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Die WörtersammlerinimageReihe: 21

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2014
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2014
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-942223-86-7
eISBN: 978-3-942223-87-4

Dietlind Köhncke

Die Wörtersammlerin

Eine deutsche Kindheit

Erzählung

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IMPRESSUM

Autorin
Dietlind Köhncke

Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften
Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung
Marti O´Sigma

Coverbild
Marti O´Sigma, neue Gestaltung-Grafik
inspiriert aus Brigitte-Spezialheft Nr.1, 1959

Lektorat
Regine Ries

Druck und Bindung
Print Group Sp.z.o.o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
August 2014

ISBN: 978-3-942223-86-7
eISBN: 978-3-942223-87-4

INHALT

LILIBETH

STIEFMÜTTERCHEN

WEIHNACHTSPLÄTZCHEN

KÖNIGSKUCHEN

GEBURTSTAG

UNSERE STRASSE

DER BLAUE STUHL

DER DOKTOR

LÄUSE

MANN AN DER TÜR

ONKEL HANS

DAS ROTE BUCH

SEIDE

WASSERFALL

SPIELEN

ZUCKEREI

WEISSE MÄUSE

DIE TUCKE

SCHUBKARRE

FAHRRAD

FLÖTE UND MESSER

GELD

PETERSILIENSUPPENKRAUT

KINDERCHOR

TEUFELSBRATEN

KLINGELTOUR

SCHAUKEL MIT ÜBERSCHLAG

DIE OHRFEIGE

RIGOLETTO

ZWEI WUNDER

BIOGRAPHISCHES

LILIBETH

»Der Krieg hört nicht auf«, sagt Mutter beim Frühstück und schaut uns mit ihren blauen Augen traurig an, »wir müssen aus Berlin raus.«

Wenn sie so schaut, werde ich auch traurig, aber ich will nicht weg.

»Ich komme doch in die Schule, ich habe schon einen Ranzen, wir können nicht wegfahren.«

»Die Kinder aus der Schule«, sagt Sonja, »werden alle evakuiert, auch die aus meiner Klasse.« Sonja ist schon richtig groß und kommt nach den Sommerferien in die dritte Klasse. Sie benutzt Wörter, die ich nicht kenne. »Sie können hier nicht bleiben, sie werden weggeschickt, und wir müssen auch weg«, erklärt sie mir. Trotzdem will ich nicht und stampfe mit dem Fuß auf.

»Wir fahren mit dem Zug aufs Land«, sagt Mutter, »das ist bestimmt schön und dort gibt es auch eine Schule.«

»Schön«, ruft Bärbel und will runter von Mutters Schoß. Sie hat von nichts eine Ahnung, so klein wie sie ist, grad mal drei Jahre alt.

»Hör zu, Lily«, sagt Mutter und fasst mich an den Händen, »wir fahren mit dem Zug nach Ostpreußen, da gibt es kein Sirenengeheul und wir sind wieder sicher. Großmutter kommt mit und Tante Dora auch, nur Großvater bleibt in Berlin. Er muss arbeiten und passt auf die Wohnung auf.«

Wenn Tante Dora mitkommt, dann freue ich mich vielleicht doch. Sie ist viel jünger als meine Mutter, fast wie eine große Schwester, und immer lustig. Tante Dora will studieren und Lehrerin werden. Vielleicht gehen wir dann mal zusammen in die Schule.

Und dann bringt uns der Zug zu einem Ort, der heißt Zöpel, und von dort fahren wir mit einem Leiterwagen bis zu dem Bauernhof, auf dem wir wohnen sollen. Mutter sagt, ich hätte im Zug ganz viel geschlafen, mit meinem weißen Teddy im Arm. Aber nun ist es doch nicht schön. Überall nur Felder und das Dorf ist weit weg von dem Hof. Warum müssen wir alle in einem Verschlag unter dem Dach schlafen, wo die Mäuse nachts herumlaufen? Und warum ist der Bauer so unfreundlich zu uns? Ich kann kaum verstehen, was er redet. Die Wörter, die aus seinem Mund fallen, klingen ganz anders als bei uns, so als ob man sie breit tritt. Großmutter sagt, er hätte uns aufnehmen müssen. Ich glaube, er ärgert sich, weil wir keine Verwandten von ihm sind und aus der Stadt kommen. Aber wir können doch nichts dafür, dass die Bomben hinter uns her sind.

Ich höre die Erwachsenen oft miteinander flüstern, wenn sie denken, wir schlafen schon. Großmutter und Tante Dora sprechen ganz viel mit meiner Mutter, die öfter wegfährt und nicht sagt wohin. Aber ich weiß, was ich weiß. Dass nämlich mein Vater seit damals nicht zurückgekommen ist. Ich glaube, dass sie ihn jetzt irgendwo besucht, aber mit uns Kindern nicht darüber reden will. Dabei habe ich doch gesehen, wie die schwarzen Stiefel und Mäntel ihn mitgenommen haben. Die Stiefel kannte ich schon, die hatte er auch an, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Wenn ich meine Mutter frage: »Wann kommt er denn wieder?«, sagt sie immer: »Er hat noch zu tun, er kann noch nicht kommen.« Jetzt hätte er in dem Zimmer auch gar keinen Platz mehr. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ihn vergesse, er wird immer leiser in mir.

Ich verstehe die Erwachsenen nicht. Wenn man sie was fragt, schieben sie einen weg und sagen: »Wir haben andere Sorgen.« Auch Tante Dora ist nicht so lustig wie sonst und spielt nicht mit uns. Dabei hat sie doch Zeit genug. Manchmal bleibe ich extra auf der langen Chaussee hinter den Erwachsenen zurück. Aber sie drehen sich nicht um und rufen: »Lily, wo bleibst du?« So als ob sie einen gar nicht vermissen.

Ich brauche sie nicht mehr, ich komme jetzt in die Schule. Der Weg dorthin ist weit, eine Stunde lang laufen die Kornfelder, so weit man schauen kann, auf beiden Seiten mit. Im Dorf führen die Bäume am Wegrand die Straße direkt in die Schule hinein, wo in der ersten Klasse schon viele Kinder sind, die ich noch nie gesehen habe. Sie sprechen die Wörter genau so wie der Bauer aus.

Ein Mädchen mit langen, hellen Zöpfen sitzt neben mir, sie hat eine Schürze über dem Kleid und lächelt mich an. So eine Freundin hätte ich gern, die sich freut, wenn sie mich sieht. »Elsbeth!« ruft sie, als die Lehrerin fragt, wie wir heißen und unsere Namen in ein großes Buch eintragen will. Elsbeth ist noch nicht dran und soll nicht so vorlaut sein, aber sie ist es wohl gewöhnt, einfach zu rufen. Der Name gefällt mir mit einem Mal viel besser als mein eigener, er klingt so ähnlich wie der meiner Mutter. Großmutter, Großvater, Tante Dora und mein Vater sagen »Betty« zu ihr.

Als ich an die Reihe komme, sage ich: »Ich heiße auch Elsbeth.« Und bin selbst ganz überrascht, dass der Name aus meinem Mund heraus gekommen ist. Aber dann sind wir ganz begeistert, dass wir nebeneinander sitzen und denselben Namen haben. Auf dem Nachhauseweg lassen wir niemanden sonst an uns heran. »Elsbeths gehen mit Elsbeths«, sagen wir. Sie hat denselben Weg wie ich, aber kommt schon etwas eher auf ihrem eigenen Bauernhof an, wo sie nicht unterm Dach wohnt. Ihre Schneidezähne wachsen nur langsam nach. Die ersten sind über alle Berge, sagt sie. Meine sind nicht über alle Berge, sondern liegen in einem Kästchen. Als sie gewackelt haben, hat Großvater einen Bindfaden um sie herum gewickelt, das andere Ende an der Türklinke festgebunden und gesagt: »Mach die Augen zu und stehe ganz still.« Dann hat er die Tür zugeschlagen und raus waren sie. Aber jetzt habe ich neue Schneidezähne und einer steht ein bisschen schief. Großmutter findet, das sieht lustig aus. Aber ich weiß nicht.

Wir beiden Elsbeths sitzen nebeneinander und lernen schreiben. Es ist komisch, dass ›Tasse‹ und ›Puppe‹ und ›Teddy‹ genauso viel Buchstaben haben, obwohl meine Puppe mit den echten Haaren und mein weißer Teddy doch viel größer sind als so eine kleine Tasse, in die gar nicht viel Milch hineingeht. Aber eigentlich sind wir erst beim Buchstaben ›E‹ und darum schaue ich immer aus dem Fenster.

Tante Dora hat gemerkt, dass ich so tue, als ob die Erwachsenen für mich Luft sind und schreibt jetzt jeden Tag mit mir. Als sie mir das längste Wort beibringt, das ich bisher geschrieben habe, nämlich ›Straßenbahn‹, kommt es mir vor, als sei ich wieder in Berlin und schon ganz groß.

Die andere Elsbeth kommt mich nie besuchen und das will ich auch nicht, denn dann würde sie ›Elsbeth‹ zu mir sagen und es würde rauskommen, dass ich gar nicht Elsbeth heiße. Ich gehe zu ihr, zeige ihr die anderen Buchstaben, die nach dem ›E‹ kommen und versuche so zu reden wie sie. Aber noch lieber hüpfen wir mit dem Seil oder gehen im Garten Äpfel und Birnen essen.

Weil ich so gern zu ihr gehe, soll ich eine ganze Woche bei ihr bleiben, als meine Mutter verreisen muss und Großmutter mit Sonja und Bärbel genug zu tun hat. Ich habe auf der Fahrkarte, die auf dem Tisch lag, das Wort ›Dresden‹ gelesen. Sie denken, ich kann das noch nicht lesen, aber da irren sie sich. Doch was nutzt es, das Wort zu lesen und nicht zu wissen, wo das ist. Ich kann mir schon denken, zu wem sie da fährt, sage es aber nicht.

Bei Elsbeth ist es schön, wir erzählen uns abends im Bett viele Geschichten. Aber dann verdirbt Elsbeths Mutter alles, als sie mir Speck aufs Schulbrot legt. Ich muss spucken, als ich hinein beiße, so eklig schmeckt das Fett. Ich bringe das Brot zurück und lege es auf den Tisch, aber Elsbeths Vater sagt, dass es guter Speck sei und dass ich das Brot am nächsten Tag noch einmal mitnehmen müsse. Ich könnte es ja wegwerfen, aber ich bringe es wieder zurück und lege es auf den Tisch. Elsbeths Vater sagt: »Du bekommst erst ein anderes, wenn du dieses aufgegessen hast.« Aber ich esse es nicht und nach einer Woche liegt das Brot immer noch auf dem Tisch und ist ganz hart. Ich weiß jetzt, dass Elsbeths Vater mich nicht leiden kann, so wie auch unser Bauer uns alle nicht leiden kann. Aber Elsbeth hat mich gern und steckt Birnen in meinen Schulranzen.

Und dann kommt der Tag, an dem Sonja in der Pause auf die Seite des Schulhofes kommt, wo wir aus der ersten Klasse immer spielen.

»Ruft mich ›Lily‹ «, sage ich zu den anderen Kindern, »nur so zum Spaß.«

Aber sie verstehen nicht, was das für ein Spiel sein soll und denken: Die Elsbeth spinnt wohl.

Als Sonja ›Lily‹ zu mir sagt, bekommen sie große Augen, in die ich fast hineinfalle. Und kein Zauberspruch hilft, damit der Boden sich öffnet und ich darin verschwinden kann, als die Lehrerin das große Buch aufschlägt, ›Elsbeth‹ durchstreicht, ›Lily‹ hinschreibt und mich dann mit Augen ansieht, in denen steht: »Was soll aus dir nur werden, wenn du schon die erste Klasse mit einer Lüge beginnst?« Ich weiß auch nicht, was aus mir werden soll, und Großmutter, Mutter und Tante Dora wissen es auch nicht, aber sie wissen ja auch nicht, was aus uns allen werden soll, in dem kleinen Zimmer, dem Geraschel der Mäuse in der Nacht und dem Klo auf dem Hof.

Meine Mutter streicht mir über das Haar und sagt: » ›Lily‹ ist ein schöner Name, du kannst ihn ruhig zurücknehmen.« Teddy und Tante Dora finden das auch und da ist es mir mit einem Mal nicht mehr so schwer, dass die Lehrerin mich durchgestrichen hat. Elsbeth findet es so seltsam, dass sie nicht mehr ›Elsbeth‹ zu mir sagen soll, dass sie gar nicht damit aufhören kann, ›Elsbeth‹ zu sagen. Dann hält sie erschrocken die Hand vor den Mund, aber der Mund will immer etwas anderes als die Hand. Und weil sie sich dadurch verheddert, erfindet sie mit einem Mal einen neuen Namen und sagt zu mir ›Lilibeth‹ und wir fallen vor Lachen auf den Rücken. Das ist jetzt unser Geheimname, den wir nur sagen, wenn wir unter uns sind. Wenn ich ihn schreibe, ist er genau so lang wie ›Straßenbahn‹.

STIEFMÜTTERCHEN

Es ist ein stiller Ort. Kein Spielort. Hier gehen alle langsam und leise, sonst hören es die Toten und werden aufgeweckt. Die Gräber sind Beete voller Blumen und ziehen den Hang bis zum Wald hinauf. Nirgendwo gibt es so viele Stiefmütterchen wie hier. Wie eine blaue Wiese.

Von hier oben kann man auf das Dorf sehen. Die staubige Straße, die Kirche mit spitzem Turm, meine Schule. Da unten ist auch Frau Blanka. Sie hat uns aufgenommen. Mutter sagt, sie ist eine Seele von Mensch.

»Hier ist das Zimmer für euch, die gute Stube mit dem Kachelofen.«

Sie hat eine Seele, aber keine Kinder. Doch jetzt hat sie ja uns. Mit uns spricht sie deutsch, mit den Nachbarn polnisch.

»In diesem Dorf hat dein Ururgroßvater gelebt«, sagt meine Großmutter, »darum dürfen wir hier jetzt sein.«

Als es im Winter in Ostpreußen immer kälter in dem Zimmer auf dem Dachboden wurde, hat Großmutter gesagt: »Jetzt reicht's!« und da ist ihr das Dorf Usch im Warthegau eingefallen, wo mein Ururgroßvater gewohnt und als Baumeister die Kirche gebaut hatte. Und dort sind wir jetzt.

In der Stadt fallen immer noch die Bomben. Nachts höre ich meine Mutter manchmal weinen. Am Tag schlägt sie Sonjas und meinen Kopf zusammen, wenn wir uns streiten.

»Ich kann es nicht ertragen, wenn ihr euch zankt«, sagt sie.

Aber so sind wir eben. Wir sind auch gemein zu unserer kleinen Schwester.

»Zieh die Hose runter«, sagen wir zu ihr, wenn wir mit den anderen Kindern auf der Straße spielen. Sie hebt dann ihr Kleid hoch und lässt die Schlüpfer auf die Füße fallen. Mitten auf der Straße und wir lachen. Sie ist erst vier und will überall dabei sein. Aber auf den Friedhof nehme ich sie nicht mit. Dort bin ich allein und sehe mir die blauen Stiefmütterchen an. Es sind viele. So viele brauchen die Toten nicht. Sie merken es nicht, wenn ein paar fehlen. Wenn sie von unten aus dem Grab heraufschauen, ist es zu dunkel, wenn sie von oben vom Himmel heruntersehen, ist es zu weit. Stiefmütterchen sind viel schöner als die richtigen Toten.

Die Frau von gegenüber ist vom Blitz getroffen worden und liegt nun auf einem Bett mit Kerzen drum herum. Sie ist so still, dass es einen gruselt.

Meine Mutter freut sich, wenn sie die Stiefmütterchen in die Vase stellt. Sie fragt nicht, woher. In der Schule lernen wir, dass ›Krieg‹ fünf Buchstaben hat und ›Brombeerblätter‹ fünfzehn. Wir sammeln sie für die Soldaten, damit sie Tee bekommen. Für meinen Vater kann ich nichts sammeln, aber ich darf eine Karte schreiben, auf der steht: »Mir geht es gut, wie geht es Dir?« Ohne Linienblatt rutschen die Buchstaben immer nach rechts runter und ich muss aufpassen, dass sie nicht auf den Boden fallen. Wenn meine Großmutter uns besucht und meine Mutter dann weg fährt, nimmt sie sie mit. Ich habe auch eine Karte an Elsbeth geschrieben, auf der steht: »In meiner neuen Klasse gibt es keine Elsbeth.«

Großmutter und Tante Dora wohnen nicht mehr mit uns zusammen, seit wir aus dem Dorf mit den Mäusen und Elsbeths Vater weggezogen und hierher zu Frau Blanka gekommen sind. Tante Dora ist jetzt ich-weiß-nicht-wo und muss weiter lernen, wie man Lehrerin wird. Und Großmutter ist zu Großvater und den Bomben zurückgekehrt. Vielleicht ist es ihr bei uns zu eng, weil nur zwei Betten in dem Zimmer stehen, in denen ich mit Sonja in dem einen schlafe und Mutter und Bärbel in dem anderen. In Berlin gibt es viel mehr Betten und vielleicht möchte sie nach dem kleinen Zimmer mit den Mäusen mal wieder in ihrem eigenen Bett schlafen. Ich freue mich immer, wenn meine Großmutter uns besuchen kommt. Dann schauen Sonja, Bärbel und ich in ihrer Tasche nach, weil wir wissen, dass sie uns etwas mitbringt. Sie schläft dann solange mit Bärbel in einem Bett, bis meine Mutter von ihrer Reise zurückkommt.

Wenn sie dann wieder da ist und uns anschaut, sehen ihre blauen Augen aus wie die Stiefmütterchen auf dem Friedhof.

WEIHNACHTSPLÄTZCHEN

An den Fenstern wachsen die Eisblumen jetzt schon zum zweiten Mal, seit ich in die Schule gehe. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen, wenn wir morgens zur Schule laufen. Es ist kalt beim Fahnenappell auf dem Schulhof, aber wir dürfen nicht in die Hände hauchen, wir müssen den rechten Arm anheben und ausstrecken. Am Nachmittag rodeln wir die Hänge hinunter, da wird uns warm. Oder wir befestigen die Schlittschuhe an unseren Halbschuhen und lachen, wenn wir auf dem fest gefrorenen Teich immerfort umknicken.

Mutter sagt: »Seid nicht so wild!« und zeigt auf eine lange Narbe an meinem Schienbein. Aber es liegt ja nicht überall unter dem Schnee Stacheldraht, in den man hineinrodeln kann. Meine Mutter ist froh, wenn wir zuhause sind, draußen gibt es so viele Wiesen, die gar nicht aufhören und einen plötzlich verschlucken können. In dem Zimmer, in dem wir zu viert wohnen, ist alles überschaubar. Aber nicht alles kann man sehen. Man kann nicht sehen, dass wir Kinder ein Auge auf die Truhe im Flur geworfen haben, in der unsere Mutter die Weihnachtskekse versteckt hat. Wenn man zur Tür hinausgeht, kommt man an ihr vorbei, sie ist nicht verschlossen, der Deckel geht ganz leicht auf, man muss nur leise mit der Hand hineingleiten, einen Keks ertasten, während die Augen nach rechts und links Schmiere stehen, und dann den Deckel vorsichtig und lautlos wieder schließen. Ich weiß nicht, dass Sonja und Bärbel dasselbe tun wie ich. Ich erfahre es aber ein paar Tage vor Weihnachten, als wir mit hängenden Köpfen vor unserer wütenden Mutter stehen und unser Leugnen ihren Zorn nur immer größer werden lässt. Wenn meine Schwestern nicht den Deckel von der Truhe angehoben und immer wieder ein Plätzchen herausgefischt hätten, dann hätte sie es gar nicht gemerkt, dass was fehlt. Aber so sind wir jetzt alle dran. Wir haben das Weihnachtsfest verdorben, es gibt nun keine Kekse mehr. Aber es ändert ja nichts, wir hätten sie sowieso gegessen.