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Gerd H. Meyden

All das ist

Jagd

Begegnungen
eines Jägers…

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Titelgestaltung: DSR | Werbeagentur Rypka GmbH., 8020 Graz

Adolf Schilling, Rüsselsheim

Werner Nagel, Braunschweig

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

ISBN 978-3-7020-1173-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Danksagung

Am Wegesrand

„Horn auf!“ Erinnerungen an einen Neubeginn

Der alte Drilling

Druckfehler

Cita

Eine Kohlgais

Das Waidmanns-Heilen

„Bären jetzt schlafen!“

Auf Messers Schneide

Der Mondhirsch

Was man verspricht, …

Nach dem großen Schnee

Im frühen Winter

Der Butsch

Am Peters Älpele

Jagdgast-Trilogie

Es war im Böhmerwald, …

Steinbockjagd im Altai

Prosecco, Prosciutto und ein Priester

Virus mongolicus

Jagd ist nie zu Ende

Vorwort

Noch immer klingt mir das sehnsüchtige Werben des Berghirsches in den Ohren, das ich heute am zeitigen Morgen gehört und erlebt habe. Und genau diese gewaltige und schönste Symphonie, die uns die Mutter Natur bietet, ist für mich Ansporn, das Vorwort zum Buch von Gerd Meyden zu schreiben.

Immer seltener und immer weniger werden sie, die unbeugsamen Kämpfer für die geschundene Kreatur. Es war für mich ein großes Glück und eine besondere Freude, den Waidmann Gerd Meyden kennen gelernt zu haben.

Aus dem anfänglichen „Beriechen“ wie unsere Bayrischen Gebirgsschweißhunde, entstand hier eine ehrliche und offene Freundschaft. Rasch stellten wir dann die gleiche Wellenlänge und dieselben Anschauungen fest.

Noch heute sehe ich sein strahlendes Lächeln vor mir, als wir in der fernen Mongolei den Steinbock jagten und der Gerd mir mit stolzer Freude das erlegte Prachtexemplar zeigte. Noch heute höre ich aus der mongolischen Jurte den „jagerischen“ Gesang, als wenn wir am Berg auf einer einsamen Alm- oder Jagdhütte feiern würden. Das bekannte Jagdlied „s’ Jagern und s’ Zitherschlag’n“ traf hier voll und ganz zu, sind wir doch beide Anhänger der echten und unverfälschten Volksmusik und begeisterte Führer des Bayrischen Gebirgsschweißhundes.

Dem Nachsuchenführer Gerd Meyden ist nichts zuviel, keine Dickung zu dicht, kein Felsgrat zu steil, wenn es darum geht, ein krank geschossenes oder angefahrenes Stück Wild von seinen Leiden zu erlösen. Ob Gamsbock oder Hirsch, ob Keiler oder Rehbock, ob Alttier oder Rehgeiß, für ihn ist es eine Selbstverständlichkeit, den Schweißriemen in die Hand zu nehmen. Wir freuten uns beide, als er im Ebersberger Forst, meinem ehemaligen Dienstrevier, einen wirklich alten und starken Keiler erlegen konnte.

Nun endlich hat sich dieser Waidmann dazu aufgerafft, aus seinem reichlichen Erinnerungsschatz ein Buch zu schreiben, ist er doch auch ein gefragter Autor der allbekannten deutschen Jagdzeitschrift „Wild und Hund“. Mit Begeisterung und auch mit seinem feinen Humor hat er sich nicht nur ein Denkmal gesetzt, sondern er scheut auch nicht davor zurück, der Jägerschaft ins Gewissen zu reden.

Dem Freund und Jagdkameraden, dem erfolgreichen Autor, wünsche ich viel Erfolg mit seinem Buch.

Schliersee, im Hirschmond 2007

Konrad Esterl
Wildmeister

Danksagung

Danken möchte ich den Redakteuren von „Wild und Hund“, die mir den Weg gewiesen haben, dass Erlebtes lesbar werden konnte, jagen doch die Gedanken, voll des Erinnerns, bei mir gerne über das geschriebene Wort hinaus.

Wie einen „überpassionierten“ Schweißhund haben mich die Erfahrenen oftmals „zur Fährte!“ zurückgeholt.

Am Wegesrand

Ein stiller und warmer Sommerabend. Es ist eigentlich noch zu früh, um anwechselndes Wild zu erwarten. Doch ich sitze gern zeitig und lasse den Tag geruhsam ausklingen. Langsam wandern die Schatten den besonnten Berghang hinauf. Heut’ habe ich mir ein kleines Bodensitzerl am Wegesrand ausgesucht. Von hier aus kann ich einen weiten Bereich des vor mir liegenden Berges überschauen.

Ein paar Gamsjahrlinge tauchen bereits hin und wieder aus den deckenden Weißerlen, den Laublatschen auf. Heute habe ich keine „ernsten Absichten“. Vielleicht kann ich meinem Freund ein jagdbares Stück ausmachen. Die Kipplaufbüchse lehnt am Baum und mein Schweißhund sitzt aufmerksam an meiner Seite.

Plötzlich knurrt die Hündin leise und äugt nach rechts. Dort schlängelt sich der Weg bergwärts zu einer vielbesuchten Unterkunftshütte hinauf. Schon höre ich Stimmen, und um die Krümmung des Pfades tauchen zwei Wanderer auf. Bald sind sie nahe heran. Ein älterer Mann, aufrechter Haltung mit gepflegt gestutztem, weißem Vollbart. Seine Begleiterin, eine mütterlich wirkende Frau, es könnte die Seine sein. Kurz bevor sie mich erreicht haben, verhalten sie ein wenig erschreckt den Schritt. So gut gedeckt,wie ich hier sitze, bin ich erst im letzten Augenblick zu erkennen.

„Oh, Herr Jäger, haben wir Ihnen was verscheucht?“

Ich beruhige sie, es sei ja noch sehr früh am Abend. Und so kommen wir ins Gespräch.

Ich freue mich immer, wenn aufgeschlossene Menschen mit dem Jäger reden. So kann man vieles an den rechten Platz rücken. Die beiden sind voller Wissbegier, was es hier zu jagen gibt. Sie bedauern, wie eigentlich alle Spaziergänger, mit denen ich mich unterhalte, dass man kein Wild mehr sieht. Ein großes Thema. Dann erzählt mir das Paar, sie seien Vegetarier, da sie die unwürdige Behandlung des Schlachtviehs nicht unterstützen wollen. Als ich ihnen den Unterschied darlege, wie im Gegensatz dazu das Wild normalerweise „geerntet“ wird, horchen sie auf. Den Ausschlag gibt dann auch das Argument der gesunden Ernährung. Dass Wildbret das annähernd gleiche Maß an gesundheitsförderlichen Omega-3-Fettsäuren wie Fisch hat, ist ihnen neu. Und dann kommt die immer wiederkehrende Frage an den Jäger: „Warum machen Sie das?“

Schier unerschöpflich reden wir über Jagd und Natur. Die zwei sind gescheite Frager und Zuhörer, und manche ihrer Fragen machen mich nachdenklich.

Als sie sich nach gut einer Dreiviertelstunde als zukünftige Wildbretesser verabschieden, bin ich mit meinen Gedanken wieder allein.

Was hat mir das Jäger-Sein gegeben? Neben der Freude am Beutemachen die Beute selbst, wobei die Trophäe auch eine gewisse Rolle spielt. Wie viele Stunden genussvollen Erinnerns haben mir die, von Unwissenden oft verspotteten „Schädel“ gebracht. Bei jedem einzelnen Stück kommt doch die Stunde, der Tag, das Drum und Dran der Jagd wieder aus dem Schatz der Erinnerung zurück. Wie oft stehe oder sitze ich vor einer meiner Gamskrucken, Hirschgeweihe oder einem Rehgwichtl, und dann ist alles wieder da. Da ich das Erlegte immer als hochwertiges Nahrungsmittel betrachte, so ist auch das für mich ein wichtiger Gesichtspunkt. Bei mir geht das, „horribile dictu–schrecklich zu sagen“ so weit, dass ich mir im Zoo, neben dem Bewundern der schönen Tiere, oft überlege: „Ja, wie schmecken denn die?“ Doch das liegt sicher nur an meiner „Verfressenheit“.

Den größten Wert für mich als jagenden Menschen sehe ich in dem intensiven, mit jeder Faser wachen und wachsamen Leben in und mit der Natur. Niemand, auch nicht der größte Naturfreund, muss so aufmerksam sein. Es fordert ihn auch nicht in dem Maße. Als Jäger muss ich unzählige Dinge beachten: Wetter, Windrichtung, Tageszeit, Äsungsplätze, je nach Jahreszeit vermutete Einstände, Weiserpflanzen.

Ich muss die Gewohnheiten aller Tiere, auch der nicht jagdbaren, in jeder Altersstufe kennen: Wann und wo kann ich welches antreffen. Je mehr ich darüber weiß, umso farbiger, schöner und unendlich reicher wird das Erleben. Jede Pflanze sagt mir etwas. Immer wieder muss ich dafür in Büchern nachschlagen und lernen. Und dann, speziell bei der Bergjagd, ist es die körperliche Herausforderung. Hier, wie auch sonst bei der Jagd, heißt es: Der Weg ist das Ziel. Und der Weg ist das Köstlichste. Auch wenn man erst im Nachhinein, nach aller Plag und Mühe, dessen Wert erkennt. Der Schuss ist ja außer im Berg meistens der Schlusspunkt. Wie oft muss ich gerade hier erkennen, wo meine körperlichen Leistungsgrenzen sind. Sei es vor oder nach dem Schuss, wenn es ans Bergen der Beute gehen soll.

Und dann – wie oft hat mich das Jagen zur Selbstbeherrschung ermahnt, wie oft zur Geduld. Ein immer wiederkehrender, oft schmerzlicher erzieherischer Lernprozess.

Allein zu sein oder mit einem schweigsamen, gleichgesinnten Begleiter unter dem freien Himmel ungestört seinen Gedanken nachhängen zu können, ist eines der kostbarsten Geschenke, die das Jagen mit sich bringen kann.

Von einigen Stationen dieses jägerischen Weges will ich in den folgenden Blättern erzählen.

„Horn auf!“
Erinnerungen an einen Neubeginn

Als in den ersten Nachkriegsjahren jedermann mit dem Wiederaufbau und dem Kampf ums täglich’ Brot sein Tagwerk verdingte, gab es Waidmänner, denen neben der Wiedererlangung der Jagdrechte auch die Erhaltung des jagdlichen Brauchtums am Herzen lag.

Einer dieser Männer der ersten Stunde war mein Lehrprinz, Dietrich Graf Bülow-Dennewitz. Nach der Flucht aus seiner Heimat Ostpreußen hatte er in München seinen neuen Wohnsitz gefunden. Er wurde der Lehrmeister einer kleinen Schar angehender, junger Jäger, die sich allwöchentlich in seiner Wohnung zum Jagdhornblasen traf.

Ich war damals noch Gymnasiast der Unterstufe und musste täglich eine Dreiviertelstunde mit dem Zug nach München zur Schule fahren. Ein Mitschüler der Oberstufe, der in seiner abendlichen Freizeit bereits im Orchester der Staatsoper spielte, erbarmte sich meines Defizits im Notenlesen. Während der Zugfahrt trällerte er mir die Jagdsignale aus dem Notenbuch vor. Als Gedächtnisstütze dienten mir die Texte, die es zu den Signalen gibt. Oft fuhren wir gemeinsam mit den Rädern in die Wälder. Mein Freund sang mir dann die Signale vor, und ich blies das Gehörte auf dem Pless-Horn, bis er zufrieden war. Bei den Bülow’schen Übungsabenden war ich dann den anderen, zu deren Erstaunen, schon immer einen Schritt voraus. Da wir sehr abgelegen wohnten, konnte ich ohne Störung der Nachbarn abends vor dem Hause üben.

In der nichtjagenden Bevölkerung war das Jagdhorn damals weitgehend unbekannt. Und so hörte ich eines Tages auf der Bahnfahrt, wie ein Mann einem Mitreisenden die Sensationsnachricht überbrachte: „De Ami blos’n scho’ wieder Alarm! Wahrscheinli’ geht’s jetzt gega de Russ’n!“

Unsere fünf Mann starke Gruppe war im Jahr 1950 reif für den ersten öffentlichen Auftritt. Ich bekam einen Bläserhut verpasst: Schwarz mit fünf Reihen grüner Kordeln. Unter dem zu großen Hut sah ich aus wie die „Maus unter der Teigschüssel“. Die Bezirksgruppe des Münchner BJV war stolz, mit uns eine der ersten Bläsergruppen der Nachkriegszeit zu haben. Für einige Jäger war jedoch das Jagdhornblasen ein Brauch, den sie als „preußisch“ ablehnten. Wir mussten des Öfteren hören: „In meinem Revier will ich keinen Ton hören, da wird nicht geblasen!“

In den frühen Fünfzigerjahren feierte Kronprinz Rupprecht von Bayern seinen 85. Geburtstag. Zu diesem Anlass beorderte uns der Jagdschutzverband nach Schloss Nymphenburg, um dem hohen Herrn einen Geburtstagsgruß mit dem Jagdhorn zu bringen.

Nach Ankündigung beim Haushofmeister platzierte man uns unter dem Fenster des greisen Jubilars. Doch unser Fürstengruß konnte selbst seinem Fenster-Vorhang keine Regung abverlangen. Man servierte uns jedoch Kognak und Brasil-Zigarren, wobei ich mir mit meinen 15 Jahren schon sehr erwachsen vorkam. Doch nach diesem Genusse musste ich mich sehr zusammenreißen, die Beine waren mir schwer, und Nymphenburger Schloss und Park drehten sich beängstigend.

Als eine der ersten bayrischen Bläsergruppen wurden wir, mangels anderer Corps, im ganzen Lande herumgereicht. Wo immer es ein größeres Jubiläum zu feiern gab oder eine größere Jagdveranstaltung stattfand, wir waren sehr gefragt. Oftmals fand am darauf folgenden Tag eine Treibjagd statt. Kein Mensch störte sich damals daran, dass ich erst den Jugendjagdschein hatte, mit dem ich eigentlich keine Gesellschaftsjagd mitmachen durfte.

Auch die Amerikaner, damals noch Besatzer, forderten uns an, da ihnen das jagdliche Brauchtum der Deutschen gut gefiel. Einmal waren wir zu einer Drückjagd der Amis auf Sauen als Bläser und Treiber in den Eichstätter Forsten eingeladen. Die Jagd fand unter der Leitung bayrischer Forstbeamter statt, die aber ihrerseits keine Waffe führen durften. Besonders ein Schütze ist mir in bester Erinnerung, entsprach er doch der Klischee-Vorstellung des wilden Texaners: links und rechts baumelte ein schwerer Colt im patronen-gespickten Holster von der Hüfte. Kreuzweis’ über der Brust prahlten zwei wohlgefüllte Patronengurte für seine zwei! Schnellfeuer-Rifles. Die martialische Erscheinung krönte ein kühn geschwungener Texas-Hut. So stellte ich mir den wahren Amerikaner vor. Der Zufall wollte es, dass ich in seiner Nähe war, als eine Rotte Sauen bei ihm durchzubrechen versuchte. Als er die Schwarzkittel stangengerad’ auf sich zustürmen sah, floh er, seine Rifles von sich werfend, hinter den nächsten dicken Baum. Als dann die wilde Jagd an ihm vorbei in Richtung der parkenden Ami-Schlitten davongerauscht war, sprang er flugs zu seinen Automat-Waffen und entlud die Magazine in Richtung der Pürzel schwenkend Entschwundenen. Die Kontrolle der Fluchtfährten ergab glücklicherweise nichts, außer dass ein himmelblauer Cadillac mehrmals tiefblatt und waidwund getroffen wurde. Amerika hat für so etwas der staunenden Welt ein neues Wort beschert: „Kollateralschaden“.

Wir haben dann abends, da nichts auf der Strecke lag, das „schöne alte deutsche Jagdsignal Caddy tot“ geblasen. Ein „gemütliches Beisammensein“ nach der Jagd mit den Besatzern gab es nicht, denn jede Fraternisierung der Amis mit den „Krauts“ war seinerzeit untersagt. Das hat sich bekanntlich bald geändert. Es gipfelte in meinem Fall darin, dass mich ein amerikanischer General, natürlich ein Jäger, unbedingt adoptieren wollte.

Den festlichen Höhepunkt erlebten wir 1952, als wir die Landestagung des BJV in Rothenburg o.d.T. mit unseren Hörnern umrahmen durften. Mit meinen fünfzehn Jahren lernte ich da Jäger kennen, deren ich noch heute mit Hochachtung gedenke, wie z.B. Ulrich Scherping, den untadeligen ehemaligen Oberstjägermeister, oder Wolfgang Baron Beck, dem wir den Erhalt des Reviersystems zu verdanken haben.

Ein Jahr darauf bliesen wir dem damaligen BJV-Präsidenten, Baron Eggloffstein, das letzte Halali. Sein Sarg stand, von uns Bläsern flankiert, auf der Bühne des Münchner Krematoriums. Beim Kommando „Horn ab“ schlug einer von uns, zackig das Horn absetzend, donnernd auf den Sarg. Doch das hat den alten Waidmann nicht mehr erschüttert. Nach der Trauerfeier kam einer der Krematoriums-Angestellten ganz ergriffen zu uns, mit den Worten: „A so a scheans Halleluja hob i no nia g’heart.“ Jagdhornblasen war eben damals für weiteste Kreise etwas Neues.

Zur festlichen Premiere des Films „Der Förster vom Silberwald“ wurden wir Bläser auf der Bühne des Münchner „Filmtheaters am Karlstor“ aufgestellt. Am Rednerpult stand der damalige Landesjägermeister des Landes Salzburg, Baron Mayr-Mellnhof, in dessen Revieren der Film, der auch noch heute eine aktuelle Tendenz hat, gedreht wurde. Das Publikum bestand außer den zahlreichen Honoratioren aus ganz „normalen Leuten von der Straße“. Als uns der Baron nach langer, ausführlicher Rede das Zeichen zum Blasen gab, waren viele der „normalen Leute“ tief und sanft eingeschlummert. Doch bei den ersten Tönen des „Hohen Weckens“ schossen die Schläfer, wie vom wilden Affen gebissen, in die Höhe. Nur mit Mühe konnten wir unsere Fassung bewahren.

Zur Herbstzeit musste ich bald einen Terminkalender führen, denn die „grüne Welt“ brauchte nun für ihre wieder erlaubten Gesellschaftsjagden Bläser. Diese waren noch sehr rar. Es ging von Jagd zu Jagd, sodass meine schulischen Leistungen alle roten Warnlichter im Elternhaus aufblinken ließen. Der Abschluss des Gymnasiums war in „grüner“ Gefahr. Die Wanderjahre eines jungen Jägers mussten vorerst beendet werden.

Der alte Drilling

Hoch in einer alten Weide habe ich mir einen kleinen, notdürftigen Sitz gebaut. Ganz stolz sitze ich hier, mit meinen sechzehn Jahren und mit einem druckfrischen Jugendjagdschein in der Tasche. Weit kann ich über die sommerlichen Wiesen schauen. Es ist Blattzeit, und die Augusthitze flimmert über dem Land. An vielen kleinen Stauden ringsumher hat ein Bock seinen Zorn ausgelassen und die Erlen- und Weidenbüsche haben es arg büßen müssen. Den würde ich mir allzu gerne mal anschauen. Vielleicht kann ich ihn heute mit dem Blatten betören. Drüben beim Nachbarn, beim Baron, sehe ich weit entfernt ein Reh wie suchend durch die Wiesen streifen. Das könnte doch ein Bock sein. Und tatsächlich, das Glas bestätigt meine Hoffnung. Doch er ist noch zu fern für meine verlockende Musik.

„Ach was, ich probier’s einfach!“

Und beherzt blase ich auf mein straff gespanntes Buchenblatt, was das Zeug hält.

„Hurra, er wirft auf!“

Und noch einmal ertönt überlautes Angstgeschrei einer bedrängten Rehgeiß. Da stürmt er schon heran, von wilder Eifersucht getrieben.

„Teufel, Teufel, was bin ich für ein toller Lock-Jäger!“

Doch kurz vor dem kleinen Bach, der die Reviergrenze bildet, stoppt er. Noch ist er beim Nachbarn. Innerlich flehe ich:

„So komm doch herüber!“

Ganz glatte, engstehende, hohe Spieße sind seine Wehr. Jetzt wendet er sich, er möchte wohl wieder zurück. Da wage ich ein zartes, flehendes Fiepen. Und mit einem Sprung setzt der Getäuschte über den Bach. Längst habe ich den Hahn meines Drillings aufgezogen. Wieder verhofft er, jetzt herüben in unserem Revier. Über Kimme und Korn nehme ich Maß, und der Schuss peitscht hinaus. Doch was ist das? Der Beschossene steht wie eine Scheibe. Schnell eine neue Patrone in den Lauf! Den Hahn aufgezogen und – peng! Keine Reaktion! „Herrschaftszeiten, da soll doch der schwarze Samiel dreinfahren!“

Langsam zieht der Bock ein paar Stechschritte weiter und steht wieder wie gemauert. Jetzt aber schnell! Ich fummle eine neue Patrone aus der Tasche, die leere Hülse fällt rasselnd durch die Äste in das Brennnesseldickicht am Boden. Ja, ist denn der taub? Nach dem dritten Schuss wird es ihm dann doch zu mulmig und mit weiten, hohen Fluchten springt er ab. „Sakradi!“ Doch nicht zurück, wo er hergekommen ist, sondern in unser Revier hinein. Jetzt bleibt er nochmals verhoffend stehen, äugt misstrauisch zu dem Donnerbaum zurück. Verzweifelt habe ich wieder nachgeladen. Eigentlich ist er schon viel zu weit, doch mir ist das jetzt ganz egal. Diopter hochstellen, etwas höher gehe ich ins Ziel, und auf den sorgfältig aufs Blatt gezielten Schuss haut es den Enggestellten wie vom Blitz erschlagen zusammen. Zuerst blicke ich erstaunt auf mein Feuerrohr, dann bricht Jubel aus mir heraus.

„Ich bin der Größte, ein wahrer Meisterschütze!“

Dass ich auf diese Entfernung noch treffen konnte! Ich könnte mir selbst auf die Schulter klopfen.

Jetzt hält mich nichts mehr auf meinem luftigen Sitz. Erst lasse ich an der Schnur, mit der ich ihn auch heraufgezogen habe, den Drilling zu Boden gleiten. Dann klettere ich durch’s Geäst hinab, schnappe mir meine Wunderwaffe und muss mich beherrschen, um nicht zu meiner Beute hinzurennen. Diesen Meisterschuss muss ich mir doch gleich anschauen, um meine Heldentat so recht genießen zu können. Doch wie ich dann den Erlegten auch drehe und wende, weder links noch rechts ist auf dem Blatt ein Schussmal zu finden. Da fällt mein Blick, als ich das Gwichtl anschauen will, auf einen winzigen, schweißigen Fleck unterhalb des Hauptes: Die Kugel hatte den Bock genau am ersten Halswirbel getroffen. „Na bravo!“ sage ich mir. Etwas ratlos kratze ich mir den Kopf: „Wie soll ich das nur jemandem erklären?“

Nun, um das verständlich zu machen, muss ich ein wenig ausholen.

Meine Familie hatte einen Freund und Nachbarn, dessen verstorbener Vater Jäger war. Der hatte vor Kriegsende seine wertvollen Waffen, wie so viele andere Jäger auch, eingegraben, um sie vor der „Befreiung“ durch die Besatzer zu retten. Die weniger wertvollen Stücke gab man dann als braver Bürger den Amerikanern, denn einem Jäger hätte man nicht geglaubt, dass er gar nichts abzugeben hat. Anfang der Fünfzigerjahre, als die Deutschen ihr Jagdrecht zurückerhielten, wurden dann auch, o Wunder, die verschwundenen Waffen „exhumiert“ und „wiedergefunden“. Die Bedrohung durch die Todesstrafe auf Waffenbesitz war aufgehoben worden.

Dieser väterliche Freund war selber kein Jäger. Er hatte aber solche Freude an meiner und meines Bruders Jagdbegeisterung, dass er uns großzügig den Drilling seines Vaters schenkte.

Die Waffe stammte aus einer angesehenen Ulmer Werkstatt. Sie hatte eine herrliche Gravur und außen liegende Hähne. Das Schrotkaliber war 16/65 und als Kugel die alte Försterpatrone 9,3 x 72 R. Der Schaft war aus herrlich wolkigem Wurzelholz und hatte an der Unterseite ein Schaftmagazin für fünf Kugelpatronen. Dies hatte die gleiche edle Gravur in verschlungenen Arabesken wie auch die Seitenplatten. Auf dem Laufbündel befand sich ein Diopter, der für weite Schüsse hochgestellt werden konnte. Außen war die Waffe noch in tadellosem Zustand, aber, oh Weh, wie sahen die Läufe innen aus?! Der Kugellauf war noch einigermaßen in Ordnung, doch die Schrotläufe hatten arg gelitten. Der alte Herr hatte es wohl sehr eilig mit der „Bestattung“ gehabt, und nur die öligen Lappen außen um die Waffe hatten das Schlimmste verhindert. Wir haben ihr mit viel Liebe und Ballistol zu neuem Glanz verholfen, doch bei Rostnarben, wenn sie sich einmal eingefressen haben, kommt Öl zu spät.

Wir waren jedoch selig, ein eigenes Gewehr zu haben, dessen Einsatz wir uns nun brüderlich teilten.

Mit im „Grab“ der Wiedergekehrten befanden sich auch etliche Schachteln mit Kugelpatronen. Die Messinghülsen und die Bleiköpfe der Teilmantelgeschosse waren arg oxydiert. Die haben wir Stück für Stück aufpoliert, bis sie fast wie neu aussahen.

Die Probeschüsse konnten wir in einem Revier machen, das wir, als wär’s unser eigenes, betrachten durften. Wie es dazu kam, muss ich wohl an dieser Stelle einfügen.

Ein in unseren Augen „alter Herr“, er mochte damals vielleicht fünfundfünfzig Jahre gezählt haben, wurde durch glücklichen Zufall auf die glühende Jagdpassion von uns zwei Brüdern aufmerksam.

Ein landschaftlich vielseitiges Revier, mit Wald, Feldern, Wiesen und einem lauschigen, sich durch die Wiesen schlängelnden Bach, welches mehr als tausendfünfhundert Hektar groß war, bejagte er allein. Der Mann, an dieser Stelle verdient er es, dass sein Name festgehalten wird, Heinz Hobbhahn, war gebürtiger Ägypter mit deutschem Vater. In seiner Jugend in Ägypten ging er viel auf die Jagd. Doch weil es dort wenig Schalenwild gibt, so wurde er durch das reichlich vorhandene Flugwild ein begeisterter Flintenjäger. Rehe waren für ihn weitgehend uninteressant.

Für uns eröffnete sich ein Paradies. Den gesamten Rehwildabschuss überließ er uns, nachdem wir miteinander näher bekannt geworden waren und er über Zugang zu unserem Elternhaus Vertrauen in uns setzen konnte. Doch eine Bedingung knüpfte er an unser gemeinsames Jagen: Hasen, Hühner und Enten durften wir nur zusammen mit ihm bejagen. Dazu brauchte er uns zwar auch, doch noch eher unseren Hund. Wir hatten aus eigener Zucht einen, damals bereits mit ersten Preisen auf Prüfungen, wie Derby und Solms prämierten Deutsch-Kurzhaar Rüden, Birko v. d. Achenburg. Das Revier lag ca. 12 km von unserem Wohnhaus entfernt. Jeden Weg dorthin legten wir nur per Rad zurück, und der Rüde trabte flott nebenher.

Hobbhahn hatte nur einen uralten, gichtigen, aber heißgeliebten Dackel. Dieser kleine Kerl war das Ein und Alles für das kinderlose Ehepaar. Nur leider hatte er, sicher durch Süßigkeiten, vollkommen kaputte Zähne, die unsäglich faulig stanken. Immer wenn ich bei Hobbhahns im Hause war, krabbelte der alte Hund, der an mir einen „Narren gefressen“ hatte, auf meinen Schoß. Ich musste Freude an dem alten Liebling mimen und seine unbeschreiblichen Ausdünstungen ertragen. Ein Kind des Hauses darf man doch nicht verstoßen! Und mein Herz gehört ohnedies den Hunden. Dieser liebe, väterliche Freund gewährte uns freie Entscheidungen in seinem Revier, die es wohl nirgends sonst gab. Dafür bekamen wir aber viele gutgemeinte Ratschläge und Weisheiten seines Lebens mit auf den Weg.

Es war eine seiner gern zitierten Ermahnungen, die er uns mit Augenrollen und erhobenem Zeigefinger wieder und wieder ans Herz legte: „Buuben, der Woold hat Auugen!“ Der Gute wollte uns damit warnen, dass wir nicht mit irgendwelchen Mädels im Walde Schabernack treiben sollten und eventuell dabei beobachtet würden.

Doch die Nichtbeachtung seinerseits, gerade dieser Erkenntnis, sollte ihm großen Ärger einbringen.

Er fing nämlich ein zartes Techtelmechtel mit einer sechzehnjährigen Schülerin aus dem Dorf an, das in der Mitte des Reviers lag. Zärtlich nannte er sie: „Meine kleine Schlange“, wobei er in seinem netten Akzent „maine klaiine Schlonge“ sagte. Wir trafen ihn, wie es der Zufall wollte, mit dem Mädchen auf einem Hochsitz an, und da musste er uns notgedrungen die Sachlage erklären und uns zum Schweigen verpflichten. Dass wir dicht hielten, war für uns selbstverständlich. Doch als er mit seiner Frau einmal einen Waldspaziergang machte und dabei von der kleinen „Schlonge“ gesehen wurde, fragte diese natürlich, wer denn das gewesen sei. „Ach“, sagte er wegwerfend, „das war nur meine Haushälterin.“

Doch dann spitzte sich die Lage dramatisch zu, als die eifersüchtige „Schlange“ einen Brief an ihn schrieb, in dem stand, dass sie sehr ungehalten sei, weil er mit so einer alten Hex’, die ja nur Haushälterin sei, in ihren Liebeswald gehe.

Dumm gelaufen, denn der Brief wurde „versehentlich“ von seiner Frau geöffnet. Da gab’s gehörig Feuer unterm Dach. Wir wurden von ihr herbeizitiert und peinlichst befragt, was wir von der Affäre wüssten. Doch wir stellten uns total ahnungslos. Zum Glück legte sich der Sturm nach ein paar Monaten und der späte, zweite Frühling unseres lieben, alten Freundes blieb Gott sei Dank ohne weitere Folgen.

Aber nun zurück zum Drilling!

Unser Jagdherr hatte selber einige „wiedergefundene“ Waffen in seinem Schrank stehen. Darunter einen Doppelbüchsdrilling im seltenen Kaliber 6,5 x 58R. Diesen konnten wir uns zeitweilig ausleihen. Doch die dazugehörige Munition war so rar, dass jeder Schuss sorgfältigst überlegt werden musste, denn bald drohte der kaum ersetzbare Vorrat zu Ende zu gehen.

Da kam uns das Geschenk des alten Hahndrillings wie gerufen. Der erste Probeschuss war zufriedenstellend, doch eine größere Probeserie war ausgeschlossen, denn auch hier musste an der schwer zu bekommenden Munition gespart werden. So gaben wir uns mit dem Ergebnis zufrieden, bis dann die „raue Praxis“ zeigte, dass das Pulver, im wahrsten Sinne des Wortes, „nass“ geworden war.

Nach mehreren „Fehlzündungen“, die uns beinahe mutlos gemacht hatten, geschah es dann, dass der nächste Schuss nicht nur losging, sondern auch da saß, wo er hingehörte. „Na also, es geht doch!“ sagten wir, und das gab uns immer wieder neuen Mut zu neuen Taten.

Es kam der Herbst, und der Geißenabschuss sah mich fleißig im Revier. Rehe gab es nicht mehr viele, denn die amerikanischen Besatzer hatten ziemlich „reinen Tisch“ gemacht. Wieder einmal war ich als Benutzer der edlen Waffe dran und mein Bruder war nur interessierter Begleiter. Gut gedeckt, erwarteten wir von einem Bodensitz das zu Felde ziehende Rehwild. Vor uns ein lichtes Fichten-Stangenholz, ohne Bodenbewuchs. Eine einzelne Geiß zog noch bei gutem Licht dem Waldrand zu. Ruhig zielte ich ihr die Kugel aufs Blatt. Auf den Schuss die bilderbuchmäßige Hochflucht, wie bei einem guten Blattschuss. Bald war sie außer Sicht, aber wir waren uns sicher, sie nach wenigen Metern zusammenklauben zu können. Doch zuerst, wie sich das für einen angehenden, gewissenhaften Jäger gehört, den Anschuss kontrollieren. Seltsam, kein Tröpferl Schweiß, kein Schnitthaar zu finden. Nur kräftige Schaleneindrücke, genau dort, wo der Anschuss war. Wir schnoberten auf dem blanken Waldboden umher, da plötzlich, ja, was liegt denn da? Das Kügerl!

Die schwach gewordene Pulverladung hatte das Geschoss gerade noch bis zur Geiß getrieben, sie wie mit einem Schuss aus der Steinschleuder getroffen, heftig erschreckt und war dann kraftlos zu Boden gefallen. Das war ja doch die Höhe! Die nächste Stufe wären ja dann wirklich Pfeil und Bogen.

Wir großen Waidgesellen haben uns erst saudumm angeschaut, doch dann lachten wir herzlich. Unser Vater daheim musste zwar auch verkniffen schmunzeln, doch er fand, das sei nun doch keine rechte Jagerei und mein Bruder, als der Ältere, bekam einen Mauser Repetierer im Kaliber 7 x 57, und den auch noch mit Zielfernrohr.

Doch mir blieb dann nur als Ausweg der alte Drilling, wenn wir getrennt jagen wollten.

So war ich im Spätherbst übers Wochenende bei einem Freund in dessen väterlichem Revier im Süden Münchens zum Geißenabschuss eingeladen.

Diese „Jagdreisen“ machte ich damals stets per Eisenbahn. Mit dem Kurzhaar an der Seite, den Drilling ohne Futteral stolz geschultert, trabte ich durch den Münchner Hauptbahnhof, um den Anschlusszug gen Süden zu besteigen. Kein Mensch wunderte sich damals über den bewaffneten jungen Jäger, kein Mensch kam auf irgendwelche ängstliche oder gar jagdfeindliche Gedanken.