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Titel

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ISBN 978-3-7751-7189-2 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5510-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2014
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Umschlaggestaltung: OHA Werbeagentur GmbH, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.ch
Titelbild: Bianca Capello: Gemälde von Alessandro Allori (1535–1607);
Nonne: Gemälde von Anthonis Mor (1517–1577);
übrige Elemente: Archiv OHA Werbeagentur GmbH
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg
Wappen-Illustration: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch






Für meinen Mann Andreas
und für meine Kinder
Johanna, Elischa und Noah

Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

Nachwort

Prolog

Die plappernden hellen Stimmen wurden über den See ans Ufer getragen. Sie waren schon von Weitem zu hören, noch bevor die Kinder zu sehen waren.

Ein tiefer Zug, und die Zigarette wurde in die Erde gedrückt zu den anderen. Früher oder später hatte jemand vorbeikommen müssen. Naheliegend, dass es die Kinder sein würden. Ahnungslos und unverdorben. Dies war bedauerlich, aber nicht zu ändern.

Rebekkas Hand kribbelte vom langen Ziehen und sie schwitzte. Im Gehen wechselte sie die Seite. Gleich war das Gefährt leichter. Die Bewegung hielt sie warm, doch es war nicht mehr zu leugnen: Das rot gefärbte Laub klammerte sich nur noch mit Mühe an die Eichenbäume und erinnerte Rebekka daran, dass die Stunde der letzten goldenen Herbsttage geschlagen hatte. Alles wirkte gedämpft. Tau hatte sich wie eine Decke über die Wiesen gelegt, als wolle er sie leise in den Winterschlaf lullen. Bald würden die zwitschernden und summenden grünen Hügel von Amberley verstummen.

Rebekka schob die bedrückenden Gedanken beiseite und erlaubte ihnen nicht, der Leichtigkeit der hellen Tage ein verfrühtes Ende zu bereiten. Sie würde die letzten Strahlen der Oktobersonne in sich aufsaugen und so lange wie möglich festhalten, um die kommenden Monate davon zu zehren. Rebekka schloss für einen Moment die Augen, spürte einen Windhauch ihre Wangen streifen und atmete tief ein.

Jetzt kam es darauf an, ruhig zu bleiben. Und unsichtbar. Keine hastigen Bewegungen, keine unbedachten Schritte auf morsche Äste. Nur noch ein Augenblick. Nur noch einmal durch das Dickicht spähen, verborgen wie hinter einem Schlüsselloch, die Nase ganz nah an den dornigen Zweigen. Hin- und hergerissen zwischen dem, was die Augen fesselte, und dem Verstand, der mahnte, endlich zu verschwinden.

»Becky«, wurde Rebekka jäh aus ihren Gedanken gerissen. »Becky, dürfen wir heute noch einmal schwimmen gehen?« Das kleine Mädchen fasste sie an der Hand und sah sie unter ihrem weißen Häubchen mit großen Augen erwartungsvoll an.

Rebekka schüttelte bedauernd den Kopf.

»Bitte, bitte, dann wenigstens mit den Füßen«, versuchte die Kleine zu verhandeln.

»Tut mir leid, Sarah! Dafür ist es nicht mehr warm genug.«

»Aber die Sonne scheint, und fühl mal, wie warm meine Hand ist. Ich schwitze schon fast«, startete die Fünfjährige einen weiteren Überredungsversuch.

Rebekka lächelte sie liebevoll an. Sie konnte das Kind gut verstehen. Ihr ganzes fast zweiundzwanzigjähriges Leben hatte sie hier verbracht und es wie Sarah Sommer für Sommer genossen, im türkisfarbenen Wasser des Sees zu baden. Manchmal hatte ihr Vater gerade von draußen Holznachschub geholt, wenn Rebekka mit den anderen Kindern unten am Gatter der angrenzenden großen Wiese vorbeigelaufen war. Er hatte seine Tochter immer inmitten all der bunt geblümten Kleider, weißen Schürzen und langen Zöpfe entdeckt und ihr fröhlich zugewinkt. Rebekka blickte versonnen zu Boden.

»Becky!« Ungeduldig zog Sarah an ihrer Hand. »Sag schon, dürfen wir?«

Rebekka ging in die Hocke und fasste das Mädchen sanft an den Schultern. »Hör zu, Sarah, es geht wirklich nicht. Aber wir machen etwas anderes: Ich habe die Lupenbecher dabei und …«

»Ja, ja!«, riefen die Kinder voller Begeisterung. »Insekten sammeln, Insekten sammeln.«

Rebekka lachte. »Genau. Und die untersuchen wir dann mit unseren Vergrößerungsgläsern.«

»Aber hinterher lassen wir sie wieder frei«, meldete sich der fast sechsjährige Philipp besorgt zu Wort.

»Na klar! Wir wollen nur etwas über die kleinen Tierchen lernen und uns ganz genau anschauen, wie Gott sie gemacht hat. Dann entlassen wir sie wieder in die Freiheit«, beruhigte Rebekka ihn.

Philipp nickte zufrieden.

»So, und nun kommt, Kinder! Wir haben noch viel vor heute.« Sie erhob sich, nahm nun Louise bei der Hand, umfasste den Knauf des Ziehwagens, und die kleine Gruppe setzte sich wieder in Bewegung.

Es war nicht mehr weit. Hinter dem Hügel lag der See. Von da aus musste man nur noch wenige Meter auf dem schmaler werdenden Schotterweg entlanglaufen, um dann an der großen Eiche zum alten Bauernhaus abzubiegen. Dort standen Holzbänke und -tische bereit, die zum Picknicken einluden, während man den herrlichen Blick über den See und die weitläufigen Ländereien von Amberley genießen konnte. Rebekka konnte es kaum erwarten.

»Legen Regenwürmer wirklich Eier?«, fragte Tim, der Älteste ihrer Vorschulgruppe, nun interessiert.

»Haben wir doch in dem großen Buch gesehen«, antwortete Philipp vorwurfsvoll.

»Das stimmt«, schaltete sich Rebekka ein. »Aber vorstellen kann man sich das trotzdem nicht so richtig, oder? Vielleicht finden wir heute welche. Ich bin gespannt, wer so gute Augen hat. Wir könnten die Eier mitnehmen und im Kindergarten unter dem Mikroskop anschauen.«

Sie waren nun am höchsten Punkt des Weges angekommen.

»Becky, meine Nase läuft.«

Rebekka blieb stehen und kramte ein Taschentuch aus ihrer Umhängetasche hervor, um der kleinen Mary die Nase zu putzen, während die anderen Kinder weitergingen.

»Becky, schau mal, ist der Mann tot?«

»Timothy, du weißt genau, dass ich solche Scherze nicht mag! Noch mal schnäuzen, Mary, ganz fest!«

»Nein, wirklich. Schau doch, Rebekka!«

Rebekka wirbelte herum und riss die Augen auf. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. »Kommt her, Kinder!«, befahl sie den Kleinen, die dastanden und den leblosen Körper am Wasser anstarrten.

»Ist der wirklich tot?«, fragte jemand.

»Wo denn? Ich sehe nichts«, maulte Mary, die vom Wagen geklettert war und sich zwischen den anderen Platz verschaffte.

»Mausetot«, war sich Philipp sicher. »So wie der daliegt.«

»Kommt schon!«, fuhr Rebekka dazwischen. Mit hastigen Schritten und ausgebreiteten Armen versuchte sie den Kindern den Blick zu versperren und sie den Weg zurückzutreiben. Nur widerstrebend ließen sie sich bewegen, sodass Rebekka schließlich die Geduld verlor. »Sofort zurück, alle! Macht schon!«

Die Kleinen wandten sich zum Gehen, während sie weiter neugierig die Hälse reckten und versuchten einen letzten Blick an Rebekka vorbei zu erhaschen. Sie bemühte sich, genau das mit ihrem Körper so gut es ging zu verhindern und gleichzeitig die Jüngsten wieder in den Wagen zu verfrachten.

»Schnell, lauft! Wir müssen Hilfe holen«, scheuchte Rebekka die Größeren, obwohl sie ahnte, dass für den Mann jede Hilfe zu spät kam. Aber was sollte sie tun? Sie musste die Kinder von hier wegbringen.

»O Gott, hilf mir!«, betete sie im Stillen und setzte den Wagen wieder in Bewegung. Wer war der Mann und was war passiert? Ob die Kinder jemals dieses Bild vergessen konnten? Dieser leblose, seltsam verdrehte Körper.

Die Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Sie musste ruhig bleiben.

»Rebekka, ist der Mann wirklich tot?«, fragte Sarah erneut.

»Ich weiß nicht«, antwortete Rebekka vage. »Los, wir müssen weiter.«

»Vielleicht hatte er einen Unfall«, vermutete Philipp.

»Ja, vielleicht«, murmelte Rebekka.

»Und wenn es kein Unfall war?«, wandte Tim ein. »Vielleicht hat ihn jemand abgemurkst.«

»Sei still, Timothy!«, fuhr Rebekka ihn schärfer als beabsichtigt an. Nervös warf sie einen Blick über die Schulter.

»Was ist abgemurkst?«, fragte Sarah.

»Jemanden töten.«

»Tim, Schluss jetzt!«, zischte Rebekka. Sie schwitzte und lockerte das Kopftuch, ohne ihre Schritte zu verlangsamen. Sie hätte den Ponywagen nehmen sollen!

»Ich kann nicht mehr! Es sticht in meiner Seite«, fing Louise an zu klagen und blieb stehen.

»Nur noch ein bisschen, Schatz, bitte! Im Wagen ist kein Platz mehr«, redete Rebekka ihr gut zu.

»Nein, ich kann nicht mehr!«, schluchzte das Kind und wollte sich hinsetzen.

»Warte, ich trage dich ein Stück.« Rebekka hob das weinende Mädchen hoch und setzte es auf ihre Hüfte.

»Ich habe Angst.«

Rebekka versuchte die kleine Mary zu beruhigen, während sie sich wieder in Bewegung setzten.

»Meine Füße tun so weh. Wenn du Louise trägst, will ich auch nicht weiterlaufen. Das ist unfair«, jammerte Sarah.

Rebekka stöhnte. Da erkannte sie von Weitem die Pferdekutsche, mit der die Männer auf dem Weg zu den Feldern waren. Erleichtert seufzte sie und schickte ein schnelles Dankgebet zum Himmel. Sie setzte hastig das Kind ab und fuchtelte mit den Armen: »Thomas, John! Kommt schnell!«, schrie sie, so laut sie konnte, und bedeutete ihnen, sich zu beeilen.

Voegel

1

Julia sah auf die Uhr und fluchte leise. Sie klappte ihr Notebook zu, schnappte sich ihre Tasche und lief zum Fahrstuhl.

»Julia, hast du einen Moment?«, hörte sie Volkers Stimme hinter sich.

»Tut mir leid. Ich bin schon spät dran«, rief sie, wandte sich um und hob entschuldigend die Arme.

»Es geht ganz schnell.«

Sie blickte ihren Chef eindringlich an und schüttelte den Kopf. »Volker, wirklich, ich muss Ben abholen.«

»Na schön. Aber morgen und übermorgen bin ich den ganzen Tag unterwegs, und du bist ab Donnerstag zwei Wochen weg. Bevor du fliegst, sollten wir noch besprechen, wie wir deine Reportage …«

»Ich komme nachher noch mal rein, in Ordnung?«, unterbrach sie ihn, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren.

»Aber nicht später als drei. Um halb vier sitze ich mit den Leuten vom Bauausschuss zusammen.«

Julia nickte und bemühte sich, souverän zu klingen. »Ich bin pünktlich.«

Sie hatte keine Ahnung, wie sie es schaffen sollte, in knapp drei Stunden wieder in der Redaktion zu sein.

Als sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte, machte sie ihrem Ärger Luft. Sie kramte ihr Handy aus der Tasche und stieß die Glastür zur Straße auf. Anrufbeantworter, so ein Mist!

Ihre Absätze hallten durch die Unterführung. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, drückte oben die Fernbedienung und rannte an die Stelle, wo die Blinker aufleuchteten.

Julia riss die Autotür auf. Sie ließ sich auf den Sitz fallen, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und legte den Rückwärtsgang ein. Mit Schwung fuhr sie vom Parkplatz und schaffte es, bei Gelb über die Ampel zu kommen, doch schon bei der nächsten musste sie warten. Während sie sich durch die Heidelberger Innenstadt quälte, warf sie nervöse Blicke auf die Uhr und trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad.

Am Kindergarten wurde sie mit vorwurfsvollen Worten empfangen: »Frau Maybach, Sie wissen, dass wir heute um zwölf Uhr schließen. Das haben wir lange genug im Voraus angekündigt und …«

»Sie haben recht, Frau Mack, es tut mir leid.« Vielleicht nahm ihr eine schnelle Entschuldigung den Wind aus den Segeln.

»Wissen Sie, auch wir haben Termine, und da kann es einfach nicht angehen, wenn immer wieder dieselben … es ist schließlich nicht das erste Mal!«

»Ich weiß. Glauben Sie mir, ich tue, was ich kann.«

»Das bestreitet niemand. Und gerade für unsere Alleinerziehenden haben wir in besonderem Maße Verständnis.«

Julia spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Wie das klang: »Unsere Alleinerziehenden«! Als ob sie bedürftig wäre oder bemitleidenswert. Bemitleidenswert vielleicht deshalb, weil sie sich so etwas anhören musste.

»Hören Sie, es war wirklich nicht meine Absicht, zu spät zu kommen, und ich entschuldige mich dafür. Wo ist Ben?« Julia reckte den Hals, um in den Gruppenraum zu schauen, aber Frau Mack blieb im Türrahmen stehen.

»Ja, darüber sollten wir auch reden.«

Julia schwante Schlimmes. Wahrscheinlich hatte er wieder etwas angestellt, aber sie hatte heute weder Zeit noch Lust, sich mit gut gemeinten Erziehungstipps zu befassen. »Ich dachte, Sie hätten es eilig zu schließen«, sagte sie schnippisch und schob sich an der Erzieherin vorbei. »Ben?«

»Er ist im Waschraum, wo er damit beschäftigt ist, die Spiegel zu reinigen, die er mit Zahnpasta vollgeschmiert hat.«

Julia zog die Augenbrauen hoch und seufzte. Wenigstens hatte er niemanden verletzt.

Aber Frau Mack war noch nicht fertig. »Heute Morgen hat er sich mit Fabian an der Rutsche gestritten und ihn in den Finger gebissen.«

Julia stöhnte. Sie eilte zum Waschraum.

»Frau Maybach, so kann das nicht weitergehen. Wir sollten überlegen, ob wir nicht professionelle Hilfe hinzuziehen.«

Julia drehte sich um und zog missbilligend die Augenbrauen hoch. »Einen Psychiater meinen Sie?« Sie sprach weiter, ohne die Antwort abzuwarten. »Ich weiß, dass es für Ben momentan nicht leicht ist. Aber das geht vorbei. Er wird sich an die neue Situation gewöhnen.«

»Ein Psychologe könnte Ben bestimmt helfen oder Ihnen hilfreiche Anregungen geben, wie man am besten mit ihm umgeht. Für Kinder ist es eine traumatische Erfahrung, wenn Eltern sich trennen.« Wieder dieser mitleidige Blick.

»Das tun heute viele.«

»Natürlich. Ich will Sie auch gar nicht verurteilen.«

Julias Schläfen pochten und sie verkniff sich eine bissige Antwort.

»Sehen Sie«, fuhr die Erzieherin fort, »Ben fällt es schwer, sich an Regeln zu halten. Er hat kein Interesse am gemeinsamen Spiel, ist meistens lieber für sich alleine und verhält sich anderen gegenüber immer wieder aggressiv.«

»Ben hat auch andere Seiten.«

»Natürlich hat er die. Aber nächstes Jahr kommt Ben in die Schule. Dort muss er sich einfügen. Wir sollten etwas tun.«

»Ich lasse mir etwas einfallen«, sagte Julia mehr zu sich selbst, während sie zu Boden blickte.

»Manchmal müssen wir Hilfe in Anspruch nehmen. Denken Sie darüber nach«, hörte sie Frau Mack mit sanfter Stimme sagen.

»Ich möchte jetzt zu meinem Sohn.« Julia drehte sich um und war mit schnellen Schritten an der Tür zum Waschraum, die halb offen stand.

»Mama!« Ben strahlte, ließ den Lappen fallen und warf sich in ihre Arme.

Julia ging in die Hocke. »Hallo, mein Süßer«, begrüßte sie ihn und drückte ihm einen Kuss auf das weiche Haar, das noch eine Spur heller war als das seiner Schwester. Ben schlang seine kleinen Arme fester um sie und flüsterte: »Können wir gehen, Mama?«

»Ja, mein Schatz, gehen wir nach Hause.« Sie erhob sich und trug Ben zur Garderobe. Er streifte seine Spiderman-Hausschuhe von den Füßen und Julia zog ihm die Sandalen an. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie Frau Mack, die sich vom Büro her näherte.

»Ich habe hier mal eine Liste mit Psychologen ausgedruckt, Frau Maybach.«

»Bitte nicht jetzt, Frau Mack. Ich werde darüber nachdenken«, sagte Julia leise, ohne sie anzuschauen.

»Warten Sie nicht zu lange. Damit ist niemandem geholfen.«

»Ich sagte, ich denke darüber nach«, sagte Julia scharf, nahm Bens Rucksack vom Haken und beeilte sich, nach draußen zu kommen.

»Gehen wir heute schwimmen?«, fragte Ben fröhlich, während Julia ihn anschnallte.

»Heute kann ich leider nicht.«

»Das sagst du immer.«

»Es tut mir leid, aber ich muss nachher noch mal in die Redaktion.«

»Aber du hast es versprochen. Du hast gesagt, wenn der Kindergarten früh zumacht, gehen wir ins Schwimmbad.«

Julia stieg ein und ließ den Wagen an. »Zuerst einmal möchte ich wissen, was heute los war. Warum hast du dich mit Fabian gestritten?« Sie warf Ben im Rückspiegel einen kurzen Blick zu.

Er schaute trotzig aus dem Fenster. »Ich war zuerst an der Rutsche und Fabian wollte mich nicht durchlassen. Er hat mir einfach den Weg verstellt.«

»Und deswegen hast du ihn gebissen?«

»Er hat mich zuerst getreten. Und er hat Niklas zum Geburtstag eingeladen und Bastian, obwohl er ihn gar nicht leiden kann.«

»Und das hat dich geärgert, ja? Das ist trotzdem kein Grund, ihn zu beißen. Beißen ist etwas ganz Schlimmes, Ben. Darüber haben wir doch schon gesprochen.«

»Aber wenn er mich tritt.«

»Treten ist auch nicht schön. Wenn dich jemand tritt, gehst du zu deiner Erzieherin und sagst es ihr. Dann bekommt Fabian Ärger und nicht du. Aber beißen geht gar nicht, Ben.«

»Immer bin ich schuld. Nie kriegen die anderen Ärger.«

»Hast du deswegen die Spiegel im Waschraum verschmiert?«

Keine Antwort.

»Ben, ich rede mit dir.«

»Du hast versprochen, dass wir schwimmen gehen!«

»Zuerst klären wir das.«

»Blablabla. Zuerst klären wir das«, äffte er sie nach. »Gleich kriegst du Ärger.«

»Ben, hör auf, so frech zu sein!«, fuhr sie ihn scharf an. »Wenn du dich so benimmst, gehen wir bestimmt nicht schwimmen«, hörte sie sich sagen.

Ben fing an zu weinen und Julia kam sich erbärmlich vor.

Ornament

Punkt drei Uhr stand Julia vor Volkers Büro. Die Redaktionssekretärin schaute sie mit dem Hörer in der Hand erstaunt an und legte auf. »Gerade wollte ich dich anrufen, Julia. Die Leute vom Bauausschuss sind früher gekommen. Sie haben sich in der Zeit vertan, und Volker meinte, wenn sie schon einmal da sind …«

Julia stöhnte. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?«

Verenas Schulterzucken und ein betretener Blick verrieten ihr, dass sie sich völlig umsonst abgehetzt hatte. Julia kochte innerlich, während sie an ihren Platz ging. Sie knallte ihre Tasche auf den Tisch. Manu und Lars, mit denen sie sich ein Büro teilte, hoben irritiert die Köpfe und fragten, welche Laus ihr über die Leber gelaufen sei. Julia winkte nur ab und ließ sich auf ihren Stuhl fallen. Sie drehte sich zum Fenster und starrte auf das Wohngebäude gegenüber. Sie atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen. Wer nicht selbst betroffen war, hatte nun einmal keine Ahnung, welchen täglichen Spagat es bedeutete, Kinder und Job unter einen Hut zu bringen. Julia beschloss, die Zeit so gut es ging zu nutzen, und fuhr ihren Rechner hoch.

Nur noch drei Tage. Am Donnerstag würde sie nach Südengland fliegen. Dort durfte sie sich eine kleine Auszeit gönnen und das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Sie hoffte, dass es eine angenehme, in jedem Fall eine interessante Erfahrung werden würde, die Glaubensgemeinschaft in Amberley kennenzulernen. Dreihundert Menschen, die ihren Besitz teilten und Gewalt strikt ablehnten. Vor einiger Zeit waren die Amish People in den USA in die Schlagzeilen geraten, weil Mitglieder einer Gemeinschaft in Ohio ihren Glaubensbrüdern zur Strafe die Bärte abrasiert hatten. Seither war das Interesse an isoliert lebenden Religionsgemeinschaften und ihren alternativen Lebensformen auch in Deutschland neu erwacht. Mehrere Zeitungen hatten Hintergrundberichte über die abgeschiedene Welt der Amish gebracht. Diese Gruppe war den meisten über Dreißigjährigen seit dem Film »Der einzige Zeuge« irgendwie ein Begriff. Zahlreiche Zuschriften interessierter Leser hatten auch Julias Redaktion erreicht, und als Volker ihr vorgeschlagen hatte, weiter in diese Richtung zu recherchieren, hatte sie sofort Ja gesagt und war prompt auf den Bruderhof in Amberley gestoßen.

Julia überprüfte ihre Mails. Keine neuen Nachrichten aus Amberley. Julia dachte daran, wie erstaunt sie über den professionellen Internetauftritt gewesen war, als sie vor ein paar Wochen angefangen hatte, sich mit den Neuhutterern zu beschäftigen. Schon am nächsten Tag hatte sie auf ihre Mailanfrage eine Antwort erhalten, verbunden mit der Einladung, den Bruderhof in Amberley, East Sussex, zu besuchen. Genauer gesagt war es ein Angebot, für einige Zeit dort mitzuleben und mitzuarbeiten.

Julia war gespannt, was auf sie zukommen würde. Sie sah sich schon bei der Feldarbeit schwitzen, Wäsche am Fluss scheuern und in riesigen Töpfen rühren, denn die Bruderhöfer teilten fast alle Mahlzeiten. Die Kinder waren jedenfalls gut versorgt. Morgen war der letzte Schultag, und die Sommerferien begannen. Die nächsten zwei Wochen würden sie mit ihrem Vater verbringen und bestimmt alle Baggerseen, Schwimmbäder und Vergnügungsparks in der Umgebung unsicher machen.

Sie haben neue Mails erhalten. Julia klickte den Hinweis auf dem Bildschirm weg und stutzte. Eine Rundmail an alle von Volker. Er hatte eine spontane Redaktionssitzung anberaumt. Damit verschob sich ihr Termin noch weiter nach hinten.

»Das kann nichts Gutes bedeuten«, unkte Manu.

Julia zuckte die Schultern. Zumindest bedeutete es, dass die Besprechung mit dem Bauausschuss zu Ende war.

Volker eröffnete den Mitarbeitern ohne Umschweife, dass das Redaktionsgebäude entgegen aller anderslautenden Zusagen abgerissen werden müsse. Dass der Bauausschuss zu dem Schluss gekommen war, das Gebäude sei nicht mehr zu retten, war für die meisten ein Schock, und es herrschte erst einmal betretenes Schweigen.

Julia sah sich verstohlen um. Den bedrückten Mienen der Kollegen nach zu urteilen, hätte man meinen können, sie würden gerade alle ihren Job verlieren. Dabei war es nur ein Gebäude. Wenigstens war die Sache nun entschieden.

Spekulationen hatte es lange gegeben, mit einigen Schönheitsreparaturen und kleinen Renovierungen sei es nicht getan. Doch nach intensiven Überlegungen, etlichen Begehungen, noch mehr Sitzungen und einem umfangreichen Gutachten hatte die Planung, wann welche Wände und Böden renoviert werden sollten, bereits so konkrete Formen angenommen, dass mit einer Radikallösung keiner mehr gerechnet hatte.

Und wenn schon, dachte Julia. Sie hörte nur noch mit halbem Ohr hin, als Volker die Hintergründe erläuterte.

»Man hat festgestellt, dass es aufgrund der veralteten Sanitäranlagen nicht möglich ist, das Gebäude zu erhalten. Die Wasserleitungen haben an einigen Stellen feinste Haarrisse, die langsam, aber stetig dazu geführt haben, dass sich Feuchtigkeit in den Böden abgesetzt hat«, gab Volker wieder, was ihm eine Stunde vorher von einem Sachverständigen der Baubehörde erklärt worden war.

»Und wieso hat das bisher keiner bemerkt?«, fragte Gerd, der Älteste in der Runde, vorwurfsvoll. Von allen Seiten war beipflichtendes Gemurmel zu hören.

Gelangweilt beobachtete Julia, wie Volker mit den Schultern zuckte. »Mir ist schleierhaft, wie das übersehen werden konnte. Kurz bevor die Renovierungsarbeiten begonnen werden sollten, hat man zur Sicherheit Messungen an Stellen vorgenommen, die vorher offensichtlich keine Relevanz hatten. Fakt ist jedenfalls, das Gebäude ist so marode, dass wir in spätestens zwei Wochen hier raus sein müssen«, ließ er die Bombe platzen.

Ein Raunen ging durch den Raum. Dann redeten alle durcheinander.

Julia schlug die Beine übereinander und seufzte. Die Aufregung würde sich in ein paar Tagen gelegt haben und alle würden zur Tagesordnung übergehen. Warum also nicht gleich akzeptieren, was unvermeidlich war? Und mit Umzügen hatte sie Erfahrung. Paul und sie waren in den letzten zehn Jahren drei Mal umgezogen, immer beruflich bedingt. Sie warf einen Blick auf die Uhr und fragte sich, wie lange sich die Debatte noch hinziehen würde.

Volker hob beschwichtigend die Arme und versuchte sich Gehör zu verschaffen. »Leute, ich bin nur der Überbringer der schlechten Nachricht.«

»Aber zwei Wochen … das ist wohl ein schlechter Scherz!«, übernahm Gerd wieder die Rolle des Wortführers. »Erst wird monatelang debattiert, ob wir mehr Feuerschutztüren brauchen, ob wir die Decken zur Schalldämpfung isolieren oder nur kleine Schallwände zwischen die Schreibtische montieren und ob der neue Teppich taubengrau oder doch lieber marineblau werden soll – und jetzt soll das Gebäude so baufällig sein, dass wir kaum Zeit haben, unsere Sachen zu packen. Wo sollen wir überhaupt hin? Hat sich darüber schon jemand Gedanken gemacht?«

»Wir werden erst einmal Büroräume im Industriegebiet anmieten«, kam die Antwort.

Die Aussicht, das Redaktionsgebäude in der Innenstadt gegen ein steriles Bürogebäude weit außerhalb im Industriegebiet einzutauschen, stieß erwartungsgemäß auf Protest. Volker zeigte sich unbeeindruckt, doch verlor er langsam die Geduld. »Ob es uns nun passt oder nicht: In spätestens zwei Wochen ist hier für uns Schicht im Schacht. Das heißt, uns bleibt nicht viel Zeit, und wir sollten sie auf keinen Fall mit aussichtslosen Debatten vergeuden. Vergesst nicht, wir haben eine Zeitung zu machen, und es ist unseren Lesern völlig egal, ob wir gerade in schlechter Stimmung sind, weil unser angestammtes Redaktionsgebäude zur Bruchbude erklärt wurde.«

Endlich hatte er ein Machtwort gesprochen! Julia lehnte sich zurück und schaltete innerlich ab. Sie verstand nicht, wie sich manche ihrer Kollegen so hineinsteigern konnten. Ihr kam der Umzug ins Industriegebiet sogar gelegen, da sie sich den Weg durch die Innenstadt sparte.

Sie hatte ganz andere Sorgen. Für Ben musste sie sich dringend etwas überlegen, und Lilly hatte in der Schule in allen Hauptfächern stark nachgelassen. Bis auf Musik und Sport schien sie sich für nichts mehr zu interessieren. Nur ihre guten Leistungen aus dem ersten Halbjahr hatten sie gerettet und dafür gesorgt, dass sie mit einigermaßen passablen Noten in die siebte Klasse versetzt werden würde. Julia kaute auf ihrem Stift herum. So konnte das nicht weitergehen.

Volker schien zum Ende zu kommen. »Also, Verena wird sich um alles kümmern, damit der Umzug reibungslos und schnell vonstattengeht: Umzugsfirma beauftragen, IT-Spezialisten und Fernmeldetechniker organisieren – der ganze Kram. Büroräume inspizieren, die Einteilung vornehmen, wer wo sitzt – natürlich in Abstimmung mit mir, versteht sich – und so weiter.« Er klatschte in die Hände und machte eine zupackende Geste. »Und ihr könnt langsam anfangen zu packen.«

Die anderen verließen den Raum und Julia schob sich an den Kollegen vorbei nach vorne.

»Für dich heißt es natürlich schnell packen«, sagte Volker und deutete auf den Stuhl gegenüber.

Julia wollte entgegnen, dass sie das am Sonntag machen würde, wenn die Kinder weg wären, doch dann ging ihr auf, dass er gar nicht ihren Englandaufenthalt, sondern den Umzug meinte. Im Geiste überschlug sie ihre Chancen, sich morgen Zeit dafür freizuschaufeln. Nein, das konnte sie sich abschminken. Sie schloss resigniert die Augen, während sie sich setzte. Das bedeutete zwangsläufig, dass sie das heute Abend noch erledigen musste. Irgendwie musste es gehen, und jammern half nichts. Irgendwie ging es immer.

Ornament

Während Julia den Schlüssel ins Haustürschloss steckte, fiel ihr siedend heiß ein, dass sie Lillys Abschlusskonzert vergessen hatte. Ben saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher, nachdem er eine Viertelstunde zuvor von Julias Freundin Christine abgeliefert worden war.

»Hallo Schatz. Wo ist Lilly?«, begrüßte sie ihren Sohn. »Ben?«

»Keine Ahnung«, antwortete er, ohne den Blick von seinem Zeichentrickfilm zu wenden.

Julia lief die Treppe hoch und klopfte an Lillys Zimmertür. Sie drückte die Klinke, doch sie war verschlossen. »Lilly, es tut mir leid. Bitte mach die Tür auf!«

Julia wartete einen Moment und lauschte, doch drinnen bewegte sich nichts. Sie klopfte erneut. »Lilly, bitte! Lass uns miteinander reden!«

Der Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Julia trat einen Schritt zurück, doch die Tür blieb zu. Zögernd trat sie ein. Lilly stand mit dem Rücken zu ihr zwischen Schreibtisch und Bett am Fenster und hatte die Arme verschränkt. Julias Herz krampfte sich zusammen, während sie die zarte Gestalt ihrer zwölfjährigen Tochter betrachtete.

»Du wolltest reden«, hörte sie sie leise sagen.

»Schatz, es tut mir leid«, begann Julia und schüttelte hilflos den Kopf, weil sie wusste, dass sie dieselben Gründe nennen würde, die immer herhalten mussten. »Ich konnte einfach nicht weg. Volker hatte ganz kurzfristig eine Besprechung angesetzt und da konnte ich nicht einfach …«

»Du hättest anrufen können.«

»Das wollte ich ja, aber du kannst dir nicht vorstellen …«

»Du hast es vergessen.« Lilly drehte sich um und sah ihrer Mutter ins Gesicht. In ihrem Blick lag Resignation, und das war schlimmer als die Wut, mit der Julia gerechnet hatte. Bei all dem Trubel in der Redaktion hatte sie tatsächlich nicht mehr an das Konzert gedacht, das Lillys Orchester zum Abschluss des Schuljahres veranstaltete. So oder so wäre sie vermutlich nicht rechtzeitig weggekommen.

»Du hast recht, ich habe es vergessen«, gab sie zu und Lilly senkte den Blick. »Es tut mir sehr leid, Lilly. Ich wäre gern dabei gewesen.«

Eine ganze Weile sagte keiner etwas. Julia hätte ihre Tochter am liebsten in den Arm genommen, aber sie traute sich nicht, sie zu berühren.

»Papa war da«, sagte Lilly schließlich.

Julia zog die Augenbrauen zusammen. »Wieso war Papa da? Ich dachte, er kann nicht.«

»Er hat mich gestern auf dem Handy angerufen, dass er doch kann.«

»Und wieso sagst du mir das nicht?«

Lilly gab keine Antwort.

Julias gedrückte Stimmung schlug in Ärger um. »Wieso sagt Papa mir das nicht? Ich renne den ganzen Tag von einem Termin zum nächsten. Für alles bin ich zuständig und muss an tausend Sachen denken. Und wenn dein Vater mir mal einen Termin abnehmen könnte, hält er es nicht für nötig, mich zu informieren.«

»Papa redet nie so über dich.«

»Papa hat auch überhaupt keinen Grund dazu. Er …« Julia brach ab und biss sich auf die Zunge.

»Ich wollte, dass ihr beide kommt, Mama.«

Lilly sagte es so leise, dass es kaum zu hören war. Sie schlug die Augen nieder und Julia sah, wie ihr eine Träne über die Wange rollte.

»Ach, Lilly.« Seufzend zog sie ihre Tochter an sich. Den Blick in die Ferne gerichtet, küsste sie ihre Stirn und schloss die Arme fest um sie.

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Der Dienstag war so voll, dass Julia schon vor dem Abendessen am liebsten nur noch ins Bett gefallen wäre, was ungewöhnlich war für sie. Abends lief sie normalerweise zur Höchstform auf, wovon sie in ihrem Job sehr profitierte. Sobald die Kinder im Bett waren, klappte sie ihr Notebook auf und holte nach, was sie tagsüber nicht geschafft hatte. In letzter Zeit hatte sie fast wie früher zahlreiche Termine bei Abendveranstaltungen wahrgenommen. Auf Großeltern in der Nähe konnte sie nicht zurückgreifen und mit Paul zu planen, war schon vor ihrer Trennung schwierig gewesen. Aber sie hatte sich ein recht stabiles Netz aufgebaut, worauf sie ein bisschen stolz war.

Fiel der Babysitter aus, waren da noch Christine, auf die meistens Verlass war, oder Karen, die Mama von Bens Kindergartenfreund Anton. Auch Mia und Rolf, die nur zwei Häuser weiter wohnten, halfen gelegentlich aus. Natürlich bedeutete das für Julia, im Gegenzug ebenfalls einzuspringen, wenn Not am Mann war. Eine Hand wusch die andere. Ihr Zeitplan war straff, ständig musste kurzfristig umdisponiert werden, aber irgendwie ging es.

Dass ihr Lillys Konzert in all dem Stress durchgerutscht war, ärgerte sie. Natürlich tat es ihr in erster Linie für Lilly leid, die sie enttäuscht hatte. Aber dass Paul am Ende besser dastand als sie, wurmte sie. Schließlich war sie diejenige, die zu Hause alles am Laufen hielt.

Julia seufzte und stellte die Teller zusammen. Sie hatte mit den Kindern zusammen Hawaiitoast gemacht, um Lilly wieder versöhnlich zu stimmen. Lilly liebte Ananas in jeder Form und sie genoss es, etwas mit ihrer Mutter gemeinsam zu tun. Richtig gelöst war sie gewesen und hatte mit großem Appetit gegessen, bevor sie nach oben verschwunden war, um zu packen.

Julia räumte die Spülmaschine ein. Sie bat Ben, sich umzuziehen, und versprach, ihm eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, sobald sie die Küche aufgeräumt hätte. Als sie fertig war, saß Ben mit einem Piratenbuch im Bett und machte ihr Platz. Julia legte sich zu ihm und nahm ihn in den Arm. Sie gähnte, noch bevor die erste Seite zu Ende war, und hatte Mühe, die Augen aufzuhalten. Ben rüttelte ungeduldig an ihrer Schulter, weil sie immer wieder einnickte.

Das Klingeln war zuerst weit weg. Julia konnte es nicht zuordnen und fragte sich, warum es nicht endlich aufhörte. Dann kam sie zu sich und war plötzlich hellwach. Das Licht brannte und Ben lag halb auf ihr. Das Telefon klingelte immer noch. Ihr Blick fiel auf den Wecker. Dreiundzwanzig Uhr. Wer rief um Himmels willen um diese Zeit noch an? Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, zog sie ihren Arm unter Bens warmem Körper hervor. Das Telefon verstummte, bevor der Anrufbeantworter ansprang. Der Kleine drehte sich auf die andere Seite und rollte sich zusammen. Julia deckte ihn zu und löschte das Licht. Als sie die Tür anlehnte, klingelte es wieder.

Es war Paul. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt.«

Julia strich sich durch ihr Haar, während sie in die Küche ging. »Doch, hast du.«

»Das tut mir leid.«

Sie goss sich ein Glas Mineralwasser ein. »Muss es nicht. Ich habe noch jede Menge zu erledigen, und die Koffer der Kinder sind auch noch nicht fertig gepackt für morgen. Also, was gibt es so Wichtiges?« Sie trank einen Schluck und setzte sich.

Paul räusperte sich. »Ehrlich gesagt, rufe ich deswegen an.« Er klang kleinlaut.

Julia stellte ihr Glas geräuschvoll auf den Tisch. »Jetzt sag bitte nicht, dass dir etwas dazwischengekommen ist.«

Als Paul nicht gleich antwortete, wusste sie, dass sie richtig lag. Er eröffnete ihr, dass ihm tatsächlich ein wichtiger Fall dazwischengeraten sei, der ihn zwang, seinen Urlaub zu verschieben.

Sie kräuselte die Lippen und schüttelte den Kopf. Eigentlich unfassbar, was er da sagte, doch wieso überraschte es sie nicht? Sie wusste, worauf es hinauslaufen würde, doch sie versuchte es trotzdem. In ruhigem Ton fragte sie: »Und wie gedenkst du das Problem zu lösen? Du weißt, ich bin ab übermorgen in England und du bist die nächsten vierzehn Tage für die Kinder zuständig. Das hast du mir zugesagt.«

»Ich dachte, vielleicht könntest du die Kinder mitnehmen?«

Julia stieß einen spöttischen Laut aus. »Das ist deine Lösung? Ich soll die Kinder mitnehmen? Falls du es nicht mitbekommen hast, ich bin zum Arbeiten dort und nicht, um Urlaub zu machen. Du bist derjenige, der ab morgen Urlaub hat, eingereicht vor mehr als zwei Monaten.«

»Es tut mir leid. Ich weiß selbst, dass das keine optimale Lösung ist, aber ich fürchte, uns bleibt keine andere Wahl. Deine Eltern sind auf Kreuzfahrt und …«

»Lass bloß meine Eltern aus dem Spiel. Es ist ihr gutes Recht, Urlaub zu machen!«

»So habe ich das nicht gemeint. Ich wollte nur sagen, dass wir die Kinder nicht zu deinen Eltern bringen können. Und sonst fällt mir ehrlich gesagt niemand ein, der sie für zwei Wochen nehmen könnte.«

Julia wusste, dass er recht hatte. So kurzfristig würden sie niemanden finden. Ihre Freundin Christine war die Einzige, der sie die Kinder länger als zwei Tage zumuten konnte, und die fuhr nächste Woche mit ihrer Familie in den Urlaub. Julias Brüder wohnten weit weg, hatten selbst keine Kinder und kamen als Babysitter ohnehin nicht infrage. Paul hatte keine Geschwister, und seine Eltern waren schon lange tot. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, noch bevor Julia und Paul sich kennengelernt hatten. »Ich sehe immer noch nicht ein, wieso ich dein Problem zu meinem machen soll. Es sind deine zwei Wochen«, sagte sie trotzig.

Pauls Tonfall wurde eindringlich. »Bitte, Julia. Es ist sehr wichtig für mich. Könntest du wenigstens fragen?«

Julia blies hörbar Luft aus. Warum war seine Arbeit wichtiger als ihre?

»Das Gute daran wäre«, fuhr Paul fort, »dass ich die Kinder vielleicht trotzdem sehen könnte.«

Wie war das nun wieder gemeint?

»Ich würde morgen Mittag nach England fliegen. Wir ermitteln in einem Mordfall, und das Opfer kommt aus Speyer.«

Darum ging es also. Kein Wunder, dass sie Paul dafür wollten. Und kein Wunder, dass Paul den Fall übernehmen wollte. Er hatte während seiner Schulzeit zwei Jahre mit seinen Eltern in der Nähe von London gelebt. Und er hatte ein dreimonatiges Praktikum beim CID, der Abteilung für Kriminalfälle von Scotland Yard, absolviert. Davon schwärmte er immer noch, obwohl es über fünfzehn Jahre her war. »Und dein Fall ist quasi um die Ecke von Amberley?«, fragte sie spöttisch.

»Nicht ganz. Von Portsmouth aus sind es keine zwei Stunden.«

»Und wenn sie Nein sagen?«

»Würdest du bitte fragen?«

Voegel

2

Die Nacht war kurz gewesen. Julia hatte nur wenige Stunden geschlafen. In aller Frühe war sie aufgestanden, hatte Lilly geweckt und den noch schlafenden Ben zum Taxi getragen. Die letzten vierundzwanzig Stunden war sie damit beschäftigt gewesen, zu packen und die folgenden zwei Wochen umzuorganisieren. Im Grunde war sie es gewohnt. Sie machte Pläne, die Paul kurzfristig umwarf, und sie war diejenige, die schauen musste, wie sie wieder alles unter einen Hut bekam. Zumindest daran hatte sich nichts geändert.

Julia nahm dankbar den Kaffee entgegen, den ihr die Stewardess reichte. Ben drückte sich am Fenster die Nase platt und Lilly, die zwischen ihnen saß, war in eine Zeitschrift vertieft oder tat zumindest so. Seit zwei Tagen hatten sie nur das Nötigste miteinander gesprochen.

Julia rührte nachdenklich in ihrem Kaffee. Vielleicht hätte sie Paul einfach hängen lassen sollen. Wie oft hatte sie das schon gedacht? Wenn nur nicht am Ende die Kinder darunter zu leiden hätten.

Früher hätte sie wahrscheinlich alles abgesagt. Eine Vor-Ort-Recherche mit den Kindern – unmöglich. Aber diese Zeiten waren vorbei. Die jetzige Lösung war zwar nicht optimal, aber immerhin kreativ. Sicher bekam sie auf diese Art noch tiefere Einblicke in das Leben auf dem Bruderhof und möglicherweise einen ganz anderen Zugang zu den Menschen dort. Ein Anruf bei den Bruderhöfern hatte genügt, und die Sache war geregelt. Die freuten sich sogar auf die Kinder.

Lilly blätterte geräuschvoll eine Seite um. Sie zog die Schuhe aus und drehte sich so, dass sie Julia fast den Rücken zuwandte. Dass sie enttäuscht war, konnte Julia nachvollziehen, auch wenn es am allerwenigsten ihre Schuld war. Das Problem war, dass Lilly ihr neuerdings gern an allem die Schuld gab. Sie warf ihr vor, ihren Papa im Stich gelassen zu haben.

Genau genommen hatte sie sogar recht damit. Wenn es nach Paul gegangen wäre, würden sie wahrscheinlich noch alle gemeinsam unter einem Dach leben. Aber so einfach waren die Dinge nun einmal nicht. Das würde auch Lilly mit der Zeit verstehen. Zumindest hoffte Julia das.

Genau wie sie hoffte, dass Lilly sich mit den Gegebenheiten während der folgenden zwei Wochen irgendwie arrangierte. Paul hatte gestern nur kurz mit ihr und Ben telefonieren können, weil er zum Flughafen musste.

Zuerst hatte Lilly getobt, dann hatte sie erklärt, dass sie auf gar keinen Fall mitkäme, und als sie gemerkt hatte, dass es nichts nützte, sich aufzulehnen, hatte sie sich damit begnügt, zu schmollen und ihrer Mutter wütende Blicke zuzuwerfen.

Julia hatte weder Zeit noch die Nerven gehabt, sich weiter mit ihr auseinanderzusetzen. Sie sah nicht ein, warum sie nun auch in Bezug auf Lillys Laune ausbaden sollte, was Paul ihr eingebrockt hatte. »Beschwer dich bei Papa und nicht bei mir«, hatte sie irgendwann zu Lilly gesagt. Sie rutschte tiefer in ihrem Sitz, streckte die Beine in den Gang und schloss bis kurz vor der Landung die Augen.

Ornament

Julia wuchtete den letzten Koffer vom Gepäckband. Dann machten sie sich auf den Weg zum Mietwagenschalter. Die Formalitäten waren schnell erledigt, das Auto hatte sie bereits von zu Hause aus gebucht.

Das Wetter war herrlich. Julia blinzelte in die Sonne. Keine einzige Wolke am Himmel. Sie warf ihre dünne Strickjacke in den Kofferraum und setzte die Sonnenbrille auf. Links fahren, ermahnte Julia sich und fädelte in den Verkehr ein. Sie nahmen die Autobahn M 25 Richtung Südwesten.

»Und was sollen wir dort bitte schön den ganzen Tag machen?« Es war das Erste, was Lilly sagte, seit sie eingecheckt hatten, sah man von ein paar einsilbigen und kaum verständlichen Antworten ab, die sie mit ausdrucksloser Miene gemurmelt hatte.

Julia wusste es selbst nicht genau. »Das wird sich schon finden.«

»Aha.«

»Wie wäre es mit … neue Leute kennenlernen?«

»Hinterwäldler meinst du wohl, die rumlaufen wie im letzten Jahrhundert. Nein danke – ohne mich!«

»Du musst sie ja nicht mögen. Aber du würdest davon profitieren.«

»Bitte?«

»Du könntest dein Englisch verbessern zum Beispiel.«

»Na toll! In den Ferien!«

»Warum denn nicht in den Ferien?« Wo du es doch bedauerlicherweise während der Schulzeit nicht getan hast, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Weil Ferien zum Erholen da sind. Zum Spaßhaben. Zum Nicht-an-die-Schule-Denken.«

»Na dann …« Es hatte keinen Sinn zu diskutieren. Egal, was sie sagte, Lilly war einfach sauer, dass der Urlaub mit ihrem Vater so kurzfristig ins Wasser gefallen war.

Julia warf ihrer Tochter einen kurzen Blick zu. Lilly lehnte mit ihrer Stirn so an der Scheibe, dass sie ihr Gesicht nicht sehen konnte. Das Maximum an Distanz in dem kleinen Auto.

Julia konnte ihr die schlechte Laune nicht verübeln. Statt zwei Wochen Spaß haben mit Papa gab es nun Englisch lernen bei »Unsere kleine Farm«.

Sie wechselten kurz auf die M 26, verließen dann die Autobahn und bogen auf die Landstraße in Richtung Sevenoaks/Hastings ab. Sie passierten einige Roundabouts, und nach dem siebten Kreisverkehr wurde die Straße schmaler, sodass zwei Autos gerade aneinander vorbeipassten. Die Straße war gesäumt von weiß blühenden, hohen Hecken, die sich durch die hügelige Landschaft schlängelten. Jetzt im Sommer haben sie etwas Wildes, Unbezähmbares an sich, dachte Julia. Als würden sie sich nach jedem Schnitt mit ihren jungen Trieben noch trotziger gen Himmel recken.

»Wie lange dauert es noch?«, ertönte Bens helle Stimme vom Rücksitz. »Mir ist so warm.«

Julia warf einen Blick auf das Navigationssystem. Sie war erleichtert, dass sie es fast geschafft hatten. »Nicht mehr lange. Wir müssten eigentlich gleich da sein.«

Sie öffnete das Fenster ein wenig. »Schaut mal, da vorne das Schild. Ich glaube, das muss es sein.« Sie kniff die Augen zusammen, »Robertsbridge, Amberley«, las sie vor, sobald sie den Schriftzug entziffern konnte.

Die Hecken endeten und wurden von Laubbäumen abgelöst. Sie folgten der Beschilderung und nahmen die Abzweigung durch ein Wäldchen auf einen asphaltierten Privatweg, bis die Bäume verschwanden und den Blick auf saftige Wiesen und bestellte Felder freigaben. In der Ferne, etwas erhöht, waren Häuser zu erkennen. Die Straße wand sich die hügelige Landschaft entlang, bis sie hinter einer Kurve ein ovales Schild aus massivem dunklem Holz erreichten. Es war mit einer schweren Eisenkette an zwei Pfosten befestigt und markierte offenbar den Beginn des Dorfes. Welcome to Amberley stand dort in schön geschwungenen Lettern.

»Sind wir da, Mama?«

»Sieht ganz so aus.«

Auf der rechten Seite befand sich eine Lagerhalle mit einigen parkenden Autos davor. Es folgte eine Kurve und nach etwa zwanzig Metern mit leichtem Anstieg noch eine Kurve. Die eigentliche Straße endete hier.

Sie kamen vor einer Schranke mit einem Pförtnerhaus zum Stehen. Ein junger Bursche im Holzfällerhemd streckte den Kopf zum Fenster heraus. Julia nannte ihren Namen, worauf er ihr freundlich zunickte und die Schranke öffnete. Unsicher, wie es weitergehen sollte, ließ sie den Wagen langsam den Weg entlangrollen. Im Rückspiegel sah sie, wie der junge Mann aus der Tür trat und mit schnellen Schritten am Auto war. Er bedeutete ihr, ihm zu folgen, und lotste sie an mehreren Backsteinhäusern vorbei zu einem großen Haus, wovor sie parken sollte.

Auf der rechten Seite erstreckte sich eine große Rasenfläche, umgeben von breiten Wegen, bis zu weiteren Gebäuden, die meisten von ihnen aus dunkelrotem Backstein mit weißen Sprossenfenstern und grünen Türen und Dachgiebeln. Holzbänke mit Tischen dazwischen und mehrere Schaukeln waren an den Seiten des Rasens verteilt.

»Mama, die haben sogar was für Kinder«, rief Ben aufgeregt. »Darf ich mit dem Roller dort fahren?«

»Vielleicht später, mein Schatz. Lass uns erst mal richtig ankommen«, vertröstete sie ihn.

Als sie ausstiegen, sah Julia sich suchend nach ihrem Einweiser um. »Wo ist er hin?«

»Keine Ahnung«, antwortete Lilly. »Vielleicht mit seinen schicken Hosenträgern in sein Pförtnerhäuschen zurück. Was weiß ich.«

Julia überhörte die Spitze. »Was meint ihr – sollen wir schon mal unsere Koffer ausladen?«

»Du weißt doch gar nicht, ob wir wirklich hier wohnen werden«, entgegnete Lilly. »Schau mal, da kommt jemand. Einmal Dirndl hochgeschlossen mit weißen Socken und Turnschuhen.«

Julia wandte sich um. Eine Frau in Hutterertracht mit hell getupftem Kopftuch kam quer über den Rasen zu ihnen. Im Gehen band sie sich ihre Schürze ab und winkte ihnen zu.

»Reiß dich bitte zusammen!«, raunte Julia ihrer Tochter zu und winkte zurück.

»Herzlich willkommen auf dem Bruderhof!«

Julia blickte in ein Paar sehr hellblaue Augen und erwiderte den festen Händedruck. Die Frau, die sie mit einem offenen Lächeln und charmantem Akzent auf Deutsch begrüßte, war einen halben Kopf kleiner als sie. Jetzt, wo sie direkt vor ihr stand, bemerkte Julia, dass ihr kariertes Kleid aus zwei Teilen bestand: einem weiten Rock und einem ärmellosen Oberteil, und darunter trug sie eine kurzärmelige weiße Bluse mit rundem Kragen.

»Ich heiße Rachel«, sagte sie. »Wir freuen uns darauf, euch kennenzulernen.«

Das Haus hatte vier Stockwerke und bestand aus mehreren Wohnungen. Die Aufteilung war auf den ersten Blick verwirrend. Im Erdgeschoss wohnte Rachel mit ihrer Familie. Julia und die Kinder waren in einem Zimmer im ersten Obergeschoss untergebracht.

Zwei Stockbetten, ein Bücherregal, ein breiter Schrank und ein Tisch mit vier Stühlen. Jugendherbergs-Feeling, dachte Julia. Einziger Luxus, wenn man so weit gehen wollte, waren ein Wasserkocher auf einem Tablett, eine hübsche Teebox, vier Tassen, Löffel, Milch und Zucker.

»Das Bad befindet sich schräg gegenüber«, erklärte Rachel und deutete über den Flur.

Julia nickte. »Wo sind denn die anderen …« Sie suchte nach dem passenden Wort. »… Bewohner? Es ist so still.«

Rachel lachte. »Das wird sich nachher ändern. Im Moment sind alle bei der Arbeit, die Kinder in der Schule oder in ihren Gruppen. Spätestens beim Essen werdet ihr sie alle sehen.«

»Und wann …«