-Regel nicht gilt, also die „Werksklubs“ Wolfsburg und Leverkusen sowie 1899 Hoffenheim. Auch RB Leipzig ist sicher kein Traditionsklub, obwohl die 50+1-Regel formal eingehalten wird.

Außerdem Klubs wie Mainz und Freiburg, von denen „unsere“ Traditionsklubs sicherlich viel lernen können, weshalb wir immer mal wieder auf sie zu sprechen kommen. Aber jenseits dessen, was diese Klubs alles richtig gut machen, gilt auch hier: Ihre Probleme sind mit denen von Werder und Co. nicht komplett identisch. Beispielsweise müssen sie sich nicht mit dem Ballast einer glorreichen Vergangenheit herumschlagen und auch nicht mit übertriebenen, nicht mehr zeitgemäßen Erwartungen. Im Folgenden geht es also vor allem um Werder Bremen, dann um die Traditionsklubs und schließlich um alle Klubs und den Fußball ganz allgemein.

Am Ende dieser Einführung noch ein Hinweis zu den im Buch verwendeten Spieler-Marktwerten und Ablösesummen, die bei Transfers anfallen. Als Quelle verwenden wir sehr häufig transfermarkt.de, wohlwissend, dass die dort genannten Marktwerte nur geschätzt sind und auch die Ablösesummen nicht im Detail korrekt. Uns geht es aber eigentlich nie um die exakten Summen, eher schon um die relativen Dimensionen und Größenordnungen.

Die Autoren haben sich entschieden, bei Personenbezeichnungen die männliche Form zu verwenden. Da es in diesem Buch in der Regel um den Profifußball der Männer geht, bestehen die Mannschaften, die erwähnt werden, ausschließlich aus männlichen Spielern. Trotzdem haben wir ein ungutes Gefühl, weil dies für Trainer, Manager, Berater, Aufsichtsräte, Funktionäre in keiner Weise so gelten sollte – auch nicht im Männerfußball.

1Hans Rosling verdeutlicht in seinem Buch „Factfulness“, dass sich viele Dinge in den vergangenen Jahrzehnten positiv entwickelt haben. Allerdings geht es dabei nicht um Fußball. (Hans Rosling: Factfulness, Berlin 2018)

KAPITEL 1

Kick it like Kahneman

„Politische Kolumnisten und
Sportexperten werden für ihre
Selbstsicherheit belohnt.“

DANIEL KAHNEMANN

Ein roter Faden dieses Buches ist die Beschäftigung mit unserem Denken und unseren Entscheidungen. Wir werden dabei natürlich immer auf den Fußball schauen, aber auf dem Spielfeld werden einige ungewöhnliche Spieler erscheinen, ein „kleines Team von Denkern“, die uns dabei helfen, den Fußball anders zu sehen, als wir das bisher getan haben. Der zentrale Mittelfeldspieler in unserem System, unser „Zehner“, ist der israelische Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman.

Große und kleine Entscheidungen

Manchmal erzählt Marco bei Partys den Witz, dass es bei seiner Frau und ihm so funktioniert, dass er die großen Entscheidungen treffe und sie die kleinen … und dass er hoffe, dass es irgendwann auch mal große Entscheidungen geben werde. Tatsächlich werden wir im weiteren Verlauf feststellen, dass es gravierende Unterschiede gibt zwischen Entscheidungen, die wir in großer Zahl ganz einfach, automatisch und unbewusst treffen, und solchen Entscheidungen, die sehr wichtig sind, über die wir lange nachdenken (sollten) und die uns nachts nicht schlafen lassen. In Marcos Leben als Profi hat er Entscheidungen der ersten Art jeden Tag auf dem Platz getroffen, aber nur wenige der zweiten Art. Später als Aufsichtsrat war es genau umgekehrt!

Unsere menschliche Intuition ist ein grandioses Werkzeug. Blicken wir in ein uns bekanntes Gesicht, erkennen wir in Sekundenbruchteilen, wenn etwas nicht stimmt oder ob unser Gegenüber freudig oder wütend ist. Wird uns eine schwierige Frage gestellt, zum Beispiel, ob ein 17-jähriges Fußballtalent eine große Karriere vor sich hat, haben wir schnell einige Argumente im Kopf, die unsere intuitive Antwort stützen können. Und wenn ein überraschendes (Fußball-)-Ergebnis eingetreten ist, erfinden wir ad hoc eine Theorie, eine Geschichte, die alle kausalen Zusammenhänge mühelos erklärt.

Diese Intuition besitzen eigentlich alle Menschen. Wir alle sind sehr gut darin, Geschichten zu erfinden, kausale Zusammenhänge zu erkennen (auch wenn manchmal keine da sind …) oder schwierige Fragen durch leichtere zu ersetzen.

Die Intuition der Experten

Noch beeindruckender als bei allen Menschen ist die Intuition von Experten auf einem bestimmten Gebiet. Wenn der amtierende Schachweltmeister Magnus Carlsen auf eine sinnvolle Stellung auf einem Schachbrett blickt, fallen ihm sofort mehrere starke Züge ein, und wenn die Stellung keinen Sinn ergibt, weil die Figuren vielleicht zufällig platziert wurden, irritiert ihn das unmittelbar. Wenn wir als Laien auf eine sinnvolle Stellung schauen und die Regeln des Schachspiels beherrschen, fallen uns auch Züge ein, allerdings lässt die Qualität dieser Züge vermutlich zu wünschen übrig, oder wir finden nur zufällig einen starken Zug.

Natürlich spielt diese besondere Expertenintuition auch im Fußball eine wichtige Rolle. Lionel Messi, der durch die gegnerische Abwehr dribbelt, oder „Raumdeuter“ Thomas Müller, der durch den Strafraum schleicht, nutzen ihre besondere Intuition, um das Verhalten der Abwehrspieler zu antizipieren oder Räume zu erkennen, in die sie laufen müssen, um sich Sekunden danach einen Vorteil zu verschaffen. Fußballzuschauer erkennen diese besonderen Begabungen und können sich daran erfreuen. Im Schach dagegen bleibt sie den allermeisten Beobachtern verborgen. Ein genialer Zug von Carlsen wird nur von ein paar Hundert Menschen auf der Welt als solcher erkannt – und von einigen Computerprogrammen. Wenn man es genau bedenkt, dann ist es sogar so: Im Fußball erkennen wir außergewöhnliche Aktionen auf dem Platz sofort, sind aber Lichtjahre davon entfernt, sie selbst ausführen zu können. Im Schach ist es genau umgekehrt: Jeder von uns könnte eine bestimmte Figur von A nach B setzen, aber wir haben keine Ahnung von der Qualität dieses Zuges.

Wir tun den Genies, die in ihrer Welt über eine besondere Intuition verfügen, vermutlich kein Unrecht, wenn wir die These aufstellen, dass diese Begabung wenig mit allgemeiner Intelligenz oder klassischer Bildung zu tun hat. Vielmehr handelt es sich vermutlich um eine Kombination aus außergewöhnlichem Talent und sehr viel Erfahrung. Manche Psychologen sehen darin vor allem ein Wiedererkennen, so wie ein Kind, das gerade erst zu sprechen beginnt, einen Ball „Ball“ nennt, weil es ihn wiedererkannt hat. Was es genau ist und wie man diese besondere Intuition erlernen und trainieren kann, ist eine sehr spannende Frage und mehr als nur relevant – für die Wirklichkeit in Schulen genauso wie für die in Fußballinternaten und Nachwuchsleistungszentren.

Schnelles und langsames Denken

Unsere Intuition lässt uns also selten im Stich. Nur manchmal machen wir die schmerzhafte Erfahrung, dass Intuition keine Hilfe bietet. Logik, Statistik, Mathematik, in solchen Feldern geraten wir leicht ins Schwimmen: „Rechne 37 x 43 im Kopf!2“, „Zähle auf dieser Buchseite exakt alle Konsonanten, die im Alphabet zwischen E und U liegen!“ Solche Aufgaben sind anstrengend, und da hilft unsere Intuition irgendwie nicht weiter!

Unser „Zehner“, Daniel Kahneman, hat die Unterschiede dieser beiden Aufgabenkategorien und die Art, wie wir Menschen mit ihnen umgehen, anschaulich durch zwei Denkweisen beschrieben: Schnelles Denken – langsames Denken, so lautet auch der Titel des Buches, das sein Lebenswerk darstellt. Dieses Buch hat insbesondere Marcos Sicht auf unsere Entscheidungen, auf die Art, wie wir denken, nachhaltig verändert. Um unsere Vorstellung davon zu erleichtern, wie diese Denkweisen funktionieren, hat Kahneman ihnen sogar eigene „Persönlichkeiten“ zugewiesen. Er nennt sie ganz einfach „System 1“ und „System 2“. Das System 1 ist das automatisierte, intuitive Denken, das ganz schnell und mühelos stattfindet. Die allermeisten Aufgaben des Tages können damit bewältigt werden: E-Mails schreiben, Autofahren (zumindest, wenn nichts Besonderes passiert), Unterhaltungen auf einer Party führen – alles kein Problem für System 1. Beim Sport können wir laufen, springen, einen Ball fangen oder schießen, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Selten am Tag werden wir mit einer Aufgabe konfrontiert, die das System 1 überfordert, die unsere volle Aufmerksamkeit verlangt: rückwärts in eine enge Parklücke einparken, einen wichtigen Brief formulieren, Zahlen im Kopf addieren oder multiplizieren, so wie die Aufgabe 37 x 43. System 1 sagt dann: „Das kann ich nicht!“ Wir wechseln zum bewussten, rationalen System 2. Nun müssen wir alles andere ausblenden. Das Beste ist, wir schließen uns ein.

System 2 ist unser rationales Wesen, das wir mobilisieren, wenn wir wirklich angestrengt nachdenken müssen, wenn wir uns Zeit für eine Antwort nehmen müssen, wenn wir viel Konzentration und Energie aufwenden müssen. Und es ist der Teil unserer Persönlichkeit, den wir als unser eigentliches Ich wahrnehmen. Unsere Intuition, unser System 1, dagegen agiert völlig automatisch. Und ist dabei auch noch so schnell, dass uns selbst meistens gar nicht bewusst ist, wo ein Gedanke herkommt, warum wir uns gerade entschieden haben oder warum wir glauben, etwas zu wissen.

Von Natur aus faul

Wie wir schon festgestellt haben, funktioniert unsere Intuition auch meistens sehr gut, und das bedeutet, dass die meisten unserer Entscheidungen ebenfalls gut sind, jedenfalls erscheinen sie uns nicht als fehlerhaft oder fragwürdig. In Wahrheit ist es aber so, dass wir mehr Fehler machen, als wir denken, was uns nur nicht auffällt, weil es meistens keine negativen Konsequenzen hat. Mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit entdecken wir Fehler bei anderen Menschen, für unsere eigenen sind wir ziemlich blind.

Und noch etwas ist wahr: Wir sind von Natur aus ziemlich faul und versuchen, soweit es geht, auf anstrengendes Nachdenken und Konzentrieren zu verzichten. Schauen Sie mal in Ihrem Bekanntenkreis, wie viele Menschen bereit sind, die Kopfrechenaufgabe wirklich zu lösen! Stellen Sie ruhig ein paar Kaltgetränke als Belohnung in Aussicht!

Machen Sie einen kleinen Selbsttest: Ein Tennisschläger und ein Ball kosten zusammen zehn Euro. Der Schläger kostet neun Euro mehr als der Ball. Wieviel kostet der Ball? Nehmen Sie sich ein paar Sekunden Zeit. Nun, vermutlich sind sie geneigt zu sagen: „Ein Euro!“ Das ist die intuitive Antwort. Die Autoren haben es versucht, und fast alle Gefragten geben diese Antwort. Wobei sich einige etwas unsicher fühlen. „Warum stellt er mir so eine einfache Frage? Die Antwort ist zu einfach! Habe ich etwas übersehen?“ Wenn Marco solche Fragen stellt, sind viele seiner Freunde übrigens schon gewarnt, weil er sie immer wieder mit Rätseln nervt.

Die intuitive Antwort ist in der Tat falsch. Denken wir etwas nach, kommen wir zum richtigen Ergebnis: Der Schläger kostet 9,50 €, der Ball 50 Cent. Bereits bei dieser Frage benötigen wir also System 2.

Dieses kleine „Schläger-Ball-Problem“ führt uns vor Augen, dass unsere Intuition manchmal irreführend ist. Dass wir Fehler begehen und nicht perfekt sind, kennen wir auch durch optische Täuschungen bei unserer Wahrnehmung oder körperliche Defizite. Denkfehler bemerken wir nicht so leicht.

Geht es um Dinge, bei denen wir nicht gut sind, was wir ungern zugeben, beispielsweise um das Einschätzen von Wahrscheinlichkeiten, wo wir Entscheidungen mit dem Gefühl der Unsicherheit treffen bzw. in einer unsicheren Situation treffen, begehen wir aber systematische Fehler. Immer und immer wieder. Man kann nur lernen, bei bestimmten Fragen, bei denen es um Wahrscheinlichkeiten oder Logik geht, vorsichtig zu sein.

Schwierige Fragen durch leichte ersetzen

Daniel Kahneman beschreibt sehr viele Fehler und Verzerrungen in unserem Denken. Viele davon haben damit zu tun, dass wir für schwierige Probleme sogenannte Heuristiken (Faustregeln) verwenden. Besonders unser System 1 mag solche Vereinfachungen. Dann werden zum Beispiel schwierige Fragen durch leichtere ersetzt. Soll ich Aktien von Mercedes Benz kaufen? Rational betrachtet müsste man schauen: Wie ist die Kursentwicklung, wie waren die Ergebnisse in den letzten Jahren, wie könnte sich die Zukunft der Aktie gestalten? Alles hochkomplexe Fragen. Deshalb neigen wir dazu, diese Fragen zu ersetzen durch die Frage: Mag ich diese Marke? Mag ich die Autos, die sie bauen? Diese Frage ist viel leichter zu beantworten. Wenn mir die Autos gefallen, wenn ich meine, das ist eine coole Marke, bin ich eher dazu geneigt, Aktien zu kaufen. Wir verwenden dann eine „Affektheuristik“, vertrauen unseren Gefühlen. Aber das ist gefährlich, denn es ist nicht die entscheidende Frage. Wir müssten uns eigentlich viel sorgfältiger mit der Aktie beschäftigen.

Auch der Fußball ist eine Summe von Entscheidungen. Welcher Trainer ist der richtige für Verein und Mannschaft? Welche Aufstellung und Taktik ist gegen den kommenden Gegner die erfolgsträchtigste? Wie entscheidet der Spieler in welcher Situation? Wie entscheidet der Schiedsrichter in kniffligen Situationen? Soll der Sportdirektor sportlich oder finanziell ins Risiko gehen?

Wir treffen im Fußball sehr häufig falsche Entscheidungen. Und noch mehr Entscheidungen, die uns als falsch ausgelegt werden. So paradox es klingen mag: Es kommt sogar vor, dass wir Entscheidungen treffen, die richtig sind – aber im Ergebnis falsch. Wie auch das Gegenteil: Eine Entscheidung führt durch Glück zu einem guten Ergebnis – trotzdem war sie zum Zeitpunkt, als wir sie getroffen haben, eigentlich falsch oder mindestens zu riskant.

Das alles findet im Fokus der Öffentlichkeit statt: Medien und Fans konfrontieren uns tagtäglich mit ihren Einschätzungen und Urteilen. Das unterscheidet Verantwortliche im Fußball von solchen in der Wirtschaft. Der Psychologe Hans-Dieter Hermann, der die DFB-Elf seit 2004 begleitet, aber auch Führungskräfte nationaler und internationaler Unternehmen coacht, erzählte dem Tagesspiegel, dass auch Vorstände in der Wirtschaft, CEOs, unter Druck stehen würden – aber mit dem feinen Unterschied, dass die Öffentlichkeit deren Fehler kaum mitbekomme. Hermann: „Der Fußball löst etwas in uns aus, dadurch wird er für viele Menschen so wichtig.“

Was aber sind richtige und falsche Entscheidungen? Woran machen wir das fest? Schauen wir später zurück und beurteilen diese Frage anhand des nackten Ergebnisses? Oder machen wir uns die Mühe, neben dem Ergebnis noch andere Kriterien für richtig und falsch anzulegen?

Nein, das tun wir meistens nicht und begehen dabei den sogenannten „Rückschaufehler“. Dabei schauen Beobachter nur auf das Ergebnis und nicht auf die Entscheidungsfindung. Nicht selten hört man dann auch: „Das habe ich schon vorher gewusst!“, was definitiv Unsinn ist. Wenn überhaupt, hat man geglaubt, dass etwas passieren würde. Wissen ist ein Begriff, der nur sinnvoll ist, wenn etwas schon bei der Entscheidung beweisbar vorhersehbar war. Fußballergebnisse gehören sicher nicht in diese Kategorie!

Richtige oder besser gute Entscheidungen zu treffen, wird im Fußball immer schwieriger. Die Ansprüche wachsen, das Zeitfenster für die Entscheidungsfindung wird immer kleiner. Die Verantwortlichen – vor allem die Sportdirektoren und Trainer – müssen in kürzester Zeit das Optimum liefern. Es bleibt wenig Zeit für Entwicklungen. Kahneman drückt es so aus: „Die anstrengendsten Formen langsamen Denkens sind diejenigen, die von Ihnen verlangen, schnell zu denken.“3

Können wir lernen, besser zu entscheiden?

Ob eine Entscheidung richtig oder falsch ist, können wir zu dem Zeitpunkt, zu dem wir sie treffen, häufig nicht sagen. Zumindest nicht hundertprozentig. Dies betrifft vor allem personelle Entscheidungen. Was die Verpflichtung von Spielern anbelangt, können wir dies manchmal nicht einmal nach einer Saison sagen. Die Neuverpflichtung bleibt im ersten Jahr unter den Erwartungen – und startet in der folgenden Spielzeit durch. Eine Mannschaftsaufstellung kann vor dem Anpfiff gut überlegt sein und als logisch erscheinen, ebenso die gewählte Taktik – aber am Ende steht eine Niederlage. Womit sich Aufstellung und Taktik als falsch erwiesen haben. Zumindest in den Augen der meisten Betrachter.

Der wirkliche Grund für eine Niederlage könnte aber, wie wir noch sehen werden, auch einfach der Zufall sein. Manchmal ist das die wahrscheinlichste Ursache. Aber diese wird von Journalisten und Fans nicht akzeptiert, auch von uns selbst nicht – wir wollen eine kausale Ursache, wir wollen eine Erklärung für das, was passiert ist.

Nicht jede Entscheidung im Fußball wird rational getroffen. Viele werden von Nebengeräuschen begleitet und wir werden von vielen Faktoren beeinflusst, die uns nicht bewusst sind.

„Priming“ ist der Fachbegriff für dieses äußerst wirksame Phänomen. Bilder, Gerüche, manchmal nur Zahlen oder Worte, die gar nichts mit der Sache zu tun haben, beeinflussen uns in unseren Entscheidungen. Und wir haben nicht die geringste Ahnung davon. Manchmal entwickeln sich Geräusche zu Störgeräuschen, ja Störfeuern. Aber auch nur Geräusche können uns zu falschen Entscheidungen verführen. Hinzu kommt: Wir müssen Entscheidungen auf einem Feld treffen, auf dem viel von Zufall, Glück und den Entscheidungen anderer (Gegenspieler, Schiedsrichter) abhängt.

„Auch wenn sich Entscheidungen später als falsch herausstellen, gibt es in dem Moment, in dem wir sie treffen, häufig gute Gründe dafür“, schrieb das Autorenkollektiv Christian Heinrich, Tobias Hürter, Stefanie Schramm und Claudia Wüstenhagen 2011 auf zeit.online. Deshalb proklamierten viele Psychologen: „Fehlentscheidungen gibt es nicht.“ Menschen, die sich für das Ergebnis ihrer Entscheidungen verfluchen, rieten die Psychologen deshalb, „nach äußeren Umständen zu suchen, die dazu beigetragen haben“.

Was können wir aus all dem lernen? Dürfen wir unserer Intuition gar nicht mehr vertrauen? Sollen wir bei wichtigen Entscheidungen gar kein Risiko mehr eingehen? Nein, das wäre natürlich falsch. Aber es ist sinnvoll, bei bestimmten Problemen vorsichtig zu sein. Immer wenn der Zufall, wenn Statistik und Wahrscheinlichkeit im Spiel sind, sollten wir (mit Otto Rehhagel gesprochen) „die Antennen ausfahren“, weil wir anfällig für Fehler sind. Auch eine gewisse Skepsis gegenüber scheinbar stimmigen Erklärungen für kausale Zusammenhänge ist angebracht. Die Geschichten und Ursachen, die uns intuitiv in den Kopf kommen, wenn wir etwas (Überraschendes) wahrnehmen, fühlen sich gut an, weil wir Kohärenz lieben, aber es könnte sich um Illusionen von Kausalität handeln.

Wenn wir in Zukunft sensibler für solche Denkfehler sind, werden uns diese Fehler vor allem bei anderen Menschen auffallen. Aber wir sollten wissen, dass wir selbst genauso anfällig sind. Vielleicht ist es eine gute Idee, bei wichtigen Entscheidungen Intuition zwar zuzulassen, aber sorgfältig zu überprüfen, ob diese nicht auf bloßen Illusionen beruht. Und schließlich sollten wir allzu leichten Erklärungen und Schuldzuweisungen misstrauen und Entscheidungen rückblickend nicht nur am Ergebnis messen. Wir sollten uns ernsthaft bemühen, ein Verständnis für die Sicht zum Zeitpunkt der Entscheidung zu erlangen.

EINWURF

Selbsttest: Intuition, Denkfehler und Logik

AUFGABE 1: „Maschinen“

Fünf Maschinen brauchen fünf Minuten für die Produktion von fünf Produkten. Wie lange brauchen 100 Maschinen für die Produktion von 100 Produkten?

AUFGABE 2: „Geburtstag“

In einer Schulklasse gibt es 30 Schülerinnen und Schüler. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Kinder am gleichen Tag Geburtstag haben? Unter 15 Prozent, über 50 Prozent oder irgendetwas dazwischen?

AUFGABE 3: „Die Arche“

Wie viele Tiere jeder Art nahm Moses mit auf die Arche?

AUFGABE 4: „Kaufen und Verkaufen“

Eine clevere Kauffrau kauft ein Buch für fünf Euro, verkauft es für sechs Euro, kauft es für sieben Euro wieder zurück und verkauft es dann für acht Euro. Wieviel Gewinn hat sie gemacht?

AUFGABE 5: „Seil um den Äquator“

Nehmen wir an, die Erde sei eine perfekte Kugel. Wenn wir um den Äquator ein Seil legen, ist dies 40.000 Kilometer lang, wenn es genau anliegt. Nun knoten wir an das Seil ein Meter Seil dran und legen es wieder gleichmäßig um den Äquator.

Natürlich ist das Seil nun ein wenig zu lang und es liegt nicht mehr an der Erdoberfläche an. Wie groß ist der Abstand zwischen Erdoberfläche und Seil?

Antwort 1: Auch wenn man spontan 100 Minuten sagen möchte, sind es natürlich nur fünf Minuten.

Antwort 2: Die Wahrscheinlichkeit liegt bei deutlich über 50 Prozent. Schon bei 23 Personen (zum Beispiel zwei Fußballmannschaften plus Schiedsrichter) liegt die Wahrscheinlichkeit bei knapp 50 Prozent.

Hier ein Link zur Erklärung: https://www.wdrmaus.de/maus_wall/MausRechnung.pdf

Antwort 3: NOAH nahm laut Altem Testament jeweils zwei Tiere einer Art auf die Arche, aber nicht MOSES!

Antwort 4: Der Gewinn beträgt zwei Euro. Das „Zurückkaufen“ dient nur zur Verwirrung. Eigentlich handelt es sich um zwei Geschäfte mit jeweils einem Euro Gewinn.

Antwort 5: Der Abstand beträgt erstaunlicherweise nicht 0,00 irgendwas Millimeter, sondern er beträgt fast 16 Zentimeter: Ein Meter geteilt durch zwei Pi, um genau zu sein.

Übrigens ergibt sich exakt der gleiche Abstand, wenn ich anstatt der Erde einen gewöhnlichen Fußball nehme. Denn der Körper ist nicht relevant, sondern „kürzt sich raus“!

2Mathematisch Interessierte erkennen hier intuitiv, dass die Aufgabe gar nicht so schwer ist, wie sie erscheint, weil sich durch das Anwenden der “Dritten Binomischen Formel“ die Lösung einfach als 40 zum Quadrat minus 9 ergibt!

3Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012, S. 53 (Kindle-Version)

KAPITEL 2

Die großen Erfolge

„Wir wollten in Bremen kein Gegentor kassieren.
Das hat bis zum Gegentor auch ganz gut geklappt.“

THOMAS HÄSSLER

Bevor wir uns unserem Hauptthema, der Entwicklung von Werder seit der Saison 2010/11, zuwenden, blicken wir noch einmal auf die erfolgreichsten Jahre des Vereins unter den herausragenden Trainerpersönlichkeiten Otto Rehhagel und Thomas Schaaf. Wenn wir uns hier vorrangig den Trainern widmen, ist das natürlich eine nicht ganz faire Darstellung, weil viele weitere Akteure zum Erfolg beigetragen haben: die Präsidenten Franz Böhmert und Klaus-Dieter Fischer, die Manager Willi Lemke und Klaus Allofs, die Geschäftsführer Manfred Müller und Jürgen Born – natürlich die Spieler und viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Der Blick auf die „gute, alte Zeit“ des SV Werder Bremen kann und soll hier aber nur ein flüchtiger sein. Es wäre zweifellos lohnenswert, die Frage, wie diese Erfolge möglich waren, genauer zu betrachten, aber das muss zu einer anderen Zeit geschehen.

Otto Rehhagel und Thomas Schaaf haben Werder Bremen geprägt und zu den größten Erfolgen geführt: Rehhagel gewann mit seiner Mannschaft zwei Deutsche Meisterschaften, zweimal den DFB-Pokal sowie den Europapokal der Pokalsieger. Wenn es damals schon die Champions League in ihrer heutigen Form gegeben hätte, wäre Werder in den 80er- und 90er-Jahren regelmäßig dabei gewesen. Das schaffte dann Thomas Schaaf im ersten Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende. Darüber hinaus gelang Werder mit ihm der vielleicht größte Erfolg der Vereinsgeschichte, der Gewinn des Doubles im Jahre 2004.

Beide Erfolgstrainer blieben fast 14 Jahre bei Werder Bremen, das war zu allen Zeiten im Fußball sehr ungewöhnlich, auch wenn es früher mit etwas größerer Wahrscheinlichkeit passierte. Was machte die beiden so erfolgreich?

Das „Otto-Prinzip“

Im März 1981 wurde Otto Rehhagel, ein Kind der Bundesliga, Trainer bei Werder Bremen. Bereits zum zweiten Mal, denn der Verein hatte ihn schon 1976 als „Feuerwehrmann“ verpflichtet, um die Mannschaft vor dem drohenden Abstieg zu retten. Rehhagel gelang dies mit Fußball der simplen Art: „Hauteng decken und vor allem kämpfen, kämpfen.“

Auch seine zweite Mission in Bremen hatte zunächst etwas von einem Feuerwehreinsatz. Bei Werder, damals nur Zweitligist, war Trainer Kuno Klötzer aus gesundheitlichen Gründen ausgefallen. Rehhagel führte die Mannschaft nun durch das Restprogramm und zurück in die erste Liga. Nach seiner Genesung verzichtete Klötzer nicht ganz freiwillig zugunsten von Rehhagel auf den Trainerposten.

Rehhagel gelang es, über mehrere Spielzeiten eine Mannschaft aufzubauen und an die Spitze zu führen. 1982/83, 1984/85 und 1985/86 wurde Werder jeweils Vizemeister, beim dritten Mal denkbar knapp: Bei Punktgleichheit entschied das bessere Torverhältnis wie im Jahr zuvor zugunsten der Bayern aus München. Am vorletzten Spieltag hatte Michael Kutzop im Heimspiel gegen die Bayern den entscheidenden Elfmeter an den Außenpfosten gesetzt – das war der einzige verschossene Elfer seiner Karriere! Auch psychologisch war das ein schwerer Schlag für die Bremer, denn man firmierte nun als „ewiger Vizemeister“.

Viele waren der Meinung, die Bremer würden die Bayern nicht länger herausfordern können, sondern ins Mittelfeld der Tabelle zurückfallen. Die Saison 1986/87 schien dies zu bestätigen. Werder wurde nur Fünfter, 13 Punkte hinter dem alten und neuen Meister Bayern, und verlor auch noch Torjäger und Publikumsliebling Rudi Völler an den AS Rom.

Doch Rehhagel blieb weiter dran, auch dank einer weiterhin klugen Einkaufspolitik. Aus Norwegen wurde Rune Bratseth, laut Marco der wohl schnellste Spieler der Bundesliga, geholt – oder wie Otto es ausdrückte „aus dem ewigen Eis befreit“. Vorne füllte Karl-Heinz „Air“ Riedle vom Bundesligaabsteiger Blau-Weiß Berlin die Lücke, die Völler hinterlassen hatte.

Fußballverrückt und charismatisch

Im Sommer 1988 hieß der Deutsche Meister dann überraschend Werder Bremen. Der Titel, fix schon am viertletzten Spieltag nach einem Sieg in Frankfurt, wurde durch eine durchweg überzeugende Defensivleistung (Werder hatte nur 22 Gegentore zugelassen) und die Geschlossenheit im Team errungen. Er war der Höhepunkt der Erfolgsphase in den achtziger Jahren.

Rehhagels Werder hatte auch auf der europäischen Bühne große Auftritte. Es war die Zeit der „Wunder von der Weser“: Unvergessen im Meisterjahr das 6:2 gegen Spartak Moskau (nach einer 1:4-Niederlage im Hinspiel) und der 5:0-Sieg im Pokal der Landesmeister 1988/89 über Dynamo Ostberlin, wo man das Hinspiel mit 0:3 verloren hatte. Später dann der 5:1-Sieg im UEFA-Pokal 1990/91 über den SSC Neapel mit Diego Maradona und als Höhepunkt 1992 der Gewinn des Europapokals der Pokalsieger. Im Finale wurde der von Arsène Wenger trainierte AS Monaco mit 2:0 geschlagen.

1993 wurde Rehhagel zum zweiten Mal mit Werder Deutscher Meister, 1994 gewann seine Mannschaft nach 1991 zum zweiten Mal den DFB-Pokal. In der Saison 1993/94 war Werder außerdem der erste deutsche Vertreter in der noch jungen Champions League. Die Mannschaft erreichte die Gruppenphase, das war nach dem damaligen Modus bereits das Viertelfinale, weil es nur zwei Vierer-Gruppen nach zwei K.-o.-Runden gab.