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ÖdipaimageReihe: 21

Die Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet dieses Buch
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Erste Auflage 2014
© Größenwahn Verlag Frankfurt am Main, 2014
www.groessenwahn-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN: 978-3-942223-88-1
eISBN: 978-3-942223-89-8

Helga Brehr

Ödipa

Das Schuldgefühl
zweier Menschen

Novelle

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IMPRESSUM

Ödipa

Reihe: 21

Autorin
Helga Brehr

Seitengestaltung
Größenwahn Verlag Frankfurt am Main

Schriften
Constantia und Lucida Calligraphy

Covergestaltung
Marti O´Sigma

Coverbild
Marti O´Sigma ›Die fliegende Schlange‹

Lektorat
Regine Ries

Druck und Bindung
Print Group Sp.z.o.o. Szczecin (Stettin)

Größenwahn Verlag Frankfurt am Main
August 2014

ISBN: 978-3-942223-68-3
eISBN: 978-3-942223-69-0

Inhalt

›CAFÉ FLORIAN‹, BERLIN-CHARLOTTENBURG

›IDIPA‹ KAPITEL 1

›IDIPA‹ KAPITEL 2

›CAFÉ FLORIAN‹, BERLIN-CHARLOTTENBURG

›IDIPA‹ KAPITEL 3

›CAFÉ FLORIAN‹, BERLIN-CHARLOTTENBURG

›IDIPA‹ KAPITEL 4

›CAFÉ FLORIAN‹, BERLIN-CHARLOTTENBURG

›IDIPA‹ KAPITEL 5

›CAFÉ FLORIAN‹, BERLIN-CHARLOTTENBURG

›IDIPA‹ KAPITEL 6

›CAFÉ FLORIAN‹, BERLIN-CHARLOTTENBURG

ANMERKUNGEN

BIOGRAPHISCHES

›CAFÉ FLORIAN‹,
BERLIN-CHARLOTTENBURG

»Was man sucht, es lässt sich finden, was man unbeachtet lässt, entflieht«, zitierte Klaus aus einer griechischen Tragödie. Ich trank einen Schluck Wein und sah zum Fenster hinaus in den trüben Frühlingsabend. Ein Mann und eine Frau standen auf der Straße vor unserer Stammkneipe ›Florian‹ in Berlin-Charlottenburg. Ihren Gesten nach schien das Paar sich heftig zu streiten. Ein kleines Mädchen sprang um sie herum und zupfte mal die Frau, mal den Mann am Ärmel, wurde aber von der Frau barsch zurückgewiesen. Der Mann legte schließlich einen Arm um die Schulter der Kleinen.

Ich wandte mich wieder Klaus zu, der mir am Wirtshaustisch gegenüber saß in grünen Cordhosen, grünem Polohemd und braunem Cordjackett. Sein Blick kam mir unruhig vor, ich hatte den Eindruck, dass er mir etwas Bestimmtes sagen wollte aber nicht wusste, auf welche Art er beginnen könnte. Warum machte er es immer so kompliziert? Warum legte er nicht einfach los? Ich hatte ein ungutes Gefühl, während ich ihn betrachtete. Sein schmales Gesicht, in dem die großen braunen Augen fast überdimensioniert erschienen, die grauen Haare, die in weichen Wellen bis in die hohe Stirn ragten, die geschwungenen Lippen und die schmalen, feingliedrigen Hände – ja, ich musste zugeben, dass er gebildet und sensibel wirkte, fast wie ein Künstler, aber ich bemerkte auch, dass er blass und mitgenommen aussah. Verglichen mit ihm glaubte ich, obwohl gleichaltrig, noch immer einen jüngeren und gesunderen Eindruck zu machen, wenn auch einen stämmigen und etwas nichtssagenden, mit meinem breiten Gesicht, den klaren, blauen Augen, den kurzen Haaren und meinen kräftigen Händen, denen man ansah, dass sie zupacken konnten.

»Ich sage dir, Hartmut«, begann Klaus wieder, »in den Tragödien von Sophokles und Euripides finden sich schon alle Themen und Gefühle dieser Welt. Die Menschheit hat seither nichts Wesentliches dazugelernt.«

»Die klassische griechische Literatur ist und bleibt deine Leidenschaft«, entgegnete ich, »nun, da du schon seit deiner Frühpensionierung nicht mehr am Gymnasium Latein und Altgriechisch zu unterrichten hast, könntest du endlich abschalten, stattdessen schreibst du eigene Geschichten, die einen Bezug zur Literatur des Altertums haben. Du kommst nicht davon los.«

Ich sah, dass Klaus eine ungeduldige Handbewegung machte, mit der er fast sein Weinglas umwarf, doch ich ließ mich nicht unterbrechen.

»Im übrigen denke ich über deine Behauptung völlig anders«, fuhr ich fort, »die Gefühle von Menschen, die vor zweitausend Jahren lebten, interessieren mich nicht. Du weißt, dass ich als Tiefbauingenieur handfeste Dinge hervorgebracht habe, wie Brücken, die über Flüsse und Täler führen oder Inseln mit dem Festland verbinden. Und ich verfolge, auch wenn ich, genau wie du, nicht mehr beruflich aktiv bin, mit Interesse den technischen Fortschritt unserer Zeit, bin fasziniert davon, dass ich per Mausklick das unendliche Wissen der ganzen Welt in mein Wohnzimmer holen kann.«

»Mein alter Brockhaus«, erklärte Klaus und hustete, während er mit einem Arm theatralisch ausholte, »und meine umfangreiche Bibliothek reichen mir völlig aus. Und Inseln nähere ich mich lieber beschaulich auf dem Segelboot als mit dem Auto über eine Brücke zu donnern.«

Wir saßen, wie jeden Donnerstagabend seit fünf Jahren, in unserer ruhigen kleinen Stammkneipe beim Wein. Zwei etwas vereinsamte Männer, beide Witwer. Jeder erzählte vom Verlauf der Woche. Und dann landeten wir wie immer bei einer der großen Diskussionen über unsere unterschiedlichen Weltanschauungen, die manchmal auch in Streit ausarteten, dann wieder abflachten und Erzählungen aus der Vergangenheit Platz machten. So gegensätzlich auch unsere Ansichten – wir fanden am Ende immer einen versöhnlichen Ton, gingen meistens in Frieden auseinander, denn wir wollten uns ja wieder begegnen, am nächsten Donnerstag zur selben Zeit. Es gab nicht mehr so viel Beständiges in unseren Leben außer dem Donnerstagabend.

Im ›Florian‹ war es an diesen Abenden meistens recht ruhig und wir konnten uns ungestört unterhalten oder streiten. Der Kellner ließ uns bei unserem Glas Wein sitzen, er kannte uns und reservierte uns jeden Donnerstag denselben Tisch, an dem wir auf den immer gleichen Stühlen saßen – Klaus mit dem Rücken zur Wand, ich ihm gegenüber. Mein Platz gewährte mir seitlich einen freien Blick zum Fenster hinaus.

Mir war nicht entgangen, dass Klaus ein blaues DIN A4-Heft vor sich auf dem Tisch liegen hatte, doch erst jetzt, als er begann, mit dem Heft nervös herumzuspielen, es zu öffnen und wieder zu schließen, wurde ich neugierig.

»Was hast du denn da?«, fragte ich, mit einer Kopfbewegung in Richtung des Hefts.

Klaus schwieg und schaute mich mit einem verlegenen Blick an. Dann schien er sich einen Ruck zu geben, schlug das Heft auf und sagte entschlossen: »Hartmut, ich werde dir zum ersten Mal eine meiner Geschichten vorlesen.«

Wieder hustete er.

»Darin geht es um einen gewaltsamen Tod, an dem jemand ungewollt schuldig geworden ist. Und um ein Kind, das andere Eltern hat als vermutet. Es ist eine Geschichte aus unserer Zeit. Doch ich werde dir mit Zitaten von Sophokles belegen, dass sie genauso verläuft wie eine seiner Tragödien.«

Er schien Widerspruch von mir zu erwarten, denn sein Blick wurde kampfbereit.

»Natürlich habe ich die Zitate übersetzt«, fügte er hinzu, während er mit spöttischem Blick zur Seite schaute, »denn du Ärmster kannst ja die Originalsprache nicht verstehen.«

Ich lächelte nachsichtig.

»Das müsste mir noch einfallen, tote Sprachen zu lernen! Hab mich mit Englisch schon genügend rumgeschlagen. Nein, mein Lieber, ich bin ein Zahlenmensch, ein Mann der Tat und der Gegenwart. Träume du ruhig von deinen alten Griechen und lebe in der Vergangenheit. Unsere Welt und die Menschheit hat sich in den letzten drei Jahrzehnten so grundlegend verändert, wie zuvor nicht in dreitausend Jahren!«

»Eben das bezweifle ich!«, erwiderte Klaus heftig und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Die Technik hat sich verändert. All dieser Computerkram und so weiter. Die menschliche Evolution aber hinkt hoffnungslos hinterher. Unsere Körper können sich der Technik nicht anpassen, unser Geist und unsere Seele erst recht nicht!«

Seine Stimme wurde lauter, als er sah, dass ich den Kopf schüttelte.

»Die großen Themen der Menschen sind Angst, Schuld, Macht, Wahrheit, Treue, Verrat, Liebe, Ehre und Schande.«

Jetzt schrie er fast.

»Sie haben heute, auch im dritten Jahrtausend nach Christus, dieselbe Bedeutung wie in der Antike. Vor allem die Tatsache, dass Menschen schuldig werden und sich immer tiefer in ihre Schuld verstricken …«

Plötzlich sprach er leise weiter: »So sehr sie auch versuchen mögen, gerade dies zu vermeiden.«

Ich schwieg, sah dem blonden, hageren Kellner nach, der neue Gäste begrüßte und fragte mich, warum sich Klaus so ereiferte. Er wirkte ganz erschöpft. Waren seine klassischen Dramen diesen Einsatz wert?

»Mich drückt selbst eine alte Schuld, glaub mir, ich weiß, wovon ich rede!«, hörte ich ihn murmeln, während er seine rechte Hand über die linke auf den Tisch legte. »Willst du also meine Geschichte hören, Hartmut? Sie hat letztendlich auch mit uns beiden zu tun.«

»Meinetwegen«, brummte ich, als Klaus wieder von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Seit wann hustete er eigentlich so viel? Was wollte er mir mit der Andeutung von einer alten Schuld eröffnen? Und was hatte seine Geschichte mit uns zu tun?

Im Grunde ist es egal, worüber wir diskutieren, sagte ich mir und wischte die vorigen, unangenehm nagenden Gedanken zur Seite. Wir würden immer zu unseren unterschiedlichen Standpunkten zurückkehren. Und unsere Streitgespräche aufrechterhalten, so lange es ging. Wir hielten uns fest an ihnen. Solange wir diskutierten, lebten wir. Und freuten uns auf den nächsten Donnerstag, den Einschnitt in einer sonst sehr stillen und leeren Woche.

»Meine Geschichte heißt Idipa«, sagte Klaus, während er sein blaues Heft öffnete. »Der Name mag dir merkwürdig vorkommen, aber er hat mit meiner Vorliebe für klassische Themen zu tun. Stell dir zunächst eine ganz normale Familie vor: einen Mann, eine Frau und eine Tochter. So etwa Anfang der achtziger Jahre in West-Berlin. Sie haben gerade eine Auseinandersetzung, in der es um die Tochter geht …«

Und er begann, zu lesen.

›IDIPA‹
KAPITEL 1

 

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»Du wirst noch sehen, was du davon hast, dass du sie so verwöhnst!«, schrie Mareike ihren Mann an, »die Kinder, denen man am meisten durchgehen lässt, machen einem später den größten Kummer. Sie wird es dir mit Nackenschlägen danken!«

Idipa, um die es ging, lehnte nachlässig am Tisch in der Küche eines kleinen Reihenhauses in Berlin-Schöneberg und sah ihre Mutter hasserfüllt aus ihren eisblauen Augen an.

»Aber Mareike …«, Paolo, der seinen Namen ebenso wie die schwarzen Haare, die dunklen Augen und die etwas gedrungene Statur von seinem spanischen Großvater geerbt hatte, sprach mit leiser Stimme und legte seiner Frau beschwichtigend eine Hand auf die Schulter. »Idipa soll doch nur ein bisschen Spaß haben. Und dieses Spiel hatte ich ihr schon lange versprochen.«

»Spaß, ja immer nur Spaß! Aber das Leben besteht nicht nur aus Spaß! Das könnte unser Fräulein Tochter auch endlich lernen.« Mareike drehte sich abrupt um und machte einen Schritt zur offenstehenden Küchentür, wo sie ihren Kopf zurückwarf und im Hinausgehen rief: »Paolo, wenn das so weitergeht, dann wird das Kind in die Lehre geschickt! Nur immer in der Schule rumhängen und zu nichts gut sein – das schaue ich mir nicht mehr lange an!«

Paolo trat zu Idipa, die ein finsteres Gesicht machte, legte schützend einen Arm um sie und fuhr mit einer Hand durch ihre kurzen, schwarzen Haare.

»Sie ist mit siebzehn noch viel zu jung, um schon den ganzen Tag zu arbeiten«, murmelte er in Richtung Mareike und sah liebevoll auf seine Tochter hinab, die er nur um einen halben Kopf überragte.

»Zu jung?« schallte aus dem Wohnzimmer eine schrille Stimme zurück, wo Mareike seine Worte sehr wohl gehört hatte. »In ihrem Alter habe ich Kohlen geschippt und Fußböden geschrubbt. Würde unserer Prinzessin auch nicht schaden!«

Mareike dachte mit Bitterkeit zurück an ihre jungen Jahre als schlesisches Flüchtlingskind in dem zerbombten Berlin, warf ihre Schürze auf den Wohnzimmertisch, unterbrach damit die Vorbereitungen zum Abendessen, strich sich die blonden Haare aus der Stirn und ging ins Bad, um einen Moment allein zu sein. Im Spiegel blickten ihre kleinen braunen Augen sie aus einem schmalen Gesicht an, das schon deutliche Falten zeigte und sie älter aussehen ließ als dreiundfünfzig. Neben einem Ehemann, der nur ein Jahr jünger war als sie, aber zehn Jahre jünger aussah mit seiner glatten, strahlenden Haut, machte sie sich nicht besonders gut, selbst wenn sie schlanker und etwas größer war als er – dachte sie und warf verärgert den Kopf in den Nacken.

In der Küche nahm Paolo seine Tochter in die Arme und drückte sie fest.

»Mach dir nichts draus!«, flüsterte er ihr ins Ohr, »Wenn wir beide mal wieder allein sind, dann spielen wir zusammen mit dem neuen Spiel, was?«

»Schließlich ist das ein sehr wertvolles Spiel«, maulte Idipa, während sie sich sanft aus Paolos Umarmung befreite. »Ein Quizspiel, man kann viel dabei lernen. Und das würde Mutter auch gut tun!«

Meistens nannte sie ihre Mutter Mareike, aber wenn sie besonders wütend auf sie war, sagte sie Mutter. Immer war es Mareike, die etwas an ihr zu kritisieren hatte, die sie klein machen wollte und in die Schranken verweisen. Idipa hasste ihre Mutter, ebenso wie sie Paolo, ihren Vater, liebte.

»Lass uns eine Partie Schach spielen bis Mareike mit dem Essen fertig ist«, schlug Paolo vor und Idipa war gleich dabei.

Wenn es nach Idipa gegangen wäre, hätte sie das Abitur gemacht, dann ein langes Literaturstudium begonnen, natürlich in Berlin, wo sie alle ihre Freunde hatte und ihren geliebten Papi. Eine Lehre! Das war Mareikes Idee.

Am Abend, als Idipa längst schlief und Mareike und Paolo dabei waren, sich ebenfalls hinzulegen, ging der Disput zwischen ihnen im Ehebett weiter.