DIE RÄTSEL VON

GARDEN HALL

 

ROMAN

 

 

VON

ROBERT KRAFT

 

 

 

 

 

 

 

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 1996 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1653-3

 

 

EDITION USTAD

 

im

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL


Der vorliegende Roman spielt um 1900.

1. Kapitel

 

Zwei Meilen südlich vom Weichbild Londons entfernt liegt das Städtchen Norwood, zur Grafschaft Kent gehörend.

An einem sonnigen Sommermorgen verließ ein Gentleman den Zug, der ihn hierhergebracht hatte. Vor dem Stationsgebäude fragte er einen Dienstmann nach Garden Hall.

„Immer die Straße entlang, Sir, dann die Chaussee hinaus, bis Sie an die Millionenmauer kommen. Das ist Garden Hall, die Residenz von Lord Roger Norwood. Können es gar nicht verfehlen. Eine kleine halbe Stunde.“

Der noch junge Mann, dem, wenn wohl auch etwas spät, der erste Bart sprosste, dankte und schlug die bezeichnete Richtung ein.

Er hatte bei seiner ausführlichen Frage ein tadelloses Englisch gesprochen, niemand hätte den Fremden herausgehört, aber gleich in seinem Äußeren verriet er durch zweierlei, dass er kein Einheimischer und auch noch nicht lange in England sein konnte. Die vielen Schmisse im Gesicht hatte er sich sicher nur auf deutschen Universitäten geholt, und außerdem trug er seine Manschetten nicht flach, sondern immer noch als Rollen geknöpft.

Bald hatte er das Städtchen hinter sich, es ging weit zwischen duftenden Hopfenfeldern die Landstraße entlang, etwas bergauf, und als er die Höhe erreicht hatte, sah er sein Ziel vor sich liegen: Garden Hall, die Residenz des Lords Roger von Norwood.

Aber unter Residenz versteht der Engländer etwas ganz anderes als wir, er verallgemeinert die Bedeutung dieses Wortes viel mehr. Jeder Engländer, der es sich leisten kann, besonders auch der reiche Kaufmann, der am Tage in der Stadt, in der City, beschäftigt ist, hat seine Residenz. Es ist dies einfach ein außerhalb der Stadt liegender Wohnsitz, ein Gut, ein Schloss oder eine Villa, oder es braucht auch nur ein bescheidenes Landhaus zu sein. Hauptsache ist, die man von einer Residenz verlangt, dass sie bis auf Lebensmittel, Kleidung und dergleichen, was man sich nicht selbst erzeugen kann, unabhängig von der Außenwelt sein muss. Also vor allen Dingen ein eigener Hausarzt und, wenn schulpflichtige Kinder vorhanden sind, ein Hauslehrer. Streng konservative Söhne Old Englands verlangen für eine Residenz, ehe ein Landsitz diesen Namen verdient, unbedingt auch noch eine eigene Kapelle mit eigenem Kaplan. Das kann dann natürlich noch weiter getrieben werden bis zum eigenen Theater mit eigener Schauspielertruppe. Das ist dann freilich etwas ganz Exklusives.

Eine große Residenz war das ja, die vor dem Wanderer lag, aber schön durchaus nicht. In der Mitte eines mauerumringten Parks, zwischen den eintönigen Feldern einer waldigen Oase gleichend, erhob sich ein langgestrecktes, vier- oder gar fünfstöckiges Gebäude, ohne jede architektonische Schönheit, nichts als ein riesiger Steinkasten, eine Kaserne, und der danebenstehende Schornstein passte ebenfalls nicht für die Residenz eines Lords, wenn er auch nur zur Heizung des Gewächshauses oder aller Wohnräume dienen mochte.

Der Park allerdings mit seinen uralten Bäumen, schon von hier aus zu erkennen, musste prächtig sein. Und das Ganze nun umgeben von einer sechs Meter hohen Mauer, der das Volk ihren Namen – Millionenmauer – wohl nicht mit Unrecht gegeben hatte. Wenn sie auch nicht eine Million Pfund Sterling gekostet haben mochte – deutsche Reichsmark langten da nicht, vielleicht noch nicht einmal Taler. Ihre vier Seiten waren zusammen mindestens zwei Kilometer lang. Von Osten her schlängelte sich ein ansehnlicher Bach heran, verschwand unter der Mauer, durchfloss das ganze Grundstück und kam auf der anderen Seite wieder zum Vorschein.

Der Wanderer hatte bei dieser Betrachtung seinen Schritt nicht gehemmt. Da sah er vor sich etwas Weißes liegen, eine Zeitung, die heutige Nummer der ‚Times‘, ein vollständiges Exemplar. Ein Citymensch mochte sie auf dem Weg zur Station verloren haben.

Der junge Mann hatte sie aufgehoben, faltete sie auseinander.

„Will doch sehen, ob... Ja, da steht es schon.“

Es war ein Annonce unter den Stellengesuchen. Sie lautete:

 

„Doktor med., 25, approbiert, vier Jahre deutsche Universitäten, zwei Jahre Praxis, perfekt Deutsch, Englisch, Französisch, Latein, Griechisch, Mathematik, Reiten, Fechten, Schwimmen, Fußball, Lawn-Tennis[1], Kricket, Krocket, Billard, alle Tänze, Schach, Whist, Poker, Gesang, Klavier, Violine, Cello, sucht bei ganz bescheidenen Ansprüchen Stellung als Arzt und Lehrer für Residenz. Offerten erbittet Dr. Max Werner, 18 Fitzroy Square, London.“

 

So, nun weiß man, was ein Residenzarzt und Lehrer alles können muss. Denn wenn so ein Residenzler nicht gerade einen sehr dicken Geldbeutel hat, sucht er diese beiden Ämter mit Vorliebe in einer einzigen Person zu verbinden. Ein approbierter Arzt, der auch als Zahnkünstler ausgebildet ist – Hühneraugenschneiden selbstverständlich – der nebenbei den jüngeren Kindern das Einmaleins einbläut, die größeren aufs Gymnasium vorbereitet, dazwischen Pferde zureitet, Gesellschaften arrangiert, neue Gartenspiele erfindet, die sitzengebliebenen Damen herumschwenkt, die erwachsene Tochter zur Konzertsängerin ausbildet, sonntags eine Boxstunde mit dem Hausherrn – wenn er diesem keine blauen Augen gibt, dann bekommt er sie selber – – so ein Mädchen für alles in der verwegensten Bedeutung dieses Wortes.

Aber die Zeiten, wie Charles Dickens sie schildert, als der Hauslehrer ein Dienstbote war, der noch unter dem Hausknecht stand, sind in England vorbei. Heute will man für solch eine Residenz einen hochgebildeten, ritterlichen Kavalier haben, Meister in allen Künsten, und danach behandelt man ihn auch. Es sind durchweg sehr angenehme Stellungen. (Nur muss man beim Boxen aufpassen, dass man der ist, der dem anderen blaue Augen gibt). Sie enden fast immer mit einer guten Heirat, nicht gerade in der Familie selbst, sondern so ein Maître de plaisir[2] hat dann die Auswahl.

„Wenn ich geahnt hätte, dass gleich eine Offerte kam, so hätte ich mein Geld für ein dreimaliges Einrücken sparen können.“ So sprechend, hatte Doktor Max Werner, als den wir ihn nun kennengelernt haben, die Zeitung wieder zusammengefaltet und sie zwischen Zweig und Stamm eines Apfelbaums geklemmt.

Vorgestern war er erst in London eingetroffen, gestern hatte sein Gesuch in der ‚Times‘ gestanden, heute früh hatte er einen Brief erhalten, dass er sich in Garden Hall vorstellen solle. Es war ihm fast zu schnell gekommen. So dringlich war es bei ihm nicht und er hatte sich erst London etwas besehen wollen, bei Tag wie bei Nacht. Sonst hätte er solch ein Gesuch ja auch von Deutschland aus einrücken lassen können.

Doch da es ihm nun so geglückt war, hatte er sich auch gleich in die Bahn gesetzt. Allerdings waren ihm unterwegs immer wieder Bedenken aufgetaucht. Sollten die Hauslehrer hier wirklich so selten sein, dass man auf ein Gesuch gleich postwendend Bescheid bekam? In der ‚Times‘, der Zeitung der Geburts- und Geldaristokratie, stehen alltäglich eine ganze Masse solcher Offerten von Ärzten und Lehrern, die ihre Vorzüge noch in ganz anderer Weise anpreisen, sich vor allen Dingen auch stets auf glänzende Zeugnisse berufen, die Doktor Werner nicht anführen konnte. Und nun bloß eine einzige Offerte! Und noch dazu von einem Lord! Sollte der so nötig haben, den Hausarzt mit einem Hauslehrer zu verbinden? Die Sache musste doch irgendeinen Haken haben.

Er hatte den englischen Wirt, bei dem er in Privatlogis wohnte, über den Lord Roger von Norwood befragt.

Jawohl, gehört hatte dieser schon von ihm. Nur ein Titularlord, ohne Sitz im Parlament, hatte auch gar nichts mehr mit der Stadt Norwood zu tun, die gehörte jetzt zur Grafschaft Kent. Also ein Fürst ohne Land und Leute – aber nicht ohne Geld! Es sollte ein sehr reicher Mann sein. In die Familie hatte wohl einmal so ein amerikanischer Goldfisch hineingeheiratet.

Mehr hatte der Wirt nicht erzählen können. Und mehr sollte Doktor Werner auch nicht erfahren. Die Gelegenheit, dass er noch andere Personen hätte fragen können, war in der kurzen Zeit nicht gekommen. Damit muss man in England sehr vorsichtig sein. Nun, er würde ja sehen. Er hatte sich noch durch nichts gebunden.

 

 

 

2. Kapitel

 

Ein kurzer Seitenweg führte von der Landstraße ab auf das geschlossene Tor zu, an dem statt einer Glocke ein mächtiger Klopfer angebracht war.

Werner ließ ihn fallen; alsbald öffnete sich in Kopfhöhe eine Klappe, das Gesicht eines alten Mannes erschien.

„Was wünschen Sie?“

„Doktor Max Werner ist mein Name. Ich wurde brieflich...“

„Ach, der neue Hauslehrer! Haben Sie den Brief Seiner Lordschaft mit?“

„Ich weiß nicht, ob ich ihn...“

„Den müssen Sie vorzeigen, sonst kommen Sie nicht herein!“

„Hier ist er.“

Der junge, selbständige Mann schien nur eine kleine Prüfung gemacht zu haben. Er hatte aus der Brusttasche bereits ein Kuvert gezogen und diesem einen Zettel entnommen, keinen eigentlichen Brief, und der Zettel enthielt nur drei Zeilen, mit der Schreibmaschine geschrieben:

„Stellen Sie sich sofort vor. Dies als Legitimation mitbringen. Lord Roger Norwood, Garden Hall bei Norwood, Kent.“

Auch die Unterschrift mit der Maschine geschrieben. Überhaupt war schon diese ganze Aufforderung dem jungen deutschen Doktor stark in die Nase gefahren. Doch schließlich – eben englisch! Und die Art, wie hier dieser Türhüter ihn ansprach und behandelte, konnte ihn nun auch nicht mehr verdrießen. Aber antreten würde er diese Stelle wohl schwerlich. Er hatte nur noch vor, diesen englischen Herrschaften einmal klarzumachen, wie man einen anständigen Menschen, ob nun Doktor oder nicht, zu behandeln hat.

Der alte Mann hatte den Zettel genommen, setzte erst eine Brille auf.

„Richtig, da sind die zwei Pünktchen – kommen Sie herein!“

Das halbe Tor öffnete sich, aber auch nur bis zu einer kleinen Spalte, durch welche der Herr Doktor schlüpfen durfte.

Also zwei Pünktchen, wahrscheinlich Fehler der Schreibmaschine, das war die Hauptsache, die als Legitimation diente, dass der neue Hauslehrer diese nicht etwa selbst geschrieben hatte. Hier herrschten ja recht merkwürdige Zustände!

Rechts war das Wohnhäuschen des Portiers. Vor allen Dingen aber fiel dem Eintretenden beim ersten Blick auf, dass sowohl der breite Hauptweg, der schnurstracks nach der Kaserne führte, wie alle die vielen Nebenwege, die er einmünden sah, sämtlich sorgfältig asphaltiert waren, mit einer kleinen Neigung nach beiden Seiten, dass das Regenwasser abfließen konnte. Denn asphaltierte Garten- und Parkwege sind doch in Deutschland schon etwas Seltenes, und im Gegensatz dazu stand noch, dass dieser Park sonst einen recht verwilderten Eindruck machte.

Zu weiteren Beobachtungen hatte Werner vorläufig keine Zeit. Denn da kam auf einem Seitenweg eine junge Dame angestürmt. Man muss den Ausdruck ‚junge Dame‘ gebrauchen, nicht Mädchen, denn danach war sie gekleidet und gewachsen. Doch wir wollen nur mit den Augen unseres Helden betrachten, der nicht viel von den technischen Ausdrücken der edlen Schneiderkunst verstand: ein höchst nobles Sommerhausgartenkostüm, besetzt mit Spitzen und Bändchen und Fähnchen, dass alles nur so flatterte, dazu passend der riesige Strohhut, passend dazu auch die schlanke und dennoch voll entwickelte Gestalt. Sie mochte so zwischen siebzehn und zwanzig sein, und dann war sie, ihrer Figur nach, schon weit vorgeschritten.

Nicht aber ganz passen dazu wollte dieses liebreizende Kindergesicht – das war für diese Gestalt, die einer schon alle Stürme der Welt durchgemacht habenden Dame angehören konnte, noch etwas gar zu unschuldig – und noch weniger dazu passen wollte, wie sie sich vorstellte.

Sie war wirklich angerannt gekommen, richtig angeschossen, dabei mit beiden Fäusten das Kleid hochraffend, dass man noch die Spitzen ihrer Beinkleider trotz deren Kürze sah, und dann stand sie mit einem Ruck vor dem Bestürzten.

„Ach, da ist er ja!“, lachte sie im ganzen Gesicht. „Nicht wahr, du bist mein neuer Hauslehrer?“

Doktor Max Werner war sonst sicher nicht der Mann, der vor irgendeiner Dame die Fassung verlor. Aber das hier kam ihm gar zu unerwartet, wie eine Erscheinung aus dem Jenseits – er war vollkommen verblüfft.

Dazu kam nun auch noch diese Anrede per du. Denn sie hatte wirklich ‚thou‘ gesagt, welches der Engländer, der selbst die Tiere mit ‚you‘ anredet, sonst nie gebraucht. Nur gegen Gott, überhaupt in der Bibel, ferner in der Poesie, und dann reden auch einige religiöse Sekten, wie die der Quäker, alle Menschen mit dem richtigen du, mit ‚thou‘ an.

Aber diese pompöse Dame hier war doch sicher keine Quäkerin! Kurz, diese Anrede hätte auch jeden anderen Engländer gleich ganz außer Fassung gebracht, sie ist in England etwas gar zu Ungewöhnliches.

Nun kam noch der Ansturm hinzu, das ganze Gebaren – der sonst weltgewandte junge Mann brachte es nur zu einer linkischen Verbeugung, wobei er sogar auch noch errötete.

„Aber du bist doch nicht etwa schon verheiratet?“

Diese Frage, so wunderbar naiv vorgebracht, hatte nun gerade noch gefehlt!

„Nein – o nein!“, konnte Doktor Werner nur hervorbringen.

„Nicht?“, erklang es mit hervorbrechendem Jubel. „Na, dann ist’s ja gut, ich hatte schon Angst – denn du gefällst mir grade so.“

Doktor Werner wand sich unter seinen Verbeugungen wie ein Wurm, dabei wagte er nur einmal einen schüchternen Blick – nein, irrsinnig konnte diese junge Dame, die solch ein Engelsgesicht und solche strahlende Augen hatte, doch unmöglich sein.

„Du bist aus Deutschland?“, war die nächste Frage.

„Nein – o nein – das – gewiss doch – jawohl, ich bin ein Deutscher.“

Da ließ sie zum ersten Mal ihr Kleid fallen, richtete sich auf und faltete die Hände, um ernsthaft, in schülermäßigem Ton zu deklamieren:

„Deutschland ist ein Kaiserreich mit sechshundert Millionen Einwohnern, und seine Hauptstadt heißt Be – Be – Paris.“

„Es hat nur sechzig Millionen Einwohner“, wagte der zukünftige Hauslehrer zu korrigieren.

„Nicht sechshundert? Ach, das ist doch ganz egal. Hast du auch schon einen Bären erlegt?“

„Einen... nein, ach nein“, sank der zukünftige Hauslehrer wieder in sich zusammen, dem Ideenflug solch einer Schülerin nicht Stand halten könnend.

„Warum denn nicht?“

„Weil – weil – in Deutschland gibt es ja gar keine Bären mehr.“

„Oho! Da bist du wohl auch gar nicht in den Urwald gekommen?“

„Auch Urwälder gibt es in Deutschland nicht mehr.“

„Oho, oho! Ganz Deutschland ist mit Urwäldern bedeckt, in denen es von Bären und Auerochsen wimmelt.“

Aha, die war mit ihren deutschen Geschichtskenntnissen noch beim alten Tacitus stehengeblieben!

„Kannst du schwimmen?“, fuhr die zukünftige Schülerin in der Examinierung ihres neuen Hauslehrers fort.

„Ja, schwimmen kann ich.“

„Auch auf dem Rücken?“, erklang es misstrauisch weiter.

„Auch auf dem Rücken.“

„Ach“, brach es da in seligem Jubel hervor, „das musst du mich lehren! Weißt du, sonst kann ich schon alles – alles, was man in der Schule lernt – aber auf dem Rücken schwimmen kann ich noch nicht, da sinke ich immer unter wie ... Na, was hast du denn?“

Doktor Werner hatte erschrocken einen mächtigen Seitensprung gemacht. Denn er hatte nicht anders geglaubt, als er würde im nächsten Moment zermalmt unter einem Automobil liegen.

Aber es war nur ein Rollstuhl gewesen, der angesaust gekommen und mit einem Ruck dicht vor ihm stehengeblieben war, so ein Krankenstuhl mit Hebelarmen und Handgriffen zum Selbstfahren, und die darin sitzende Person, welche dies besorgte, war ein stattlicher Mann mit etwas orientalischen, edlen Gesichtszügen, das Haar an den Schläfen schon schneeweiß, aber sonst noch nicht so alt aussehend. Die breite Brust und besonders auch die muskulösen, aber feingepflegten Hände verrieten eine große Körperkraft, die er ja auch nötig hatte, um seinen Rollstuhl auf sonst gar nicht abschüssigem Weg dermaßen in Schuss zu bringen und ihn auch im Nu halten zu können. Seine Beine wurden vom Leib an von einer Lederdecke oder wohl von einem ganzen Kasten verhüllt.

„Onkel, Onkel, da ist er – und er ist unverheiratet und kann auch auf dem Rücken schwimmen!“, jauchzte die junge Dame.

„Das ist recht von ihm“, nickte der Onkel gravitätisch und dann unterzog er zunächst den vor ihm stehenden jungen Mann einer scharfen Musterung.

Doktor Werner richtete sich auf, er hatte seine Fassung wieder. Jetzt kam es darauf an! Denn sein Entschluss hatte sich ganz plötzlich geändert; hier wollte er zu gern als Hauslehrer antreten, auch wenn er hin und wieder einige englische Grobheiten einstecken musste. Jener jungen Dame mit dem liebreizenden Kindergesicht zuliebe. Das heißt, redete er sich jetzt vor, gewissermaßen nur der Wissenschaft wegen, um dieses merkwürdige Menschenkind, das einer anderen Welt anzugehören schien, näher zu studieren. Das war er ja geradezu der Wissenschaft schuldig.

„Sie sind...?“

„Doktor Max Werner.“

„Deutscher?“

„Ja.“

„Seit wann in England?“

„Seit vorgestern.“

„Erst?“

„Ja.“

„Wie kommt das? Was führt Sie hierher? Weshalb wollen Sie Hauslehrer werden?“

Offen schilderte der junge Mann seine Verhältnisse. Er war schon zwei Jahre praktischer Arzt gewesen, erst hatte er in einer großen Stadt eine neue Praxis angefangen, sich dann in einer kleinen Stadt die eines abtretenden Arztes gekauft, auch dabei war er nicht auf die Kosten gekommen, und ehe noch das kleine geerbte Vermögen verzehrt war, hatte ein väterlicher Freund, der lange Zeit in England gelebt hatte, ihm den Rat gegeben, nach England zu gehen und sich eine Stelle als Hausarzt zu suchen. Wenn es sein müsste, auch als Hauslehrer. Solche sprachbegabte, musikalisch veranlagte Ärzte, besonders wenn sie auch in allem Sport sattelfest seien, wären dort sehr gesucht. Schaden könnte es ihm jedenfalls nichts, wenn er sich einmal in der Welt umsähe. Doch viel besser, denn sich als solch ein kleiner Arzt herumwürgen. Dann sich in einer deutschen Stadt niederlassen, die eine englisch-amerikanische Kolonie besitzt, mit klingenden Empfehlungen ausgerüstet – das ist etwas anderes!

So erzählte Doktor Werner ganz offen. Nur verschwieg er, dass ihm der väterliche Freund das auch noch gesagt hatte:

„Vielleicht können Sie drüben als Hauslehrer auch eine reiche Partie machen. Ich bin zwar, wie Sie wissen, kein materieller Mensch, vielmehr ein sehr ideal veranlagter, aber – Weisheit ist gut mit einem Erbgut, sagt schon der Prediger Salomo.“

Die großen, feurigen Türkenaugen hatten durchdringend auf dem Erzählenden geruht.

„Und da sind Sie bald nach England gefahren?“

„Fast sofort. Nach drei Tagen. Habe meine gekaufte Praxis gleich im Stich gelassen, hätte ja doch nichts dafür bekommen.“

„Ihre Eltern?“

„Sind beide tot.“

„Geschwister?“

„Ich war das einzige Kind.“

„Sie sind unverheiratet? Ich will nur unverheiratete Leute um mich haben. Prinzip!“

„Ich bin unverheiratet.“

„Auch nicht verlobt? Ich bin ein Sonderling.“

Der Lord hielt also doch für nötig, diese seine Fragen zu entschuldigen. Nun, Doktor Werner konnte mit aufrichtigem Gewissen verneinen.

„Sie haben natürlich, ehe Sie sich hierherbegaben, über mich Erkundigungen eingezogen.“

„Nein, gar nicht.“

Der Rollstuhlmann fuhr etwas empor.

„Lügen Sie nicht! Sie werden nicht sofort hierhergefahren sein, ohne sich vorher zu erkundigen, bei wem Sie eventuell als Hauslehrer antreten sollen oder wollen!“

Auch der junge Deutsche hatte bei diesen Worten emporfahren wollen, schon hatte sich eine dunkle Blutwelle über sein Antlitz ergossen – doch schnell besann er sich, dass jener im Grunde genommen Recht hatte, und er hatte auch wirklich nicht ganz die Wahrheit gesagt, und in diesem Fall war er zu streng gegen sich selbst.

„Nun ja – ich habe heute früh meinen Wirt über den Lord Roger von Norwood gefragt. Aber es war so wenig, was ich erfuhr, dass ich im Augenblick gar nicht daran dachte.“

„Und was sagte Ihnen der Wirt?“

Werner teilte es in kurzen Worten mit.

„Nichts weiter?“

„Gar nichts weiter, auf Ehre!“

Wieder der durchbohrende Blick.

„Gut! Aber das wissen Sie doch, dass ich an den Rollstuhl gefesselt bin?“

„Nein. Ich wusste es nicht. Ich sehe es erst jetzt.“

„Sie wissen nicht, dass mir beide Füße amputiert worden sind?“

„Mylord!“

Einen Augenblick hatte der junge Mann Lust, hier einige deutsche Wahrheiten zu sagen und dann seiner Wege zu gehen. Aber die strahlenden Augen des Mädchens bannten ihn und dann sah er einen kranken Mann vor sich, der sich schon selbst einen Sonderling genannt hatte, und bei dem einen Mal blieb es nicht.

„Nun gut, ich glaube Ihnen. Und Sie gefallen mir. Ich möchte Sie engagieren. Als Lehrer meiner Nichte, hier der Lady Ruth. Oder mehr als Gesellschafter. Weibliche Gesellschaft dulde ich nicht. Ich habe meine Sonderbarkeiten. Nennen Sie es meinetwegen Schrullen. Und eine schrullenhafte Bedingung ist es, unter der ich Sie nur engagieren kann.“

Das war im Grunde genommen ebenso offen gesprochen – und außerdem befand sich der junge Arzt noch immer unter dem Bann der strahlenden Kinderaugen.

„Sie wird doch nicht unerfüllbar sein?“

„Wer sich in meinen Diensten befindet, darf dieses mein Grundstück mit keinem Schritt verlassen. Also Urlaub und dergleichen gibt es nicht. Wir leben hier wie in einem von aller Welt abgeschlossenen Kloster. Ich gebe keine Gesellschaften, empfange keinen Gast. Könnten Sie sich in solch eine Lebenslage finden?“

Weiter ist es nichts? So hätte Werner bald gerufen. Denn er dachte im Augenblick nur daran, dass es ja gar kein schöneres Los geben könne, als mit solch einem Wesen so in der Einsamkeit zu leben.

Er besann sich noch rechtzeitig, dass derartige Ausrufe unangebracht wären.

„Auf wie lange würden wir da den Kontrakt machen?“

„Auf ein Jahr.“

„Das wäre mir sehr recht, ich bin durchaus nicht so für Gesellschaft eingenommen...“

„Wenn Sie Geist genug haben, werden Sie sich schon zu beschäftigen wissen. Es gibt hier Zerstreuung genug. Unter anderem ist da eine alte, sehr seltene Bibliothek von 20.000 Bänden. Und welches Gehalt beanspruchen Sie?“

„Das möchte ich Mylord überlassen.“

„Sind Sie mit monatlich zehn Pfund...“

„Onkel, er kann doch auf dem Rücken schwimmen!“, mischte sich zum ersten Mal Lady Ruth ein, die aber noch kein Auge von ihrem zukünftigen Hauslehrer gewandt hatte.

„Fünfzehn Pfund im Monat?“, lenkte der gehorsame Onkel denn auch gleich ein.

„Ich bin damit einverstanden“, entgegnete Werner mit einer dankenden Verbeugung, und es war auch tatsächlich ein ansehnliches Honorar, das ihm geboten wurde.

„Also dann sind wir einig?“

„Gewiss, Mylord!“

„Einen schriftlichen Kontrakt mache ich nicht.“

„Ist auch nicht nötig, Mylord!“

„Um Urlaub brauchen Sie niemals erst zu bitten.“

„Ich wüsste tatsächlich nicht, aus welcher Ursache.“

„Und sobald Sie einen Fuß außerhalb meiner Residenz setzen, ist unser Kontrakt gelöst, Sie sind entlassen. Einverstanden?“

Noch einmal durchzuckte es den jungen Mann.

Was in aller Welt lag hier eigentlich vor? Waren das nur Schrullen? Dieser Lord mit den noch so feurigen, klugen Augen sah eigentlich gar nicht schrullenhaft aus.

Aber Doktor Werner wäre kein junger Mann gewesen, wenn ihn nicht allein schon ein gewittertes Geheimnis gereizt hätte.

„Ich bin mit allem einverstanden, Mylord.“

„Also abgemacht! Es freut mich. Alles Weitere wollen wir drin im Haus besprechen. Bitte, folgen Sie mir.“