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  Christine Schirrmacher– Die Scharia | Recht und Gesetz im Islam– SCM Hänssler

SCM | Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-7751-7211-0 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-4657-9 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

3. Auflage 2012

© der deutschen Ausgabe 2007
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Alle Koranangaben richten sich nach der Zählung der Kairiner Standardausgabe von 1923/24

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Inhalt

Kurz und bündig

Vorwort des Herausgebers

I Was ist die »Scharia«?

Warum sind im Islam Recht und Religion so miteinander verzahnt?

Der Begriff der Scharia

Die Scharia – der »Weg zur Tränke« – Gottesrecht nur in der Theorie?

Aus welchen Quellen heraus entstand die Scharia?

Der Koran

Die Überlieferung

Die Auslegungen der Theologie

Was bedeutet der Anspruch der Scharia in der Praxis?

Alte Quellen – neue Interpretationen

Kein oberstes Lehramt

Was sind die Besonderheiten der Scharia?

Die Scharia – ein praktikables Rechtssystem?

II Hauptinhalte der Scharia

Das Ehe- und Familienrecht

Fortschritte im islamischen Familienrecht

Erweiterung der Frauenrechte

Die Problematik des »Gehorsams« der Frau

Wo sind Männer rechtlich bevorzugt und Frauen benachteiligt?

Das islamische Strafrecht

Was sind »Grenzvergehen«?

Was sind Verbrechen mit Wiedervergeltung?

Was sind Ermessensvergehen?

Wird die Scharia ihrem Anspruch gerecht?

Der Kampf um die Durchsetzung der Scharia

III Scharia auch in Deutschland?

Die Migration von Muslimen nach Deutschland

Umgang mit dem Islam – Realitätssinn oder Verweigerung?

Der organisierte Islam in Deutschland

Die Schariadiskussion in Europa heute – Ergänzung der 2. Auflage

IV Literatur

Zum Thema Islam allgemein

Zum Thema Scharia

Zum Thema Frauen im Islam

Zum Thema Ehrenmord

Zum Thema Menschenrechte im Islam

Zum Thema Abfall vom Islam

Quellen

Anmerkungen

Kurz und bündig …

Geht es Ihnen nicht auch so? Über manch einen Themenbereich würde man gerne als Normalbürger Bescheid wissen (oder muss es vielleicht sogar). Doch was die Fachleute schreiben, ist im Normalfall zu kompliziert und zu umfangreich. Wer hat schon Zeit, sich in jedes Thema wochenlang einzuarbeiten!?

Hier wollen wir Hilfestellung leisten. In Hänssler kurz und bündig geben Fachleute, die sich mit einem Thema schon seit Jahren intensiv beschäftigen, kurz und verständlich einen Überblick über das, was man wissen muss, wenn man Bescheid wissen will und mitreden können möchte.

Dabei enthält jeder Band der Reihe Hänssler kurz und bündig die folgenden Elemente:

• Fakten und Basisinformationen

• die Diskussion kontroverser Fragen

• praktische Hilfen und Hinweise zum Weiterarbeiten

All das ist so angelegt, dass der Leser sich in zwei bis drei Stunden (also etwa statt des Abendkrimis oder auf einer Zugfahrt) ein Thema in seinen Grundlagen aneignen kann. Die Anwendung im Leben oder das anschließende Gespräch mit anderen wird dann aber sicher etwas länger dauern …

Ich würde mir wünschen, dass dieser kleine Band Ihren Horizont erweitern kann und die Informationen liefert, die Sie suchen.

Thomas Schirrmacher

Vorwort des Herausgebers

In früheren Jahrhunderten mag für den Westen die Frage, wie das islamische Rechtssystem funktioniert, gleichgültig gewesen sein. Doch im Zeitalter der Globalisierung können wir es uns gar nicht mehr leisten, das Rechtsverständnis, das in islamischen Ländern zumindest teilweise gilt und das zumindest theoretisch für 1 Milliarde Muslime von Bedeutung ist, zu ignorieren. Längst sind wir von den Auswirkungen auch in unserem Alltag betroffen, durch die große Weltpolitik ebenso wie dadurch, dass Muslime unsere Nachbarn sind und die Frage der Gültigkeit islamischer Rechtsbestimmungen vor deutschen Gerichten verhandelt wird.

Das Recht der europäischen Staaten ist eine Mischung aus christlicher Ethik und Geschichte, griechisch-römischer Zivilisation und Errungenschaften von Aufklärung und Demokratie. Keine dieser drei Wurzeln hilft uns, die Rechtssysteme anderer Kulturen wie das islamische oder chinesische wirklich zu verstehen. Zu anders funktioniert dort die Gesellschaft, die Familie, das Verhältnis von Staat und Religion oder das Gefüge von Scham und Schuld. Deswegen muss uns jemand an die Hand nehmen, der uns kurz und bündig in diese fremde Welt einführt.

Es gibt nur wenige Fachleute, die die Scharia von ihren Originalquellen her kennen und ihre unterschiedliche Ausprägung weltweit in Geschichte und Gegenwart studiert haben. Und von diesen sind wiederum nur einzelne in der Lage, ihr Fachwissen so knapp und verständlich – kurz und bündig – so zusammenzufassen, dass sie dem Einzelnen nützen, der seine Nachbarn verstehen oder alltägliche Zeitungsberichte aus der islamischen Welt einordnen möchte. Die Autorin dieses Bandes hat in Fachbüchern und Fachvorträgen auf wissenschaftlichen Symposien bewiesen, wie gründlich und differenziert sie sich seit Langem mit der Bedeutung der Scharia weltweit beschäftigt hat, zugleich aber in Büchern wie »Kleines Lexikon zur islamischen Familie« gezeigt, dass man dieses Wissen allgemein verständlich zusammenfassen kann, sodass es jedem nützt, der im Alltag mit Menschen muslimischer Herkunft zu tun hat.

Thomas Schirrmacher

I Was ist die »Scharia«?

Vor wenigen Jahren hätten die meisten Menschen in Deutschland wohl noch ein Lexikon bemühen müssen, um den Begriff »Scharia« nachzuschlagen. Seit Kurzem jedoch, insbesondere seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001, taucht der Begriff in Presse- und Medienberichten immer stärker auf – aber ist er inhaltlich auch klarer geworden?

Häufig wird er als Schlagwort benutzt, um den Einfluss des Islam in Deutschland zu beschreiben. Nicht alles, was mit dem Islam zusammenhängt, hat aber auch mit dem Thema Scharia zu tun. Manches gehört eher in den Bereich gesellschaftlicher Entwicklungen, die durch die Gastarbeitermigration ab den 1960er-Jahren lange unbemerkt und auch bewusst ignoriert vor sich gingen, bis sich heute endlich in aller Klarheit abgezeichnet hat, dass eine Zahl von rund 3,2 bis 3,4 Mio. Muslimen (mit steigender Tendenz) dauerhaft in Deutschland und etwa 16 bis 20 Mio. Muslime in ganz Westeuropa leben werden. Damit betrifft das Thema der Scharia nicht mehr nur Nahostexperten und Islamwissenschaftler, sondern eigentlich jeden, der in Europa und in Deutschland lebt.

Insbesondere für den juristischen Bereich ist die Thematik von Belang. So hat sich die Rechtsprechung in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht nur mit Urteilen zum lautsprecherverstärkten Gebetsruf, zum Moschee- und Minarettbau und zum Kopftuch beamteter Lehrerinnen beschäftigt, sondern auch mit der Erlaubnis zum betäubungslosen Schlachten (Schächten) von Tieren, mit Ehrenmorden, Zwangsheiraten und Befreiungen von Klassenfahrten, Schulsport und Biologieunterricht. In arabischen Ländern erben Frauen häufig nur die Hälfte, ihr Zeugnis in Strafrechtsprozessen ist vor Gericht nur eingeschränkt oder gar nicht rechtsgültig, sie werden bei Anklage wegen Ehebruchs härter bestraft und können in vielen Ländern nichts gegen eine Zweit- oder Drittheirat ihres Ehemannes oder ihre Verstoßung und den Entzug ihrer Kinder nach der Scheidung unternehmen.

Das alles hat mit der Scharia zu tun, ohne dass wir einen Rechtstext oder ein Gesetzbuch der Scharia aufschlagen und diese Vorschriften darin finden würden. Die Scharia ist kein in Rechtstexte gegossenes Buch von Vorschriften, aber auf der anderen Seite auch keine unbestimmbare, verschwommene Größe, die nur in der Theorie existierte. Sie ist einerseits interpretierbar und damit prinzipiell flexibel, andererseits stammen ihre Wurzeln aus der Zeit des 7. bis 10. Jahrhunderts n. Chr.

Manche Frauenrechtlerinnen oder Menschenrechtsaktivisten betonen, dass der Islam gar nichts mit einer Unterdrückung der Frau zu tun habe und die Scharia ihre rechtliche Benachteiligung eigentlich nicht vorsähe, sondern diese einer frauenfeindlichen Interpretation zuzuschreiben sei. Ist die Scharia also in ihrer Reinform ein Werkzeug der Gleichberechtigung und ein Hort der Freiheit, der nur durch Machtmissbrauch und Fehlinterpretation zum Unterdrückungsinstrument in der Hand politischer wie religiöser Eliten wird?

Dieses Buch legt in allgemein verständlicher Weise dar, was die Scharia ist, wie sie sich ursprünglich entwickelte und wie sie heute interpretiert wird, welche Themenbereiche sie abdeckt und wozu sie sich nicht äußert und was das für das Zusammenleben von Christen und Muslimen in Europa bedeutet.

Was die Scharia nicht ist

• Ein abgeschlossener Strafrechtskatalog

• Ein Gesetzbuch, das man käuflich erwerben und ins Regal stellen könnte

• Eine gedruckte Sammlung von Gesetzen, in der man die Scharia-Strafen etwa für Ehebruch, Mord und Diebstahl nachschlagen könnte

Was die Scharia ist

• Ein Ideal eines Gottesgesetzes, das die Mehrzahl der Muslime bis heute zumindest in der Theorie für unverändert gültig hält

• Eine interpretierbare Sammlung von Vorschriften aus mehreren Jahrhunderten. Weder die Vorschriften noch die Interpretationen sind an einer einzigen Stelle zusammengefasst.

• Ein Katalog von Geboten, der alle Lebensbereiche umfasst.

Warum sind im Islam Recht und Religion so miteinander verzahnt?

Als Muhammad, der Gründer und Stifter des Islam, um das Jahr 610 n. Chr. in seiner Heimatstadt Mekka den Glauben an den einen Gott, Allah, und die Verantwortung jedes Menschen nach dem Tod predigte, tat er dies vor allem als Warner vor dem Gericht und als Mahner, der die arabischen Stämme dazu aufforderte, ihre Vielgötterverehrung aufzugeben und sich dem einen Gott zu unterwerfen. Von 610 bis 622 blieb Muhammad vor allem ein Verkünder ethischer Werte und Normen, die teilweise echte Neuerungen waren und im Gegensatz zum altarabischen Gewohnheitsrecht standen, teilweise Kompromisse mit angestammtem Recht darstellten.

Aber in diesen ersten zwölf Jahren der Verkündigung des monotheistischen Glaubens traf Muhammad auf viele Widersacher, ja Feinde, sodass seine Lage in seiner Geburtsstadt Mekka immer bedrohlicher wurde. Als er schließlich durch einen Boykott so unter Druck geriet und seine Anhänger und Unterstützer an Zahl weiter gering und wenig einflussreich blieben, wanderte er im Jahr 622 in die Nachbarstadt Medina aus. Dieses Jahr wurde die eigentliche Geburtsstunde des Islam.

In Medina fand Muhammad eine völlig andere Situation vor, er gewann Einfluss nicht nur als religiöser Prediger, sondern auch als Gesetzgeber und Heerführer.1 Er führte mehrere Angriffs- und Verteidigungskriege – gegen die dort ansässigen drei jüdischen Stämme sowie gegen mehrere arabische Stämme – und er schuf zahlreiche gesetzliche Vorgaben zur Ordnung des Gemeindelebens der ersten muslimischen Gemeinde in Mekka.

Aus diesem Grund begegnen uns im Koran vor allem in Medina religiöse wie rechtliche Aspekte, die Gottesverehrung betreffende wie gesellschaftliche Regelungen, die miteinander verzahnt sind. Glaube, Gesellschaft und auch Politik (d. h. vor allem Kriegsführung und Kampf gegen die Feinde der jungen Gemeinde) stellten im frühen Islam eine Einheit dar, die durch die Person Muhammads, des Gesetzgebers, Propheten und Heerführers symbolisiert wurde. Daher vereint das islamische Recht religiöse wie gesellschaftliche Aspekte.

Die Art und Weise der Religionsausübung – vor allem die für jedermann verpflichtende Befolgung der Fünf Säulen des Islam (Bekenntnis, Gebet, Fasten, Almosen, Wallfahrt) – sind keine eigentlichen Privatangelegenheiten, die in das Belieben des Einzelnen gestellt wären, sondern ebenso wie erb- und familienrechtliche Fragen Bestandteil der Scharia, ebenso wie das Strafrecht. Theoretisch müsste dementsprechend zwischen den arabischen Staaten, die sich doch alle ausdrücklich auf die Scharia als wesentliche oder sogar wie der Sudan, Jemen oder Libyen auf die Scharia als einzige Rechtsgrundlage berufen, Übereinstimmung in der Behandlung konkreter Rechtsfragen bestehen. Das ist jedoch gar nicht der Fall.

Der Begriff der Scharia

Der Begriff »Scharia« wird häufig übertragen mit »islamisches Recht« oder »islamisches Gesetz«. Dies ist jedoch teilweise unzutreffend, denn dies legt nahe, dass es um einen Korpus eindeutig definierter Gesetze ginge, das durch ein gesetzgebendes Gremium erlassen worden wäre – was nicht der Fall ist.

Die Scharia umfasst sämtliche rechtlichen, mit dem Islam begründeten Regelungen für alle Lebensbereiche. Sie meint die Gesamtheit der Gebote Allahs, so wie sie im Koran und der islamischen Überlieferung niedergelegt und von maßgeblichen Theologen interpretiert wurden. Als »maßgeblich« gelten in allererster Linie Theologen aus der Zeit des 7.–10. Jahrhunderts n. Chr. Was nun der Koran jedoch genau rechtlich regeln will – lehrt er z. B. die Vielehe oder lehnt er sie gerade ab? –, darüber herrscht im Einzelfall unter Theologen durchaus Dissens, und in ihren Schriften finden sich unterschiedliche Auffassungen. Zudem gibt es zahlreiche Fälle, in denen die Überlieferung vom Koran abweichende Regelungen formuliert. Das bedeutet, dass es die Scharia als verfasstes Gesetz gar nicht geben kann.

Die Scharia behandelt gleichermaßen die vertikalen wie horizontalen Beziehungen jedes Menschen: Sie gibt Anweisungen für das ethische Verhalten in Familie und Gesellschaft (z. B. im Wirtschafts-, Erb-, Stiftungs-, Ehe- und Strafrecht), aber sie reglementiert auch die Glaubensausübung und die religiösen Handlungen wie die vielen Vorschriften zu Gebet, Fasten oder Wallfahrt. Der Ablauf des täglichen rituellen Gebets ist also ebenso wenig in das Belieben des Einzelnen gestellt wie die schariarechtlich notwendigen Klauseln eines Ehevertrags, die erfüllt sein müssen, um die Ehe zu einer rechtlich »gültigen« Ehe zu machen. Maurits Berger bezeichnet die Scharia zutreffend als:

»… ein Regelwerk für alles, was sich im Leben eines Menschen ereignen kann, für all sein Verhalten und seine gesamte Lebensweise. Sie beschäftigt sich gleichermaßen mit dem richtigen Verhalten im Badezimmer wie auf dem Schlachtfeld, auf dem Markt wie in der Moschee.«2

An der Theorie der unumstößlichen Autorität der Scharia als Gottesgesetz hat sich seit ihrer Entstehung zur Frühzeit des Islam insgesamt wenig geändert, obwohl es selbstverständlich auch kritische muslimische Stimmen gibt, die nachdrücklich für eine Reform der Scharia eintreten. Dennoch sind die Scharianormen, wie sie sich als ein Grundkorpus an Bestimmungen schon in den ersten Jahrhunderten des Islam herausbildeten, in islamisch geprägten Ländern in die Gesetzgebung aufgenommen worden, dies aber in unterschiedlichem Maß.