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Für Carol

»Don’t think twice, it’s all right.

Não pense duas vezes, está tudo certo.«

Bob Dylan

Daniel Gäsche

Eingereist &
Abgetaucht

Illegal in
Deutschland

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2014

von rolleyes/photocase.com

Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet unter: www.militzke.de

Wir glauben nicht an eure Grenzen. Die gelten nicht für uns.

Euer Stacheldraht, eure Infrarotkameras, eure Stromstöße sind altmodisch. Wir kennen keinen Schmerz. Wir gründen keine Staaten. Staaten interessieren uns nicht. Wenn wir erwischt werden, wenn wir gehen müssen, kommen wir wieder. Passt auf. Wir sind viele (…).

Wir kommen aus Ländern, die es längst nicht mehr gibt. Es gibt uns. Es gibt uns jetzt. Wir sind die neuen Menschen. Und ihr. Ihr seid von gestern.1

Die Begriffe »Illegale«, »illegal« oder »in der Illegalität« in diesem Buch beziehen sich auf diejenigen Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung, ohne Duldung und ohne Kenntnis der Behörden in Deutschland aufhalten und sind daher hier ausdrücklich nur im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlicher Illegalität zu sehen. Keinesfalls sollen diese Menschen diskriminiert werden. In der öffentlichen Diskussion werden sie auch als »Papierlose« (in Frankreich »sans papiers«, in Italien »clandestini«), »heimliche Menschen« oder »Schattenmenschen« bezeichnet. Ansonsten spreche ich von »Menschen in der Illegalität«, »Betroffenen« und »Menschen ohne Papiere«. Die Namen und Herkunftsorte meiner »papierlosen« Gesprächspartner habe ich geändert.

1Björn Bicker: Illegal. Wir sind viele. Wir sind da., Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2009, S. 103 ff.

Inhalt

Vorwort

Einführung

I Maria aus Manaus – Die tägliche Angst

Illegal – was ist das überhaupt?

»Ein spannendes Projekt«

Versuch einer Begriffsklärung

Das Asylrecht in Deutschland – ein kurzer Überblick

Probleme mit der Ausländerbehörde

Asylanträge in der EU und in Deutschland

Abschiebungen

Illegal in Deutschland

Unwissenheit kann gefährlich sein

Politisches Statement: Bernd Krömer (CDU)

II Maria aus Manaus – Letzter Ausweg: Berlin

Die guten Seelen und die Verantwortungsträger

Kirchliche und kirchennahe Projekte

Eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft

Schutzraum für Zukunftsträume

Lobbyarbeit für die Schwächsten

Seelsorger – Ganz nah dran an den Problemen

Es kommt auf den Menschen in seiner Not an und nicht auf politisches Kalkül

Wo Frauen Frauen helfen

Ich denke oft an Hyvong

Gesundheit – ein wichtiges Gut

Ein Tag bei den Maltesern

Meine Sprechstunde bei Frau Dr. Franz

MediBüro – Das Ärzte-Netzwerk

Politisches Statement: Renate Künast (Bündnis 90/GRÜNE)

III Maria aus Manaus – Walk on the wild side

No Way Out – Station to Station

Eingesperrt in Köpenick

Adam aus Białystok

Politisches Statement: Hartfrid Wolff (FDP)

Lost in Eisenhüttenstadt

Singh aus Indien

Politisches Statement: Uwe-Karsten Heye (SPD)

Schicksale – Geflohen, eingeschleust, herumgestoßen

Wenn ich Deutscher wäre, würde man mir zuhören

Linette: Sie bat um Hilfe und bekam einen Haftbeschluss

Walid und die Absurditäten des europäischen Asylsystems

Wenn Menschen ihr Herz öffnen

Politisches Statement: Ulla Jelpke (DIE LINKE)

Wie Weihnachten und Ostern zusammen

Ricardo aus Rio

IV Maria aus Manaus – Auf dem Dirty Boulevard oder Die Angst vor dem Verrat

Wie raus aus dem Teufelskreis?

Illegal in Deutschland – kein Thema für die »GroKo«

Grundrechte für Menschen in der Illegalität

Aus illegal wird legal?

Ein Stückchen mehr Solidarität

Politisches Statement: Claudia Roth (Bündnis 90/Die Grünen)

V Maria aus Manaus – Endlich angekommen!?

Danksagung

Anhang

Abkürzungen

Interviewpartner

Organisationen, Beratungsstellen und Ansprechpartner

Wichtige Quellen

TV

Film

Fotonachweis

Vorwort

In Hamburg lässt der Innensenator die Polizei ausschwärmen, um »Menschen ohne Papiere« zu suchen, per Fingerabdruck zu erfassen und ihre Abschiebung vorzubereiten.

Das britische Innenministerium fordert per SMS Menschen in der Illegalität auf, dass die Zeit zur Ausreise gekommen sei.

Nach der Lampedusa-Tragödie spricht der damalige deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich von noch höheren Mauern, die Europa aufbauen sollte, und noch stärkeren Kontrollen, um den illegalen Zugang nach Europa weiter zu erschweren.

All das macht die Hilflosigkeit im Umgang mit Menschen deutlich, die aus vielerlei Gründen nach Europa und Deutschland flüchten und zu Hunderttausenden in einer Parallelwelt leben, weil sie rechtlich gesehen »unerlaubt eingereist« und »illegal aufhältig« sind.

Das geht uns ALLE an!

Wie sollten wir mit dieser Problematik umgehen? Wie viel ist unsere Solidargesellschaft bereit zu »tragen«, zu akzeptieren, wenn Menschen aus anderen Ländern in ihrer Not zu uns kommen?

Wie verhält es sich mit Menschen, die wir als Putzfrauen, Pflege- und Küchenkräfte oder als Babysitter beschäftigen, deren Status wir aber nicht hinterfragen? Die wir als Prostituierte benutzen und deren Schicksal uns kalt lässt? Die auf dem Bau in Schwarzarbeit für wenig Geld schuften und volkswirtschaftlich gesehen einen Schaden darstellen?

Unter uns leben Bürger vierter Klasse – in einer Parallelwelt verbringen sie teilweise sogar Jahrzehnte ohne Papiere und ständig in der Angst denunziert zu werden. Menschen, die auf teils abenteuerlichen und lebensgefährlichen Wegen zu uns gekommen sind, die oft tausende Euro für den Traum vom Überleben investiert haben.

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Würden wir in einer Situation wie der ihren nicht genauso handeln – auf der Suche nach Schutz, Arbeit und einem besseren Leben?

Welche Lösungsmöglichkeiten bietet eigentlich die Politik?

Macht sie es sich nicht zu einfach, einen Großteil der zupackenden Unterstützung kirchlichen Einrichtungen und Hilfsorganisationen zu überlassen?

Wie gehen wir mit »Illegalen« um? Weiter wie bisher?

Ich denke zum Beispiel an unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Ihre Zahl ist wieder stark angestiegen. In Deutschland stehen sie im Spannungsfeld zwischen Kinder- und Jugendhilferecht auf der einen und Asyl- und Aufenthaltsrecht auf der anderen Seite. Wir benötigen zunächst eine bessere Anerkennung kinderspezifischer Fluchtgründe – vor kriegerischer Gewalt, Ausbeutung, Missbrauch und Hunger. Formal besitzen junge Flüchtlinge zwar die gleichen Rechte wie einheimische Kinder, aber diese werden nur sehr unzureichend umgesetzt. Eine bessere Integration in das Bildungssystem und die Sprachförderung wären dringend notwendig.

Doch wollen wir diese Förderung eigentlich? Wollen wir, dass sie hier, in unserem reichen Land, bleiben und eine Chance bekommen? Und Papiere, die ihren Aufenthalt legalisieren?

Denn wer hier ohne Papiere ist, ist nur ein Wanderer zwischen den Welten. In der einen illegal, in der anderen verfolgt, geknechtet, abgeschoben. Ohne Ausweis und Aufenthaltserlaubnis gehört man nicht zu unserer Gesellschaft und wird verstoßen.

Sind Menschen in der Illegalität zu behandeln wie Kriminelle? Wie Mörder oder Diebe?

Nur, weil sie keine Papiere haben?

Daniel Gäsche hat »Illegale« begleitet und ihren alltäglichen Kampf mit der Angst miterlebt. Er war an Orten, wo sie Schutz und Hilfe suchen, und dort, wo der Weg für sie ein trauriges Ende findet. Er hat mit Politikern, Kirchenvertretern, Polizisten, Ärzten und vor allem immer wieder mit Menschen aus der Parallelwelt, mit Betroffenen, gesprochen.

Fakt ist: Jeder, der in der Illegalität leben muss, geht uns als Mensch verloren. Wir müssen Wege und Brücken bauen, um diesen Menschen einen Zugang zum legalen Leben zu ermöglichen. Sie zu kriminalisieren hilft überhaupt nicht.

Dieses Buch wird für Diskussionen sorgen und das ist gut so.

21. November 2013

Sabine Christiansen

Einführung

Die Würde des Menschen kennt keine Grenzen. Sie kümmert es nicht, ob jemand schwarz oder weiß ist, sie kümmert es nicht, ob jemand einen Pass hat. Für die Würde des Menschen ist es irrelevant, ob jemand legal oder illegal hier lebt.

Peter Krücker, Caritasverband für die Stadt Köln2

Bei einem Flüchtlingsdrama vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa bergen Rettungskräfte Anfang Oktober 2013 aus einem havarierten Schiff über 300 Leichen. Auf dem aus Afrika kommenden Schiff war ein Feuer ausgebrochen, an Bord befanden sich bis zu 500 Menschen.

300 namenlose Tote. Mit ihnen starben 300 Hoffnungen auf ein besseres Leben, 300 Träume von Arbeit und Hilfe auf dem europäischen Festland. Es war eine der schlimmsten Flüchtlingskatastrophen, die Europa erlebt hat. Eine europäische Tragödie.

Das Perverse daran: Einige italienische Fischer, die mit ihren Booten in der Nähe waren, verweigerten den Ertrinkenden jede Hilfe. Aus Angst. In den vergangenen Jahren waren einige ihrer Kollegen, die in solchen Situationen den in Not geratenen Menschen zu Hilfe geeilt waren, wegen Beihilfe zur illegalen Einreise angeklagt und verurteilt worden. Unglaublich, doch wahr: Es gibt eine Regelung, die vorsieht, dass sogar Retter als vermeintliche Schlepper vor Gericht gestellt und bestraft werden können. Das ist zynisch und menschenverachtend.

Lampedusa, die Insel zwischen Tunesien und Sizilien, liegt näher an Afrika als am italienischen Festland und wird häufig von Menschenschmugglern genutzt, um Flüchtlinge aus Afrika, zunehmend auch aus dem arabischen Raum, nach Europa zu bringen. Doch warum zahlen Menschen tausende, ja zehntausende von Dollar an Schlepper, um die Strapazen der Reise inklusive Todesgefahr auf sich zu nehmen?

Stimmt die gängige Behauptung, es würde sich hierbei vor allem um Wirtschaftsflüchtlinge handeln?

»Viele der Flüchtlinge kommen aus Syrien, dem Irak oder Iran. Sie fliehen vor Kriegen oder Diktaturen«, sagt Günter Burkhardt, Pro-Asyl-Geschäftsführer.3

Die Opfer der Mittelmeerkatastrophe waren keine Wirtschaftsflüchtlinge. Sie flohen überwiegend aus Eritrea oder Somalia, aus Ländern, in denen die Menschen zum Militärdienst gezwungen werden oder wegen eines geschwächten Staates ein Machtvakuum und willkürliche Verhältnisse herrschen.

Die Politik der Abschottung sei gescheitert, so Burkhardt weiter. Wer das Massensterben beenden wolle, müsse Flüchtlingen den legalen und gefahrenfreien Weg nach Europa eröffnen. Er plädiert unter anderem dafür, Menschen, die Angehörige oder einen anderen Anknüpfungspunkt in Deutschland hätten, die Einreise zu erleichtern. Auch der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte von Migranten, François Crépeau, rief die EU-Staaten auf, legale Einwanderung zu erleichtern. Die illegale Einwanderung könne nicht »ausschließlich mit repressiven Maßnahmen« bekämpft werden. Dadurch werde nur die Macht der Schleuser gestärkt.4 Vor allem müsse Europa »insgesamt mehr Verantwortung übernehmen«, so Pro-Asyl-Geschäftsführer Burkhardt. Bislang ist jeweils jener EU-Staat für die Flüchtlinge verantwortlich, in dem sie die EU-Grenze erstmals überschreiten.5 Das müsse geändert werden. EU-Parlamentspräsident Schulz verlangt angesichts der Lampedusa-Tragödie eine radikale Neuausrichtung der Asylpolitik. Einwanderer müssten legal einreisen können. Auch Deutschland trage große Verantwortung. Europa müsse endlich anerkennen, dass es ein Einwanderungskontinent sei. Deshalb bräuchten wir, so Schulz, ein legales Einwanderungssystem. Alle großen Einwanderungsregionen dieser Erde, wie die USA, Australien oder Kanada, hätten moderne Gesetze, die legale Zuwanderung regeln. Die illegale Einwanderung sei verbunden mit Hoffnungslosigkeit, die legale Einwanderung mit Hoffnung. Das würde die Menschen davon abhalten, sich unmoralischen Schleppern auszuliefern, die aus ihrer Hoffnungslosigkeit ein Geschäft machten.6

Zynisch und völlig deplatziert äußerte sich der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in dieser Situation. Er sprach sich gegen eine Lockerung der Einwanderungspolitik aus, plädierte für mehr Härte gegenüber wirtschaftlichen Migranten und kritisierte eine zunehmende Armutseinwanderung.7 In einem Moment, wo es darum ging, Mitmenschlichkeit zu zeigen, präsentierte er sich als »Hardliner«. Es entstand der Eindruck, nicht der Tod von Menschen sei eine Tragödie, sondern dass es Europa nicht gelingt, Einwanderung noch effektiver zu bekämpfen. Dass der Bundesinnenminister nicht gewillt war, sich an Lösungsvorschlägen zum Thema illegale Einwanderung und Leben in einer Parallelwelt zu beteiligen, ja nicht einmal per E-Mail einige Fragen zu beantworten, zeigt die kurze und knappe Antwort auf die von mir im August 2013 an ihn gestellte Interviewanfrage für dieses Buchprojekt:

»Wir bitten Sie (…) um Ihr Verständnis dafür, dass ein Gespräch auf absehbare Zeit (…) nicht möglich ist.« – Hendrik Lörges, Bundesministerium des Innern/Stab Leitungsbereich/Presse.

Und die Europäische Union? Auch die blieb nicht untätig und beschloss, die Mauern der »Festung Europa« gegen illegale Einwanderer noch etwas höher zu ziehen. Zusammen mit der EU-Grenzpolizei FRONTEX (Sitz der Agentur in Warschau) sollen Militärs der EU-Mitgliedsstaaten zukünftig Flüchtlinge aufspüren. Es wurde extra eine »Task Force Mittelmeer« eingerichtet. Ab Frühjahr 2014 sollen zwei Flugzeuge, zwei Helikopter und fünf Patrouillenschiffe eingesetzt werden.8

Dass die Aufrüstung der EU-Grenzüberwachung zu noch riskanteren Überfahrten und mehr Toten führen könnte, wird hier in Kauf genommen. Anfang Dezember 2013 ging schließlich auch noch das neue Grenzüberwachungssystem EUROSUR in zunächst 18 Mitgliedsstaaten in Betrieb, das Bilder und Daten von den Außengrenzen in Echtzeit ermittelt.9

In diese Stimmungslage passte auch der Auftrag des britischen Innenministeriums an ein privates Unternehmen Mitte Oktober: Um den Kampf gegen illegale Einwanderer zu verschärfen, verschickte es SMS an rund 39.000 Personen, die zur Ausreise aus Großbritannien aufgefordert wurden. Der Wortlaut: »Nachricht von der Grenzschutzbehörde. Sie sind aufgefordert, das Vereinigte Königreich zu verlassen, da Sie kein Recht haben, hier zu bleiben.«

Kleiner Schönheitsfehler: Auch Bürger mit britischem Pass wurden angeschrieben, darunter Mitglieder einer Anti-Rassismus-Initiative. In Zeiten der kompletten Datenspionage kann das schon mal passieren, oder?

Bereits im Juli 2013 hatte eine andere Aktion des britischen Innenministeriums für Aufregung gesorgt. Lieferwagen mit überdimensionierten Plakaten waren durch mehrere Londoner Viertel mit hohem Migrantenanteil gefahren. »Leben Sie illegal hier?«, war da zu lesen. »Gehen Sie nach Hause oder richten Sie sich auf eine Festnahme ein.«

Starker Tobak. Der liberalkonservativen Regierung von Premier Cameron ist offensichtlich jedes Mittel recht, den Alltag von Einwanderern zu erschweren. Ein Gesetzesentwurf sieht vor, private Vermieter und Banken in die Pflicht zu nehmen. Sie sollen künftig den Aufenthaltsstatus eines potenziellen Kunden prüfen, bevor sie ihm eine Wohnung vermieten oder ein Konto eröffnen. Reaktionen im Internet auf diese Maßnahmen gab es viele – die Meinungen waren sehr gespalten, wie beispielsweise die Diskussion in einem Forum deutlich macht10: Da wird geschrieben, dass Europa »ueberbevoelkert und unterbeschaeftigt« und es »vollkommen verantwortungslos« sei, Europa als Einwanderungsland zu propagieren, dass Mr. Cameron schon sehr »verzweifelt« sein müsse, wenn er zu »derart plumpen maßnahmen greift«, es sei »absolut in Ordnung«, dass auch »Vermieter und Banken im Kampf gegen illegale Einwanderer in die Pflicht genommen werden«, während ein anderer meinte, dass das, wofür man früher »die Schlägertruppen (in D die SS)« schickte, heute »die >feinen< Demokratien per SMS« machten, die Absichten und »kriminelle Energie« aber die gleichen seien. Im Gegensatz dazu wurde der britischen Regierung Respekt gezollt oder gefragt, warum wir in Deutschland das nicht auch machen würden. Andere zeigen sich schockiert über diese Diskussion, weil der europäische Wohlstand »billigen Rohstoffen aus der 3. Welt« zu verdanken wäre, hinzu käme der Verkauf unserer Konsumgüter zu Schleuderpreisen, während man »für die armen hungernden Kinder« spende – »solange die nur ja ein paar tausend Kilometer weit weg verhungern«.

Eine moderne, den neuen Medien angepasste Jagd auf »Illegale«, ausspionierte Datensätze und Telefonnummern, anhand derer distanziert, ohne persönlichen Kontakt, Kurzmitteilungen an »Papierlose« geschickt werden – das ist eine neue politische Dimension im Umgang mit Menschen in der Parallelwelt. Dass auch die deutsche Politik in der Flüchtlingsdebatte einen eher harten Kurs wählt, zeigen sowohl die deplatzierten Äußerungen des Ex-Bundesinnenministers, während zur gleichen Zeit Berge von Leichen aus dem Mittelmeer geborgen werden, als auch die Vorgehensweise von Lokalpolitikern wie in Hamburg, wo im Herbst 2013 Polizisten nach »Illegalen« suchen, die unter anderem in unbeheizten Containern am Stadtrand untergekommen sind. Auch hier lautet das Motto: Konfrontation statt Integration. Hamburgs Innensenator hat einen Kurswechsel vorgenommen. »Illegale« werden aufgefordert, sich bei der Polizei zu melden, andernfalls sollen sie zur Fahndung ausgeschrieben werden. Beamte machen sich im Auftrag des Innensenators auf die Suche nach »Menschen ohne Papiere«: »Konsequent versuchen Polizisten nun, die Personalien der sogenannten Illegalen zu ermitteln. Fingerabdrücke werden genommen, Vernehmungen geführt, zu Anhörungen in die Ausländerbehörde wird geladen.«11

Der Wind wird rauer in Deutschland für »Menschen ohne Papiere«. Die Gemeinschaft der Flüchtlinge ist geteilt: Auf der einen Seite diejenigen, die legal in Deutschland leben12, auf der anderen Seite jene, die offiziell nicht da sind, »Schattenmenschen«, die in Baucontainern, auf Schrottplätzen, in Kellern leben – unsichtbar, abgetaucht, rechtlos, schutzlos, papierlos, also illegal. Kriminelle? Auf beschwerlichem Weg sind sie zu uns gelangt, waren oft auf einer wahnwitzigen Odyssee unterwegs, quer durch Afrika bis ans Meer, nach Libyen, von dort nach Europa mit einem überfüllten, maroden Boot, um sich dann nach Deutschland durchzuschlagen. Ob sie vor Kriegen fliehen oder aus wirtschaftlichen Gründen – sie hoffen auf ein besseres Leben in Europa, in Deutschland.

Was erwarten diese Menschen, was erwartet sie hier bei uns? Es stellen sich Fragen: »Wie barmherzig darf ein Rechtsstaat sein? Muss er es sogar sein, um menschliches Elend zu verhindern? Darf ein Rechtsstaat das Recht aus humanitären Gründen dehnen und, falls ja, in welchem Maße und für welchen Zeitraum? Wann wird aus Nachsicht Willkür? Oder ist es genau andersherum: Zeichnet Milde den guten Staat aus?«13

Die Gründe, warum Menschen nach Deutschland kommen, sind überaus vielfältig.

Da macht sich eine Vietnamesin tausende von Kilometern auf den Weg aus ihrer Heimat nach Berlin, um dort unter 3,5 Millionen Menschen den Vater ihres zweijährigen Sohnes zu finden. Vom Mann kennt sie nur den Vornamen – eine Urlaubsliebe, die verschwand und sich nicht mehr, wie versprochen, meldete. Ein 27-jähriger Brasilianer lebt seit mittlerweile zehn Jahren ohne Papiere in Deutschland, schläft teilweise in Kellern bei eisiger Winterkälte, um nicht entdeckt zu werden. Er kam her, weil er den ärmlichen Verhältnissen in seinem Heimatland entfliehen und einfach Geld verdienen wollte. Er putzt Büros, lernt die japanische Kampfkunst Jiu Jitsu, um sich im Notfall verteidigen zu können. Er träumt davon, eines Tages aus dem Schatten treten zu können und ganz normal durch Berlin zu gehen. Einer Frau aus Nigeria wird in Berlin das Paradies versprochen – sie landet auf dem Strich, kontrolliert von Menschenhändlern. Ein junger Vietnamese träumt von einer besseren Zukunft in Deutschland, verkauft Haus und Hof. Macht Schulden – mehr als 10.000 Euro – und wird ein Betrugsopfer der Zigarettenmafia.

Alle vier leben illegal, ohne Papiere, mitten unter uns, jeden Tag. Nur vier Beispiele von hunderttausenden in unserem Land. Persönliche Schicksale. Alle mit einer individuellen Geschichte.

Sind sie Kriminelle? Allein dadurch, dass sie entweder illegal in unser Land eingereist sind oder ihren befristeten Aufenthalt einfach überzogen haben? Diese Meinung vertritt unter anderem Berlins Staatssekretär für Inneres, Bernd Krömer. Er sagt unmissverständlich: »Ich glaube, es darf kein Bonussystem für jemanden geben, der es lange (…) schafft, unerkannt und unentdeckt hier zu leben, um ihn dann mit einer Aufenthaltsgenehmigung zu belohnen (…) Wir sollten schon einen Überblick darüber behalten, wer bei uns lebt und wer nicht (…) Wir sollten nicht nach dem Schema leben: Lasst alle Beladenen dieser Welt zu uns kommen. Das wird nicht funktionieren.«14

Aber hat er recht? Kann man »Menschen ohne Papiere« mit Kriminellen auf eine Stufe stellen, allein aufgrund der Tatsache, dass sie keinen richtigen Pass haben? Was würde passieren, wenn ein Rechtsstaat sogenannte »Illegale« legalisieren und ihnen eine Chance geben würde, sich einzubringen in die Gesellschaft, statt am Rande davon zu leben?

»Illegale« sind unter uns. Jeden Tag. Sichtbar und doch unsichtbar. Und sie bleiben. Tausende. Hunderttausende, weit über eine Million?

Ohne Rechte, jede Sekunde in Gefahr. Auf dem Weg zu einem Ort, der für sie Arbeitsplatz ist, für andere eine moderne Form der Sklaverei. Immer angespannt, nervös, voller Angst vor Blaulicht, Uniformen, dem Klingeln an der Tür. Jeder von ihnen mit einem persönlichen Schicksal – ob aus Nigeria, Brasilien, Vietnam oder woher auch immer. Sie dürfen nicht auffallen, sonst könnte es ihr Ende bedeuten. Ein Teufelskreis, aus dem nur wenige entrinnen. Illegale, Rechtlose, Papierlose. Menschen mitten unter uns – als Putzfrauen und Gebäudereiniger, als Küchenhilfen und Kindermädchen. Sie machen oft das, was wir Wohlständler nicht machen wollen: sie räumen unseren Dreck weg, putzen unsere Wohnung, kochen unser Essen – lautlos, ohne Fragen.

Sie haben keine Aufenthaltsgenehmigung, also auch keine Rechte.

Sie haben Angst, entdeckt und abgeschoben zu werden.

Sie erhoffen sich etwas Geld, um den nächsten Tag zu überleben.

Wir fragen sie nicht, wie es ihnen geht, ob sie versichert sind, was passiert, wenn sie krank werden. Kranksein wäre ein Albtraum.

Wer genau hinschaut, erkennt sie mitunter, die »Schattenmenschen« in unserer Leistungsgesellschaft. Sie leben, sie lieben.

Wie gehen wir mit »Illegalen« um? Weiter wie bisher?

Wer Fragen stellt, könnte Antworten erhalten.

Stillschweigend akzeptieren wir eine Kooperation der »Papierlosen« mit uns, den Menschen mit Status – verliehen durch Dokumente. Diejenigen, die keine haben, existieren nur, wandelnd zwischen den Welten, lebendig, doch nicht identifizierbar. Unter uns, doch nicht Mitglieder der Gemeinschaft.

Das ist die Wahrheit.

Eines noch: Was würden Sie auf die Frage »Haben Sie jemals in Ihrem Leben schon mal Kontakt zu einer illegal in Deutschland lebenden Person gehabt« antworten? Aus einem sehr spontanen »Nein« wird bei intensiverer Überlegung möglicherweise ein »Ja« mit einem Aha-Effekt. Vielleicht auch erst nach der Lektüre dieses Buches.

IMaria aus Manaus – Die tägliche Angst

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Der Wecker klingelt.

Es ist Sommer, ein Montagmorgen im Juni 2011, kurz vor halb sieben. Eine Wohnung in Berlin-Neukölln, am Maybachufer. Schöner Blick, doch keine Zeit, ihn zu genießen. Maria, 35, aus dem brasilianischen Manaus im Amazonasgebiet, steht auf und geht ins Badezimmer, duscht, zieht sich die bereitgelegte Kleidung an, macht sich einen starken Kaffee. In zehn Minuten muss sie zur Arbeit. Wie Millionen Deutsche an diesem Morgen. Und doch ist es anders bei ihr. Sie lebt illegal im Land, ist untergetaucht in der Wohnung einer Bekannten, die hier mit fünf Kindern und einem Enkelkind lebt. Für die Behörden existiert sie nicht. Maria geht arbeiten, Tag für Tag, auch am Wochenende, schon seit mehr als zwei Jahren. Sie putzt Wohnungen, räumt den Dreck weg für Menschen, die gut bezahlte Jobs haben und sich eine Putzfrau leisten können. Sie fragen nicht nach, welchen Status sie hat. Vielleicht ahnen sie etwas, aber schweigen. Weil sie ihre Arbeit schätzen, weil sie wissen, dass Maria ein guter Mensch ist und nichts lieber möchte, als legal in Deutschland zu sein. Dabei hätte sich Maria nie vorstellen können, jemals für andere zu putzen.

Ich treffe Maria vor der Haustür und begleite sie zu ihrer Arbeit.

Vor einigen Wochen, auf einer Party in der Wohnung einer Bekannten, habe ich sie kennengelernt. Nun wird sie mir erzählen, wie es dazu kam, dass sie »illegal« wurde, wie es ist, jeden Tag Angst davor zu haben, denunziert oder aufgegriffen zu werden. Sie schläft jede Nacht nur vier Stunden, sie hat Albträume, wacht manchmal schweißgebadet auf, weil sie von Sicherheitskräften in U-Bahnhöfen oder Polizisten in Straßen träumt, die ihren Ausweis kontrollieren wollen.

Maria wirft mir ein fröhliches »Bom dia« entgegen, sie lächelt, sie ist gut gekleidet. Das erinnert mich an die Aussage eines Mannes, er wäre nie so gut gekleidet gewesen wie in den vielen Jahren, in denen er illegal in Deutschland gelebt hatte. Bloß nicht auffallen, das ist die wichtigste Maxime in dieser Situation.

Maria sagt: »Ich habe sicherlich auch Glück, dass ich keine so dunkle Hautfarbe habe. Bekannte von mir, Schwarzafrikaner, die in der Illegalität leben, müssen noch um ein Vielfaches vorsichtiger sein. Hautfarbe spielt eine große Rolle. Dunkelhäutige Ausländer sind viel stärker gefährdet, kontrolliert und entdeckt zu werden.«

Ich gehe mit Maria zum U-Bahnhof, sehe, wie sie sich umschaut, fast automatisch. Ich spüre jene Angst, die Menschen, die in der Parallelwelt leben, niemals loslässt.

Wir sind auf dem Weg nach Prenzlauer Berg. Ein Szenebezirk, schicke Neubauten in der Schönhauser Allee. Hier, am Senefelder Platz, putzt Maria jeden Tag für ein Paar aus dem brasilianischen São Paulo: Roberto arbeitet im Rahmen eines internationalen Austauschprogramms in der Forschungsabteilung von Bayer HealthCare, einst weltweit bekannt unter dem Namen Schering, am Standort in Wedding. Vanessa studiert und ist meist zu Hause. Sie genießt es, wenn Maria im Haushalt hilft, putzt, bügelt und vegetarisch für Roberto kocht. In all den Jahren wurde sie zu einer unverzichtbaren Hilfe. Dabei fiel es ihr gerade am Anfang schwer, für Landsleute zu arbeiten. Nicht wenige Brasilianer, so Marias Erfahrungen, die einen »Papierlosen« beschäftigen, benehmen sich wie Dienstherren: arrogant, herablassend, das Gefühl vermittelnd, dass sie etwas Besseres sind und nicht ausgegrenzt wie Menschen, die hier keinen Status haben.

Maria hat einen Schlüssel für die Dachgeschosswohnung. In Windeseile fährt uns der Fahrstuhl nach oben. Wir sind allein in der rund 100 Quadratmeter großen, modernen Wohnung. Zwei Balkone, davon einer mit Blick auf die Schönhauser Allee, der andere auf den Innenhof. Hier ist es sehr ruhig, ein idealer Platz im Sommer, zum Lesen, Ausspannen, für Grillabende mit Freunden und Kollegen. Überall helles Parkett, die Küche ultramodern und auf dem neuesten Stand der Technik. Im riesigen Schlafzimmer prangt ein Flachbildfernseher an der Wand, im circa 40 Quadratmeter großen Wohnzimmer befinden sich ein weiterer großer Flachbildschirm und ein Computer. Überall riesige Töpfe mit Pflanzen.

Das Bad erinnert an Bilder aus dem Katalog eines Einrichtungshauses: Modernes Design, dunkler Kachelboden, schwarze Fliesen aus Granit. Ringsum Eleganz und Chic. Die Sonne durchflutet die mit großen Fensterfronten ausgestattete Wohnung. Hier zu wohnen hat seinen Preis: 2.000 Euro Monatsmiete.

Für Maria eine unvorstellbare Summe. Sie bekommt immerhin acht Euro in der Stunde, arbeitet montags, mittwochs, freitags hier. Insgesamt elf Stunden pro Woche, das ergibt 88 Euro. Manchmal verdient sie sich noch 20 Euro dazu, wenn sie Vanessas Hände manikürt. Maria hat sich gewissermaßen in den Jahren der Illegalität auf der Einkommensleiter nach oben gearbeitet. Wie alles einst begann, das wird sie mir später erzählen.

2In: Michael Bommes/Maren Wilmes: Menschen ohne Papiere in Köln. Eine Studie zur Lebenssituation irregulärer Migranten, Osnabrück 2007. http://www.imis.uniosnabrueck.de/leadmin/3_Forschung/Abgeschlossene_Projekte/IMIS_Menschen_ohne_Papiere_in_Koeln.pd

3Kritik nach Flüchtlingskatastrophe: »Das Mittelmeer ist zum Grab geworden«, 04.10.2013. http://www.t-online.de/nachrichten/panorama/id_65823224/kritik-nach-fluechtlingskatastrophe.html

4Ebenda.

5Laut der sogenannten »Dublin-II-Verordnung«.

6Katharina Peters/Veit Medick: EU-Parlamentspräsident Schulz: »Europa ist ein Einwanderungskontinent«, 14.10.2013.

http://www.spiegel.de/politik/ausland/eu-parlamentspraesident-schulz-europa-ist-ein-einwanderungskontinent-a-927616.html

7EU-Innenminister beraten Flüchtlingspolitik: Friedrich fordert mehr Härte, 08.10.2013. www.tagesschau.de/ausland/fluechtlingspolitik120.html

8Die Aufrüstung der europäischen Grenzanlagen hat Regisseur Hans-Werner Kroesinger zum Anlass für sein Theaterstück »FRONTex SECURITY« genommen. Hier stellt er die humane Schlüsselfrage: Inwieweit ist das Leben von Flüchtlingen ein schützenswertes Gut? Sicherheit gilt nur noch nach innen und nicht mehr für den Flüchtling, der Schutz sucht. Was bedeutet das für ein Land, das aufgrund seiner Geschichte einmal das liberalste Asylrecht der Welt hatte? Das Stück wurde im Dezember 2013 im Berliner »Hebbel am Ufer« aufgeführt.

9Matthias Monroy: Festung Europa: EU will Migration im Mittelmeer mit Kriegsschiffen eindämmen, 21.11.2013.

http://www.heise.de/tp/artikel/40/40377/1.html

10Forum zum Beitrag: Großbritannien: Innenministerium schickt Droh-SMS an illegale Einwanderer am 17.10.2013 (sic).

http://www.spiegel.de/politik/ausland/britisches-innenministerium-schicktwarn-sms-an-illegale-einwanderer-a-928494.html

11Uwe Buse/Barbara Hardinghaus/Katrin Kuntz/Taxis Würger: Auf dem Schrottplatz, Der Spiegel, 43/2013, 21.10.2013, S. 56.

12Im Oktober 2013 zählte allein Hamburg 4.500 Flüchtlinge!

13Uwe Buse u.a., a.a.O., S. 58.

14siehe Interview mit Bernd Krömer S. 47 ff.

Illegal – was ist das überhaupt?

»Ein spannendes Projekt«

Sie haben sich da ein spannendes Thema ausgewählt.

Engelhard Mazanke, Leiter Abteilung IV – Ausländerbehörde
Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin
15

Haben Sie besten Dank für Ihre Anfrage an Claudia Roth für ein Interview für Ihr spannendes Buchprojekt.

Melanie Haas, Büroleiterin der Bundesvorsitzenden Claudia Roth16

Diese beiden E-Mail-Antworten auf Interviewanfragen zu diesem Buch stehen exemplarisch für alle von mir angefragten Gesprächspartner. Ein spannendes Thema, das es zu enttabuisieren gilt, wie mir Dr. Markus Breuer, Geschäftsführer des Katholischen Forums Leben in der Illegalität, bei einem telefonischen Vorgespräch beipflichtete. Es sei höchste Zeit, diese Problematik endlich auf die politische Tagesordnung zu setzen, forderte Verena Mittermaier am Telefon. Die evangelische Theologin hat viele Jahre im Bereich Kirchenasyl gearbeitet und ehrenamtlich »Menschen ohne Papiere« in einem Gästewohnungsprojekt begleitet.17 Auch die launige Reaktion des Sprechers des brandenburgischen Innenministeriums, Ingo Decker, auf die Vorstellung des Projektes und meine Anfrage nach einer Besuchserlaubnis im Abschiebegewahrsam Eisenhüttenstadt zeigte mir, wie wichtig es ist, das Thema aus dem Schatten ans Licht zu holen: »Sie wissen mit Sicherheit mehr als wir, wenn Sie sich in der Parallelwelt umschauen. Bei uns kommen zum Beispiel Asylbewerber in der Erstaufnahme an. Nicht wenige verschwinden und sind dann auch weg von unserem Radar. Wir wissen dann nicht mehr, wo sie sind.«18

Meine ganz persönlichen Erfahrungen waren der Anstoß für das Buchprojekt. Die Äußerungen zum Thema und die Antworten auf meine Anfragen haben mich in meiner Absicht bestätigt und bekräftigt, dieses Buch zu schreiben.

Wer einmal einen Menschen kennengelernt hat, der ohne Papiere und damit ohne Rechte durch unser Land geht, wer einmal die Schwierigkeiten miterlebt hat, die es zu bewältigen gilt, aus einem vormals »Illegalen« einen »Legalen« zu machen, wer einmal, nur für einen Moment, die Aussage des ehemaligen Berliner Innensenators Erhart Körting (SPD), soziale Grundrechte könnten nur Menschen beanspruchen, die sich dem Staat gegenüber zu erkennen gäben, reflektiert, und wer einmal gesehen hat, welche bürokratischen Hemmnisse und Hürden »Illegalen«, die gleich mit Rechtlosen gesetzt werden, in den Weg gestellt werden – der kann nicht umhin, wenn er denn nur ein Fünkchen Humanität besitzt, sich diesem Thema anzunähern und zu versuchen, Dinge besser zu verstehen, einen Dialog anzustoßen und einfach das Thema aus der »Tabuzone« zu holen.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Wer aus eigenständigen, vorsätzlichen, kriminellen Gründen in die Illegalität abtaucht, wer vorhat, anderen bewusst zu schaden, um für sich selbst daraus Profit zu machen, dem bringe ich keine Sympathien entgegen, der muss gemäß der deutschen Gesetze bestraft werden.

In diesem Buch geht es aber um Menschen, die aus vielerlei Gründen »illegal« in einem fremden Land wurden, die ehrlich arbeiten und sich am Bruttosozialprodukt beteiligen wollen. Menschen, von denen viele selbst Qualen und Gefahren auf sich nehmen, in der Hoffnung, nicht einfach ein besseres, sondern überhaupt ein lebenswertes Leben zu finden. Dafür nehmen sie sogar in Kauf, eine »Schattenidentität« zu führen.

Und unsere bundesdeutsche Gesellschaft? Sie nutzt sie aus. Denken wir nur an die tausenden Putzfrauen, Babysitter, Altenpfleger, Handwerker, Restauranthilfen und Bauarbeiter, die hier schwarz arbeiten. Wir machen uns Dinge zunutze, die wir selbst moralisch und rechtlich unter Strafe stellen. Schätzungen zeigen: »Genaue Daten über Schwarzarbeiter, erst recht über illegal sich in Deutschland aufhaltende Personen, haben wir naturgemäß nicht, weder auf Bundesnoch auf Landesebene. Wir gehen davon aus, dass auf einen angemeldeten Minijobber rund 17 nicht angemeldete kommen. Damit kann man sich zumindest die Zahl der schwarz arbeitenden Putzkräfte errechnen. In Berlin sind mit heutigem Datum 6.626 Haushaltskräfte angemeldet, die reale Zahl wird aber mehr als 100.000 betragen.«19

Und auch Renate Künast (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) hat sich genau in diesem Punkt immer wieder die folgende Frage gestellt: »Mich wunderte schon immer, wieso es in Berlin nicht mehr als tausend angemeldete Haushaltshilfen bei der Knappschaft gibt, wo sie auch versichert sind. Die Gesellschaft muss ihr eigenes Verhalten im Alltag hinterfragen.«20

Wir schaffen einen Markt für »illegale« Arbeit; und die Illegalen müssen mitmachen: um zu überleben, um das Geld für das Schleusen zu bezahlen, um die zurückgelassenen Familien zu unterstützen. Ein zynischer Vertrag!

Den Migranten, die hierher kommen, erscheint die Bundesrepublik wie ein Silberstreif am Horizont – Hoffnungsschimmer und eine Chance auf ein besseres Leben. Sie ahnen nicht, welche bürokratischen Fallstricke, hürdenhohen Anforderungen, ja bisweilen sogar inhumanen Bedingungen sie hier erwarten. Die wenigsten von ihnen kommen mit kriminellen Absichten zu uns. Die Menschen wollen arbeiten, träumen von einem gewissen Wohlstand. Illegal oder gar kriminell werden sie nicht selten durch die Strukturen, auf die sie treffen.

Auch wer in die Illegalität und damit in die Parallelwelt gerät, hat in den wenigsten Fällen die Absicht, kriminelle Straftaten zu begehen, denn wenn er »auffliegt«, droht die Abschiebung. Menschen in der Parallelwelt setzen alles daran, sich so unauffällig, unscheinbar, lautlos wie möglich durch den Alltag zu bewegen. Jeder Schritt vor die Tür birgt bereits ein Risiko.

Wollen wir uns als Gesellschaft weiter leisten, zu wissen, dass Hunderttausende in unserem Land illegal und in einer Parallelwelt leben und für uns schwarz arbeiten? Vertreten wir die Haltung von Bernd Krömer, der im Gespräch mit mir streng an der Gesetzeslage entlang argumentiert und unnachgiebig den Standpunkt vertritt, wer sich illegal Zutritt nach Deutschland verschaffe, sei per se kriminell? Überlegungen und Lösungsansätze wie beispielsweise »Legalisierungskampagnen« lehnt er komplett ab.21

Gehen wir gar noch einen Schritt weiter wie Heidemarie Petzoldt, Richterin am Amtsgericht Eisenhüttenstadt? Sie verurteilte in einer Vielzahl von Fällen regelmäßig Flüchtlinge »im Namen des Volkes« in Schnellverfahren zu Freiheitsstrafen. In ihren Urteilen bezeichnete sie Flüchtlinge des Öfteren als »Asyltouristen«, die sich zu einem »Heer von Illegalen« formierten, um in Deutschland ihren »Lebensunterhalt durch Straftaten« zu sichern.22

Der Jurist Andreas Fischer-Lescano, der in Bremen Migrationsrecht lehrt, hat einige Urteile der Richterin unter die Lupe genommen und kam zu folgendem Urteil: »(…) auch das ist eine Formulierung, die in einem Rechtsstaat inakzeptabel ist. Der Satz ›Kein Mensch ist illegal‹ ist ja nicht nur ein politisches Statement linker Flüchtlingsfreunde – sondern gibt ganz einfach die Rechtslage in Deutschland wieder. Menschen sind nicht illegal. Die Verhältnisse weisen ihnen möglicherweise einen problematischen aufenthaltsrechtlichen Status zu, das macht aber den Menschen nicht illegal. In einem juristischen Urteil darf so etwas nicht stehen.«23

Zwei Juristenvereinigungen stellten Strafanzeige wegen Rechtsbeugung, Volksverhetzung und Beleidigung gegen Heidemarie Petzoldt. Solch eine Richterin sei für einen demokratischen Rechtsstaat untragbar. Eine Richterin, die behauptet, Asylanträge führten »in Ballungsgebieten immer mehr zu Spannungen«, die sich »dann in der Regel durch weitere Straftaten entladen«, betreibt rassistische Propaganda im Schnelldurchgang, statt Recht zu prüfen – heißt es unter anderem in der Begründung.

Der Vorsitzende des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins e.V. (RAV), Martin Heiming stellte dazu fest, »dass durch die Verurteilungen eine Stigmatisierung erfolge und durch die Wortwahl der Richterin in den Urteilsbegründungen eine Diffamierung von Menschen stattfinde, die Schutz suchten und ihre Rechte wahrnehmen wollten. Ihre Äußerungen können Rassisten sogar zu Gewalttaten ermutigen.«24

Nur eine Ausnahme im Umgang mit Menschen, die in der Illegalität leben?

Warum gehen wir nicht differenzierter an die Problematik heran, wollen sinnvolle Lösungen finden, begreifen uns als »Einwanderungsland« auch für die, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Status, also illegal, in unserem Land sind? Sehen wir sie als Menschen mit Würde und Rechten und versuchen wir, dort, wo es Möglichkeiten gibt, sie zu integrieren?

So, wie es zum Beispiel der Jesuitenpfarrer Ludger Hillebrand formuliert: »Die Parallelwelt ist Stress pur für die Betroffenen. Und ist natürlich auch ein Werteverlust für Deutschland. Diese Leute zahlen keine Steuern, obwohl sie lieber in einem legalen Status wären. Es wäre für das Land ein Gewinn, wenn die Leute legal einer Arbeit nachgehen könnten. Wir als Europäer und Deutsche müssen vernünftige Zugänge entwickeln, damit die Flüchtlinge sich legal im Land aufhalten können. Damit sie legal einer Arbeit nachgehen und nicht in die Illegalität abtauchen müssen.«25

Wozu sind wir bereit? Was wollen wir konkret?

Dieses Buch, eine Collage aus Reportagen, Interviews und Tatsachenberichten, will die Bandbreite des Themas »Menschen in der Illegalität« aufzeigen. Es gibt Äußerungen von Betroffenen wieder, stellt die Haltung von Kirchen, Hilfsorganisationen und Ärzten, die Illegale behandeln, vor, zeigt Ansichten der Verantwortlichen in der Politik und die aktuelle Gesetzeslage. Es will Standpunkte deutlich machen. Es berichtet über Grauzonen und die wichtigsten »Scharniere« in der Kette »Illegalität«. Es will aufzeigen und austarieren, ob und wo es in diesem Spannungsfeld Ansätze für Problemlösungen, neue Denkweisen und neue Handlungswege gibt.

Ich besuchte Institutionen wie die Ausländerbehörde, den Abschiebegewahrsam, eine ungewöhnliche Wohngemeinschaft, die Malteser Migranten Medizin, die Polizei – mögliche »Schaltstellen« im Leben illegaler Menschen.

Das Buch erhebt keinen Anspruch auf eine vollständige Abdeckung aller Fakten und statistischen Daten, die zum Thema »Illegalität« in der Bundesrepublik Deutschland vorliegen. Es ist parteiisch, wo es um Menschenrechte und -würde geht. Es soll »aufrütteln« und Anstoß zu Diskussionen geben, damit endlich sinnvolle Lösungen für ein »spannendes« und sensibles Thema gefunden werden.

Versuch einer Begriffsklärung

Aufenthaltsgesetz (AufenthG) (Auszug)26

§ 7 Aufenthaltserlaubnis

(1) Die Aufenthaltserlaubnis ist ein befristeter Aufenthaltstitel. Sie wird zu den in den nachfolgenden Abschnitten genannten Aufenthaltszwecken erteilt. In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis ist unter Berücksichtigung des beabsichtigten Aufenthaltszwecks zu befristen. Ist eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer wesentliche Voraussetzung entfallen, so kann die Frist auch nachträglich verkürzt werden.

§ 8 Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis

(1) Auf die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis finden dieselben Vorschriften Anwendung wie auf die Erteilung.

(2) Die Aufenthaltserlaubnis kann in der Regel nicht verlängert werden, wenn die zuständige Behörde dies bei einem seiner Zweckbestimmung nach nur vorübergehenden Aufenthalt bei der Erteilung oder der zuletzt erfolgten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen hat.

(3) (…) Verletzt ein Ausländer seine Verpflichtung (…) zur ordnungsgemäßen Teilnahme an einem Integrationskurs, ist dies bei der Entscheidung über die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zu berücksichtigen. Besteht kein Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, soll bei wiederholter und gröblicher Verletzung der Pflichten (…) die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis abgelehnt werden. Besteht ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nur nach diesem Gesetz, kann die Verlängerung abgelehnt werden, es sei denn, der Ausländer erbringt den Nachweis, dass seine Integration in das gesellschaftliche und soziale Leben anderweitig erfolgt ist. Bei der Entscheidung sind die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, schutzwürdige Bindung des Ausländers an das Bundesgebiet und die Folgen einer Aufenthaltsbeendigung für seine rechtmäßig im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen zu berücksichtigen. (…)

Nach (4) darf Absatz 3 nicht angewendet werden bei einer aus humanitären Gründen nach § 25 Absatz 1, 2 oder Absatz 3 erteilten Aufenthaltserlaubnis. (…)

In Deutschland hat in den letzten Jahren eine intensive öffentliche Diskussion um illegale Zuwanderung und illegalen Aufenthalt begonnen. Wenn in diesem Buch von »Illegalen« die Rede ist, dann sind damit immer Menschen gemeint, die keine Aufenthaltsberechtigung haben. Sie haben nicht den Status von Flüchtlingen, die Asyl beantragen und dadurch registriert und vorübergehend geduldet sind, bis über ihr Schicksal entschieden wird.

Zur Gruppe der »Illegalen« gehören Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen: eingeschleuste Zwangsprostituierte aus Afrika, Asien oder Osteuropa, abgelehnte und untergetauchte Asylbewerber27, nicht mehr geduldete Ausländer, Studierende oder Touristen, deren Visum abgelaufen ist, Arbeitnehmer (Schwarzarbeiter), die zwischen einem nicht zum »Schengenraum« gehörenden Herkunftsstaat und Deutschland pendeln und schließlich Akteure im Bereich der organisierten Kriminalität.