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  Ulrich Parzany– Dazu stehe ich | Mein Leben– SCM Hänssler

SCM | Stiftung Christliche Medien

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7198-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5555-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

2. Auflage 2015
© der deutschen Ausgabe 2014
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71 088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de • E-Mail: info@scm-verlag.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Inhalt

Gedanken von Konrad Eißler

Geleitwort von Roland Werner
Dazu stehe ich – ein ganzes Leben und mehr

Zeit oder Unzeit?

Kapitel 1
Schlüsselerfahrungen

Die überraschende Frage

Pfarrer werden? – Nie!?

Soll ich heiraten?

Plötzlich wurde es todernst

Kapitel 2
Behütet in Schreckenszeiten

Geschenk oder Zumutung?

Diktatur, Gewalt und Zerstörung

Die Sorgen der Eltern

Schwarzwald, Spätzle und die Stund

Ausgebombt im Westerwald

Nachkriegszeit in Essen

Kapitel 3
Weichenstellungen durch die Jugendarbeit

»Junge, du bist Hausbesitzer«

Nicht nur Programm machen, sondern Freundschaften leben

Christen sind Mitarbeiter

Den Glauben stärken

Kapitel 4
Fürs Leben lernen?

Das Burggymnasium, die alten Sprachen und mehr

Ist die Bibel Gottes Wort?

Göttingen und die Studentenmission

Wer verteidigt wen?

Über Tübingen und Bonn zum Examen

Kapitel 5
Verliebt, verlobt, verheiratet

Alltägliches und mehr

Kapitel 6
Vikar in Jerusalem

Unvorbereitet

Die Reise nach Jerusalem

Mitarbeit im Internat der Lutherischen Sekundarschule

Dienst in der deutschen Gemeinde

Weihnachten in Bethlehem

Silvester am Golf von Aqaba

Anfechtungen

Josiah Kibira und das Ende der Erde

Ad Andeweg und wozu Weihrauch gut ist

Touristen und Pilger

Jerusalem-Studien-Konferenz

Dr. Elisabeth Herzfeld und die Berufung in die Weltmission

Ist Israel noch Gottes Volk?

Alfred Burchartz und die Messianischen Juden

Kapitel 7
Jugendpfarrer in Essen

Ist das wirklich mein Platz?

Ehrenamtliche haben die Verantwortung

Warum nur Jungen?

Freies Werk in der Kirche

Sommer, Sonne, Sorpe-See

Weltmissionarische Herausforderung in der Jugendarbeit

Die Christivals – Gott lädt uns ein zu seinem Fest

Kirchentage und Gemeindetage

SCHRITTE – Magazin für Christen

Kapitel 8
CVJM in Deutschland und weltweit

Berufung in den CVJM-Gesamtverband in Deutschland

Wohltuende Zusammenarbeit

Neu vereinigt

Mehr als ein Koffer in Berlin

Flüchtlingselend im Sudan

Gegen Apartheid in Südafrika

Der Weltrat im Bundestag

Der Pavillon der Hoffnung auf der Expo 2000

Kapitel 9
Evangelisation – so geht’s nicht!?

Kreuz ist Trumpf

Einladung zum Treffpunkt Kreuz

Was ist eigentlich Evangelisation?

Routine kommt nicht auf

Predigtverbot? – Oder:
Wer soll aus der Kirche austreten?

Lausanner Bewegung:
»Alle sollen sein Wort hören«

Kapitel 10
Die ProChrist-Geschichte

Zögerlicher Start

Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig

Weitermachen?

Von Nürnberg 1997 bis Stuttgart 2013

In zerbrechlichen Gefäßen

Kapitel 11
Als Gastprediger in anderen Ländern

Indonesien

Tansania

Polen

Tschechien

Slowakei

Ungarn

Kroatien

Österreich

Schweiz

Russland

Frankreich

Holland

Island

Paraguay

Brasilien

Indien

Kapitel 12
Politische Verantwortung

Jugendpolitik

Wer mein politisches Denken beeinflusste

Den Kriegsdienst verweigern?

Gottes Gebote und staatliche Gesetze

Faule und notwendige Kompromisse

Die Freiheit für die öffentliche Verkündigung nutzen

Schlusswort
Mit Dank zurück!

»Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade,
siehe, jetzt ist der Tag des Heils!«

2. Korinther 6,2

»Predige das Wort,
steh dazu,
es sei zur Zeit oder zur Unzeit.«

2. Timotheus 4,2

Ich widme dieses Buch in Liebe und Dankbarkeit

meiner Frau Regine

und unseren Kindern Dorothee, Oliver und Daniel.

Gedanken von Konrad Eißler

»Ein Schrei für Jesus«. Den wollte der schwäbische Pfarrer und Erweckungsprediger Ludwig Hofacker vor 200 Jahren in Württemberg tun.

»Ein Ruf zu Jesus«. Den will der rheinische Pfarrer und Evangelist Ulrich Parzany heute in Europa laut werden lassen.

Dieser Ruf ist seine Berufung. Er versteht ihn als Aufruf, die Einladung zu Jesus anzunehmen. Er versteht ihn als Weckruf, die Hinkehr zu Jesus nicht zu verschlafen. Er versteht ihn als Rückruf, umzukehren und zu Jesus heimzukehren.

Diese Kernberufung besteht »nicht aus zahnlosen Werbesprüchen über die Liebe Gottes, sondern im Ruf zur Umkehr und Nachfolge Jesu.«

Ulrich Parzany ist als Jugendpfarrer in Essen, dann als CVJM-Generalsekretär, schließlich als ProChrist-Redner, immer dieser Kernberufung treu geblieben. Seine spannende und lesenswerte Lebensgeschichte ruft nach Fortsetzungsgeschichten: »Seid Botschafter an Christi statt. Lasst euch versöhnen mit Gott.«

Konrad Eißler, Hülben

Geleitwort von Roland Werner

Dazu stehe ich – ein ganzes Leben und mehr

Dazu stehe ich … Unter diesem Motto legt Ulrich Parzany seine Autobiografie vor. Ich bin sehr froh, dass er sich die Zeit dazu genommen hat, sie zu schreiben. Denn was hier zu lesen ist, ist mehr als die Lebensgeschichte eines Pfarrers und Verkündigers, eines Theologen und CVJM-Generalsekretärs. Zwischen den Deckeln dieses Buches finden wir mehr als die Geschichte eines bekannten, begabten und engagierten Menschen. Hier finden wir ein Stück lebendige Zeitgeschichte und Kirchengeschichte. Ein Stück geistlicher und politischer Geschichte Deutschlands und der Welt. Ein Stück Einblick, Durchblick und Ausblick. Geschrieben aus der Sicht eines wachen Zeitzeugen und eines lebendigen Zeugen von Jesus Christus.

Ulrich Parzany erzählt und kommentiert, er legt Beweggründe und Hintergründe dar, er berichtet und deutet. Sein Buch umspannt mehr als sieben Jahrzehnte. Spannend ist, wovon er schreibt: die Kindheit in Essen, der Industriestadt, geprägt von Zerstörung im Krieg und Wiederaufbau. Die prägenden Jahre in der Jugendarbeit im Weigle-Haus unter dem bekannten Pfarrer Wilhelm Busch. Die Jahre des Theologiestudiums, das Vikariat in Beit Jala und Ost-Jerusalem, beides damals noch Teil von Jordanien. Und so geht es weiter, mitten hindurch durch theologische und gesellschaftliche Umbrüche, durch leidenschaftliche Verkündigung unter der jungen Generation, durch Kämpfe um den Kurs der Kirche, durch strategische Verantwortung im deutschen und im weltweiten CVJM, durch die Chancen, die die deutsche Wiedervereinigung für den Neuaufbau der CVJM brachte und und und …

In allem, was Ulrich Parzany schreibt, ist seine Leidenschaft zu spüren, eine Leidenschaft für die Sache Jesu und für die Ehre Gottes. So habe ich ihn kennengelernt, als junger Christ, ebenfalls aus dem westlichen Ruhrgebiet stammend. So ist er geblieben durch die Jahre und Zeiten hindurch. Das zeigt sich gerade in seinem Verkündigungsdienst bei ProChrist vor Hunderttausenden, bis heute: Hier begegnen wir einem echten, kernigen, authentischen Zeugen für das Evangelium.

Dass er genau das war und ist, dafür sind viele ihm dankbar. Daran haben auch viele Anstoß genommen. Beides ist wahr. Wahr ist vor allem aber auch dies: Dadurch sind viele Menschen zum Glauben gekommen und in ihrem Glauben bestärkt und in ihrem Leben gesegnet worden.

Doch es gibt nicht nur die öffentlich sichtbare Seite von Ulrich Parzany. Er ist nicht nur der entschiedene Verkündiger und Kämpfer für den »Glauben, der den Heiligen ein für alle Mal überliefert ist« (Judasbrief 5).

Er ist auch der behutsame Seelsorger und zugewandte Mentor, der liebevolle Ehemann und Vater, der belesene Theologe und Kenner der alten Sprachen, der politisch engagierte Zeitgenosse und zugewandte Freund, der leidenschaftliche Hobbysportler und Klavierspieler, der respektvolle Zuhörer und nachdenkliche Gesprächspartner, der umfassend Interessierte und scharfsinnige Intellektuelle, der Autor unzähliger Artikel und vieler Bücher und nicht zuletzt für mich und für viele ein glaubwürdiges Vorbild. Gerade auch in seiner Gradlinigkeit und seinen Überzeugungen, die heute manche als unbequem empfinden und am liebsten wegbügeln würden.

Dazu stehe ich … Es hätte kaum einen besseren Titel haben können. Danke, Ulrich, für das Geschenk dieses Buches! Und danke für alle Freundschaft und Förderung!

Und vor allem: Danke, dass du nicht für oder gegen dieses oder jenes stehst, und schon gar nicht gegen Menschen, sondern immer und vor allem für Jesus Christus. Und in ihm und durch ihn für das rettende Evangelium, für das Kreuz und die Auferstehung, für die große Einladung Gottes an jeden, einfach für alles, wofür auch unsere Mütter und Väter im Glauben gestanden haben durch die Jahrtausende hindurch. Dafür stehst du. Dazu stehst du. Danke dafür!

Roland Werner, Epiphanias 2014

Zeit oder Unzeit?

Es ist meine Lebensberufung, das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen. Dabei steht die Verkündigung für Menschen, die Jesus Christus noch nicht nachfolgen, im Vordergrund. Das nennt man heute Evangelisation.

So lange ich denken kann, habe ich den Satz gehört: »Die Zeit der Evangelisation ist vorbei.« Das konnte ich nie glauben, obwohl ich oft genug massive Widerstände spürte. Weil Gott in Jesus Christus Mensch geworden, am Kreuz für alle Menschen gestorben und am Ostermorgen auferstanden ist, gilt, bis er zur Auferweckung aller Toten und zum Weltgericht wiederkommen wird: »Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!« (2. Korinther 6,2).

Es ist also Zeit, das Evangelium allen Menschen zu sagen.

Aber ich leugne nicht, dass es Zeiten und Situationen gibt, in denen es leichter oder schwerer ist, die Botschaft von Jesus unter die Leute zu bringen. Das hat Paulus gewusst, als er seinen Mitarbeiter Timotheus ermahnte: »Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit« (2. Timotheus 4,2).

Ich bin im Zweiten Weltkrieg geboren, 1941, erinnere mich aber nur wenig an die Kriegszeit. Die Trümmer der Ruhrgebietsmetropole Essen in den Nachkriegsjahren erlebte ich als Abenteuerspielplatz: Mit den Jungen aus der Nachbarschaft veranstalteten wir wilde Verfolgungsjagden in den Ruinen der vierstöckigen Wohnhäuser in Essen-Ost.

Meine Eltern nahmen mich sonntags mit in die überfüllten Gottesdienste von Pfarrer Wilhelm Busch. Die ersten Gottesdienste, die ich in meinem Leben halbwegs bewusst wahrgenommen habe, fanden in notdürftig geflickten Ruinen statt.

Zum Beispiel im Keller des Hotels »Vereinshaus«, heute Hotel »Essener Hof«, direkt am Hauptbahnhof gelegen. Oder dann im zerbombten Weigle-Haus: Immer gab es zu wenig Stühle, immer drängten sich die Menschen.

Wir mussten früh genug kommen, um überhaupt einen Platz zu finden.

War das Zeit oder Unzeit? Es war sicher eine schwere Zeit nach all dem Schrecken der Naziherrschaft und des Krieges. Es herrschten Hunger und Wohnungsnot. Aber gleichzeitig hungerte man nach dem Evangelium.

Dann begann der Wiederaufbau, das Wirtschaftswunder ließ in Westdeutschland materiellen Wohlstand wachsen. Was geschah in dieser Zeit in den Seelen der Menschen? Der Soziologe Helmut Schelsky nannte sie die »skeptische Generation«1. Nach all dem Heil-Hitler-Geschrei, den Heils- und Fortschrittsversprechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach all dem Morden und Sterben, nach den bitteren Enttäuschungen fragten viele: »Was kann man denn noch ernst nehmen?« War das nun Zeit oder Unzeit für das Evangelium?

Immer wieder bin ich in Gedanken durch die sieben Jahrzehnte meines Lebens gegangen. Zu allen Zeiten gab es offene Türen für das Evangelium, aber auch Widerstände. Davon möchte ich berichten, denn in diesem Spannungsfeld habe ich gelebt.

In der schriftlichen Arbeit, die ich zu meinem zweiten Theologischen Examen 1967 abliefern musste, habe ich mich mit dem Missionstheologen Walter Freytag beschäftigt. Der hat 1942 einen Aufsatz mit dem Titel »Mission im Blick aufs Ende« geschrieben.2 Darin ist zu lesen: »Neutestamentlich gesehen, steht alle menschliche Geschichte unter dem Zeichen der Ausreifung der Dämonien dieser Welt. Aber hier in der Mission vollzieht sich mitten in und unter und trotz diesen Dämonien das Ziel Gottes mit der Menschheit, die Sammlung der Gemeinde. Das macht die Mission im Innersten unabhängig von Zeit und Unzeit. Ja, Jesus stellt sie mitten hinein in Krieg und Geschrei von Kriegen (Matthäus 24). Sie ist für ihn das eigentliche Geschehen, auf das es allein ankommt.«3

Jesus sagt seinen Jüngern, dass sich die Geschichte zuspitzen und das Böse eskalieren wird (Verfolgung der Christen, Kriege, Hungersnöte, Erdbeben, Verachtung von Recht und Gerechtigkeit). Aber die eigentliche Linie aufs Ziel hin beschreibt er so: »Und es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende (das Ziel – griechisch: telos) kommen« (Matthäus 24,14).

Ich schildere zunächst meine eigenen Erfahrungen, die ich im Rückblick als Schlüsselerfahrungen für mein Leben betrachte. Es geht um meine Bekehrung zu Jesus, meine Berufung zum vollzeitlichen Dienst der Verkündigung, meine Entscheidung für die Ehe und die Weichenstellung für den speziellen Dienst der öffentlichen Evangelisation.

Was erwartet den Leser danach? Ich folge dem zeitlichen Ablauf meines Lebens und erzähle von der Kindheit im Krieg und in der Nachkriegszeit, aus der Jugendzeit und der Jugendarbeit, in der entscheidende Weichen gestellt wurden. Ich berichte über meine Ausbildung in Schule und Universität. Seit 1961 kenne ich meine Frau Regine und seit 1967 sind wir miteinander verheiratet. Darüber schreibe ich in einem besonderen Kapitel. Doch seit 50 Jahren ist unsere Geschichte nur als gemeinsame zu verstehen. Das gilt auch für meine Zeit als Vikar in Jerusalem, als Jugendpfarrer in Essen, als Generalsekretär des deutschen CVJM, für den Reisedienst als Evangelist in Deutschland und anderen Ländern. Das gilt auch für meine Zeit bei ProChrist, an der Regine viel stärkeren Anteil hatte, als in der Öffentlichkeit sichtbar wurde.

Ich werde mich nicht streng an den chronologischen Ablauf halten. Von bestimmten Erlebnissen und Erfahrungen aus ziehen sich thematische Linien wie rote Fäden durch mein Leben. Denen folge ich dann jeweils unterschiedlich ausführlich.

Warum schreibe ich dieses Buch? Ich bin in meinem Leben stark von Pfarrer Wilhelm Busch geprägt worden. Der hatte zwar Biografien über seinen Vater und Bruder und auch Kurzbiografien über viele christliche Persönlichkeiten geschrieben, aber ausdrücklich abgelehnt, eine Autobiografie zu verfassen. Er wollte auch nicht, dass andere über sein Leben schrieben. Er befürchtete, dass solche Bücher nichts als Produkte peinlicher Eitelkeit und Unwahrhaftigkeit werden könnten. Diese Warnung steckt mir in den Knochen.

Ich hoffe und bete, dass ich dieser Versuchung zu eitler Selbstdarstellung nicht erlegen bin. Gott und die Leser müssen das beurteilen. Unsereinem gerät alles zu einer Predigt. Ich leugne nicht, dass ich mit diesem Buch Botschaften vermitteln möchte. Wir leben in Zeiten schwerwiegender Auseinandersetzungen in den christlichen Kirchen und in unserer gesamten Gesellschaft. Zu einigen Themen will ich kritisch Stellung nehmen. Selbstverständlich sind meine Überzeugungen im Laufe meines Lebens geformt worden und ich begründe meine Positionen. Die Leser sollen wissen, warum ich dazu stehe.

Kapitel 1
Schlüsselerfahrungen

Die überraschende Frage

Es war in der Woche nach Pfingsten 1955. Monti hatte uns – fünf Jungen im Alter von 14 und 15 Jahren – zu einer längeren Radtour durch das Oberbergische Land eingeladen. Das Oberbergische ist eine reizvolle Mittelgebirgslandschaft östlich von Köln. Für Radfahrer eine ziemliche Herausforderung. Monti hieß eigentlich Wolfgang Bauder, er war Theologiestudent und engagierte sich in der Jugendarbeit des Essener Weigle-Hauses. Den Spitznamen Monti hatte er bekommen, weil er oft eine Baskenmütze trug wie der damals bekannte britische General Montgomery, der Rommels Afrikakorps in der Schlacht von El Alamein besiegt hatte. Montgomery wurde Monti abgekürzt und alle kannten Wolfgang Bauder unter diesem Namen.

Auf der Radtour ging es ziemlich lustig zu. Warum wir so oft und so heftig gelacht haben, weiß ich nicht mehr – es war wohl der sprichwörtliche Spaß an der Freude.

An einem Abend saßen wir auf herumliegenden Baumstämmen vor der Jugendherberge in dem Ort Kürten. Monti hatte uns zum Bibellesen und zum Gespräch über einen Bibeltext eingeladen. Plötzlich fragte Monti mich: »Weißt du eigentlich, ob du zu Jesus gehörst?«

Die Frage traf mich unvorbereitet. So persönlich war ich noch nie mit ihr konfrontiert worden. Ich hatte nicht lange Zeit zu überlegen und sagte: »Ja.« Aber im gleichen Augenblick wusste ich, dass ich nichts wusste. Ich hatte Ja gesagt, weil ich nicht in ein unerwünschtes Gespräch verwickelt werden wollte. Das gelang auch, das Gespräch ging allgemein weiter. Ich war aus der Klemme – dachte ich, war ich aber nicht. Von diesem Augenblick an wühlte die Frage in mir: »Weißt du eigentlich, ob du zu Jesus gehörst?«

Meine Eltern waren überzeugte Christen. Sie liebten mich, ich liebte sie. Bei uns zu Hause ging es fröhlich zu: Wir beteten bei Tisch, morgens wurde die Losung gelesen, die beiden kurzen Bibelworte für jeden Tag. Bei Familienfesten wurden christliche Lieder gesungen. Ich wusste, dass mein Vater schon als junger Kerl in der Jugendarbeit von Wilhelm Busch aktiv gewesen war. Meine Mutter kam aus der Mädchenarbeit der damaligen Vikarin Änne Kaufmann in Essen. Die Eltern hatten sich während der Nazizeit in der Bekennenden Kirche aktiv beteiligt. Ich hatte also viel zu Hause gehört, war auch immer in die Gottesdienste mitgenommen worden. Nie war mir dabei der Gedanke gekommen, nicht mitzugehen. Ich stimmte dem christlichen Leben um mich herum zu.

Aber als Monti mir diese Frage stellte, wurde ich so direkt persönlich getroffen, wie ich es nie zuvor erlebt hatte.

Der Rest der Radtour bot mir die Gelegenheit, die Antwort zu suchen. Beim Beten, beim Bibellesen, in den Gesprächen mit den Freunden. Ich wollte es wissen und mir wurde klar: Gott hat sich in Jesus eindeutig offenbart. Jesus hat in seinem Leben, Sterben und Auferstehen alles getan, damit ich mit Gott versöhnt werde. Jesus will mein Freund sein. Das Angebot war mir so klar wie nie zuvor.

Die Radtour ging zu Ende. Als ich nach Hause kam, ging ich in mein kleines Zimmerchen und betete. Ich sagte Jesus, dass ich ihm von jetzt an folgen, nicht länger nur der Mitläufer einer christlichen Familie sein wollte. Ich weiß bis heute nicht, warum ich diese Entscheidung nicht schon auf der Radtour getroffen hatte. Aus irgendeinem Grund brauchte ich den Abstand und meine häusliche Atmosphäre. Ich machte das hinter verschlossener Tür in meinem kleinen Zimmer mit Jesus aus.

Gott sei Dank blieb ich nicht allein. Da waren Monti, Hartwig, Conny, Dieter, Jochen und viele andere, mit denen ich die Freundschaft mit Jesus teilte. So wuchs mein Glaube.

Pfarrer werden? – Nie!?

Zwischen Weihnachten und Silvester fand im Weigle-Haus in jedem Jahr ein Bibelkurs für Mitarbeiter statt. Ein Referent wurde eingeladen und legte an fünf Abenden den gut zweihundert ehrenamtlichen Mitarbeitern Bibeltexte aus. Ende 1956 hielt Karl Sundermeier, damals Bundeswart des Westdeutschen Jungmännerbundes (später CVJM-Westbund), Bibelarbeiten über die Parade des Glaubens in Hebräer 11.

An einem Abend traf mich die Berufung in den vollzeitlichen Dienst. Es ging in der Bibelauslegung um Hebräer 11,24-26: »Durch den Glauben wollte Mose, als er groß geworden war, nicht mehr als Sohn der Tochter des Pharao gelten, sondern wollte viel lieber mit dem Volk Gottes zusammen misshandelt werden, als eine Zeit lang den Genuss der Sünde haben, und hielt die Schmach Christi für größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens; denn er sah auf die Belohnung.«

Ich war zwar mit Begeisterung Christ. Aber meine Erfahrungen mit Pfarrern und Kirche waren ziemlich durchwachsen. Im Stadtbezirk Essen-Margarethenhöhe, in dem ich lebte, ließ der Gemeindepfarrer die Gruppe des Weigle-Hauses zum Beispiel nicht ins Gemeindehaus. Wir mussten uns Räume in einer Schule besorgen, um dort unsere Jugendtreffs durchzuführen.

Wilhelm Busch war Jugendpfarrer im Auftrag der evangelischen Kirche. Trotzdem gab es nach dem Zweiten Weltkrieg großen Widerstand in der Pfarrerschaft gegen seine Arbeit. Da spielte auch Neid eine Rolle, denn Wilhelm Busch hatte großen Zulauf. Aber in der evangelischen Kirche gab es auch Auseinandersetzungen um den zukünftigen Weg. Große Teile der Kirche waren durch ihre Komplizenschaft mit den Nazis und den sogenannten »Deutschen Christen« kompromittiert. Eigentlich wollte man an die Bekennende Kirche anknüpfen. Die Gemeinde sollte eine größere Bedeutung bekommen. Allerdings meinten viele Pfarrer das Pfarramt, wenn sie Gemeinde sagten. Gemeinde war nach ihrer Auffassung in ihrem Pfarrbezirk nur das, was unter ihrer Leitung stattfand. Der Konflikt mit erwecklichen und missionarischen Gruppen und Gemeinschaften, die auf organisatorische Eigenständigkeit pochten, war vorprogrammiert.

Nun ist das Alter zwischen 14 und 18 Jahren bekanntlich nicht die Lebenszeit der weisen und abgeklärten Gelassenheit und Kompromissbereitschaft. Also verbanden sich bei mir die Entschiedenheit für Jesus und die missionarische Leidenschaft leicht und schnell mit einer kirchenkritischen Einstellung. Eins wusste ich sicher: Evangelischer Pfarrer wollte ich nicht werden.

Mein Vater, Kurt Parzany, war mir in vieler Hinsicht ein Vorbild. Er war Ingenieur und baute Wasserkraftwerke. Seine Arbeit, soweit ich sie verstand, faszinierte mich als Junge. Gelegentlich nahm er mich auf Dienstreisen mit. In den 1950er-Jahren wurden Staustufen an der Mosel gebaut; mein Vater war im Auftrag des RWE für den Ausbau der Wasserkraftwerke verantwortlich. Ich erinnere mich an Reisen nach Vianden in Luxemburg, wo ein großes Pumpspeicherwerk gebaut wurde. Ich lernte Kaplan-Turbinen, Pelton-Turbinen und Francis-Turbinen kennen. Vater hatte eine unternehmerische Gabe und erfüllte seine Aufgabe mit Begeisterung. In diese Richtung wollte ich mich auch orientieren.

Mein Vater engagierte sich auch als Presbyter, also in der ehrenamtlichen Leitung der Kirchengemeinde. Dabei machte er Erfahrungen mit Pfarrern, die ihn diesen Berufsstand kritisch beurteilen ließen. Auch das färbte auf mich ab. Also, nie Pfarrer werden! Das war mir klar.

Und dann kam jener Abend mit der Bibelarbeit von Karl Sundermeier über Hebräer 11. Ich weiß noch genau, in welcher Ecke des Humburg-Saales im Weigle-Haus ich saß. Und ich wusste plötzlich, dass meine Verachtung, die ich gegenüber Pfarrern empfand, und meine allzu pauschale Kritik an der Kirche vor Gott nicht recht waren. Außerdem wollte ich ja etwas Besseres werden. Ich wollte Karriere machen, am beginnenden Wohlstand teilhaben. In Industrie und Wirtschaft konnte man nach meinen Beobachtungen Einfluss und Ansehen gewinnen. Was war dagegen die Kirche?

Doch dann traf mich der Satz über Mose »… und hielt die Schmach Christi für größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens« wie ein Blitz. Gott sprach zu meinem Herzen und ich wusste genau, dass er mich im vollzeitlichen Dienst haben wollte. Was das bedeuten würde, wusste ich nicht, über das Wie hatte ich keine Vorstellungen. Aber ich wusste tief in mir drinnen, dass Gott mich berief.

Weil ich befürchtete, diese Erkenntnis mit der Zeit zu verdrängen und zu vergessen, ging ich noch an jenem Abend zu Hartwig Lücke. Hartwig war der Leiter der Weigle-Haus-Gruppe, in der ich inzwischen Mitarbeiter geworden war. Ihm erzählte ich, was ich an jenem Abend erlebt hatte. Damit verband ich die Bitte, mich an meine Berufung zu erinnern, wenn ich sie vergessen oder verraten sollte. Er hat es später getan: Neben dem Theologiestudium belegte ich Vorlesungen in Volkswirtschaftslehre, um keinen Tunnelblick zu bekommen. Hartwigs Rückfrage, ob ich mir damit etwa einen Fluchtweg baute, half mir, meine Motive zu klären und Kurs zu halten.

Aber so weit war es nach Weihnachten 1956 noch nicht. Erst einmal entschied ich mich, Hebräisch zu lernen. Mein Vater hatte mich auf das humanistische Burggymnasium in Essen geschickt. Er war überzeugt, dass die schulische Allgemeinbildung nicht breit genug sein könnte. Auf dem Burggymnasium lernte ich neun Jahre lang Latein und sechs Jahre Griechisch. In den letzten drei Jahren konnte man auch Hebräisch als Wahlfach nehmen. Das tat ich und hatte dadurch mit dem Abitur schon mal die notwendigen Abschlüsse in den alten Sprachen, die man sonst erst noch auf der Universität erwerben musste.

Mein Vater wurde misstrauisch. Er war mit meiner Entscheidung für das Theologiestudium gar nicht einverstanden. Dass ich Hebräisch lernte, wollte er nicht verhindern. Er war zufrieden, dass ich in Mathematik und Physik ganz gut war. Aber lange vor dem Abitur setzte ich mich noch einmal heftig mit ihm auseinander.

Ein Freund meines Vaters hatte ein Unternehmen für Industrieanstriche aufgebaut. Er hatte keine Kinder und suchte einen Nachfolger. Da kam ich ins Gespräch. Verfahrenstechnik war der gewünschte Studiengang, der mir den Zugang zur Übernahme dieser Firma öffnen sollte. Mich reizte diese Perspektive. Aber ich wusste genau, dass Gott eine andere Berufung für mich hatte. Mein Vater war enttäuscht, dass ich die Chance nicht ergreifen wollte. Er brauchte einige Zeit, um seinen Frieden mit meinem Weg zu machen, aber er hat ihn gemacht. Später unterstützte er mich kräftig in meinem Dienst als Jugendpfarrer in Essen.

Soll ich heiraten?

Ich begann mein Studium 1960 an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal und wechselte zum Sommersemester 1961 nach Göttingen. Von Wuppertal aus hatte ich noch ehrenamtlich in der Essener Jugendarbeit des Weigle-Hauses mitgearbeitet. In Göttingen engagierte ich mich in der SMD, der Studentenmission in Deutschland.

Ich zog in ein kleines Dachzimmerchen und bekam schnell Verbindung zum Mitarbeiterkreis der Göttinger SMD. Wir trafen uns täglich um kurz nach 13 Uhr im Gemeindehaus an der Jacobi-Kirche im Zentrum der Stadt zur Gebetsgemeinschaft. Es gab Studentenhauskreise und offene Abende mit Vorträgen von Professor Hans Rohrbach, dem Mathematiker aus Mainz, mit Günter Ewald und Bodo Volkmann, beide ebenfalls Mathematiker, oder mit dem Religionspädagogen Hans-Bernhard Kaufmann.

Nachdem ich im Weigle-Haus gelernt hatte, wie man »harte Jungens« mit dem Evangelium erreicht, lehrte mich die SMD, die missionarische Herausforderung in der akademischen Welt der Universität anzunehmen – was mir sehr willkommen war.

Im Wintersemester 1961/62 wurde ich zusammen mit Regine Drunk und Peter Parge ins Leitungsteam der Göttinger SMD-Gruppe berufen. Die Zusammenarbeit war eine gute Erfahrung und hatte den Nebeneffekt, dass ich mich in Regine verliebte. Doch damit bekam ich ein Problem. Ich war mehr und mehr davon überzeugt, dass sich der Dienst eines Pfarrers kaum mit Ehe und Familie verbinden ließ. Ich wollte doch die Menschen erreichen, und das war nur außerhalb von deren Arbeitszeiten möglich – also abends und an den Samstagen und Sonntagen. Wie sollte das gehen, wenn ich genau zu diesen Zeiten auch für die Familie da sein wollte? In der Essener Jugendarbeit hatte ich gelernt, wie wichtig es war, an jedem Sonntag Zeit für die jungen Leute zu haben. Wilhelm Busch war mein großes Vorbild, der tatsächlich an jedem Sonntag im Weigle-Haus präsent gewesen war. Es schien mir deshalb klar, dass die Ehelosigkeit nach dem Vorbild des Paulus die richtigen Rahmenbedingungen für diesen Dienst bot.

Das war in meinem Kopf. Aber jetzt war dieses schöne Mädchen in meinem Herzen. Und sie war nicht nur schön und intelligent, sondern ich erlebte sie auch als eine fleißige, begeisterte Mitarbeiterin. Sie hatte in der SMD zu einem lebendigen Glauben gefunden und besaß Herz und Talent für Seelsorge und Gesprächskreise. In mir tobte ein Kampf. Ich versuchte, meine Liebe zu ihr nicht zu erkennen zu geben. Es ging so hin und her.

Im Juni 1962 lud ich sie schließlich auf meine Studentenbude ein. Ich hatte Vanilleeis und Erdbeeren gekauft, aber diese zu früh gewaschen. Deshalb waren sie schon matschig, als das historische Treffen begann und ich die Delikatessen servierte. Ich stellte ihr dann die Frage der Fragen: ob sie sich vorstellen könne, mit jemandem verheiratet zu sein, der abends selten und sonntags nie zu Hause wäre. Wenn man verliebt ist, kommt man auf seltsame Ideen. Man stellt völlig unsinnige Fragen und meint, die könnten sinnvoll beantwortet werden.

Regine verkraftete diese Zumutung und gab mir sogar eine positive Antwort. In meiner Erinnerung war die Bedenkzeit nicht sehr lang und wir führten auch keine komplizierte Diskussion. Es war ein wunderbarer Abend. Zum Abschluss gingen wir noch bei Glühwürmchen in der Dunkelheit spazieren und erinnern uns heute noch gerne daran …

Rückblickend haben wir später über meine Frage gelacht. Regine weiß auch noch, dass ich das Thema schon früher ins Gespräch gebracht hatte. So war sie an diesem 23. Juni 1962, den wir als den Geburtstag unseres gemeinsamen Lebens in Erinnerung behalten, nicht völlig überrascht. Aber es kam tatsächlich so, wie wir es uns damals nicht wirklich vorstellen konnten. In den 17 Jahren als Jugendpfarrer war ich bis auf zwei Sonntage während unseres Urlaubs und am Nachmittag des ersten Weihnachtsfeiertags an jedem Sonntag im Weigle-Haus. Wenn die ehrenamtlichen Mitarbeiter da waren, musste ich auch dabei sein. Meine Frau kam sich an den Sonntagnachmittagen tatsächlich manchmal als alleinerziehende Mutter vor. In den anschließenden 21 Jahren war es auch nicht viel anders: Die Arbeit als Generalsekretär des CVJM-Gesamtverbandes war ja mit Verkündigungsdiensten in ganz Deutschland verbunden. Regine und ich haben immer wieder über unseren Beginn geredet und dankbar festgestellt, dass Gott uns in einen gemeinsamen Dienst gestellt hat. Wir sind in unserer Ehe sehr glücklich und Gott für seine Berufung sehr dankbar. Das Gespräch bei Vanilleeis und matschigen Erdbeeren in der Studentenbude in Göttingen, Am Pfingstanger 53, war eine Schlüsselerfahrung für unser Leben.

Plötzlich wurde es todernst

Ich habe mir meine Dienste nicht selbst gewählt. Auch kann ich nicht behaupten, große Visionen entwickelt und klare Vorstellungen über Aufgaben, die ich im Leben anpacken wollte, definiert zu haben. Grundsätzlich war mir immer klar, dass ich als Christ weitergeben sollte und wollte, was Gott mir geschenkt hat. Der Glaube an Jesus Christus muss missionarisch ausstrahlen. Von Klaus Teschner stammt wohl die Formulierung, dass wir Christen nicht die Endverbraucher der Liebe Gottes sind. Aber wie sollte ich meinen Glauben weitersagen und weitergeben? Ich strebte die normale Arbeit eines Gemeindepfarrers an. In Gottesdiensten und Bibelstunden, Hausbesuchen und Gesprächen, in Begegnungen mit Jungen und Alten sah ich unbegrenzte Möglichkeiten, den Menschen das Evangelium zu sagen. Es war nie mein Wunsch, irgendwelche speziellen Ämter wahrzunehmen. Karriere in der Kirche lockte mich schon gar nicht. Vom Dekan bzw. Superintendenten an aufwärts muss man den Laden irgendwie zusammenhalten und die eigentlich unvereinbaren theologischen Positionen als vereinbar repräsentieren. Das hätte ich nicht mit Überzeugung tun können. Aber mein Traum, einen normalen Dienst als Gemeindepfarrer zu tun, wurde auch nicht erfüllt.

Gott gebrauchte immer bestimmte Menschen, um mich in bestimmte Dienste zu rufen. Herbert Reinhard war einer davon. Wir kannten uns aus einem Hausbibelkreis in Essen. Herbert war in der Wirtschaft tätig und machte später eine steile Karriere bis in den Vorstand eines großen Konzerns. Im Juli 1964 erzählte er mir, die Landeskirchliche Gemeinschaft Scheideweg bei Hückeswagen im Bergischen Land suche einen Evangelisten für eine Vortragswoche. Er habe seinem Schwiegervater, der zur Leitung dieser Gemeinschaft gehörte, meinen Namen genannt. Ich sollte die Einladung nicht ablehnen, wenn sie denn käme. Sie erreichte mich kurz danach.

Ich war überrascht. Gerade steuerte ich auf den Abschluss meines Theologiestudiums zu. Die Vortragswoche war für Oktober 1964 geplant, irgendwann Anfang Oktober würde das erste Theologische Examen stattfinden. Ich wusste gar nicht, ob ich es bestehen würde. Und wenn ich es bestünde, würde ich ins Vikariat eingewiesen – wohin auch immer. Würde mein dortiger Chef mir erlauben, eine Woche lang irgendwo zu predigen? Und überhaupt: eine evangelistische Vortragswoche? Das war die Kragenweite von Wilhelm Busch. Oder von Klaus Vollmer und Johannes Hansen in der damals jüngeren Generation der Evangelisten. Ich bewunderte deren Dienst, aber ich traute ihn mir nicht zu.

Herbert Reinhard ermutigte mich und ich sagte zu. Ich bestand am 9. Oktober 1964 mein Examen. Am 31. Oktober war unsere offizielle Verlobungsfeier. Mein Vikariat in Jerusalem sollte Mitte November beginnen. Die Evangelisationswoche fand vom 18. bis 25. Oktober statt. Offensichtlich hatte Gott keine Probleme mit meiner Terminfülle.

Meine Erinnerungen an die einzelnen Abende konnte ich dank der Briefe, die ich in diesen Tagen an Regine schrieb, auffrischen. Die Veranstaltung war gut besucht, von Abend zu Abend kamen mehr Menschen. Zusätzliche Stühle waren nötig, Fremde kamen. Ich hatte noch keine Erfahrung mit Nachversammlungen oder einem Bekehrungsaufruf am Ende des Abends.

»Heute Abend wollen wir zum ersten Mal eine Nachversammlung halten. Das wird auch für mich ein Wagnis. Ich möchte die Leute, die einen neuen Anfang machen wollen, auffordern, im Saal zurückzubleiben. Ihnen sollen noch einige praktische Hinweise gegeben werden (Bibellesen, Gebet, Gemeinschaft, Beichte). Zum Schluss würde ich mit ihnen beten. Ob überhaupt jemand bleibt? Ich weiß noch nicht, ob diese Methode für mich die richtige ist, ob ich dazu die Vollmacht habe. Aber ich bete darum und will dann darauf achten, was Jesus tut.« (Brief an Regine vom 22. 10. 64)

Zwei Tage später schrieb ich:

»Gestern Abend, das war wieder eine harte Schlacht. Die Bude war überfüllt wie nie vorher! Sie hörten zu, man merkte es. Aber als wir zur Nachversammlung in einen angrenzenden Raum einluden, blieben wir allein. Das war hart und unbegreiflich. Wenn ich nur wüsste, woran es liegt. Aber es wirft auch nichts ab, alle Gründe zu untersuchen. Wir haben das reichlich getan. Mir ist vor allem fraglich, ob ich die Legitimation zum Seelsorgedienst habe. Andererseits kann ich die Nachversammlung nicht einstellen, denn ich muss einen verbindlichen Weg anbieten. Die Leute hier haben jahrzehntelang erweckliche Predigt gehört. Sie sagen, es war schön, und alles bleibt beim Alten. Natürlich ist mir klar, dass Gott etwas tun kann, ohne es mir zu zeigen. Aber ich habe ihn so dringlich auch um sichtbare Frucht gebeten.« (Brief an Regine vom 24. 10. 64)

Der letzte Abend dieser Woche war für mein Leben von wegweisender Bedeutung. Es war ein Sonntag. Nachmittags um 17 Uhr war ich im Gemeinschaftshaus mit einer Gruppe von fünf jungen Leuten zum Gespräch verabredet. Wir diskutierten fast zwei Stunden über das Für und Wider des Glaubens an Jesus. Jede Menge Zweifel wurden aufgetischt, meine Antworten nahmen die Skeptiker aber durchaus positiv auf. Wir waren uns einig, dass irgendwann eine Entscheidung getroffen werden müsste: Will ich mich auf Jesus einlassen oder nicht? Ohne praktische Schritte im Leben kann es keine Gewissheit geben – Vertrauen findet nicht nur theoretisch im Kopf statt. Aber die Bereitschaft zu einer verbindlichen Entscheidung für Jesus war noch nicht da. Die jungen Leute wollten an diesem letzten Abend zur Veranstaltung kommen, danach könne man ja noch mal darüber sprechen. Die Sache wurde vertagt, wir verabschiedeten uns.

Ich zog mich zur Vorbereitung auf den Abend in mein Gastzimmer zurück. Etwa um 19.30 Uhr kam mein Freund Herbert Reinhard und brachte die Schreckensnachricht. In die Gruppe der fünf jungen Leute war auf der Landstraße ein Auto gefahren und ein Mädchen war ums Leben gekommen.

Ich weiß nicht mehr, wie ich diesen Schock verkraftete. Eine halbe Stunde später begann der letzte Abend. Das lange vorher festgelegte Thema lautete: »Mit dem Tod ist alles aus«. Der Saal war voll. Ich sah, wie hinten die vier Überlebenden hineinkamen. Ich sprach zum Thema und lud zum Glauben an Jesus ein. Ich weiß nicht mehr, ob ich den schrecklichen Unfall erwähnte. Nach Abschluss des Abends kamen die vier jungen Leute zum Gespräch. Sie wollten nun ihr Leben mit Jesus verbinden. Ich versuchte, sie von einer Entscheidung in dieser hoch emotionalen Lage abzuhalten. Aber sie wollten nichts mehr aufschieben.

Auch andere Menschen suchten das Gespräch, wir redeten und beteten bis tief in die Nacht. Es war wohl 2 Uhr morgens, als wir uns trennten. Herbert Reinhard wartete auf mich mit der Nachricht: »Der Vater des getöteten Mädchens möchte dich sprechen.« Jetzt in der Nacht? Ja. Der Mann war in der Gegend für seine atheistische Überzeugung bekannt, er vertrat sie öffentlich. Was sollten wir reden?

Ich traf die Eltern des 15-jährigen Mädchens zusammen mit einigen Verwandten. Der Vater reichte mir ein Blatt Papier mit dem Entwurf für eine Todesanzeige. Oben stand ein Bibelwort: »Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen« (Römer 8,28). Ich fragte ihn: »Glauben Sie das?« Er antwortete mit verächtlicher Miene: »Nein.« Es schloss sich ein hartes, langes und erschütterndes Gespräch an.

Nach dieser nachhaltigen Erfahrung ahnte ich, dass die öffentliche evangelistische Verkündigung zu meiner Aufgabe werden könnte. Aber zunächst begann ich mein Vikariat in Jerusalem.

Kapitel 2
Behütet in Schreckenszeiten

Geschenk oder Zumutung?

Am Beginn meines Lebens erlebte ich den Widerspruch zwischen den tatsächlichen Schreckensereignissen, die auch meine Umwelt direkt betrafen, und der kindlichen Geborgenheit in meinem Elternhaus. Meine Mutter, Friedel Parzany, geborene Steinhoff, war bei meiner Geburt 22 Jahre alt. Mein Vater, Kurt, 27 Jahre. Ich betrachte mein Leben als ein Geschenk Gottes, weiß aber, dass sich das nicht von selbst versteht. Viele empfinden ihr Leben als eine Zumutung und hadern mit der Tatsache, dass sie überhaupt geboren wurden. Viele sind nicht willkommen in dieser Welt.

In Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt, werden Jahr für Jahr über 100 000 Kinder im Mutterleib getötet, weil sie nicht als Geschenk, sondern als Störung und unerträgliche Last empfunden werden. Sie alle bekommen gar nicht erst die Chance zu entscheiden, ob sie ihr Leben als Geschenk annehmen wollen oder nicht. Und ist es andererseits im Interesse der Kinder, sie in eine Welt zu setzen, die von Katastrophen aller Art bedroht ist? Doch seit dem Sündenfall des Menschen gibt es keine Welt ohne Leid und Schrecken mehr.

Die ersten sieben Jahre meines Lebens müssten mich eigentlich traumatisiert haben. Ich wurde im Krieg geboren und erlebte Trümmer und Not der Nachkriegszeit im Ruhrgebiet. Meine Frau Regine wurde ebenfalls im Krieg in Ostpreußen geboren und musste vor Ende des Krieges mit ihrer Mutter und zwei Brüdern über die Ostsee nach Dänemark fliehen. Sie lebte bis zum Beginn ihrer Schulzeit unter beschwerlichen Bedingungen in einem Internierungslager dort. Wir haben uns gelegentlich gefragt, ob wir schlimme Erlebnisse zu verarbeiten hatten. Wir konnten uns an keine solchen Erfahrungen erinnern. Haben wir sie verdrängt? Wir sind uns dessen nicht bewusst. In den Jahren nach dem Tod unserer Eltern haben wir bedauert, dass wir sie nicht intensiver über Einzelheiten und Zeiten ihres und unseres Erlebens ausgefragt haben.

Sie haben die Auskunft nicht verweigert, wenn wir auf Krieg und Nachkriegszeit zu sprechen kamen. Meine Schwiegermutter erzählte mit tiefer Erschütterung vom Sterben der kleinen Ingrid in Ostpreußen. Ingrid war ein Jahr älter als Regine und starb an Diphtherie und Scharlach, als sie zwei Jahre und drei Monate alt war. Auch die dramatische Flucht mit dem Schiff nach Dänemark, unmittelbar nachdem das Passagierschiff »Wilhelm Gustloff« am 30. Januar 1945 mit wohl mehr als 9 000 Menschen vor der pommerschen Küste von einem sowjetischen U-Boot versenkt worden war, schilderte sie mit Tränen in den Augen. Meine Eltern haben mehr erzählt, als ich behalten habe. Im Nachlass meiner Mutter fand ich ein Bündel Briefe, die mein Vater während des Krieges an sie geschrieben hatte. Beim Lesen dieser Briefe, in denen es ja auch um mich ging, habe ich nachträglich die Schrecken und Nöte dieser Zeit empfunden. Die Informationen, die ich auch vorher über die Ereignisse der Kriegsjahre hatte, haben mich nie so tief getroffen wie das, was ich in den Briefen meines Vaters las – er hatte es selbst erlebt!

Mein Vater musste elf Tage nach meiner Geburt Soldat werden. Bis dahin war er wegen seiner beruflichen Tätigkeit als Ingenieur in der Wasserkraftabteilung des Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks (RWE) als unabkömmlich eingestuft und vor dem Militärdienst bewahrt worden. Er musste seine Grundausbildung in Aachen machen und kam zu den Pionieren. Seine Kompanie, die zu einem technischen Bataillon gehörte, war in der Ukraine und in Russland, am Ende des Krieges im Ruhrgebiet eingesetzt. Er kam am 17. April 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft und wurde am 1. März 1946 entlassen. In diesen fünf Kriegsjahren konnten meine Eltern nur wenig Zeit miteinander verbringen.

Aus der Zeit, die mein Vater im Osten war, ist nur ein Brief erhalten. Er schrieb ihn am 7. Juli 1942 zum Geburtstag meiner Mutter am 14. Juli. »O.U.« steht vor dem Datum, was nach den bei der Wehrmacht damals üblichen Abkürzungen »ohne Unterkunftsangabe« bedeutete.4 Bei diesem Brief fand sich auch noch eine vergilbte Spruchkarte mit den Worten von Wilhelm Raabe: »Das Ewige ist stille, laut die Vergänglichkeit; schweigend geht Gottes Wille über den Erdenstreit.« Auf der Rückseite steht der handschriftliche Vermerk meines Vaters: »Aus dem Feldgottesdienst am 2. August 42 in Artemowsk.« Höchstwahrscheinlich stammt auch der Brief vom 7. Juli 1942 aus Artemowsk in der Ukraine. Ich war zu der Zeit ein Jahr und drei Monate alt. Beim Lesen dieses Briefes erlebte ich einen emotional sehr starken Rückblick in die frühe Zeit meines Lebens, die ich ja nicht bewusst erinnern kann. Ich zitiere darum einiges aus diesem Brief:

»Meine liebe Friedel!

Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen mächtig, der Herr aber ist noch größer in der Höhe.

Ich bin der Herr, und ist außer mir kein Heiland!

Ohne dich, wo käme Kraft und Mut mir her?

Ohne dich, wer nähme meine Bürde, wer?

Ohne dich zerstieben würde mir im Nu Glauben, Hoffen, Lieben.

Alles, Herr, bist du!

Mit diesen Worten und dem 2. Psalm grüße ich Dich, meine geliebte Friedel, an Deinem Geburtstag. Wo sollte mir Kraft herkommen, fröhlich an Dich zu schreiben, wenn nicht von unserem Herrn. Der zweite Psalm lässt uns mit Macht seine Größe und Herrlichkeit schauen und alles Sorgen nach hinten werfen. Ich bitte ihn, dass er Dir heute ein tapferes und fröhliches Herz gebe und Dir im kommenden Lebensjahr Gesundheit schenke und Deine Bitten und meine Bitten erfülle. Den ganzen Tag sind meine Gedanken bei Dir, mein Lieb. Hat Dein Junge Dir auch zum Geburtstag gratuliert? Grad heute sah ich das Sorgen einer Mutter für ein Kind. Nach dem Mittagessen ging ich mit einer Reihe Kochgeschirre hinaus, um zu spülen. In einem war noch Linsensuppe. Auf dem Flur traf ich eine Frau, die hier putzt. Sie hatte ihren Jungen an der Hand und bat um die Suppe, die ich ihr gern gab. Als ich mit dem gespülten Kochgeschirr zurückkam, dankte sie ganz herzlich. Ich schnitt Brot ab und schmierte dick Margarine darauf und gab es dem etwa vierjährigen Jungen. Er nahm es gern, aber in der Mutter Augen leuchtete es und sie fand kaum ein Wort. Ich sah in diesem Augenblick die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die nicht für sich bettelt, sondern für ihr Kind. Meine Gedanken gingen zu Dir, mein Lieb, und ich dankte, dass ich wissen durfte, dass Du nicht in solcher Not leben musst. Wenn ich an die Zukunft denke, dann wird mir oft bange um uns und unseren Jungen, denn wahrhaft gefährlich ist es, in die Hände der Menschen zu fallen. Aber da ist wieder mein Geburtstagsgruß an Dich, der 2. Psalm. Der im Himmel sitzt, lachet und spottet ihrer. Ach, Friedel, dabei wird das Herz fröhlich und zuversichtlich. Dasselbe lese ich immer wieder aus Deinen Briefen, die ich am Samstag in rauen Mengen bekommen habe …«

Ich will einige Daten und Geschehnisse in Erinnerung rufen, um den Kontrast zu meinen geradezu grotesk idyllischen persönlichen Erinnerungen deutlich zu machen.

Diktatur, Gewalt und Zerstörung

Mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 hatte Hitler den Zweiten Weltkrieg begonnen. Die Naziherrschaft bedrohte die Welt. Deutsche Truppen standen im Februar 1941 in Nordafrika, eroberten im April 1941 Athen. Im Juni 1941 begann der Überfall auf die Sowjetunion. Die Zahl der Angehörigen der deutschen Wehrmacht stieg im Jahr 1941 von 1,5 Millionen auf 7 Millionen!

Am 31. Juli 1941 beauftragte Hermann Göring den SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich mit der Organisation der sogenannten »Endlösung der Judenfrage«. Die Massendeportation von Juden in die Vernichtungslager begann Ende 1941. Das war mein Geburtsjahr.

Die deutsche Wehrmacht führte den »Vernichtungskrieg« im Osten. Etwa 27 Millionen Sowjetbürger starben. Die Schlacht um Stalingrad tobte seit Sommer 1942. Die 6. Armee unter General Paulus kapitulierte dort am 31. Januar 1943. Joseph Goebbels hielt am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast seine berüchtigte Propagandarede und verkündete unter tosendem Beifall den »totalen Krieg«. Am gleichen Tag wurden in München die Geschwister Scholl verhaftet und am 22. Februar 1943 zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Am 6. Juni 1944 begann die alliierte Invasion in der Normandie. Am 20. Juli 1944 scheiterte das Attentat auf Hitler in Ostpreußen. Am 9. April 1945 wurde Dietrich Bonhoeffer im Konzentrationslager Flossenbürg hingerichtet. Seit Anfang 1945 eroberten die alliierten Truppen Deutschland. Am 30. April 1945 beging Hitler Selbstmord. Die deutschen Truppen kapitulierten endgültig, als die Rote Armee in Berlin einmarschiert war. Am 8. Mai war der Zweite Weltkrieg in Europa vorbei. Deutschland wurde in die amerikanische, britische, französische und sowjetische Besatzungszone aufgeteilt. In Asien ging der Krieg erst am 15. August 1945 mit der Kapitulation Japans nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki zu Ende.

Die Sorgen der Eltern

Schreckliche Zeiten. Die Familien meines Vaters und meiner Mutter lebten in Essen, waren also von der Bombardierung des Ruhrgebiets, das ja ein Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie war, direkt betroffen. Wie schon erwähnt, war mein Vater 1942 und 1943 als Soldat in der Ukraine und in Russland, 1944 und 1945 wurde er im Ruhrgebiet eingesetzt. Im Jahr 1944 nahm er einige Monate an einem Lehrgang als Offiziersanwärter in Pirna, Sachsen, teil. Dorthin reiste meine Mutter mit mir. Wir wohnten bei einer Frau Weise zur Untermiete. Mein Vater verließ abends unerlaubt das Kasernengelände und besuchte uns. In einem seiner Briefe Anfang 1945 erinnerte er sich und meine Mutter dankbar an die schöne gemeinsame Zeit im Frühling und Sommer 1944 in Pirna. Aber die letzten Monate des Krieges waren auch für meine Eltern besonders schwer.

Beim mühsamen Entziffern seiner Briefe – mein Vater schrieb die damals übliche Sütterlin-Schrift – hat mich das Elend meiner jungen Eltern tief bewegt. Niemals zuvor habe ich diese Not so stark nachempfinden können. Meine Mutter war schwanger und erwartete im Februar 1945 die Geburt ihres zweiten Kindes. Mein Vater machte sich Sorgen um ihren Zustand. Sie lebte mit mir, ihrer Mutter, mit Tante Lotte, einer Schwester meines Vaters, und deren Kindern Kurt und Edelgard in Altenkirchen, Westerwald. Wir waren dort vor den Bomben sicherer als im Ruhrgebiet. Aber da nur sehr unregelmäßig Briefe durchkamen und private Telefonverbindungen nicht existierten, war die Zeit der Schwangerschaft meiner Mutter voller Sorgen.

Vater suchte nach Möglichkeiten, meine Mutter zu besuchen, aber es gelang nicht. Auch nicht in der Adventszeit und an Weihnachten. Die Briefe von den Weihnachtstagen und vom Jahreswechsel 1944/45 sind erschütternde Dokumente der Sehnsucht und Traurigkeit, aber auch der Fürsorge, Hoffnung und Glaubenszuversicht.

Am 25.