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Johannes Reimer

Hereinspaziert!

Willkommenskultur und Evangelisation

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Zu diesem Buch

„Ich komme gerne in diese Gemeinde – hier fühle ich mich willkommen.“

Johannes Reimer weiß: Dieser Satz wird gerne gehört, aber selten gesagt. Denn die christliche Gemeinde hat an vielen Stellen den Kontakt zu den Menschen in ihrem Umfeld verloren. Sicher, an evangelistischen Bemühungen und Aufwand fehlt es nicht, doch der Ertrag ist mager. Gottes außergewöhnliche Botschaft kommt ungewöhnlich schlecht an. Wieso? Stimmt etwas nicht mit unserer Theologie? Sind unsere Methoden verkehrt? Oder hat der moderne Mensch einfach kein Interesse mehr an Religion?

Reimer stellt (noch) eine ganz andere Frage: Könnte es sein, dass Christen und ihre Gemeinden als Fremdkörper in unserer Gesellschaft wahrgenommen werden? Dann kann Evangelisation nicht gelingen. Denn die gute Nachricht von Hoffnung und Gnade gehört mitten hinein in das Leben der Menschen. Sie muss die Menschen erreichen, sie buchstäblich berühren.

Deshalb fordert der Autor die christliche Gemeinde heraus: Heißt die Menschen endlich willkommen, mit Wort und Tat, mit Raum und Zeit. Lasst euch ein auf die Kultur der Menschen, mit denen ihr unterwegs sein möchtet. Folgt Jesus.

Dieses Buch bietet eine Fülle von Ideen und praktischen Hilfen, um die eigene Gemeindekultur zu entdecken und zu entwickeln. Johannes Reimer ist überzeugt: Unsere Gemeinden können etwas bewirken, wenn sie das Potenzial ihrer Glieder erwecken und Gottes Reich mit einer Kultur der Liebe, der Annahme und der Teilhabe bauen. Herzlich willkommen auf diesem Weg!

Über den Autor

Johannes Reimer, Jahrgang 1955, ist Professor für Missionswissenschaften an der University of South Africa in Johannesburg und Dozent für Missiologie am Theologischen Seminar Ewersbach sowie am Institut für Gemeindebau und Weltmission.

Er ist Autor zahlreicher Bücher; im Neufeld Verlag ist auch sein Buch Gott in der Welt feiern – Auf dem Weg zum missionalen Gottesdienst lieferbar.

Johannes Reimer ist verheiratet mit Cornelia, die beiden haben drei erwachsene Kinder und leben in Bergneustadt.

www.reimer-ministries.com

Impressum

Dieses Buch als E-Book:
ISBN 978-3-86256-761-4, Bestell-Nummer 590 034E

Dieses Buch in gedruckter Form:
ISBN 978-3-86256-034-9, Bestell-Nummer 590 034

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Bibelzitate, sofern nicht anders angegeben, wurden der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift entnommen. © 1980 Katholisches Bibelwerk, Stuttgart

Lektorat:Roland Nickel, Altdorf/Böblingen
Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson
Umschlagbilder:LitDenis/© ShutterStock®
Satz: Neufeld Media, Weißenburg in Bayern

© 2013 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des Verlages

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Inhalt

Zu diesem Buch

Über den Autor

Impressum

Vorwort

1   Wenn Evangelisation nicht gelingen will

1.1   Wir laden ein, aber sie kommen nicht

1.2   Wir machen Fehler, aber welche?

1.3   Liegt es an der evangelistischen Kultur der Gemeinde?

1.4   Flexicurity – Herausforderung und Chance

1.5   GWA als Grundstruktur des modernen Gemeindebaus

2   Evangelisation – die ganze Gemeinde für den ganzen Menschen

2.1   Auf das rechte Verständnis kommt es an

2.2   Das Evangelium – Gute Nachricht vom Leben in der Kraft Gottes

2.3   Gemeinde Jesu – Gottes erwählter Evangelist

2.4   Kultur der Hingabe

2.5   Evangelisation vor Ort

2.6   Liebeswerke als Grundlage

2.7   Dialogisches Dasein

2.8   Transformation als Ziel der Evangelisation

2.9   Evangelisation und Leiden

2.10 Evangelisation in der Kraft des Heiligen Geistes

3   Auf die Gemeindekultur kommt es an

3.1   Gemeinde – was ist gemeint?

3.2   Gemeinde und Kultur

3.3   Gemeinde und ihre Kultur

3.3.1   Materielle Voraussetzungen

3.3.2   Soziale Voraussetzungen

3.3.3   Kognitive Voraussetzungen

3.3.4   Spirituelle Voraussetzungen

3.4   Von der Voraussetzung zum Charakter

3.4.1   Potenzial und Charakter

3.4.2   Was ist Charakter?

3.4.3   Individueller Charakter der Gemeinde

3.4.4   Sozialcharakter der Gemeinde

3.4.5   Spiritueller Charakter der Gemeinde

3.5   Gemeindekultur – begabt, erzogen und gesegnet

3.6   Der Blick in den Spiegel

3.6.1   Die kulturellen Voraussetzungen in der Gemeinde

4.6.2   Unser Gemeindecharakter

3.6.3   Was uns auszeichnet – die Frage nach der Kernkompetenz

4   Gemeindekultur und Evangelisation

4.1   Gemeindedienste als Kulturangebote

4.2   Evangelisation als Kulturlandschaft

4.3   Präsentische Evangelisation

4.4   Proklamative Evangelisation

4.5   Integrative Evangelisation

4.6   Evangelisation als Prozess

4.7   Zyklus evangelistischer Verkündigung (ZEV)

4.8   Willkommen – der Weg zum Glauben

5   Gastfreundschaft und Glaube

5.1   Gastfreundschaft kommt nur am Rande vor

5.2   Das hohe Gut der Gemeinde Jesu

5.3   Gastfreundschaft, weil wir Gäste sind

5.4   Gesetze der Gastfreundschaft beachten

5.5   Gemeinsames Mahl

5.6   Gespräch im Kreis der Freunde

5.7   Durch Gastfreundschaft und Glauben

6   Willkommenskultur – die offene Tür der Gemeinde

6.1   Was zeichnet eine Willkommenskultur aus?

6.2   Die Prioritäten stimmen

6.3   Partizipation – das Herz der Willkommenskultur

6.4   Die Sprache der Räume

7   Den Juden ein Jude – das Geheimnis der Inkulturation

7.1   Wir sind anders – ohne Anpassung geht es nicht

7.2   Akkulturation – wie wir die Kultur des Willkommens erlernen

7.3   Allen alles geworden und doch unangepasst

7.4   Gastgeber Gottes in der Welt des Unglaubens

7.5   Missionale Spiritualität als Fundament der Gemeindekultur

7.6   Chancenwerk: Gnade als Grundgesinnung der Hoffnung

7.7   Gemeinde als lernende Organisation

Nachwort: Evangelisation im Kraftfeld der Liebe

Anmerkungen

Register

Verzeichnis der Abbildungen

Verzeichnis der Tabellen

Personenregister

Sachregister

Bibelstellenregister

Bibliografie

Die Edition IGW

Band 1 der Edition IGW

Peter R. Müller

Columbans Revolution

Wie irische Mönche Mitteleuropa mit dem Evangelium erreichten – und was wir von ihnen lernen können

Band 2 der Edition IGW

Roland Hardmeier

Kirche ist Mission

Auf dem Weg zu einem ganzheitlichen Missionsverständnis

Band 3 der Edition IGW

Johannes Reimer

Gott in der Welt feiern

Auf dem Weg zum missionalen Gottesdienst

Band 4 der Edition IGW

Roland Hardmeier

Geliebte Welt

Auf dem Weg zu einem neuen missionarischen Paradigma

Band 5 der Edition IGW

Heinrich Christian Rust

Geist Gottes – Quelle des Lebens

Grundlagen einer missionalen Pneumatologie

Band 6 der Edition IGW

Johannes Reimer

Hereinspaziert!

Willkommenskultur und Evangelisation

Über den Verlag

Vorwort

„Ich komme gerne in diese Gemeinde. Irgendwie sind die hier so ganz anders. Nein, es sind weniger die Gottesdienste, auch nicht die Predigt, am wenigsten ist es der Gesang. All das kann ich in den anderen Kirchen auch haben und zum Teil in weit besserer Qualität. Hier ist es irgendwie der Gesamteindruck. Ich fühle mich hier willkommen, angenommen und ernst genommen.“ Helges Worte über die Gemeinde meines guten Freundes Jens-Peter liegen mir immer noch im Ohr. Nein, er sei noch kein Gemeindeglied und er würde sich auch noch nicht als Christ verstehen. Aber er habe schon den Eindruck, dass sein Interesse am Glauben immer größer werde. Und gebetet habe er auch schon öfter. „Die Menschen hier ermutigen mich, verstehen Sie, und Mut zum Leben braucht man heutzutage, wissen sie“, sagte er mir.

Was Helge da an der besagten Gemeinde so schätzt, ist die gelebte Kultur dieser Gemeinde. Offensichtlich herrscht in ihr so etwas wie eine Atmosphäre des Willkommens, die dem Gast das Gefühl vermittelt, richtig angekommen zu sein. Um den Aufbau einer solchen Kultur des Willkommens und ihrer Bedeutung für die Evangelisation der christlichen Gemeinde geht es in diesem Buch. Meine Grundthese ist, dass effektive Evangelisation der Gemeinde nicht nur von der Intensität der missionarischen Verkündigung, sondern auch von den Rahmenbedingungen abhängt, in denen die evangelistische Verkündigung stattfindet. Mit anderen Worten: Das rechte Wort am falschen Ort wird mit großer Wahrscheinlichkeit kein Gehör finden. Große Kompetenz gepaart mit einem schlechten Charakter führt in den seltensten Fällen zu den gewünschten Ergebnissen. Und eine Gemeindekultur, die auf ihre Gäste abstoßend wirkt, ist wenig geeignet, Menschen einzuladen, Gott in ihrer Mitte kennenzulernen.

Das sind eigentlich allgemein bekannte Wahrheiten. Sieht man sich aber die Praxis des Gemeindebaus und der Evangelisation näher an, dann fällt auf, wie wenig die meisten Gemeinden in ihre wahrgenommene Identität investieren. Nicht nur in einer Gemeinde wurde ich den Eindruck nicht mehr los, dass man sich um alles Mögliche kümmere, nur nicht um die Atmosphäre, die man verbreitet. Weil diese aber überall da, wo Menschen leben, automatisch entsteht, entstehen auch jene selten bewusst von den Beteiligten wahrgenommenen Faktoren, die dem Fremden als positiv oder negativ auffallen und damit über Interesse an der Gemeinde oder Desinteresse entscheiden. Dabei muss eine Gemeinde nicht tatenlos zusehen, wie ihre Kultur ihre Besucher abstößt. Alles Angelernte und unbewusst über Jahre Praktizierte kann auch wieder abgelegt werden. Gemeindekulturen sind nicht in Stein gemeißelt. Doch wer sie verändern will, der wird sich vorher dessen bewusst werden müssen, wie die Gemeindekultur im Augenblick aussieht. Nur wer den Ist-Zustand erkannt hat, kann den Prozess der Veränderung einleiten.

Damit sind die Absichten dieses Buches recht deutlich formuliert worden. Ich will das Phänomen der Gemeindekultur, hier auch Gemeindecharakter genannt, beschreiben und seine Bedeutung für den Gemeindebau und die Gemeindeevangelisation unterstreichen. Weiter geht es mir um Verfahren, wie man den Gemeindecharakter ermittelt. Und schließlich geht es um den positiven Aufbau einer evangelistischen Kultur der Gemeinde – einer Kultur, die den Fremden abholt, annimmt und zum Glauben an Jesus Christus führt. Ich bin überzeugt, dass der Aufbau einer solchen Kultur des Glaubens wesentlich zur Erneuerung der evangelistischen Kraft der Gemeinden in der gelebten Postmoderne beitragen kann. Die Erfahrung von Helge und mit ihm manch anderer mir gut bekannter Freunde, die anfangs Kirche und Glauben radikal ablehnten und heute zu eifrigen Nachfolgern Jesu Christi geworden sind, bestätigen meine Annahme.

Johannes Reimer,

Bergneustadt, im Herbst 2012

1

Wenn Evangelisation nicht gelingen will

1.1Wir laden ein, aber sie kommen nicht

Seit Jahren wollen die Lamenti über die Unfähigkeit der Gemeinde Jesu im Westen, ihre zunehmend ungläubigen Nachbarn mit dem Evangelium zu erreichen, nicht abreißen. Fredrick Catherwood beklagte bereits Anfang der 1970er-Jahre den Bruch zwischen Kirche und Gesellschaft und den fast totalen Verlust der Beziehungen der Christen zu ihren Zeitgenossen.1 George Hunter trauert, dass die wenigsten seiner amerikanischen Mitbrüder wissen, wie man sich mit einem säkularen Menschen befreundet und ihn zum Glauben führt.2 Tory K. Baucum spricht gar von einer pathologischen Unfähigkeit der westlichen Christen, Menschen für Jesus zu gewinnen.3 Und in Deutschland sucht man sowohl im Westen als auch im Osten nach Wegen, Menschen zum Glauben und in die Gemeinde zu führen.4 Freilich, Gemeindeglieder werden vor Großevangelisationen geschult, Menschen in die Evangelisation einzuladen. Doch der Appell „Jeder bringt einen Ungläubigen mit“ verhallt schnell und wenn man dann in einer solchen Veranstaltung sitzt, sind es wieder einmal 99 % „unsere Christen“. Auch dann, wenn man auf die Menschen zugegangen ist, auch dann, wenn der Ort mit entsprechenden Einladungen zugepflastert wurde, und sogar dann, wenn die eigenen Arbeitskollegen zum wiederholten Mal versprechen, am Abend mitzukommen. Irgendetwas scheint die Eingeladenen immer zu stören.

Woran liegt das? Was bremst die Evangelisation unserer Gemeinden aus? Gibt es Themen, die wir übersehen? Akzente, die wir falsch setzen? Methoden, denen wir uns verschreiben und die möglicherweise nicht mehr ziehen? Fehlen uns die wortgewaltigen Evangelisten, die in der Vergangenheit ganze Gesellschaften zur Umkehr bewegten? Man denke da nur an Namen wie John Wesley (1703–1791) und George Whitefield (1714–1770) in England, Dwight L. Moody (1837–1899) in Amerika oder auch Elias Schrenk (1831–1913) in Deutschland. Sie haben Tausenden den Weg zum Glauben gewiesen.5 Ihr Wort hatte Kraft. Unsere Verkündigung – um ein Vielfaches verstärkt durch moderne mediale Hilfsmittel und begleitet von einer nie da gewesenen Hochglanzwerbung – verblasst regelrecht vor dem Lebenswerk dieser Männer. Haben wir keine Kraft des Geistes oder ist gar die Zeit der Billy Grahams vorbei? Oder liegt es vielleicht an der Gemeinde, die als eigentlicher Träger der Evangelisation ihren Auftrag falsch versteht? Solche und ähnliche Fragen müssen gestellt werden, wenn wir aus der pathologischen Unfähigkeit, unsere Zeitgenossen mit dem Evangelium zu erreichen, herauskommen wollen.

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Abb. 1: John Wesley Statue in Wilmore, Kentucky6

1.2Wir machen Fehler, aber welche?

Menschen werden grundsätzlich von folgenden Faktoren zu Inhalten gezogen, die ihnen so noch nicht vertraut sind: (a) die Darstellung des Inhalts, (b) die Darsteller des Inhalts, (c) der Ort, an dem die Darstellung stattfindet, (d) die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die eine solche Darstellung eröffnet. Entsprechend werden die evangelistischen Programme der Gemeinden in der Öffentlichkeit beworben. Die Werbung unterstreicht das Thema, den Redner, den Ort oder auch das Ereignis als solches.

Je nach Werbung wird dann der eine oder andere Aspekt stärker betont. Man sucht sich interessante Themen, die nicht direkt religiös anmuten, lädt bekannte Persönlichkeiten ein und wirbt mit ihren akademischen Titeln und Verdiensten, mietet sich in Räume ein, die sonst Welten vom religiösen Leben entfernt sind – z. B. Fußballstadien oder Konzerthallen –, und gestaltet ein buntes Programm um die eigentliche Verkündigung herum. Zuweilen hat man den Eindruck, dass man zu einer Zirkusveranstaltung eingeladen wird und nicht zur Evangelisation. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen, die man zu einem Glaubensabend eingeladen hat, den Saal verlassen, weil sie sich hinters Licht geführt sehen. „Ich kam zu einem Vortrag über ein wissenschaftliches Thema und fand einen schlecht gemachten Gottesdienst vor“, beschwerte sich neulich eine ältere Dame bei mir über unseren evangelistischen Abend.

An Mühen mangelt es uns nun offensichtlich nicht. Aber Erfolge können wir ebenso wenig verzeichnen. Hat sich unser Werben um den Menschen zu stark von einer einseitigen und deshalb falschen Kommunikationsart gefangen nehmen lassen? Oder ist es gar nicht mehr zeitgemäß, so für den Glauben zu werben, wie wir es tun? Und wenn ja, wie sollte es die Gemeinde Jesu denn tun?

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Abb. 2: Gemeindeevangelisation im Koordinatensystem der Werbung

Man hat in den letzten Jahren eine Reihe von denkbaren und ermittelten Ursachen evangelistischer Lethargie der Gemeinde Jesu in der westlichen Welt benannt. Sie reichen vom falschen Gemeinde- und Evangelisationsverständnis der jeweiligen Gemeinde über die Unfähigkeit, verständlich das Evangelium zu kommunizieren, bis hin zu einer evangelisationsfeindlichen Kultur der Gemeinde.

So prangern eine Reihe von Autoren das nach innen gekehrte Gemeindeverständnis vieler evangelikaler Gemeinden als Hauptursache ihrer Fruchtlosigkeit an. In einer solchen Gemeindekonstruktion geht es zuallererst darum, den Glaubensgeschwistern zu dienen. Menschen außerhalb der Gemeinde sind eher eine Randerscheinung im Programm solcher Gemeinden. Wie aber will man evangelisieren, wenn diejenigen, die man evangelisieren soll, gar nicht erst im Blickpunkt des Interesses liegen? Eine evangelistische Gemeinde zeichnet sich durch eine deutliche Priorisierung der Programme für Nicht-Gläubige aus.

Andere weisen auf das jeweilige Evangelisationsverständnis und die gewählten Methoden hin, die zeitlich überholt und deshalb denkbar uneffektiv geworden sind. Hunter sieht eine der Ursachen der evangelistischen Unfähigkeit der Gemeinde in der Vorstellung der Christen, dass Evangelisation ein attend, sit and listen-Event ist.7 Evangelisation ist somit ein einmaliges Programm, das bestimmte liturgische Elemente enthält und das man besucht und dem man in der Regel zuhört und zusieht. Die meisten Gemeindeglieder sind in diesem Modell zu Zuschauern degradiert. Und das Programm selbst appelliert in der Regel an den aufgeweckten Verstand, da die übermittelten Inhalte eher abstrakt-theologischer Natur sind. Konsequenterweise lädt man die Teilnehmer solcher Events dann zu einer Entscheidung ein, als wäre Evangelisation ein Diskurs, in dem man den anderen intellektuell zu überzeugen versucht. Evangelisation in diesem klassisch-evangelikalen Verständnis ist reduziert auf das individuelle Erlebnis des Einzelnen. Es ist in der Überzeugung begründet, „dass man ohne das persönliche Erlebnis der Wiedergeburt nichts Wirkliches vollbringen kann.“8 Diese Vorstellung passt recht gut in eine vom Individualismus durchtränkte Kultur. Wenn die Religion allem anderen voran eine private Angelegenheit ist, dann ist es auch verständlich, dass man das Individuum im Prozess der Aneignung der Religion möglichst privat belassen möchte. So kreiert man zwar Massenveranstaltungen, die aber in ihrem Wesen nur auf die Bekehrung des Individuums aus sind.9

Wiederum andere sehen den Mangel an religiöser Erziehung in der Gesellschaft als den Hauptgrund für das abnehmende Interesse am christlichen Glauben. Sie begründen ihre Meinung mit den neuesten Erkenntnissen aus der Psychologie der Religion. Hier hat man sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Prozess des Gläubigwerdens beschäftigt. Man spricht dabei von Encapsulation, einem Prozess der Sozialisierung des potenziellen Konvertiten in die Glaubensgemeinschaft hinein.10 Eine solche Sozialisierung verläuft im Prozess und setzt bei der materiellen, sozialen oder auch ideologischen Integration des Betroffenen in die Glaubensgemeinschaft an.11 Encapsulation als Prozess der Evangelisation setzt eine Gemeinde voraus, die bereit ist, den Menschen zu dienen. Und eine solche dienende Gemeinde wird sich nach Rene Padilla durch offene Türen für Sünder, die Annahme der Geringen, Inklusion und Solidarität auszeichnen.12 Der Mangel an einer solchen Kultur der Annahme ist dann auch die Hauptursache an der abnehmenden evangelistischen Kraft der Gemeinde.

1.3Liegt es an der evangelistischen Kultur der Gemeinde?

Über Gemeindekultur, Gemeindephänomene oder auch Gemeindecharakter wurde bislang nur sehr wenig geschrieben. Wie im folgenden Kapitel dargestellt, findet man Hinweise dazu nur am Rande entsprechender Werke zum Thema Gemeinde, Gemeindeaufbau oder Evangelisation der Gemeinde. Diese lassen aber den Verdacht zu, dass einer solchen Kultur doch viel mehr Bedeutung zugemessen werden muss, wenn die Gemeinde evangelistisch aktiv und effektiv werden soll. Hieraus ergibt sich die Forschungsfrage für meine Studie. Ich wende mich bewusst dem Phänomen einer evangelistischen Kultur der Gemeinde, die den Ungläubigen anzieht und zugleich integriert und in den rechten Glauben sozialisiert, zu. Mir geht es damit um Evangelisation als Prozess der Integration des Menschen in das Erleben des Glaubens. Dabei setze ich voraus, dass Evangelisation den Weg des Menschen zu Gott beschreibt. Ein solcher Weg schließt immer alle Lebensbereiche des menschlichen Daseins mit ein und er wird nicht allein durch Worte, sondern ganzheitlich durch Leben, Wort und Tat vermittelt.13

1.4Flexicurity – Herausforderung und Chance

Eine Studie zur Bedeutung der Gemeindekultur für Evangelisation erscheint mir als dringend nötig. Noch nie standen die Chancen für Evangelisation in unserem Land günstiger als heute. Noch nie waren Menschen so orientierungslos und verwirrt wie heute. Noch nie war unsere Gesellschaft so krank wie heute. Noch nie war das Evangelium vom Heil so gefragt wie heute.

Zugleich aber liegt den Menschen die Welt zu Füßen. Die Menschen unserer modernen Gesellschaft sind überaus flexibel und mobil, und die Welt um sie herum ist zunehmend zu einem Dorf geworden, durch das man innerhalb weniger Stunden jettet. Mühelos holt man sich Orientierung und Lebensführung von nebenan. Im Internet kann jede Frage in wenigen Sekunden mit einer Antwort versehen werden. Auch und gerade dann, wenn es um religiöse Orientierung geht. Man könnte annehmen, wir Menschen haben bereits alles, was zu unserem Lebensglück nötig wäre. Mobilmachung galt lange als das Allheilmittel, mit dem man der wachsenden Flexibilität des Lebens und vor allem der Ökonomie zu begegnen suchte. Heute weiß man, dass die dadurch gewonnene Freiheit der Entscheidung wesentlich zur Entwurzelung der Menschen beigetragen hat und in der Konsequenz eine Reihe sozialer Übel mit sich brachte.14 Der Verlust der „Heimat“ resultierte nicht selten im Verlust sozialer Identität – mit all den vorhersehbaren psychosozialen Folgen. Mobilität und Flexibilität förderte und forderte Individualität, doch daraus ist nur zu oft Einsamkeit geworden. Der Mensch, auf sich allein geworfen, weiß bald nichts mehr mit sich selbst anzufangen.

Flexibilität allein scheint daher nicht die erhoffte Antwort auf die Herausforderungen einer mobil gewordenen Welt zu sein. Der Mensch braucht Schutz, Geborgenheit, erschlossene soziale Räume, um gesund leben zu können. Diese Erkenntnisse führten dazu, neben der Flexibilität der Bevölkerung auch nach sozialen Sicherungsmechanismen für die Menschen zu fragen. Der Ruf nach einer „vorsorglichen Sozialpolitik“ ist nicht mehr zu überhören.15 Daraus ist das Modell der Flexicurity entstanden. Flexicurity, zusammengesetzt aus Flexibility und Security, beschreibt einen Lebensraum, der beides leistet – globale Beweglichkeit und lokale Verwurzelung.16 Es ist faszinierend zu sehen, wie man heute bemüht ist, ein solches Konzept städteplanerisch umzusetzen. In Berlin werden zum Beispiel Hochhaussiedlungen nicht nur mit einem dazugehörenden Parkhaus, sondern auch mit einem Gemeinschaftshaus im Hof gebaut. Die Bewohner einer solchen Anlage sollen nicht nur gut wohnen, sondern auch Gemeinschaft haben. Wohnraum in der Stadt soll Dorfcharakter erhalten. Nur auf diese Weise, so die Städteplaner, kann der Vereinsamung und dem sozialen Verfall Einhalt geboten werden.

In der sozialen Arbeit hat man längst erkannt, dass man die soziale Verwurzelung der Menschen am gegebenen Ort nur schafft, wenn man diese zur Partizipation an der Entwicklung sinnvoller Lebensräume ermutigt. Dabei gilt das Prinzip „Teilgabe wächst mit der Teilnahme“.17 Menschen, die am Leben des Gemeinwesens teilnehmen, werden sich letztlich auch bei den Herausforderungen des Gemeinwesens mit einbringen. So entstehen jene inklusiven Netzwerke, die den Einzelnen abholen, wo er ist, und zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben vor Ort ermutigen. Jerg und Goeke beschreiben das anschaulich am Beispiel der Integration von Behinderten in Projekte der Gemeinwesenarbeit (GWA).18

Wo sonst, wenn nicht hier, kann und sollte die Gemeinde Jesu ihre Kraft und Energie einsetzen? Als Ekklesia Gottes ist sie die zur Verantwortung für den Ort zusammengerufene Gemeinschaft.19 Sie ist lokal verortet und zugleich global aufgestellt. Wie kein anderes Institut der modernen Gesellschaft verkörpert sie die Flexicurity-Ideale. Hier finden Menschen sowohl soziale Wurzeln wie auch Innovation und Flexibilität des Geistes Gottes. Denn Er weht, wo Er will. Er lässt sich nicht in das Korsett einer menschlichen Kultur und Ideologie fassen. Und die von ihm angeführte Gemeinde (2Kor 3,17) ebenso nicht. Sie kann den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide sein, ohne dabei in absoluter Anpassung zu ersticken (1Kor 9,19ff). Ja, noch mehr, sie muss und sie wird, falls sie missionarisch interessiert ist, eine solche Kontextualisierung suchen. Nur so kann sie Menschen zum Glauben führen.

Was aber wäre nötig, um Evangelisation in den Rahmen einer solchen Suche der Menschen nach Heimat und lokaler Verwurzelung zu verorten? Seit Gerhard Schulzes Forschung in den 70er- und 80er-Jahren zur deutschen Erlebnisgesellschaft20, leben wir in unserem Land in einer Welt, die viel Wert auf Freizeit- und Kulturerfahrung jenseits des normalen Alltags legt.21 „Der Erlebnismarkt hat sich zu einem beherrschenden Bereich des täglichen Lebens entwickelt. Er bündelt enorme Mengen an Produktionskapazität, Nachfragepotential, politischer Energie, gedanklicher Aktivität und Lebenszeit. Längst sind Publikum und Erlebnisanbieter aufeinander eingespielt.“22 Wenn Menschen nach Erleben suchen, wie müsste sich da Evangelisation gestalten?

1.5GWA als Grundstruktur des modernen Gemeindebaus

Eine Gemeinde, die sich der Flexicurity-Probleme der Menschen annimmt, die nach Heimat und Lebensorientierung, nach sozialer Verwurzelung und ganzheitlicher Erneuerung des menschlichen Daseins fragt, wird sich bewusst in Gemeinwesenarbeit (GWA) engagieren. Gemeinwesenarbeit stellt heute das Arbeitsprinzip der sozialen Arbeit dar und stammt ursprünglich aus der christlichen Nächstenliebe. Wie kein anderes Modell der Gesellschaftstransformation ist die GWA geeignet, christliche Gemeindearbeit zu fördern.23 Hier kann Evangelisation einen ganzheitlichen Rahmen finden.24

GWA-Projekte stehen immer vor der Herausforderung, beides in den Blick zu bekommen – die Bedürfnisse und Notlagen der Einzelnen und die der Gemeinschaft als Ganzes. Ohne die Personalisierung der sozialraumorientierten Gemeindearbeit, verliert diese ihren Anschluss an den Einzelnen und damit auch den Kontakt zum Ganzen, stellt doch das Gemeinwesen immer auch die Gemeinschaft im Lebensraum lebenden Individuen dar. Auf der anderen Seite kann es unmöglich nur um die Belange des Individuums gehen, weil diese nicht selten unterschiedlich sind und die exklusive Konzentration auf die Bedürfnisse des Einzelnen letztlich die Gemeinschaft als Ganzes infrage stellt. Sozialraumorientierte Gemeindearbeit wird daher nicht ohne bewusste Sozialisierung in ihren GWA-Projekten auskommen.25 Imke Niediek schlägt vor, die Brücke zwischen den beiden Orientierungen in der Institutionalisierung der GWA-Projekte zu suchen.26

Eine solche Institutionalisierung kann im Rahmen der lokalen christlichen Gemeinde erfolgen. Damit würde die lokale Gemeinde sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft als Ganzes dienen. Freilich setzt die Entscheidung, die Gemeinde im sozialen Raum zu verankern und im Sinne einer GWA aufzubauen, eine Reihe von wichtigen theologischen Vorbedingungen voraus. Ein solches Konzept verlangt nach einem distinktiven gesellschaftstransformativen Gemeindebegriff, der in die Missio Dei eingebunden ist. Zum anderen wird in einer solchen Gemeinde Mission und Evangelisation ganzheitlich verstanden. Das Evangelium wird hier in Wort und Tat verkündigt und meint immer den Aufbau des Reiches Gottes mit seiner Konzentration auf eine Kultur der Liebe, Annahme und Partizipation. Einer solchen Gemeindekultur widmen wir uns nun im weiteren Verlauf der Studie.

2

Evangelisation – die ganze Gemeinde für den ganzen Menschen

2.1Auf das rechte Verständnis kommt es an

Wer sich anschickt zu evangelisieren sollte wissen, was man da tut. Einig sind sich die Christen in dieser Frage jedenfalls nicht. Während die einen an die verbale Verkündigung mit dem Ziel der Überzeugung des Nichtgläubigen denken, sehen andere eine ganzheitliche Veränderung des Menschen in das von Gott gedachte Bild, die sowohl verbale als auch tatkräftige Verkündigung meint.27 Alle Christen sind sich auf jeden Fall einig, dass die Evangelisation mit der Vermittlung des Evangeliums, der guten Nachricht vom Heil in Jesus Christus, zu tun hat. Damit geht es in der Evangelisation um das Evangelium und die Art und Weise, wie dieses Evangelium zu den Menschen gebracht wird.

2.2Das Evangelium – Gute Nachricht vom Leben in der Kraft Gottes

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