DIE

NIHILIT-EXPEDITION

 

ROMAN

 

 

VON

ROBERT KRAFT

 

 

 

Mit einem Nachwort zum Autor

von Christoph F. Lorenz

 

 

 

 

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 1996 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1651-9

 

 

EDITION USTAD

 

im

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL


Der vorliegende Roman spielt um 1900.

Erstes Kapitel

 

Mein Vater war Deutscher, meine Mutter Engländerin und ich bin in England geboren. Dies genüge für meine Personalien. Ich studierte Ingenieurwissenschaften, erst in London, dann in Berlin, bis der Tod des Vaters, dem schon die Mutter vorausgegangen war, mich wegen Mittellosigkeit zwang, mir mein Brot auf irgendeine Weise selbst zu verdienen. Englische Unternehmer projektierten in Adelaide den Bau einer großen Brücke. Ich schrieb, wurde angenommen, fuhr auf meine Kosten hin, fand meine und jede andere Stelle bereits besetzt und konnte nichts dagegen tun. Das Gesetz erklärte den im Ausland brieflich zwischen England und Deutschland geschlossenen Kontrakt für ungültig. Obwohl mich meine Kenntnisse, glaube ich sagen zu dürfen, zu einer anderen Stellung befähigten, musste ich dreiundzwanzigjähriger junger Mensch mich glücklich schätzen, in der damals von Technikern überschwemmten Stadt gleich in der Waffen- und Fahrradfabrik Cunning & Kompanie als Hilfszeichner anzukommen.

Der Studiosus zum ersten Mal in der Praxis, erst dreiundzwanzig Jahre alt! Natürlich würde ich innerhalb eines Jahres mindestens Subdirektor der Firma Cunning & Kompanie sein, so viel Erfindungen und Verbesserungen würde ich gemacht haben. Die ganze Fabrik wollte ich umkrempeln!

Also, ich sah mich um in dem Etablissement, dem ich vorläufig noch als letzter Zeichner angehörte. Zufällig fielen meine Blicke zuerst auf einen Gegenstand, der nur ganz indirekt mit unserem Fabrikat zusammenhing: auf den Laufmantel. Wie oft schon hatte ich mich geärgert, wenn der armselige Luftschlauch aus dünnem Kautschuk aus der dicken, soliden Guttapercha[1] bei großer Hitze urplötzlich eine große Blase heraustrieb, und immer war mir dabei dunkel zum Bewusstsein gekommen, dass hier ein Missverhältnis vorliege, welches zu beseitigen gehe, die Guttapercha müsse nur durch technische oder chemische Operationen widerstandsfähiger, auch gegen den Druck von innen, gemacht werden.

Erwähnen muss ich noch, dass mein Vater Agent für Guttapercha und Kautschuk gewesen ist, ich war mit diesen beiden Substanzen sozusagen aufgewachsen. Ich wusste, wie man in Brasilien und in Indien die Bäume anschneidet, um das Harz zu gewinnen, und ich sah es im Geiste alle Operationen durchmachen, bis es als indisches Kautschuk mit Luft vollgepumpt wird und als südamerikanische Guttapercha die Luft wieder herauslässt.

Ein ganzes Jahr studierte und experimentierte ich und dann war es fertig. Wirklich eine großartige Erfindung, die ich zum Patent anmeldete – aber sie war schon vorher von einem anderen gemacht worden. Und so ging es immer. Alle meine Erfindungen und Verbesserungen waren bereits erfunden und verbessert worden.

Schadet nichts, man lernt etwas dabei, und ich ahnte damals noch nicht, was für Nutzen es mir später noch bringen sollte.

Dennoch wurde ich rasch befördert, nur aus ganz anderer Ursache. Von jeher ein eifriger Sportsjünger trug ich auf einem Elektrikrad – dies der Name unserer Marke – auf der Rennbahn einen großen Sieg davon und am anderen Tag hatte ich einige Zeichner unter mir. Ein halbes Jahr später gewann ich in sieben Stunden und einigen Minuten das Straßenrennen Adelaide-Vincent, ebenfalls auf dem Elektrik, und ich avancierte zum Konstrukteur. Was das Beinetrampeln mit dem Konstruieren zu tun hat, weiß ich zwar nicht, aber die Erfahrung habe ich gemacht, dass beim fixen Beinetrampeln sicherer etwas herauskommt als beim Erfinden – nur muss man sehr fix strampeln. –

Kommt eines Tages ein junger Franzose, gibt seine Karte ab – Charles Leonard – wünscht den Herrn Direktor zu sprechen, wird vorgelassen, sagt, er wolle sich eine Elektrikmaschine kaufen, was ihm dafür bezahlt würde, wenn er nach Southport radele.

„Wohin? Was für ein Southport ist das? Was wünschen Sie eigentlich?“

„Southport an der Timorsee, Endstation der Telegrafenlinie, immer die Telegrafendrähte entlang. Was zahlen Sie, wenn mir’s gelingt?“

Quer durch Australien! Auf dem Rad! Der junge Mensch war einfach verrückt. Oder er hatte keine Ahnung, wie die Gegend schon hundert Meilen von hier aussieht. Ja, von Adelaide quer durch Australien nach Southport, ungefähr Stuarts Weg nehmend, ist eine Telegrafenlinie gelegt, alle vierzig Meilen ist auch eine Station da, manchmal ist auch keine da – es war ja die reine Unmöglichkeit! Ich hatte zudem Gelegenheit gehabt, Monsieur Leonard im Wartezimmer zu beobachten, und während ich die Franzosen immer keck und lebhaft gefunden hatte, machte dieses Männchen hier, wie es in der Ecke saß und teilnahmslos vor sich hin stierte, nicht nur einen sehr bescheidenen, sondern sogar höchst stumpfsinnigen Eindruck.

„Tausend Pfund Sterling“, sagte der Direktor, um den verrückten Menschen schnellstens loszuwerden. Ein Risiko ist ja nicht vorhanden, er will sich seine Maschine selbst kaufen. Denn für die Briefe derer, welche mindestens eine Maschine geliefert haben wollen, um die Erde oder was anderes zu umradeln, hat wohl jede Fahrradfabrik einen besonderen Papierkorb.

„Bon!“, und ehe der Unglückliche zurückgehalten werden kann, ist er schon abgefahren, hat wenig mehr mitgenommen als ein belegtes Butterbrot zum Frühstück.

Etwa einen Monat später erhält der Direktor eine Depesche von der Mac Donall-Station, die angeschlossen ist – Monsieur Leonard beweist, dass er schon mitten im Herzen Australiens ist, und eine Eisenbahnfahrgelegenheit gibt es da nicht – und am 57. Tag nach seiner Abfahrt von Adelaide meldet er seine Ankunft in Southport und zwölf Tage später gibt er uns wieder seine Karte ab, und weil der Direktor gerade abwesend ist, sitzt er wieder in seiner Ecke, stumpfsinnig vor sich hinblickend, ab und zu gähnend. Unser Direktor ist natürlich voller Enthusiasmus. Allein Monsieur Leonard lässt sich auf nichts ein, will keine Festlichkeiten haben, kein Buch herausgeben, nicht einmal viel von diesen Erlebnissen erzählen, er verlangt nur seine tausend Pfund Sterling. –

Ob sich der wortkarge Mensch unserem Direktor doch noch anvertraut hat oder wie es sonst gekommen ist, weiß ich nicht. Charles Leonard ist verwegen wie ein Teufel und kalt und stumm wie ein Schneemann. Sein eigentümlicher Charakter und auch die Ursache desselben wird in meinem Tagebuch genügend erklärt. Ich erfuhr von alledem erst, als ich in der Privatwohnung des Herrn Cunning senior diesem selbst mündlich und schriftlich mein Ehrenwort abgeben, förmlich beeiden musste, über alles, was ich erfahren würde, Stillschweigen bis ins Grab zu wahren, und jede einzelne Hauptperson der Nihilit-Expedition musste es tun.

Hiermit breche ich mein Ehrenwort. Es gibt etwas, was noch über das Ehrenwort geht. Ich weiß nicht, ob außer uns dreien noch einer von der Nihilit-Expedition am Leben ist. Ich glaube nicht. Ich stehe mit meinen beiden Kameraden und mit meiner Braut vor einer Flucht, die uns durch unbekannte Wüsten führt, und wir werden morgen schon von kundigen Jägern verfolgt werden, die schneller sind als wir. Ich zweifle daran, dass uns die Flucht gelingen wird, aber es gilt, die ganze Menschheit vor einer furchtbaren Gefahr zu warnen, welche ihr aus dem Inneren Australiens droht, dass sie zum Kampf wappnet, und nur ich vermag das Mittel anzugeben, wie die heutige Menschheit siegreich aus dem Kampf hervorgehen kann. Denn mein Tod allein würde genügen, unsere ganze Kultur dem Verfall preiszugeben. Charles Leonard ist ein ungebildeter Mann, und Sanja wäre, würde sie ohne mich die Grenzen der Zivilisation erreichen, wie auf einen fremden Planeten versetzt.

Jetzt weiß ich, dass mir mein Ehrenwort von einer Clique aus krassestem Egoismus abgezwungen worden ist. Aber so soll es nicht sein! Das Geheimnis, das ich entdeckt habe, soll der gesamten Menschheit zugutekommen und nicht nur wenigen Personen zum pekuniären Vorteil dienen.

So schiebe ich folgende Erklärung meinem Tagebuch ein, in der Hoffnung, dass nach meinen etwaigen Tod wenigstens dieses Tagebuch von einem meiner Mitmenschen gefunden wird, zur Rettung und zum unausgesprochenen Segen aller zivilisierten Völker der Erde.

Wenn ich sagte, Charles Leonard hätte zu seiner Radtour quer durch Australien wenig mehr als ein belegtes Butterbrot mitgenommen, so ist dies nicht wörtlich zu nehmen. Ich wollte damit nur die Mangelhaftigkeit der Ausrüstung des französischen Abenteurers andeuten. Gut bewaffnet war er, er hatte nicht nur eine Schachtel Streichhölzer bei sich, sondern ein solides Feuerzeug mit reichlichem Zunder, einen kleinen Wasserschlauch, einige Pfund Hartbrot und präserviertes Fleisch, ebenso viel Pfund Tabak mit dem dazu nötigen Zigarettenpapier und verschiedenes Reparaturwerkzeug, das war aber auch alles. Er hatte nicht daran gedacht, einen Sextanten zur Ortsbestimmung mitzunehmen – wenn er damit umzugehen verstanden hätte – er wollte ja immer den Telegrafendraht entlangfahren – kein Barometer zur Höhenmessung, kein Thermometer, auch keinen Kalender hatte er bei sich gehabt.

So kam es, dass er nicht einmal genau angeben konnte, wie viele Tage er schon wieder unterwegs gewesen war, seitdem er die Mac Donall-Station verlassen hatte, als sich der wundersame Vorfall ereignete.

Sein Wasservorrat war erschöpft. Ob Charles Leonard die Qualen des Durstes überhaupt empfindet, weiß ich nicht, ich glaube es kaum; aber jedenfalls wollte er trinken und seinen Wasserschlauch wieder füllen. Wie gewöhnlich, wenn er Wasser suchte, spähte er während des Fahrens nach Vögeln und beobachtete deren Flugrichtung, zum Beispiel von Papageien, die in Australien nirgends fehlen, es sei denn in der trockensten Jahreszeit.

Das Glück war ihm günstig, bald sah er Vögel von verschiedenen Seiten einem Zentrum zufliegen, über einem gewissen Punkt Kreise in der Luft beschreiben und sich herniedersenken. Dort war Wasser in der hügeligen Wüstensteppe.

Leonard schwenkte links ab. Nach etwa zwei Stunden mühsamen Fahrens gelangte er in eine Schlucht mit einem kleinen Süßwassertümpel. Vögel, Kängurus und andere Tiere flohen davon, neunzehn tote Menschen blieben liegen.

Wenn Leonards Annahme richtig ist, dass sie ihren Tod am Tag zuvor gefunden hatten, dass sie also einen Tag lang der glühenden Sonne ausgesetzt gewesen waren, so gehörten dieses Franzosen abgestorbene Sinne dazu, um nicht sofort aus der Schlucht mit den schon stark in Verwesung übergegangenen Leichen zu fliehen.

Achtzehn der Toten waren nackte Australneger, sämtlich furchtbar verstümmelt. Die Folgen eines Kampfes, wie sie Leonard schilderte, würden mir märchenhaft erscheinen, wenn ich später nicht selbst die Waffen kennengelernt hätte, die solche Wunden schlagen können, und die Krieger, die diese Waffen zu führen wissen.

Es muss fürchterlich ausgesehen haben, aller Beschreibung spottend. Wie in einem Schlachthaus, in dem Menschen regelrecht zerwirkt werden! Hier lag ein Kopf, dort ein Arm, dort ein Bein, alles glatt vom Rumpf getrennt. Keine einzige Leiche war normal. Der eine der Schwarzen war von oben nach unten glatt in zwei Hälften tranchiert, zwei andere sahen aus, als hätte eine Kreissäge sie in Oberkörper und Unterkörper geteilt.

Und der neunzehnte Tote war der Mann, dessen Waffe hier so schrecklich gewütet hatte.

Ich möchte wissen, was Leonard gedacht haben mag, als er sich vergegenwärtigte, nicht im Mittelalter, sondern am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu leben, noch dazu sich mitten im Herzen des unbewohnten Australiens zu befinden. Wir waren vorbereitet, als wir es dann selbst sahen, Leonard war es damals nicht.

Es war ein gepanzerter Riese, vom Kopf bis zu den Fußsohlen und bis zu den Fingerspitzen in weißglänzenden Stahl gehüllt. Dies muss näher beschrieben werden. Seinen ganzen Körper umschloss vom Hals an, diesen noch bedeckend, ein Kostüm, aus einer Art Leinwand bestehend, auf der auf irgendeine Weise Stahlschuppen angebracht waren, und dieses Schuppenkleid war so schmiegsam, dass Leonard jeden einzelnen der ebenfalls gepanzerten Finger ohne Hindernis bewegen konnte. Ferner trug der Tote noch einen festen Panzer, der Brust und Unterleib schützte, hinten durch stählerne Schuppengürtel befestigt, und ebensolche Stücke als Schutz für die Schienbeine. Endlich gehörte zu der Rüstung ein gewaltiger Helm aus Stahl, mit herabzulassendem Visier, dass nur noch die Augen sichtbar waren, als Schmuck darauf ein fabelhaftes Ungeheuer, ein geflügelter Tiger mit Frauenkopf.

Leonard, der sein Längenmaß genau kannte, legte sich neben die Leiche und schätzte so die Größe des Mannes auf mindestens zwei und einen viertel Meter. Da kann man wohl von einem Riesen sprechen, und unter dem Schuppenpanzer strotzten Arme und Schenkel von Muskeln.

Die linke gepanzerte Faust umklammerte noch den ebenfalls stählernen Griff eines blitzenden Schwertes, an Länge und Breite mit den riesigen Maßen seines Besitzers übereinstimmend. Die rechte Hand hielt einen langen, zweischneidigen Dolch, für den sich am Unterleibpanzer eine festgenietete Stahlscheide befand, desgleichen noch eine andere, in der ein zartes, kleines einschneidiges Messer steckte. Zum bequemeren Tragen des großen Schwertes schien eine Vorrichtung auf dem Rücken angebracht zu sein.

Der gewappnete Krieger einer unbekannten Welt war jedenfalls von ihm nachschleichenden Eingeborenen überfallen worden, als er den Helm abgelegt hatte, um Wasser zu schlürfen. Denn der Helm lag weit entfernt am Rand des Tümpels, und während der Tote sonst keinerlei Verwundung zeigte, waren sein Gesicht und der ganze Kopf furchtbar von Bumerangs und den hölzernen Spießen der Australneger zerfleischt.

Nicht eher aber war der Riese entkräftet niedergesunken, als bis er den letzten seiner Angreifer niedergemacht hatte, es war an der weit voneinander entfernten Lage der Leichen deutlich sichtbar, dass er den Fliehenden nachgerannt war, ihnen die Köpfe abgemäht und sie halbiert hatte, und wenn einige doch entkommen waren, so wagten die Schwarzen nicht mehr, dieses neue Tal von Roncesvalles[2] zu betreten, um dem gefallenen Roland die Waffen zu rauben, auf welche es die Eingeborenen doch jedenfalls abgesehen hatten.

So entstellt das Gesicht auch war, erklärte der gebildete Leonard es doch für das eines weißen Kaukasiers, nur von der Sonne gebräunt. Außerdem zeigte es einen starken, blonden Schnurrbart und einen ebensolchen kurzen Vollbart, das Haupthaar war halblang, bis auf die Schultern fallend, blond, gelockt. – –

Ich will jetzt nicht erwägen, wie ein mittelalterlicher Ritter ins Innere Australiens kommt, erst gestern gestorben. Die Erklärung gebe ich später. Zunächst etwas anderes, nicht minder wunderbar, auf jeden Fall viel wichtiger. – –

Leonard hob zuerst den großen Helm auf. Wenn dieser Mensch überhaupt fähig wäre, sich zu wundern, so müsste er sehr erstaunt gewesen sein, wie ungemein leicht der gewaltige Helm war. Ganz aus klingendem Stahl oder Eisen und dennoch federleicht, als wäre er aus Pappe. Dann wand Leonard das Schwert aus der linken Hand. Es war so schwer, dass Leonard, trotz seiner schmächtigen Gestalt sehr muskelkräftig, es mit beiden Händen nur mit Mühe regieren konnte. Hierauf besah er sich den großen Dolch. Dieser war wiederum von der fabelhaften Leichtigkeit des Helmes, obgleich er doch aus ganz demselben Metall zu bestehen schien wie das Schwert. Dass dieses viel größer war als der Dolch, damit darf man nicht rechnen. War der Dolch aus Stahl oder Eisen, so müsste er seiner Größe nach wohl zehnmal schwerer gewesen sein, während das Schwert das normale Stahlgewicht zeigte. Von derselben Federleichtigkeit war auch das kleine Dolchmesser.

Was tat nun Leonard? Er füllte seinen Wasserschlauch, nahm die beiden Dolche mit, weil er sie für sich zu gebrauchen dachte, bestieg sein Rad und fuhr nach der Telegrafenlinie zurück. Es war mehr ein Zufall, dass es ihm bei der ersten hölzernen Telegrafenstange einfiel, einmal die Schärfe der Dolche zu probieren. Vielleicht brauchte er auch gerade einen Zahnstocher. Kurz, er stieg noch einmal ab, schnitzelte von der Pfoste einige Späne ab und fuhr weiter.

Was hätte ein anderer Mensch getan, gesagt, wenn er nach einem solchen Abenteuer auf die nächste Station gekommen wäre, zivilisiertes Land wieder erreicht hätte! Leonard sagte gar nichts. Charles Leonard ist eben ein Stockfisch. Er war zufrieden, dass er zwei schöne, leichte, scharfe Messer gefunden hatte. Das größere wollte er sogar unterwegs wegwerfen, weil es ihm lästig wurde. Nur weil er zufällig sein eigenes verlor, behielt er auch das zweite fremde.

Wie gesagt, ich weiß nicht, wie der Direktor von dem Stockfisch, aus dem auch nicht ein einziges Abenteuer herauszubringen war, das ganze Erlebnis erfahren hat. Was ich hier über die Untersuchungen des fremden Metalls angebe, habe ich alles erst später gehört, alles wurde mit der größten Heimlichkeit betrieben und der Name des Chemikers und Physikers, der die Untersuchungen anstellte, ist mir bis heute unbekannt.

Leonard hatte ihm den großen Dolch zur Verfügung gestellt.

Es soll nur das Allgemeine und Wichtigste hervorgehoben werden. Das Metall, aus dem auch der von einer Querstange begrenzte Griff bestand, glich blankpoliertem Stahl. Während aber das spezifische Gewicht von gutem Stahl im Durchschnitt sieben ist, betrug das dieses fremden Metalls wenig über eins, der Dolch sank im Wasser also nur ganz langsam unter, in starker Salzlösung schwamm er. In wunderbarem Gegensatz dazu stand seine Härte. Das Metall wurde nicht vom Diamanten geritzt, die Spitze des Dolches aber ritzte einen Diamanten mit Leichtigkeit. In die Drehbank gespannt, konnte das härteste Glas mit dem Dolch wie weiches Holz bearbeitet werden. Säuren und alkalischen Laugen gegenüber war er vollständig unempfindlich. Auch im Knallgasgebläse konnte er nicht zum Schmelzen gebracht werden, er ging daraus mit unverändertem Glanz hervor.

Das jedem Menschen nach der Leichtigkeit am meisten ins Auge Fallende war die Schärfe des Dolches.

Die Japaner sollen einen wunderbaren feinen Stahl herzustellen wissen, und um in Japan ein Schwert auf seine Güte zu prüfen, soll man eine Gurke in einen mäßig fließenden Bach werfen, das ruhig entgegengestellte Schwert muss sie glatt durchschneiden. Sultan Saladin, der Gegner von Richard Löwenherz, soll eine Klinge besessen haben, welche, ganz ruhig gehalten, einen auf sie herabschwebenden Gazeschleier in zwei Hälften teilte.

Ich habe an der Glaubwürdigkeit solcher Geschichten stets gezweifelt. An jenem Dolch aber, den ich in Händen hatte, habe ich noch ganz andere Beispiele von Schärfe gesehen. Man denkt sich für gewöhnlich nichts Schärferes, Schneidenderes als ein fein abgezogenes Rasiermesser aus bestem Stahl. Betrachtet man aber dies unter einem guten Mikroskop, so wird die Schneide noch immer einem Sägeblatt gleichen. Die Schneiden dieses Dolches dagegen bildeten auch unter dem Mikroskop gerade Linien. Die Spitze der feinsten Nähnadel zeigt unter dem Mikroskop die Form eines runden, abgestumpften Kegels. Die Spitze dieses Dolches konnte mit einem Bienenstachel wetteifern. Eine zolldicke Eisenstange wurde auf den Ambos gelegt, der Dolch daraufgesetzt, ein leichter Schlag mit einem kleinen Hammer, die Stange war durch, und auch unter dem Mikroskop zeigte die Schneide nicht die geringste Verletzung. Ein ganzes Kartenspiel wurde durchstochen, als böte nur ein Blatt Seidenpapier Widerstand.

Diese Beispiele, mehr Spielereien, mögen genügen. Es handelte sich noch darum, die Zug-, Druck- und Bruchfestigkeit des unbekannten Metalls zu prüfen. Um von diesem nicht immer in unbestimmten Ausdrücken sprechen zu müssen, hatte man ihm wegen seiner Leichtigkeit den Namen Nihilit gegeben, vom lateinischen nihil – nichts.

Man begann mit der Prüfung der relativen Festigkeit, also wie viel Gewicht auf den an beiden Enden aufgelegten Dolch wirken musste, um ihn zu zerbrechen. Dies wurde jedoch nicht mit Gewichten, sondern mit einer dazu konstruierten Maschine ausgeführt. Der Brechungsmodus hatte den des besten Gusseisens schon zweimal überschritten, ehe der Dolch in der Mitte durchknackte – und da war ein Rätsel gelöst, aber nur, um hundert neue zu erzeugen.

Die Waffe bestand gar nicht aus massivem Metall. Nichts weiter als trockenes, sehr poröses Holz, darüber nur eine ganz dünne Schicht jenes Metalls. Ihre Dicke betrug an der Bruchstelle nur 0,35 Millimeter. Und diese Hülle allein hatte den ungeheuren Druck ausgehalten!

Es sei kurz gemacht!

An Zauberei glaubten wir nicht. Nihilit war ein uns noch unbekanntes Metall oder eine Legierung, eine chemische Verbindung von mehreren Metallen. Dieser Dolch war kein Naturspiel, sondern war von Menschenhänden gefertigt worden, welche die Substanz, die allen unseren physikalischen und chemischen Mitteln trotzte, zu bearbeiten verstanden. Sie konnten mit ihr Holz auf feurigem, nassem oder galvanoplastischem Wege überziehen, und wahrscheinlich auch alle anderen Substanzen, denn da das Schwert normal immer schwer gewesen war, so hatte sein Kern vermutlich einfach aus Eisen bestanden.

Ich will hier nicht ausmalen, welche Revolution das im Reich der Industrie und Technik, für Krieg und Frieden, hervorrufen wird, wenn wir erst wissen, was Nihilit ist, wie oder wo es zu haben ist und wie man es bearbeiten kann. Selbst die Erwähnung der Hauptpunkte würde schon ins Unendliche führen.

 

 

 

Zweites Kapitel

 

Mister „Schwuuarz“ wurde in das Büro des Herrn Direktors befohlen. Hier bekam ich viel Schmeichelhaftes zu hören – ich verbeugte mich immer – ich sei ein strebsamer junger Mann, stände durch Kenntnisse und praktische Tüchtigkeit weit über allen meinen Kollegen, an der Hand von Schul- und Hochschulzeugnissen musste ich meinen Bildungsgang als Ingenieur darlegen.

„Endlich bist du erkannt, die Tugend hat gesiegt“, sagte ich mir.

„Können Sie auch geografische Ortsbestimmungen machen?“

Gewiss doch!

„Mr. Cunning senior lässt Sie bitten, ihn heute Nachmittag um vier Uhr in seiner Privatwohnung zu besuchen.“

Was? Ich zum alten Cunning? Dann war auch die freigewordene Stelle des Sub-Direktors für mich bestimmt. An die geografischen Ortsbestimmungen dachte ich im Augenblick nicht.

Ich ging pünktlich hin. Wir unterhielten uns über dies und jenes, ich merkte schon lange, wie der alte Herr um einen heißen Brei herumging, bis er endlich zur Hauptsache kam. Ich schwor auf mein Ehrenwort, von dem, was ich jetzt zu hören und zu sehen bekäme, niemand ein Sterbenswörtchen zu verraten. Nun erfuhr ich alles das, was ich oben geschildert habe, bekam den zerbrochenen Dolch in die Hand, schnitt mir bei einer leisen Berührung der Schneide gleich einen Finger halb durch.

Die Firma Cunning & Kompanie rüstet eine Expedition aus, um das Innere Australiens auf Wasser, gute Weidegründe und ergiebigen Ackerboden zu untersuchen. Verstanden? Das Ausrüsten und Absenden solcher Expeditionen zum Aufschließen von neuen Niederlassungsplätzen für Kolonisten war damals modern, so ist es nichts weiter als die Pflicht des amerikanischen Milliardärs, wenn er Bibliotheken und Waisenhäuser stiftet, so wie jeder, der ein Haus machen will, seinen jour fixe haben muss.

Dass es sich um den gepanzerten Toten handelte, um das Nihilit, um die Stätte, wo der Dolch fabriziert worden war, das war nebenbei eine Privatsache – im Grunde genommen natürlich die Hauptsache.

Der Führer musste selbstverständlich Charles Leonard sein. Aber ich, ich war der Leiter vom Ganzen, ich war die Hauptperson! Wie ich zu dieser Ehre kam, davon später einige Worte.

„Nun vorwärts! Hier ist ein Scheckbuch. Sparen Sie nicht! Nur so schnell wie möglich! Ich bin für Sie jede Stunde, Tag und Nacht zu sprechen. Lösen Sie das Geheimnis und, Mr. Schwuuarz, Sie sind Direktor der Nihilit-Fabrik Cunning & Söhne. Ich gebe es Ihnen noch schriftlich. – Guten Abend!“

Mir schwindelte. Ich war außer mir über das Vernommene. Ich fieberte die ganze Nacht, hatte einen wüsten Traum, kämpfte mit Kreuzrittern, die mich vierteilten, und ich musste doch morgen mit frischen Kräften an die neue Arbeit gehen. –

Es lässt sich denken, mit welchem Feuereifer ich mein neues Werk aufnahm. Den ganzen Tag rannte ich umher und die halbe Nacht studierte ich die Tagebücher der Reisenden, welche das Innere Australiens durchforscht hatten.

Der alte Cunning ist ein reicher Mann und er knauserte nicht. Ich konnte fordern, was ich wollte, es wurde sofort geliefert – nur über die Leute hatte ich nicht zu bestimmen, die wählte Mr. Cunning selbst aus, obgleich er mir auch darin freie Hand ließ, nur einen engen Kreis ziehend, es durften nur Leute vom Personal der Firma Cunning & Kompanie sein.

Das machte mich stutzig. Was? Nur Schlosser und Hausknechte als Begleitpersonal einer Expedition ins Innere Australiens? Mr. Cunning zuckte die Achseln, sah mich bedeutungsvoll an und ich begriff. Das Geheimnis musste gewahrt werden, und wurde es doch verraten, so hatte ein Angestellter der Firma Cunning & Kompanie es getan, das Gestohlene musste zurückgegeben werden. Ich schlug vor, schnell einige Buschleute für ein paar Tage als Fensterputzer oder als sonst etwas anzustellen, aber der vorsichtige Geschäftsmann wollte auf nichts eingehen. Die Expedition ginge von der Firma Cunning & Kompanie aus – als Geschäftsreklame. Dann sei doch der Portier da, das wäre ein alter Squatter und Buschmann, den sollte ich nur nehmen.

Nun ging mir auch eine Ahnung auf, warum gerade ich, der jüngste vom Personal, bisher so gut wie unbeachtet, zum Leiter der Expedition auserlesen war. Die Ausbildung des englischen Ingenieurs ist nämlich äußerst einseitig. Dem Ingenieur auf Werkzeugmaschinen ist eine Schnelldruckpresse ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Ich werde vom ganzen Personal der einzige gewesen sein, der mit dem Sextanten umzugehen wusste. Der Direktor las ein Zeugnis, wonach ich in Deutschland an Vermessungsarbeiten teilgenommen hatte. Er forschte vorsichtig weiter, bis ich ihm antwortete, dass ich auch geografische Ortsbestimmungen machen könnte. Da war ich der Mann, den sie brauchten.

Ich schickte mich. Die Tatsache blieb bestehen, dass ich der wissenschaftliche Leiter einer Forschungsexpedition war – und was gab es zu erforschen! – und was meinen Leuten abging, würde meine Energie und Umsicht ersetzen. Ich nahm also den alten Portier aus seiner Loge als einzigen Praktiker in Busch und Steppe, und Bill Snyder, der sich zur Ruhe hatte setzen wollen, geriet in Aufregung, er wurde wieder der alte Buschmann und ich hatte wirklich einen glücklichen Griff getan. Ich bemerkte von vornherein, dass der Portier unter uns allen der einzige war, der zu solch einer Expedition taugte und etwas davon verstand.

Es war Anfang Mai, bei uns begann also der Winter, doch setzt die Regenzeit erst viel später ein, nach den Erfahrungen aller Reisenden die beste Zeit zum Aufbruch vom Süden nach Norden, und meine Expedition war fertig.

Sie bestand aus mir, aus Charles Leonard, aus Bill Snyder, aus vier Schlossern, von denen ich den Fahrradmonteur Ned Carpenter hervorhebe, aus einem Auflader und einem Packknecht der Firma Cunning & Kompanie.

Doch ist unsere Expedition durchaus nicht lächerlich aufzufassen. Ich hätte noch ein Dutzend, noch mehr Leute mitnehmen können, Mr. Cunning würde sie mir gewährt haben. Aber ich hatte nur die tüchtigsten auserwählt, die ich persönlich kannte, die ich auf dem Sportplatz beobachtet hatte, auf deren Treue und Unerschrockenheit ich schwören konnte. Freilich das Richtige zu solch einer Expedition war es noch lange nicht. Da kann für Australien nur der im Busch aufgewachsene Squatter in Betracht kommen, jeder Begleitmann muss ein solcher sein.

Als Handbewaffnung führten wir außer Revolvern auf sechzehn Schuss repetierende Winchesterbüchsen, eigenes Fabrikat; wir waren sämtlich aufs Beste beritten; als vierbeinige Wächter begleiteten uns drei große Doggen und schließlich kamen noch sechs hochbepackte Kamele hinzu, die meine sechs Leute innerhalb zwei Tagen unter meiner Aufsicht auf- und abzuladen und vom Pferd aus zu führen gelernt hatten.

Also eine sehr ansehnliche Karawane! Wir brauchten uns vor keinem Überfall durch hundert Eingeborene zu fürchten und wir konnten reichlich vier Monate auch ohne Jagdbeute aushalten.

Wenn ich jetzt, da ich dies schreibe, lächle, so geschieht dies nur, weil mich nun die Erfahrung gelehrt hat, was für einen Ballast von unnützen Sachen wir damals mitschleppten, während wir trotz aller Umsicht des alten Snyder noch viel Brauchbares vergessen hatten.

Mr. Cunning hatte uns verschwenderisch proviantiert; konservierte Gemüse und Fleischspeisen, Hummer und Lachs, Kakao und Schokolade, den besten Tee, sogar eine Kiste Champagner musste ein Kamel schleppen, zur Feier des Tages bestimmt, an dem wir die Nihilitquelle erreichen würden. Zu der Belastung von achthundert Pfund eines jeden Kamels – tausend Pfund ist die von der Regierung vorgeschriebene Grenze – kam zuletzt noch für alle Fälle ein zusammenklappbares, also auf dem Rücken tragbares Elektrik-Rad. Mr. Cunning hatte durch Leonards Leistung nicht nur von seinem Fabrikat, sondern überhaupt von dem Fahrrad eine sehr hohe Meinung bekommen, und ich auch. Der sehr gut beritten gewesene und seiner Expedition voraus-, also sehr schnell reisende Stuart hat zu seiner denkwürdigen Durchquerung des Kontinents vier Monate gebraucht, was ihm bisher noch keiner nachgemacht hat – bis auf Charles Leonard, der ziemlich dieselbe Tour auf dem Rad in noch nicht einmal der halben Zeit fertigbrachte. Und die Mitnahme der Maschine ist nicht umsonst gewesen. Wenn ich heute noch lebe, so verdanke ich das nur meinem Rad.

Ein Wort noch über Charles Leonard! Der kümmerte sich um nichts, sah nicht einmal den Vorbereitungen zu. Er rauchte in einem Café Zigaretten. Ich fragte ihn, ob er ungefähr bestimmen könnte, wo er abgebogen sei. Ja, zwei oder drei oder auch vier Tagereisen hinter der Mac Donall-Station, vierzig bis hundertzwanzig Meilen dahinter. Ja, er hatte doch in eine Telegrafenstange geschnitzelt, die müssten wir suchen, wir würden sie schon finden.

Ich wusste nicht, ob dieser Mensch so dumm war oder ob er sich nur so stellte.

Dann musste Leonard dabeisein, als Mr. Cunning einen seiner Pläne entwickelte. Wenn wir an den Ort gelangten, wo das Nihilit hergestellt wurde, oder auch nur mit einem der Menschen in Berührung kämen, von denen das Nihilit stammte, überhaupt wenn wir irgendetwas Sicheres über den Ursprung des Nihilits wüssten, sollte Leonard, der sich als schneller Dauerfahrer erwiesen und schon gezeigt hatte, dass er den Weg auch durch pfadlose Einöden fand, mit einem schriftlichen Bericht von mir per Rad zurückeilen, und in diesem schriftlichen Bericht sollte ich alles nennen, was wir brauchten, um zum Ziel zu kommen, sodass gleich eine zweite Expedition nachgesandt werden könne.

Die Antwort des höflichen Franzosen war:

„Fällt mir ja gar nicht ein! Ich gehe doch nur mit, um die großen Burschen auch lebendig näher kennenzulernen, ich will einen fangen und mitbringen, ich schere mich den Teufel um Ihr Nihilit.“

Da stellte Mr. Cunning an mich die Forderung, ich solle der Betreffende sein, welcher sofort und schnellstens die Botschaft eines Erfolges brächte, ich sei doch auch solch ein Dauerfahrer. Das ging mir, dem verantwortlichen Führer der Expedition, der sie einzig und allein auch ohne Telegrafenleitung einem bestimmten Ziel zuführen konnte, ohne den die Leute wie die Schiffe auf dem Meer ohne Kompass und Sextant waren, denn doch über die Hutschnur! Aber ich war nicht unentbehrlich wie Charles Leonard, ich musste vorsichtig sein.

„Mr. Cunning“, erwiderte ich eindringlich, „seien Sie versichert, ich brenne vor Begierde, mit jenen Leuten in Berührung zu kommen und ihnen ihr Geheimnis abzulauschen, dass ich Ihnen so bald wie möglich die Lösung des Rätsels bringen kann. Aber dazu muss ich freie Hand haben, ich selbst muss bestimmen können, was zu tun und zu lassen ist.“

Der steife Geschäftsmann sah mir meinen ernsten Eifer an und er war zufrieden.

Ich erhielt noch viele scharfe Instruktionen und immer mehr empörte mich die krasse Engherzigkeit dieses Mannes, der gar keine Ahnung von dem Land hatte, in dessen Inneres er mich schickte. Dass er selbst in diesem Land geboren war, hatte gar nichts zu sagen. In England wird bekanntlich starke Schafzucht getrieben – der Ruin des Ackerbaus – und eine Rundfrage hat ergeben, dass von den Londoner Schulkindern 96 Prozent noch gar kein lebendiges Schaf gesehen haben.

Oder der Konkurrenzneid, die Furcht vor der Konkurrenz, machte den Mann halb wahnsinnig.

Nicht einmal an einen taubstummen Neger im Innern Australiens sollte ich eine Frage stellen, die einen metallenen Klang hätte; der Kerl könnte gleich ahnen, dass die Firma Cunning & Kompanie in Adelaide auf den alleinigen Besitz des Nihilitgeheimnisses spekuliere – das heißt, ich übertreibe – aber ungefähr war es doch so.

Der Klügste gibt nach. Ich sagte immer „Ja“ und dachte dabei, dass ich alles nach eigenem Ermessen tun würde, was mich am schnellsten zum Ziel führte.

Drittes Kapitel

 

Am letzten Abend, den wir in Adelaide verbrachten, gab Mr. Cunning ein großes Fest. Es schadete nichts, wenn meine Leute einmal im Champagner schwelgten, wir hatten am nächsten Morgen erst noch sechzehn Stunden Eisenbahnfahrt zu machen.

Für mich aber brachte dieser Abend noch ein Erlebnis, das mich erst sehr ernüchterte und dann auch ohne Champagner trunken machte.

Das Fest fand in dem Hotel statt, in dem Monsieur Leonard logierte.

Die Arbeiter saßen an der Tafel, die Herrschaften nahmen ihre Plätze ein, Leonard fehlte noch. Ein Diener wurde hinaufgeschickt.

Monsieur Leonard sei im Lesezimmer und ließe sagen, dass er nicht käme.

Man kannte den merkwürdigen Kauz schon zur Genüge.

Nach einer Stunde hielt es mich doch nicht, ich musste ihn aufsuchen, fand ihn noch im Lesezimmer hinter einer Zeitung. Er zündete sich gerade eine Zigarette an. Ehe ich ihn erreichte, war ein Diener auf ihn zugetreten.

„Mein Herr, das Rauchen ist hier nicht erlaubt“, sagte er höflich.

Langsam wandte ihm der patent gekleidete junge Franzose das Gesicht zu.

„Warum ist das Rauchen hier nicht erlaubt?“

„Weil – weil es die anderen Gäste belästigt.“

„Warum belästigt es die anderen Gäste?“

Nun sage man nicht mehr, dass wir Engländer phlegmatisch, arrogant und spleenig seien und die Franzosen lebhaft, höflich und leicht auffassend!

„Weil –weil das Rauchen hier nicht erlaubt ist.“

„Warum ist das Rauchen hier nicht... Mr. Schwarz, wünschen Sie mich? Bitte!“

Gott weiß, wie lange dieses geistvolle Zwiegespräch noch gedauert hätte, wenn ich nicht dazugekommen wäre.

Er stand auf, und rauchend schritt er trotz der höflichen Worte bei meinem Anblick stracks der Tür zu, als hielte er es für selbstverständlich, dass ich, wenn ich etwas von ihm wolle, ihm wie ein Pudel folge. Es war dies wieder eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit, eine Flegelei! Aber mit derselben Rücksichtslosigkeit, die an Flegelei grenzte – gegen sich selbst – hatte er in siebenundfünfzig Tagen Australien durchquert.

Und ich trottete denn auch wie ein Pudel neben ihm her.

„Mr. Leonard, weshalb entziehen Sie sich dem Abschiedsfest?“, begann ich auf dem Korridor.

„Ich will mich nicht langweilen lassen – es ist nichts für mich, glauben Sie mir. Das Beste ist im Leben der Schlaf und ich will schlafen gehen.“

Er stieß eine nur angelehnte Zimmertür auf, das Schlafgemach war elektrisch erleuchtet, er ging hinein.

„Bitte, treten Sie ein! Leisten Sie mir noch etwas Gesellschaft. Glauben Sie, dass unsere Expedition von Erfolg begleitet sein wird, dass wir ein unbekanntes Volk finden werden, das sich selbständig entwickelt hat, nach unseren Begriffen sich noch in mittelalterlichen Zuständen befindet, nur dass es ein uns fremdes Metall kennt?“

Endlich wurde er einmal mitteilsam! Ich sprach meine Ansicht aus. Sie war dieselbe, wie Leonard angedeutet hatte. An einen einzelnen Mann, der sich eine Rüstung geschmiedet hatte, konnte man nicht glauben, man musste mit den Nachkommen einer europäischen Kolonistenfamilie rechnen, die sich bis tief ins Innere Australiens verirrt hatte. Freilich alles so wunderbar, dass der gesunde Menschenverstand es kaum fasste.

Leonard hatte sofort die Zigarette auf den Aschenbecher gelegt, dafür eine Meerschaumpfeife vom Tisch genommen, stopfte sie aus einem Tabaksbeutel, brannte sie an und begann sich ohne Weiteres vor meinen Augen zu entkleiden, um ins Bett zu gehen.

Ich weiß nicht, während ich sprach, hatte ich immer das dunkle Bewusstsein, dass es mit diesem Franzosen und mit allem, was er tat und sagte, nicht seine Richtigkeit haben könnte, und gerade deshalb sprach ich immer weiter.

Der unverfrorene Franzose in Unterkleidern hatte schon den einen Fuß ins Bett gesetzt, als die Tür aufging und ein bärtiger Gentleman eintrat.

Ich kannte ihn, Colonel Atkin aus New York, der sich schon seit einiger Zeit in Adelaide aufhielt, ein brüsker, roher Patron, ein New Yorker Rowdy, dem es drüben wegen einiger Duelle zu heiß geworden war. Auch hier war er schon mehrmals mit der Polizei in Konflikt gekommen, hatte Kutscher und Kellner und andere geprügelt und ihnen Gegenstände an den Kopf geworfen. Auch hier hatte er bereits ein Säbelduell zu provozieren gesucht, nach englischem Gesetz Mordversuch, von welcher Anklage ihn nur ein redegewandter Advokat freibekam, der aus Schwarz Weiß und aus einem Teufel einen Engel machen konnte.

Der Mann stand wie erstarrt an der Tür, dann blickte er sich langsam im Zimmer um, erstarrte wieder, stierte nach dem Franzosen, der jetzt, immer qualmend, den zweiten Fuß ins Bett zog.

„Was wünschen Sie, mein Herr?“

„Das – ist – doch – mein Zimmer?“

„Das ist mein Zimmer!“

Noch einmal der wandernde Blick durch den Raum, auf die vielen Koffer und Colonel Atkin fuhr wütend auf.

„Das ist mein Zimmer!“, brüllte er. „Herr, Sie rauchen aus meiner Pfeife!“

Bedächtig nahm der im Bett sitzende Franzose die Pfeife aus dem Mund, bedächtig betrachtete er sie von allen Seiten, bedächtig blickte auch er sich im Zimmer um, bedächtig stand er wieder auf, legte die Pfeife weg und griff nach seinen Kleidungstücken.

„Wahrhaftig, sie haben Recht! Das ist gar nicht mein Zimmer. Ich bitte um Verzeihung. Was dem Menschen doch nicht alles passieren kann!“

Ich glaube, ich habe damals einen Anfall von Katalepsie[3] gehabt. Wie gelähmt saß ich auf meinem Stuhl, konnte weder ein Glied bewegen, noch sprechen, noch denken, aber ich war hellsehend geworden, ich blickte gegen die Wand und konnte doch ganz deutlich die beiden sehen, den jungen Franzosen mit dem unschuldigen Gesicht, wie er sich gemächlich ankleidete, den bärtigen Yankee mit vor Wut verzerrten Zügen, wie er zitternd mit geballten Händen an der Tür stand, wie ein zum Sprung fertiges Raubtier, aber doch keinen Schritt vorwärts tuend.

Leonard war angekleidet, er schritt der Tür zu und im Vorbeigehen klopfte er auch noch dem Yankee freundlich auf die Schulter.

„Entschuldigen Sie, lieber Herr, irren ist menschlich“, sagte er dabei und der amerikanische Rowdy zitterte nur vor Wut.

Halb betäubt war ich ihm gefolgt und sah mich in einem anderen Zimmer.

„Dieses Zimmer ist wirklich mein Zimmer“, wandte er sich an mich. „Verzeihen auch Sie mir den Scherz. Natürlich war es kein Irrtum von mir, so zerstreut bin ich nicht. Ich wollte diesen amerikanischen Eisenfresser nur einmal düpieren.“

Langsam kam ich zu mir, wenn ich auch noch nicht ganz wusste, ob ich wirklich wachte oder nur träumte. Das war denn doch mehr, als was in ein normales Gehirn geht.

„Mr. Atkin wird Sie fordern“, brachte ich nur hervor, weil dies mein nächster Gedanke war.

„Nein, das wird er nicht, ich habe ihn düpiert. Das lässt sich nicht nur mit narren oder veralbern übersetzen. Ich bin professioneller Raubtierbändiger. Ich habe in Bangkok einen Amokläufer düpiert. Wissen Sie, was das bedeutet, wenn die Glocken heulen, dass alles in die Häuser flüchten soll? Ein von der Tollwut befallener Malaie rennt durch die Straßen, Schaum vor dem Mund, mit dem Kris[4] alles Lebendige niederstechend! In einer Minute liegen hundert Leichen auf der Straße, bis ihn eine Kugel niederwirft oder er sich den Kopf an einer Mauer zerschellt hat. Ich bin ihm ruhig entgegengetreten und er fiel wie vom Schlag getroffen vor mir zu Boden, kroch dann winselnd vor meinen Füßen – ich hatte ihn düpiert. – Wissen Sie, Monsieur Schwarz, das Düpieren ist mein Lebensberuf. Ich studiere die Physiognomie und das Benehmen des Menschen, wenn ihm etwas passiert, was er sich nicht hat träumen lassen, was über seine Begriffe geht. Vorhin studierte ich den Yankee, jetzt studiere ich Sie.“

Da plötzlich erfasste mich etwas wie eine furchtbare Verzweiflung; ein Verdacht, den ich schon immer als unbegründet energisch zurückgedrängt hatte, brach endlich mit voller Macht hervor.

„Sie düpieren auch uns“, rief ich leidenschaftlich, „Sie düpieren auch Mr. Cunning, mich, Sie wollen die ganze Welt düpieren! Es ist gar nichts wahr von alledem, was Sie uns erzählt haben! Der gepanzerte Riese in Zentral-Australien ist ein von Ihnen erfundenes Märchen, Sie belustigen sich über unseren kindlichen Glauben!“

Ruhig griff Leonard in die Brusttasche, zog ein Metalletui hervor und entnahm diesem den kleinen Nihilitdolch.

„Dies ist meine Antwort!“

Ich war dadurch noch nicht beruhigt, auch ich wusste eine Antwort.

„Ja, das ist ein Rätsel für uns – aber Sie sind in Indien gewesen, jetzt weiß ich es – die Inder haben Geheimnisse und Handfertigkeiten, die wir mit all unserer Technik noch nicht nachmachen können – ihre Farben, ihre wunderbaren Gewebe – und Sie sind in den Besitz zweier indischer Dolche gekommen, deren Metall und Herstellung uns heute noch ein Rätsel ist, Sie hatten sie schon bei der Abreise bei sich – – – und nun spinnen Sie ein ganzes Märchen daraus, Sie düpieren uns!“

Leonard steckte den Dolch wieder zu sich.

„Glauben Sie, was Sie belieben“, entgegnete er. „Nur versichere ich Ihnen, dass die Expedition auch ohne Sie morgen abgehen wird. Ich verstehe ebenfalls mit dem Sextanten umzugehen, überlasse nur diese dumme Rechnerei lieber einem anderen. – Nein, Mr. Schwarz“, fuhr er etwas schneller fort, als ich mich der Tür zuwenden wollte, „verlassen Sie mich nicht beleidigt, ich wollte Sie nicht kränken. Meine Erzählung ist faktisch kein Märchen, jedes Wort ist Tatsache. Glauben Sie mir nun?“

„Auf Ehre?“

„Bah, Ehre!“, erklang es verächtlich. „Überzeugung! Denken Sie, ich würde denselben Weg noch einmal machen, wenn es mich nicht selbst reizte, jene merkwürdigen Menschen kennenzulernen, von denen ich nur einen Toten sah? Passen Sie auf: Für das Nihilit habe ich kein Interesse, ich lebe von der Hand in den Mund, ich verbrauche zu meinem Unterhalt sehr viel. Was Mr. Cunning mir versprochen hat, wenn wir das Geheimnis mitbringen, ist für mich die Taube auf dem Dach, denn ich habe sicheren Verdienst – oder ich gehe direkt in den Tod. Warum also soll ich da nochmal die strapaziöse Tour unternehmen, wenn mich nicht ein lebendes Geheimnis reizt, dem auf die Spur zu kommen mir damals bei meinen unvollkommenen Mitteln unmöglich war? Verstehen Sie diese Logik?“

Nein, ganz und gar nicht! Das war für mich keine Logik, sondern die pure Faselei. Aber ich sagte nur, dass ich ihn nicht verstände.

„Weil Sie mich nicht kennen. Vielleicht werden Sie mich bei längerem Zusammensein noch kennenlernen und dann werden Sie mich begreifen. – Wissen Sie, was der sogenannte Astralleib ist?“

Jetzt brach der Wahnsinn bei ihm völlig durch und dabei begann er sich schon wieder zu entkleiden. Einem Irrsinnigen muss man immer nachgeben.

„Der Doppelgänger!“

„Ja, ungefähr. Das zweite Ich, die mit einer ätherischen Hülle umgebene Seele, welche aus dem Körper heraustritt und...“

„Sie haben einen Doppelgänger?“, fragte ich in möglichst bedauerndem Ton.

„Ich? Unsinn! Um dieses Phänomen, wenn es nicht von Natur eine krankhafte Veranlagung ist, künstlich hervorzurufen, muss man jahrelang nach seiner Nasenspitze schielen und immer vor sich hin sagen: om – om – om – om – om – om...“

Er saß bereits im Hemd, wie ein Türke mit gekreuzten Beinen, im Bett, schielte nach seiner Nasenspitze und sagte immer: „...om – om – om...“