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Zum Buch

»Boccaccio ist nicht nur ein amüsanter und brillanter Erzähler. Er ist schlechthin auf dem Gebiet der Novelle der größte Künstler der Weltliteratur.«

HERMANN HESSE

Obwohl Boccaccio den Inhalt vieler seiner Erzählungen aus dem Fundus der Weltliteratur, aus Fabeln, Parabeln und der mündlichen Tradition schöpfte, gelang ihm mit dem Dekameron ein absoluter Klassiker und neben seinem großen Vorbild der Geschichten aus 1001 Nacht die wohl bekannteste Geschichtenanthologie überhaupt. Die Rahmenerzählung ist schnell wiedergegeben: Die Pest wütet in Florenz, drei junge Männer und sieben junge Frauen fliehen auf einen idyllischen Landsitz. Um sich dort die Zeit zu vertreiben, erzählen sie sich Geschichten. Die hundert kleinen Erzählungen voller Witz, Liebe, Erotik und Phantasie sind heute genauso amüsant und lehrreich wie vor fast 700 Jahren.

Vollständige Ausgabe
in der Übersetzung von Klabund

Giovanni Boccaccio

Das Dekameron

Giovanni Boccaccio

Das
Dekameron

In der Übersetzung
von Klabund

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8438-0406-6

www.marixverlag.de

Inhalt

Einleitung von Klabund

Der erste Tag

Der zweite Tag

Der dritte Tag

An die Leserinnen

Der vierte Tag

Der fünfte Tag

Der sechste Tag

Der siebente Tag

Der achte Tag

Der neunte Tag

Der zehnte Tag

Nachschrift des Verfassers

Einleitung von Klabund

Die Novelle ist aus dem Märchen, das Märchen aus dem Traum hervorgegangen. (In einigen Novellen des Decameron ist die Beziehung zwischen Novelle und Traum noch ganz deutlich; sechste Novelle des vierten Tages, siebte Novelle des neunten Tages.) Die Novelle darf an Charakter des Wunderbaren, Erstaunlichen nicht verlieren. Kobold, Elfe, Hexe, Dämon sind die bösen und guten Geister, die im unbewachten Traum aus der Tiefe der Menschenbrust steigen und im Märchen zu einer neuen Wirklichkeit verdichtet werden. Was Kobold und Dämon im Märchen, das wird, von Neuem sublimiert, in der Novelle zum Schicksal. Dieses Schicksal ist nichts anderes als die Ananke des griechischen Dramas. In der Tat ist die Novelle dem Drama ungleich näher verwandt als dem Roman, mit dem sie nur die äußere Form gemein hat. Nicht umsonst hat Shakespeare den Stoff zu vielen Dramen altitalienischen Novellen entnommen. Im Drama wie in der Novelle muss ein Menschenschicksal in einem Punkt kulminiert werden und sich himmlisch emporschwingen oder höllenhaft abstürzen. Das muss in der Novelle noch ungleich konzentrierter geschehen als im Drama. Die Novelle braucht eine (oder mehrere) Pointen. Sie ist der Unterbau der Pyramide, die über Anekdote, Epigramm im Witz gipfelt. Eine Novelle muss sich in These und Antithese derart zuspitzen, dass sie, paradox gesagt, ein Witz ist. Um ein klassisches Beispiel dafür zu wählen: die Novelle der Witwe von Ephesus des größten römischen Prosadichters Petronius, eines Zeitgenossen des Nero. Der Witwe von Ephesus haben sie ihren von ihr innig geliebten Mann gehängt. Sie kommt nachts an den Galgen und bittet den Wächter, ihr den Gatten zur Bestattung freizugeben. Erstes Spannungsmoment. Was wird geschehen? Der Wächter will ihr den Mann freigeben, trotz der Strafe, die ihm bevorsteht, wenn sie sich ihm dafür hingibt. – Der Leser hat diese Entwicklung geahnt. Der Leser muss in der Novelle immer den Weg ahnen, aber er darf ihn nicht wissen. Der Reiz der Ungewissheit muss bleiben. – Die Witwe gibt sich dem Soldaten hin, um den Leichnam zur Beerdigung zu erhalten. Der Soldat nimmt den Leichnam vom Galgen. Kulmination und Peripetie: Sie lernt den Soldaten noch in der gleichen Nacht lieben, und um ihn vor Strafe zu schützen, hängen sie gemeinsam den toten Gatten wieder am Galgen in die Schlinge. Das Leben ist mächtiger als der Tod.

Diese Novelle ist das klassische Beispiel einer vollkommen gebauten Novelle: Alles ist in ihr in höchster Konzentration enthalten: das Märchenhafte, die Dämonie des Schicksals und eine geradezu prachtvolle Peripetie. Petronius darf als der Vater der modernen Novelle gelten, die von Boccaccio auf ihren Gipfel geführt wurde, besonders im zehnten Buch des Decameron, in dem Boccaccio sein Thema, die Macht der Liebe von ihren primitivsten bis zu ihren höchsten Formen zu zeigen, gewaltig türmt und in den Novellen von Nathan und Mithridanes, Messer Gentile, Griselda, das Evangelium der reinsten Menschenliebe verkündet. Sie sind sämtlich genau so entwickelt und zur ersten geahnten, zur letzten überraschenden Peripetie (der Kulmination) geführt wie die oben zitierte Novelle des Petronius. Um die Novelle von Messer Gentile (die vierte des zehnten Buches) kurz zu skizzieren: Gentile liebt eine verheiratete Frau hoffnungslos. Sie stirbt. Um sie noch einmal zu sehen, geht er in die Grabkapelle, wo sie aufgebahrt liegt, und berührt zärtlich ihre Brust. Erstes Spannungsmoment: Er fühlt ihr Herz leise unter der Brust schlagen. Sie war nur scheintot! Zweites Spannungsmoment: Was geschieht? Er bringt sie in sein Haus, wo er sie, die jeder für tot hält, verbirgt. Drittes Spannungsmoment: Er lädt ihren Gatten und eine Anzahl Ritter ein, um ihnen das Liebste zu zeigen, was er besitzt. Er erzählt ihnen durch die Blume sein und seiner Geliebten Schicksal und fordert sie zu Richtern auf. Einstimmig geben sie der Meinung Ausdruck, dass dem Erwecker der Toten mit Recht die Frau gehöre. Ihr Gatte fällt den gleichen Spruch. Kulmination: Messer Gentile lässt die von ihm verborgen gehaltene Geliebte kommen – und gibt sie dem eigenen Gatten zurück.

Über den Titel des „Decameron“ haben, angeregt durch eine Stelle in der Einleitung zum vierten Buch, in der Boccaccio schreibt, er habe das Buch „senza titolo“ geschrieben, viele Gelehrte und Kommentatoren nachgedacht. „Senza titolo“ – was bedeutet das? Der Kommentar der Deputati (Florenz, Giunti 1573) meint: „ohne Namen eines Urhebers“, „ohne Autorenangabe“, also: anonym.

Dieser Meinung schließt sich Fiacchi an („Osservazioni sul Decameron“, Florenz 1821). Salviati (Rom 1582) behauptet: Senza titolo solle heißen: „niemandem gewidmet“, weil Boccaccio in seiner „Vita di Dante“ intitolare für „widmen“ gebraucht. In einem lateinischen Brief schreibt Boccaccio von jemandem, er sei dumm, roh, träge: sine titulo vivens: ohne Zweck und Absicht lebend. Daraus (und aus einer weiteren Stelle in Boccaccios Dante-Kommentar) ziehen Dionisi, Colombo und andere den Schluss, senza titolo wolle besagen: „Ohne eine bestimmte Absicht“, „ohne große Ambition“ habe Boccaccio das Buch geschrieben.

Nun findet sich aber in Boccaccios Kommentar zur „Göttlichen Komödie“ (Inferno IV, 90) eine Stelle, in der Boccaccio von einem Buch des Ovid spricht: „Liber amorum oder Sine titulo genannt“. Karl Witte (Leipzig 1843) macht eine alte Ausgabe der „Amores“, Rom 1471, namhaft, die in der Tat „De sine titulo“ tituliert ist. Die „Amores“ waren nun ein Lieblingsbuch Boccaccios, der sie schon in seiner ersten Arbeit „Filicopo“ glühend preist als das heilige Buch des Ovid, in dem der große Dichter Unterricht erteilt, wie die heiligen Flammen der Venus in den kalten Herzen mit Sorgsamkeit zu entzünden seien. Boccaccio betrachtete Ovids „Amores“ als Patron seiner eigenen „Amores“: der Erzählungen des Decameron. Denn der Decameron ist nichts als eine Lobpreisung und Darstellung des Wirkens und Waltens der Liebe von ihrer primitivsten Form bis zu jener höchsten geistigen und ethischen Liebe eines Nathan, eines Messer Gentile, einer Griseldis, in denen der Decameron gipfelt. Die Liebe, das war aber für Boccaccios noch ganz antik geprägten Geist ein personifizierter Gott: Amor, der bei ihm mit allen Insignien seiner Macht auftritt und nur von den meisten Übersetzern seiner Persönlichkeit entkleidet und zum abstrakten Begriff gewandelt worden ist.

Boccaccio hatte, wie alle Gelehrten und Dichter der humanistischen Epoche, ein außerordentliches und absonderliches Vergnügen an geheimen Wortspielereien jeder Art. Ich verweise auf die „Amorosa visione“, ein Gedicht in Terzinen, wo die Anfangsbuchstaben der Verse zwei Sonette und eine Anrufung des Lesers ergeben.

Nun, da alles für die Schlussfolgerung gehörig vorbereitet, sehe man sich einmal den Titel „Decameron“ an. Decameron ist ein griechisch gebildetes Wort und bedeutet einen Zeitraum von zehn Tagen, wäre also etwa mit Zehntagebuch zu übersetzen. Man stelle die Buchstaben des Wortes Decameron um und man erhält den verschleierten, aber wahren Titel des Buches, nämlich: De amore c. n. – c. n. bedeutet dabei: cento novelle (hundert Novellen). Cento novelle nannte das Buch der erste Abschreiber Mannelli (1384). Im Wort Decameron ist also der wahre Titel verborgen, der auch über Sinn und Absicht des Buches alles aussagt: De amore. Oder: Über die Liebe.

Und, zur Bekräftigung meiner Ansicht, noch einmal zu jenem „senza titolo“ zurück. Senza titolo, lateinisch sine titulo, ist Boccaccio ein Synonym für Amores oder De amore. Ich habe ein Buch „senza titolo“ geschrieben, schreibt Boccaccio im vierten Buch zu Anfang. Senza titolo: Das ist absichtlich so vieldeutig gesagt. Es heißt: Ich habe ein Buch geschrieben, ohne große Ambition, ich habe es geschrieben, ohne es jemandem zu widmen, ich habe es anonym geschrieben; aber es heißt auch geheim, verborgen, aber doch nicht so geheim, dass es nicht hat ans Licht gelangen können: Ich habe, wie Ovid, ein Buch über die Liebe, über den Gott und die Gewalt der Liebe geschrieben.

Klabund

ES BEGINNT DER ERSTE TAG DES DEKAMERON

Nachdem der Verfasser gezeigt hat, aus welchem Grunde die Personen, die später auftreten, sich zur Unterhaltung vereinigten, wird unter Pampineas Vorsitz von dem gesprochen, was jedem beliebt.

Sooft ich in meinem Herzen bedenke, holde Leserinnen, wie sehr Sie alle von Natur zum Mitleid geneigt sind, so oft überzeuge ich mich, dass Sie den Anfang dieses Buches schwer und trübselig finden müssen, denn es trägt die schmerzliche Erinnerung an jene mörderische Pest an der Stirn, die kürzlich einen jeden in Trauer gestürzt hat, der ihre Verheerung selbst gesehen oder von ihren jammernswerten Wirkungen gehört hat.

Allein ich sähe doch nicht gern, ließen Sie sich dadurch abschrecken, weiterzulesen, als hätten Sie etwa nichts anderes als Tränen und Seufzer in dem Buch zu erwarten. Dieser schreckliche Eingang sei Ihnen vielmehr nur das, was dem Wanderer ein rauer, schroffer Berg ist, hinter dem eine angenehme, reizende Ebene liegt, die ihm desto mehr Vergnügen gewährt, je mehr ihn das beschwerliche Auf- und Niederklettern ermüdet hat. Und wie das Übermaß der Freude oft in Traurigkeit endet, so folgen hingegen neue Freuden auf überstandenes Leid.

Auf eine kurze Trauer (ich nenne sie kurz, weil sie nur wenige Zeilen in Anspruch nimmt) folgt denn auch hier unmittelbar die süße Lust, die ich Ihnen oben versprochen habe und die man vielleicht nach einem solchen Anfang nicht erwarten möchte, wenn es nicht vorausgesagt würde. In der Tat, wenn ich Sie auf eine schickliche Art durch einen andern Weg als auf diesem beschwerlichen Pfade dahin hätte führen können, wohin ich wollte, so hätt‘ ich es gerne getan. Weil ich aber ohne diese Erinnerung nicht zeigen könnte, warum das, was man hernach lesen wird, geschah, so füge ich mich, gewissermaßen durch die Not gedrungen, zu dieser Beschreibung.

Ich sage also, dass nach der gnadenreichen Menschwerdung des Sohnes Gottes schon eintausenddreihundertundachtundvierzig Jahre vergangen waren, als in der prächtigen Stadt Florenz, die alle übrigen Städte in Italien an Schönheit übertrifft, die mörderische Pest ausbrach, die entweder durch die Einwirkung der höheren Weltkörper verursacht oder aus gerechtem Zorn Gottes über unsere Bosheit, als eine Züchtigung über uns Sterbliche, verhängt ward und die schon einige Jahre früher in den Morgenlanden begonnen, eine zahllose Menge der Lebendigen hingerafft und dann, unaufhaltsam von Ort zu Ort gegen Abend fortschreitend, auf eine schreckliche Weise um sich gegriffen hatte.

Hier half nun weder menschliche Kunst noch Vorsicht, ob man gleich eigens Beamte bestellte, die alle Unsauberkeit aus der Stadt wegschaffen mussten, einem jeden Kranken den Eingang in die Tore verwehrte, auf allerhand Mittel bedacht war, um die Gesundheit zu verwahren, und nicht nur einmal, sondern mehrmals demütige Gebete zu Gott aufschickte, sowohl durch Veranstaltung feierlicher Umgänge als sonst durch die Gläubigen. Bei Frühlingsanfang des gedachten Jahres zeigte die Pest ihre verheerenden Wirkungen auf eine fürchterliche und seltsame Weise und nicht so wie im Morgenlande, wo das Nasenbluten bei einem jeden Vorbote eines unvermeidlichen Todes war. Hier zeigte sich im Anfange gleichmäßig bei Männern und Frauen eine Geschwulst in den Weichen oder in den Armhöhlen, die bei einigen so groß ward wie ein gemeiner Apfel, bei andern wie ein Ei, bei einigen in größerer, bei anderen in kleinerer Anzahl, und die der Volksmund Pestbeulen nannte. In kurzer Zeit verbreiteten sich diese von jenen Teilen des Leibes über alle übrigen unterschiedslos. Hernach veränderte sich die Krankheit in ihren Erscheinungen, und es zeigten sich schwärzliche und schwarze Flecken an den Armen, den Lenden und überall am ganzen Leibe. Bei einigen waren diese Flecken groß und in geringer Anzahl, bei andern kleiner und häufiger, und so wie vorhin die Beule ein sicheres Zeichen des nahenden Todes gewesen und bei manchem noch war, so waren es jetzt diese Flecken bei einem jeden, an dem sie sich zeigten. Diese Krankheit zu heilen schien die Kunst keines Arztes und die Kraft keines Heilmittels zu vermögen oder zu bewirken. Sondern entweder, weil die Natur des Übels es nicht zuließ, oder wegen der Unwissenheit der Ärzte, deren Zahl (die wirklich erfahrenen ungerechnet) an Frauen und Männern, die nie den geringsten Unterricht in der Heilkunde genossen hatten, überaus stark angewachsen war, die aber, da sie den Gang der Krankheit nicht kannten, auch nicht die rechten Mittel dawider anzuwenden wussten, kamen sehr wenige davon; die meisten starben schon am dritten Tage nach Erscheinen obiger Zeichen, einige früher, andere später, ohne Fieber oder andere Zufälle. Diese Pest war umso verderblicher, da sie von den Kranken den Gesunden, die mit ihnen umgingen, so schnell mitgeteilt ward, wie das Feuer dem Trockenen oder Fetten, dem es sich nähert. Und was noch schlimmer war: Nicht nur durch das Reden und durch den Umgang mit den Kranken wurden die Gesunden angesteckt und Opfer eines gemeinschaftlichen Todes, sondern die Berührung der Kleider und Gewänder, die die Kranken gebraucht oder angerührt hatten, schien diese Krankheit fortzupflanzen. Was ich bei dieser Gelegenheit erzählen will, ist wunderbar zu hören, und wenn ich es nicht selbst, nebst vielen andern Leuten, mit Augen gesehen hätte, so wagte ich kaum, es zu glauben, viel weniger, es niederzuschreiben, wenn es mir auch glaubwürdige Leute erzählt hätten. Das ansteckende Gift dieser Pestilenz war nämlich so bösartig, dass es sich nicht nur von einem Menschen zum andern fortpflanzte, sondern, weit merkwürdiger, dass auch die Sachen eines Menschen, der mit dieser Krankheit behaftet oder daran gestorben war, wenn irgendein Tier, geschweige ein Mensch, sie berührte, es nicht nur ebenfalls ansteckten, sondern es in äußerst kurzer Zeit töteten. Wovon (wie ich kurz vorher sagte) meine Augen sich einst auf folgende Art überzeugten: Man hatte die Lumpen eines armen Mannes, der an dieser Krankheit gestorben war, auf die offene Straße geworfen, wo ein paar Schweine darüber herfielen, die ihrer Gewohnheit nach erst mit ihren Rüsseln darin wühlten und sie dann zwischen die Zähne nahmen und um die Köpfe schüttelten. In einer kleinen Stunde fielen beide unter Zuckungen, als wenn sie Gift bekommen hätten, tot auf die zerrissenen Lumpen nieder. Diese und eine Menge andere ähnliche oder schlimmere Umstände verursachten bei denen, die am Leben geblieben waren, mancherlei Furcht und Besorgnis, welches alles zuletzt einen grausamen Entschluss bewirkte: dass man nämlich die Kranken und ihre Sachen floh und mied und dass ein jeder darin seine beste Rettung zu finden glaubte. Einige nun waren der Meinung, das beste Mittel, der Krankheit vorzubeugen, wäre, mäßig zu leben und sich vor aller Üppigkeit zu hüten. Diese bildeten demnach kleine Gesellschaften, die von allen abgesondert in solchen Häusern wohnten, wo niemand krank gewesen war. Hier lebten sie bei dem äußerst mäßigen Genusse der schmackhaftesten Speisen und der köstlichsten Weine, enthielten sich von allen Wollüsten, sprachen mit keinem Fremden und wollten weder von Toten noch von Kranken die mindeste Nachricht hören, sondern vertrieben sich die Zeit mit Musik und solchen Vergnügungen, als sie sich untereinander verschaffen konnten. Andere, die entgegengesetzter Meinung waren, behaupteten, das sicherste Verwahrungsmittel wider ein so fürchterliches Übel wäre, viel zu trinken und sich lustig zu machen, mit Gesang und Scherz umherzuziehen und die Sinne auf alle mögliche Weise zu befriedigen, sich über die Folgen hinwegzusetzen und darüber zu lachen und zu spotten. Sie machten ihre Worte wahr, soviel sie konnten, schwärmten Tag und Nacht bald in dieser, bald in jener Schenke umher und tranken ohne Maßen viel. Noch lieber trieben sie auch ihr Wesen in den Häusern anderer Leute, wenn sie hörten, dass es dort etwas gab, das ihnen behagte. Und dieses ward ihnen nicht schwer gemacht, denn jedermann (als wenn sein Leben nicht länger währen sollte) gab sich selbst und das Seinige gänzlich hin, sodass die meisten Häuser jedem offen standen und der Fremdling, der hineintrat, ebenso frei darin schaltete wie der Hausherr.

Doch bei all diesem viehischen Leben vermieden sie die Kranken soviel als möglich. Bei dem großen Unglück und Elend, das unsere Stadt betraf, war die ehrwürdige Gewalt der Gesetze, sowohl göttlicher als auch menschlicher, fast gänzlich herabgesunken und aufgelöst, weil ihre Diener und Vollstrecker, ebenso wie die anderen Einwohner, entweder tot oder krank oder so sehr von Helfern entblößt waren, dass sie ihre Dienste auf keine Weise verrichten konnten; daher es einem jeden freistand, zu handeln, wie er wollte.

Manche hielten auch zwischen denen, von welchen wir vorher gesprochen, die Mittelstraße, indem sie im Essen und Trinken sich kein so strenges Maß vorschrieben wie die zuerst erwähnten und sich doch auch der Völlerei und anderen Ausschweifungen nicht überließen wie die andern, sondern sie bedienten sich aller Dinge in hinreichendem Maße, um ihre Wünsche zu befriedigen, und statt sich einzusperren, gingen sie umher, einige mit Sträußen von wohlriechenden Blumen und Kräutern, einige mit verschiedenen Spezereien in den Händen, die sie oft an die Nase hielten. Denn sie glaubten, es wäre heilsam, durch Wohlgerüche das Gehirn zu stärken, da die Luft überall mit Gestank und Ausdünstung von Leichen, Kranken und Arzneien geschwängert schien. Einige andere dachten noch hartherziger – und gingen darin wohl sicherer – und sagten, die beste Arznei gegen die Pest wäre die Flucht. Von diesem Beweggrunde getrieben, und ohne sich um jemand anders als um sich selbst zu kümmern, verließen sehr viele Männer und Frauen die Stadt und ihre Häuser, Wohnungen, Verwandten und Habseligkeiten und flohen in die Fremde oder wenigstens aufs Land, auf ihre eigenen Güter, als wenn Gottes Zorn, der die Sünden der Menschen durch diese Pestilenz strafte, ihnen nach dem Orte ihrer Zuflucht nicht hätte folgen können, sondern nur die aufzureiben bedacht gewesen wäre, die sich innerhalb der Stadtmauern befanden, als wollte die Pest nur in der Stadt keinen Menschen leben lassen, und die Stunde ihres Unterganges wäre gekommen.

Obwohl nun diese verschieden gesinnten Menschen nicht alle starben, so kamen sie doch auch nicht alle mit dem Leben davon. Sondern, indem viele von den Anhängern jeder Meinung erkrankten, so wurden sie nach dem Beispiele, das sie jederzeit, solange sie gesund waren, selbst gegeben hatten, von denen, die jetzt gesund blieben, wieder verlassen und mussten fast einsam dahinschmachten. Es mochte noch hingehen, dass ein Bürger den andern verließ und dass fast kein Nachbar sich des andern annahm, dass Verwandte einander selten oder gar nicht besuchten und sich nur von Ferne sahen. Aber so tief hatte der Schrecken dieser Heimsuchung die Brust der Menschen beiderlei Geschlechts durchdrungen, dass ein Bruder den andern verließ, der Oheim den Neffen, die Schwester den Bruder, ja, nicht selten, das Weib den Mann, und was noch weit mehr und schier unglaublich ist: Väter und Mütter ließen sogar ihre Kinder, als ob sie ihnen nicht angehörten, ohne Besuch und ohne Pflege. Deswegen blieb auch für die unbeschreibliche Menge der Kranken, Männer und Weiber, keine andere Hilfe und Beistand übrig als das Mitleid der Freunde (und deren gab es wenige) oder die Gewinnsucht der Wärter, die sich durch großen und unerschwinglichen Lohn anlocken ließen, wiewohl auch diese nicht in großer Anzahl zu finden und die meisten nur Menschen von groben Begriffen waren und wenig gewohnt an dergleichen Dienste, daher man sie denn auch fast zu nichts weiter gebrauchen konnte, als um den Kranken dieses und jenes zu reichen, das sie verlangten, und achtzugeben, wenn sie starben. Bei diesem Geschäfte kostete ihr Verdienst ihnen selbst oft das Leben.

Da nun die Kranken von ihren Nachbarn, Verwandten und Freunden verlassen wurden und die Zahl der Krankenwärter so gering war, so entstand daher eine Unsitte, die bis dahin nicht erhört gewesen war. Keine Dame nämlich, sie mochte so schön, liebenswürdig oder wohlerzogen sein, wie sie wolle, trug Bedenken, sich von Mannspersonen bedienen zu lassen, gleichviel, ob sie jung oder alt waren, und wenn es die Umstände der Krankheit notwendig machten, vor ihnen, wie vor ihren weiblichen Bedienten, ohne alle Scham jeden Körperteil zu entblößen, welches denn vielleicht manchen, die mit dem Leben davonkamen, in der Folge Anlass gab, weniger streng auf ihre Ehrbarkeit zu halten. Überdies fanden manche dabei ihren Tod, die vielleicht wieder gesund geworden wären, wenn sie die gehörige Aufwartung gehabt hätten. So aber war, teils wegen Mangel an gehöriger Bedienung und Verpflegung der Kranken, teils wegen der Bösartigkeit der Seuche, die Menge derer, die Tag und Nacht daran hinstarben, so groß, dass es schrecklich war, davon zu hören, und noch mehr, es zu sehen, denn die Not trieb die Überlebenden zu solchen Handlungen, die sonst den Gebräuchen unserer Mitbürger ganz entgegen waren.

So war es sonst Sitte (wie auch noch heutigen Tages bei uns), dass die weiblichen Verwandten und Nachbarinnen sich im Hause des Verstorbenen versammelten und mit denen, die ihm am nächsten angehörten, seinen Tod beweinten; auch pflegten sich vor der Haustür die männlichen Verwandten und Nachbarn nebst vielen andern Mitbürgern einzustellen, und nach Maßgabe des Ranges des Verstorbenen erschien auch die Geistlichkeit mehr oder weniger zahlreich, worauf dann Männer seines eigenen Standes ihn auf ihren Schultern, mit feierlichem Gepränge von Wachsfackeln und Gesang, nach der Kirche trugen, die er selbst vor seinem Tode sich auserwählt hatte – welches alles, wie die Wut der Seuche aufs höchste stieg, entweder gänzlich, oder doch größtenteils unterblieb und andere Neuerungen dagegen aufkamen. Denn es starben nicht nur manche Leute, ohne viele Leidträgerinnen um sich zu haben, sondern viele schieden ganz ohne Zeugen aus der Welt, und nur sehr gering war die Zahl derer, welchen die mitleidige Klage und die zärtliche Abschiedsträne zuteil ward; vielmehr sah man oft stattdessen Gelächter und Lärm und lustige Gelage, in die zum Teil auch die Frauen, unter dem Vorwande, ihre Gesundheit zu verwahren, mit Hintansetzung ihres weiblichen Zartgefühls, sich bald fügen lernten. Es gab nur selten Leichen, die von mehr als zehn bis zwölf von ihren Nachbarn zur Kirche begleitet wurden, und zwar wurden sie nicht von ehrbaren und würdigen Mitbürgern zur Gruft getragen, sondern gewisse Totengräber aus der niedrigsten Klasse des Pöbels, Pestknechte genannt, verrichteten diesen Dienst nur gegen hohen Lohn, trugen die Bahre und schleppten sie, fast im Laufschritt, nicht nach der Kirche, die etwa der Sterbende gewählt hatte, sondern nach der nächsten besten, wobei oft nicht über vier bis sechs Geistliche mit wenigen Kerzen vorangingen und bisweilen kein einziger, da denn mithilfe der Pestknechte die Leiche ohne langes „In requiem“ in irgendein leeres Grab, das am ersten bei der Hand war, eiligst hineingesenkt ward.

Um den gemeinen Mann, zum Teil auch um den Mittelstand sah es noch weit elender aus. Denn indem diese, entweder von der Hoffnung hingehalten oder durch ihre Armut gezwungen, sich in ihren Häusern hielten und nahe beieinander wohnten, so erkrankten sie täglich zu Tausenden. Da sie weder Pflege noch irgendeine Hilfe fanden, so mussten sie fast alle ohne Rettung sterben. Viele fanden ihren Tod auf öffentlicher Straße bei Nacht und bei Tage, und manche, die zwar in den Häusern starben, ließen ihre Nachbarn eher durch den Gestank ihrer faulenden Leichen als auf andere Art ihren Tod erfahren. Von diesen und von andern, denn überall starben Menschen, machte sich der Verwesungsgeruch allenthalben bemerkbar. Die meisten Nachbarn schleppten, nicht weniger vor Furcht vor Ansteckung durch die verwesenden Leichen als von christlichem Mitleid für die Toten bewogen, gewöhnlich die Leichen entweder allein oder mit Beihilfe einiger Träger (wenn sie ihrer habhaft werden konnten) aus den Häusern und legten sie vor den Türen nieder, wo man sie besonders des Morgens in Menge sehen konnte, wenn man in der Stadt umherging. Alsdann ließ man Bahren kommen, oder wenn sie fehlten, so legte man die Leichen auch wohl nur auf irgendein Brett. Da sah man denn mehr als eine Bahre, auf der zwei bis drei Leichen übereinander lagen, und es war nichts Seltenes, sondern trug sich sehr oft zu, dass Mann und Frau, zwei bis drei Brüder oder Vater und Sohn zugleich auf einmal weggetragen wurden. Es traf sich auch nicht selten, wenn ein paar Geistliche mit dem Kreuze hingingen, um einen Toten abzuholen, dass sich noch drei bis vier Bahren anschlossen und dass die Priester, wenn sie meinten, nur eine Leiche zu bestatten, wohl sechs bis acht und bisweilen noch mehr zu begraben hatten. Und doch wurden alle diese keiner Träne, keiner Leichenfackel und keiner ehrbaren Begleitung gewürdigt, sondern es war so weit gekommen, dass man sich um einen sterbenden Menschen nicht mehr als heutigen Tages um eine verreckte Ziege bekümmerte. Es lässt sich leicht denken, dass, was der natürliche Lauf der Dinge den Weisesten nicht durch kleine und seltene Unglücksfälle lehren konnte, nämlich, durch Geduld die Größe des Übels zu überwinden, bei der Größe des Elends jetzt auch von den Einfältigen gelernt wurde.

Als die Menge der Leichen, welche man alle Tage und Stunden nach den Kirchen brachte, so sehr anwuchs, dass in geweihtem Boden nicht mehr Raum für sie war, besonders wenn man nach alter Weise gern einem jeden seinen eigenen schicklichen Ruheplatz hätte geben wollen, grub man, wie alles voll war, große tiefe Gruben, in denen die Leichen schichtweise, wie die Waren in einem Schiffe, verstaut und nur leicht mit Erde bedeckt wurden, bis die Gruben bis an den Rand voll waren.

Damit ich mich nicht länger bei jedem kleinen Umstand von dem Jammer unserer Stadt aufhalte, so will ich nur sagen, dass das unglückliche Schicksal, das über sie hereinbrach, auch die umliegende Gegend nicht im Geringsten verschonte, woselbst (die Burgflecken ungerechnet, in denen es im Kleinen ebenso wie in der Stadt zuging) in den Dörfern und auf den einsamen Weilern umher die armen, elenden Landleute mit ihrem Hausgesinde ohne einigen Beistand von Ärzten, ohne Pflege und Aufwartung auf ihren Äckern oder in ihren Häusern, bei Tag und bei Nacht ohne Unterschied, nicht wie Menschen, sondern wie das Vieh umkamen. Daher denn auch diese, indem sie eben wie die Stadtbewohner in ihren Sitten zügelloser geworden, sich um ihre Sachen und Habseligkeiten nicht mehr bekümmerten, sondern, als wenn sie jeden Tag, den sie erlebten, für ihren letzten hielten, die Früchte der Tiere, der Felder und ihrer eigenen vergangenen Arbeiten für die Zukunft nicht warteten und sich nur alle ersinnliche Mühe gaben, den gegenwärtigen Vorrat zu verzehren. Deswegen sah man auch Ochsen, Esel, Schafe, Ziegen, Schweine, Hühner, ja selbst die Hunde, die den Menschen so treu sind, aus den Häusern gejagt, auf den Feldern, wo noch das Korn nicht nur ungeerntet, sondern auch ungeschnitten stand, frei herumlaufen. Manche von diesen Tieren kehrten, nachdem sie den Tag über geweidet hatten, des Abends (als wären sie mit Vernunft begabt), ohne von Hirten getrieben zu werden, gesättigt wieder zurück.

Um von dem Lande noch einmal wieder auf die Stadt zu kommen: Was kann man mehr sagen, als dass die Grausamkeit des Himmels (und auch vielleicht der Menschen) so weit ging, dass vom Monat März bis zum folgenden Juli, teils wegen der Bösartigkeit der Seuche, teils durch Vernachlässigung der Kranken, die schlecht bedient oder in ihren Nöten von den Gesunden aus Furcht verlassen wurden, über hunderttausend Menschen – wie man glaubt – innerhalb der Mauern von Florenz umgekommen sind, während man vor der Pestzeit vielleicht nicht einmal geglaubt hatte, dass es im Ganzen so viele Einwohner zähle. O, wie viele große Paläste, wie viele schöne Häuser, wie viele vortreffliche Wohnungen, einst voll angesehener Geschlechter, waren jetzt entblößt von ihren Bewohnern, Herren und Frauen, und bis auf den letzten Bedienten! O, wie viele berühmte Familien, wie manche beträchtliche Erbschaft, wie viele große Reichtümer sah man jetzt ohne rechtmäßige Erben! Wie manche würdige Männer, wie viele schöne Frauen und blühende Jünglinge, die selbst ein Galen, ein Hippo- krates und ein Äskulap für Bilder der Gesundheit erklärt hätten, saßen des Mittags an der Tafel mit ihren Verwandten, Bekannten und Freunden und hielten das Abendmahl in einer andern Welt mit ihren Vorfahren!

Doch ich mag mich selbst nicht länger an so vieles Elend erinnern; um demnach forthin alles zu übergehen, was ich mit Schicklichkeit weglassen kann, will ich nur sagen, dass, wie auf diese Weise unsere Stadt von Einwohnern fast entblößt und verlassen war, es sich einst so fügte (wie ich aus glaubwürdiger Quelle weiß), dass in der ehrwürdigen Kirche Santa Maria Novella an einem Dienstagmorgen, da fast keine andere lebende Seele zugegen war, sieben junge Damen, alle durch Freundschaft, Nachbarschaft oder Verwandtschaft einander zugetan, deren keine das achtundzwanzigste Jahr erreicht hatte und keine weniger als achtzehn Jahre alt war, lauter vernünftige, edle, schöne, wohlerzogene, mit züchtigem Frohsinn begabte Geschöpfe, sich trafen, die sämtlich in Trauerkleider gehüllt (wie es die unglücklichen Zeiten mit sich brachten) die heilige Messe gehört hatten. Ihre Namen würde ich gehörig anzeigen, wenn mich nicht eine triftige Ursache daran verhinderte: Ich will nämlich nicht, dass irgendeine von ihnen in Zukunft wegen der folgenden Geschichten erröten soll, die sie erzählt oder angehört haben, denn heutigen Tages sind der Fröhlichkeit ziemlich strenge Gesetze vorgeschrieben, dagegen sie damals, wegen der oben berührten Ursachen, nicht nur für Personen ihres Alters, sondern auch für weit reifere Jahre, unendlich gelinder waren. Auch den Scheelsüchtigen, die so gern über jeden lobenswürdigen Lebenswandel herfallen, möchte ich nicht gern Raum geben, den guten Ruf der ehrbaren Damen mit ungeziemenden Reden zu verunglimpfen. Damit jedoch alles, was eine jede von ihnen sagt, ohne Verwirrung verstanden werde, so bin ich willens, ihnen in der Folge solche Namen beizugeben, die den Eigenschaften einer jeden, wenn nicht völlig, so doch einigermaßen, entsprechen. Die erste und älteste von allen wollen wir Pampinea nennen, Fiametta die zweite, Filomena die dritte und die vierte Emilia. Die fünfte mag Lauretta heißen, die sechste Neifile und die letzte soll (nicht ohne Ursache) den Namen Elisa führen. Durch bloßen Zufall und ohne besondere Verabredung gelangten sie in eine Ecke der Kirche, wo sie sich im Kreise niedersetzten und (ohne daran zu denken, ihren Rosenkranz abzubeten) nach manchem Seufzer vieles über die Zeitläufte miteinander sprachen. Nachdem ein kurzes Stillschweigen ihre Unterredung unterbrochen hatte, begann Pampinea folgendermaßen zu reden: „Ihr habt wohl, liebe Mädchen, so gut wie ich, oft gehört, dass der keinem anderen Unrecht tut, der auf erlaubte Weise sich seiner eigenen Rechte bedient. Jeder, der geboren wird, hat das natürliche Recht, sein Leben nach Kräften zu fristen, zu erhalten und zu beschützen, und es hat sich schon zugetragen, dass jemand, um das eigene Leben zu retten, Menschenblut vergossen hat, ohne dass man ihm daraus einen Strick gedreht hätte. Wenn nun dies die Gesetze gutheißen, von deren Wachsamkeit die Wohlfahrt aller Menschen abhängt, wie viel mehr muss es uns und jedem andern erlaubt sein, ohne Schaden anderer uns aller Mittel zu bedienen, die in unserer Gewalt stehen, um unser Leben zu erhalten. So oft ich es recht betrachte, wie wir diesen Morgen und manchen andern zugebracht haben und unter was für Gesprächen, um so mehr glaube ich einzusehen (und ihr werdet es wohl auch einsehen), dass eine jede von uns für ihr Leben fürchtet. Und das ist gar kein Wunder. Aber das wundert mich sehr, da wir doch alle viel weibliches Gefühl haben, dass wir uns nicht für alles, was wir billigerweise befürchten müssen, einigermaßen entschädigen. Wie es mir scheint, halten wir uns hier zu keinem andern Endzweck auf, als ob wir Zeugen sein sollten oder sein müssten, wie viele Leichen zur Bestattung hierher gebracht werden, oder als wollten wir hören, ob die Mönche dieses Klosters, deren Zahl fast auf Null herabgesunken ist, ihre Messen zu gehöriger Stunde singen, oder als ob wir durch unsere Trauerkleider jedem, der hierher kommt, die Größe und Menge unserer Leiden andeuten wollten. Und wenn wir aus der Kirche weggehen, so sehen wir entweder Leichen oder Kranke vorübertragen, oder wir sehen, dass zur Verbannung verurteilte Verbrecher jetzt, da die Vollstrecker der Gerechtigkeit entweder tot oder krank sind, den Gesetzen zum Hohn, mit wildem Ungestüm durch die Stadt schweifen, oder dass die Hefe des Pöbels, die Pestknechte, von unserm Blute erhitzt und zu unserer Schmach, umherreiten und -fahren und in schändlichen Liedern uns unser Unglück vorwerfen. Wir hören nichts anderes als: ‚Der und der ist tot, dieser und jener liegt im Sterben.‘ Wir würden überall nichts als Klagelieder hören, wenn nur noch jemand da wäre, um sie anzustimmen. Und wenn wir nach Hause kommen – ich weiß nicht, ob es euch so geht wie mir, aber wenn ich von allen Meinigen keine Seele mehr vorfinde als mein Kammermädchen, so wird mir angst und bange, die Haare stehen mir zu Berge, und es erscheinen mir allenthalben, wohin ich auch gehe, die Schatten der Verstorbenen, nicht in ihrer sonst gewohnten Gestalt, sondern als schreckten sie mich mit einem fürchterlichen Aussehen, das ihnen, ich weiß nicht woher, gekommen ist. Deswegen finde ich es hier und zu Hause und außer dem Hause nirgends behaglich, umso weniger, da ich glaube, dass außer uns niemand, der einiges Vermögen und einen Zufluchtsort hat wie wir, sich noch hier aufhält. Wenn aber doch noch einige hier sind, so habe ich wohl vernommen oder gehört, dass sie, ohne sich um das, was anständig oder unanständig ist, zu kümmern, bloß ihren eigenen Trieben nachleben und bei Nacht und bei Tage, allein oder in Gesellschaft das tun, was am meisten Vergnügen gewährt. Und das tun nicht nur die freien Personen, sondern auch die in den Klöstern (indem sie glauben, dass ihnen das, was andere sich erlauben, nicht weniger erlaubt sei) überlassen sich mit Hintansetzung ihrer Regel den fleischlichen Lüsten und meinen, durch Wollust und Ausschweifung ihr Leben zu retten. Verhält es sich aber so – und dass es sich so verhält ist offenbar: Was tun denn wir hier? Was erwarten wir? Wovon träumen wir? Warum verweilen und zaudern wir mehr als andere Einwohner, an unsere Rettung zu denken? Ist an uns weniger gelegen als an den andern? Oder bilden wir uns ein, unser Leben sei mit stärkeren Ketten an unsere Leiber gebunden als das ihrige? Und sollen wir uns deswegen um nichts bekümmern, was dem unsrigen schaden kann? Wir irren, wir betrügen uns – wie töricht sind wir, wenn wir so denken! Wenn wir uns erinnern wollen, wie viele und welche Jünglinge und Mädchen schon ein Raub dieser verheerenden Pest geworden sind, so müssen wir uns davon augenscheinlich überzeugen, damit wir demnach nicht aus Kleinmut oder Unvorsichtigkeit in den Fall geraten, den wir vermeiden können, wenn wir wollen, so deucht mich das beste zu sein (wenn ihr auch so gesinnt seid wie ich), dass wir so, wie wir sind, nach dem Beispiele, das uns viele andere gegeben haben und noch täglich geben, diese Stadt verlassen und nicht nur den Tod, sondern auch das böse Exempel der Übrigen fliehen, um uns in aller Ehrbarkeit auf unsere Landgüter zu begeben, deren wir jede genug besitzen, und uns dort solche kleine Feste, Lustbarkeiten und Zeitvertreib zu verschaffen, die wir, ohne die Regeln der Vernunft zu verletzen, genießen können. Dort hören wir den Gesang der Vögel, dort sehen wir die Hügel und Täler grünen und die Kornfelder wie Wogen des Meeres wallen, sehen mannigfaltige Bäume und sehen den freien, offenen Himmel, der, so sehr er uns auch zürnt, uns dennoch seine ewigen Schönheiten nicht entzieht, die unendlich lieblicher zu betrachten sind als die öden Mauern dieser Stadt. Überdies haben wir dort frischere Luft. Der Lebensunterhalt ist leicht bestritten und Ursache zum Kummer kaum vorhanden. Wenngleich die Bauern dort ebenso sterben wie hier die Städter, so ist doch der unangenehme Eindruck davon desto geringer, je entfernter die Häuser voneinander stehen und je kleiner die Zahl ihrer Bewohner ist, wenn man sie mit denen der Stadt vergleicht. Auch verlassen wir (wie mich deucht) niemanden, sondern wir können vielmehr mit Wahrheit sagen, dass wir verlassen sind. Die Unsrigen sind entweder gestorben oder haben, weil sie dem Tode entfliehen wollten, uns in der Not verlassen, als wenn wir nicht zu ihnen gehörten. Man kann uns also nicht tadeln, wenn wir einen solchen Entschluss fassen, der uns Verdruss und Schmerzen erspart und uns vielleicht vor dem Tode bewahrt, der uns sonst bevorstände. Lasst uns demnach, wenn es euch gefällt, unsere Mädchen und die notwendigsten Sachen mitnehmen und heute an diesem Orte, morgen an jenem, uns solche Vergnügungen zu verschaffen suchen, als die Zeitläufte uns verstatten, und lasst uns diese Lebensweise so lange fortsetzen, bis wir sehen, welch ein Ziel der Himmel den jetzigen Prüfungen setzt, wenn nicht etwa in der Zwischenzeit der Tod uns selbst ereilt. Und lasst mich euch zugleich erinnern, dass es uns wohl ebenso ansteht, in Ehrbarkeit uns zu entfernen, als vielen andern, in Ehrlosigkeit hierzubleiben.“

Als die übrigen Damen Pampinea angehört hatten, gefiel ihnen nicht nur ihr Vorschlag, sondern, vor lauter Eifer, ihn auszuführen, fingen sie schon an zu ratschlagen, wie sie gleichsam stehenden Fußes auf und davon gehen könnten. Allein die sehr verständige Filomena sagte: „Freundinnen, so vortrefflich auch alles ist, was uns Pampinea gesagt hat, so müssten wir uns doch nicht so sehr damit übereilen, wie es scheint, dass ihr zu tun geneigt seid. Bedenkt, dass wir lauter Frauen sind, und welche unter uns allen ist so jung, dass es ihr nicht auffallen sollte, eine Gesellschaft von lauter Frauen könne ohne männlichen Rat und Beistand unter sich bestehen bleiben? Wir sind wankelmütig, launisch, misstrauisch, furchtsam und verzagt; deswegen fürchte ich, wenn wir uns keiner andern Führung anvertrauen als unserer eigenen, dass unsere Gesellschaft sich weit schneller wieder trennen würde, und weniger zu unserer Ehre, als uns lieb wäre. Darum ist es besser, uns vorzusehen, ehe wir anfangen.“ „Freilich“, sprach Elisa, „sind die Männer das Haupt der Weiber, und ohne ihre Anordnung gedeihen unsere Werke selten zu einem rühmlichen Ende. Aber wo finden wir diese Männer? Ihr alle wisst, dass unsere Verwandten meistens gestorben und dass die wenigen, die noch am Leben geblieben sind, hier und dort in verschiedenen Gesellschaften (wir wissen nicht wo) dasselbe fliehen, was wir zu vermeiden suchen. Fremdlinge zu wählen wäre ebenfalls nicht ratsam, denn wenn wir unser wahres Wohl befördern wollen, so müssen wir uns bestreben, uns so einzurichten, dass uns da, wo wir Ruhe und Vergnügen suchen, nicht Verdruss und Schande ereilen.“

Indem die Damen noch so untereinander sprachen, traten drei junge Herren in die Kirche, von denen jedoch der jüngste wenigstens schon sein fünfundzwanzigstes Jahr zählte, deren Liebe weder die Widerwärtigkeit der Zeitläufte noch der Verlust ihrer Bekannten und Verwandten, noch die Besorgnis für ihre eigenen Personen hatte zerstören oder auch nur im Mindesten wankend machen können. Der eine nannte sich Pamfilo, Filostrato der andere, und der dritte hieß Dioneo, lauter wohlgesittete, anmutige junge Leute, die in diesen trübseligen Zeiten ihre einzige Glückseligkeit darin suchten, ihre Damen zu sehen, die sich zufälligerweise alle drei unter den schon genannten sieben befanden, von denen noch einige oder andere mit ihnen zum Teil verwandt waren. Die Damen wurden von ihnen nicht so bald bemerkt, als auch sie die Herren schon erblickten, weswegen Pampinea lächelnd sagte: „Seht ihr, wie das Glück unser Vorhaben begünstigt? Da sendet es uns diese verständigen und wackeren Jünglinge, die sich nicht weigern werden, unsere Führer und Begleiter zu sein, wenn wir nichts dawider haben, sie dazu anzunehmen.“

Neifile, die bis an die Ohren rot ward, weil einer von den Dreien ihr Geliebter war, antwortete: „Um des Himmels willen, Pampinea, sieh zu, was du sagest! Ich bin zwar gewiss genug versichert, dass man allen diesen Herren nichts anderes als Gutes nachsagen kann, und ich halte sie weit größerer Dinge als dieser fähig und gebe gern zu, dass ihre Gesellschaft nicht nur für uns, sondern für noch weit edlere und schönere Damen gut und anständig sei. Aber da es bekannt ist, dass sie Verehrer einiger der Unsrigen sind, so fürchte ich, dass man ohne ihre oder unsre Schuld uns tadeln und uns Böses nachreden möchte, wenn wir sie mitnähmen.“

Filomene versetzte: „Das kann mich nicht kränken, solange ich in Unschuld lebe und mir mein Gewissen keine Vorwürfe macht; es mag auch, wer da will, anders von mir sprechen. Gott und die Wahrheit werden mich immer verteidigen, und wenn nur die Herren willfährig sind, mit uns zu gehen, so können wir mit Pampinea sagen, dass das Glück unseren Ausflug begünstigt.“

Als dies die andern hörten, schwiegen sie nicht nur still, sondern sie erklärten alle einmütig, man solle die Herren rufen, ihnen ihre Absicht eröffnen und sie bitten, sie auf ihrem Ausfluge zu begleiten. Ohne weitere Worte zu machen erhob sich Pampinea, die mit einem von den Herren verwandt war, ging zu ihnen, die im Anblick der Mädchen versunken waren, und grüßte sie freundlich, entdeckte ihnen ihre Absicht und bat sie im Namen aller ihrer Gespielinnen, ihnen mit reinen, brüderlichen Gesinnungen zu Begleitern zu dienen. Die Jünglinge glaubten anfänglich, man wolle sie aufziehen. Als sie aber sahen, dass die Dame es ernstlich meinte, bezeigten sie mit Freuden ihre Dienstwilligkeit, und ohne zu säumen nahmen sie auf der Stelle, ehe sie auseinandergingen, Abrede wegen der Anstalten zu ihrer Reise. Wie demnach alles, was nötig schien, in Bereitschaft gesetzt und nach dem Orte hingesandt war, wohin sie sich begeben wollten, machten sie sich am folgenden Morgen, die Damen in Begleitung einiger von ihren Kammerjungfern und die Herren mit ihren drei Dienern, bei Tagesanbruch auf den Weg nach dem Ort ihrer Bestimmung, der nur zwei kleine Meilen von der Stadt entfernt war. Der Landsitz lag auf einem Hügel, der nach allen Seiten ein wenig von den Landstraßen entfernt war, bedeckt mit allerlei Gesträuch und Pflanzen, deren frisches Grün lieblich anzuschauen war. Auf dem Gipfel des Hügels stand ein Palast, umgeben von wundervollen Gärten, anmutigen Wiesen und vielen Quellen eiskühlen Wassers, der in der Mitte einen geräumigen, hübschen Hof hatte, viele Galerien, Säle und Gemächer, an sich schon schön und noch mit den herrlichsten Malereien verziert, und Keller, gefüllt mit den köstlichsten Weinen, die mehr für leckere Trinker als für enthaltsame züchtige Damen berechnet zu sein schienen, und hier fand die ankommende Gesellschaft zu ihrem nicht geringen Wohlgefallen alles gekehrt und geschmückt, die Betten in den Kammern aufgemacht, die Zimmer mit den Blumen, die die Jahreszeit brachte, geschmückt und den Fußboden mit Binsen ausgestreut.

Als die Gesellschaft, kaum angekommen, sich niedergelassen hatte, sprach Dioneo, ein überaus munterer Jüngling voll lebhafter Einfälle: „Meine Damen, wir haben es mehr eurer Klugheit als unserer eigenen Vorsicht zu danken, dass wir hier sind. Ich weiß nicht, was ihr mit euren Sorgen hier anfangen werdet: Die meinigen aber ließ ich jenseits des Stadttores, wie ich vor Kurzem mit euch herauskam. Ihr müsst euch demnach entweder bequemen, mit mir zu scherzen, zu lachen und zu singen (versteht sich, mit aller gebührenden Beobachtung eures Anstandes und eurer Würde), oder ihr könnt mich nur wieder fortschicken, um meinen Sorgen in unserer armen, geplagten Stadt aufs Neue nachzuhängen.“ Pampinea, nicht anders, als hätte sie ebenfalls die ihren weit von sich gejagt, gab ihm fröhlich zur Antwort: „Dioneo, du hast vortrefflich gesprochen! Vergnügt zu leben ist unsere Absicht, und wir sind aus keiner anderen Ursache aus dem Elend geflohen. Weil aber alle Dinge, die über Maß und Ziel gehen, von kurzer Dauer sind, so bin ich als die Urheberin des Gespräches, das uns in dieser angenehmen Gesellschaft