Cover

Eine rasante Zeitreise ins viktorianische London mit Kurt, Sandro und Tilda!

Kurt, Sandro und Tilda haben keine Lust mehr, die Welt zu retten. Doch spätestens als die Stadt von unheimlichen Beben heimgesucht wird, ist den Freunden klar, dass die nächste Katastrophe auf sie wartet. Und wer ist der seltsame Mann mit altmodischem Anzug und Hut, der ausgerechnet Kurts Brille klaut? Heimlich folgen sie dem Fremden in einen alten Klavierladen, in dem eine blinkende Maschine steht. Neugierig steigen sie ein …

»Extrem spannend, etwas gruselig und mit viel Humor erzählt.« Die Welt

Die Autorin

Antje Herden, 1971 in Magdeburg geboren, studierte etwas Chemie und viel Architektur. Seit 2004 schreibt sie Romane und Kurzgeschichten für Erwachsene und Reportagen für Stadtmagazine und seit 2010 hauptsächlich Kinderbücher. Antje Herden reist am liebsten durch die Welt. Ansonsten arbeitet und lebt sie mit ihren beiden Kindern in Darmstadt. Autorin-Facebook-Seite: www.facebook.com/Antje.Herden.Autorin

Die Illustratorin

Eva Schöffmann-Davidov wurde 1973 geboren. Sie studierte an der Fachhochschule für Gestaltung in Augsburg und ist seit ihrem Diplom 1998 als freiberufliche Illustratorin tätig. Bis heute hat sie mit großem Erfolg über 300 Bücher, vorwiegend für Kinder- und Jugendbuchverlage, illustriert. Sie lebt und arbeitet in Augsburg mit Mann, Kind und Bulldoggendame Daphne.

Antje Herden

Letzten Mittwoch
habe ich die Zukunft befreit

Mit Bildern von Eva Schöffmann-Davidov

Inhalt

Oma und der Mops
Der Brillendieb
Gefahr liegt in der Luft
Atmosphärische Beben
Verkleidet
Eine merkwürdige Maschine
Es stinkt!
Im Viertel des Schlitzers
Kein Reißverschluss, aber eine U-Bahn
Henry Bakers großer Auftritt
Die Séance
Die Wahrsagerin
Im unterirdischen London
Verloren im East End
Der Zirkus
Die Aufführung
Sandros Vater
In den London Docks
Der nichts ahnende Erfinder
Das Zeitparadoxon
In verbotener nachtschwarzer Rüstung
Zurück zum Zirkus
Die Zeitmaschine zieht um
Das war knapp!
Zurück in die Gegenwart
Die Zeit geht weiter

Zitate
Impressum

Für Shawna und Aaron

Oma und der Mops

Letzten Mittwoch habe ich die Zukunft befreit. Nein, das stimmt gar nicht. Denn letzten Mittwoch haben wir die Zukunft befreit. Außerdem war es Montag. Zumindest im Jahr 2014. Obwohl. Das stimmt auch nicht. Denn eigentlich war es Donnerstag. Wenn man länger drüber nachdenkt, wird man richtig meschugge.

Sandro hatte mal gesagt: »Aus der Weltretterrolle kommt man nie wieder raus. Einmal Weltretter, immer Weltretter.« Ich weiß nicht, ob er das ernst gemeint hat. Als er das sagte, konnte er jedenfalls nicht wissen, dass wir tatsächlich noch einmal die Welt retten mussten … Eigentlich die Zukunft, aber das ist ja irgendwie dasselbe.

»Verschnurpselter Rattenpups! Was machen eigentlich die Superhelden, während wir ihren Job übernehmen?«, hatte die Prinzessin geschimpft.

Dabei hatten ihre Augen jedoch wie Sterne gestrahlt. Denn ehrlich gesagt ist sie inzwischen ganz entbrannt fürs Weltretten. Das Wort entbrannt kommt mir jedes Mal in den Kopf, wenn ich die Prinzessin anschaue. Wahrscheinlich liegt das an ihren feuerroten Locken.

Übrigens haben wir uns jetzt auch daran gewöhnt, dass wir niemals jemandem von unseren Abenteuern erzählen können. Zumindest nicht die ganze Wahrheit. Denn die würde uns sowieso keiner glauben.

Die Schule hatte nach den aufregenden Ferien, die wir im Dschungel von Surinam verbracht hatten, gerade erst wieder begonnen und der Sommer war noch nicht vorbei. Die Bäume im Park trugen Grün, und auch wenn morgens schon kühler Tau auf der Wiese lag, wurde es tagsüber noch richtig warm.

Vom Tau wusste ich, weil Oma und ich darin herumwirbelten. Also genauer gesagt wirbelte Oma, während ich versuchte, erstens ihre Tritte zu verbessern und zweitens mir ein Grinsen zu verkneifen. Es war Sonntagmorgen und wir trainierten Hapkido. So wie jedes Wochenende.

»Kiap!«, schrie Oma. Seit sie im Dschungel einen Verbrecher mit einem gekonnten Tritt ins Unterholz geschleudert hatte, war sie noch eifriger bei der Sache.

»Oma, nicht so laut. Vielleicht schlafen ja noch ein paar Leute«, sagte ich zum vierten Mal.

Aber Oma interessierte das nicht. Sie kam aus der Ausgangsstellung, machte einen Schritt, dann einen Kreuzschritt, noch einen Schritt, warf die Arme herum und setzte zum alles entscheidenden Tritt an: dem Dolio Chagi.

Ich habe keine Ahnung, wo der kleine Hund plötzlich herkam, und leider sah Oma ihn nicht.

»Oma!«, rief ich.

»Kiap!«, schrie Oma.

Dann platschte etwas in den Ententeich und Oma fiel um.

»Kurtchen«, raunte sie erschrocken. »Kurtchen, was war das denn?«

Ich setzte meine Brille wieder gerade, die mir beinahe von der Nase gefallen wäre.

»Du hast einen Mops in den Teich befördert«, flüsterte ich.

Ich sagte bewusst befördert, damit es sich nicht so brutal anhörte. Oma sah nämlich so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Sie schaute Richtung Teich.

»Einen Mops?«, fragte sie.

Ich sah, dass sich die Bestürzung auf ihrem Gesicht in etwas verwandelte, das beinahe wie ein zufriedenes Lächeln aussah. Oma mag keine Möpse.

»Oma«, sagte ich streng, »Möpse sind auch Hunde.«

»Na ja«, machte Oma skeptisch.

Dann half ich ihr wieder auf die Beine und wir liefen ans Teichufer. Der Mops platschte fröhlich durch das grüne Algenwasser, während die Enten laut schnatternd in alle Richtungen davonschwammen.

»Herr von Eltze-Dudenhöff!«, schimpfte eine Stimme. »Habe ich dir nicht verboten, ins Wasser zu springen?«

»Herr von Eltze-Dudenhöff?«, brummte Oma. »Da tut mir ja sogar ein Mops leid.«

Auf der gegenüberliegenden Uferseite stand eine aufgeregte Frau in einem roten Cape. Der kleine Hund schwamm zu ihr, krabbelte mühsam an Land und lief auf Superwoman zu. Die schaute auf ihn herab, hob den Finger und setzte schon wieder zum Schimpfen an. Der Hund machte sich noch kleiner und zog seinen nassen Schwanz zwischen die Hinterbeine.

»Entschuldigen Sie mal!«, schrie da Oma über das Wasser. »Sie können doch Ihren Hund nicht so anschimpfen, nur weil das Tier seiner Natur gefolgt ist.«

»Was mischen Sie sich denn da ein, Sie seltsame alte Schachtel«, schrie die Frau zurück.

»Was hat die eben gesagt?«, empörte sich Oma. »Also hören Sie mal, Sie … Sie … Sie Mopsmadame!«, brüllte sie über den Teich.

»Oma, lass das lieber«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Denk mal daran, wie der Mops im Teich gelandet ist.«

Oma schnappte noch etwas nach Luft, aber sie rief zum Glück nicht noch einmal über den Ententeich. Obwohl das nun auch egal gewesen wäre. Denn falls noch jemand in den anliegenden Häusern geschlafen hatte, war der auf alle Fälle wach. Superwoman drohte von der anderen Teichseite mit der Faust, während eine Brise ihr rotes Cape bauschte. Es sah ziemlich imposant aus. Doch Oma beachtete sie nicht mehr.

»Herr von Eltze-Dudenhöff! So was Beklopptes!«, schnaufte sie. »Jetzt brauche ich erst einmal einen Kaffee und ein Hörnchen.«

Wir liefen zum Bäcker an der Ecke und bestellten eine große Tüte Brötchen, einen Becher mit Kaffee, einen mit heißer Schokolade und zwei Hörnchen. Die Bäckersfrau ist eigentlich sehr nett, sie plaudert gerne und das ein bisschen viel. An dem Tag war sie jedoch total unaufmerksam. Schweigend wie ein Grab machte sie zwei Kaffee für uns und legte vier Käsestangen dazu. Oma hätte beinahe wieder schlechte Laune bekommen. Besonders als die Bäckersfrau, anstatt sich zu entschuldigen, Oma auch noch beschimpfte, sie würde so undeutlich sprechen.

»In letzter Zeit sind die Leute wirklich sehr unfreundlich«, grummelte Oma.

»Na ja«, machte ich. Aber eigentlich musste ich Oma recht geben. Das war mir auch schon aufgefallen.

Wir setzten uns im Park auf eine Bank, die mitten in der Morgensonne stand.

»Ahhhhh!«, stöhnte Oma wohlig und tunkte das Hörnchen in ihren Kaffee.

Ich nahm gerade einen süßen Schluck von der Schokolade, als ich plötzlich das Gefühl hatte, dass uns jemand beobachtete. Mein Herz klopfte schneller, und ich merkte, wie sich die kleinen Haare auf meinen Armen aufstellten. Als drohe Gefahr in der Nähe. Ich schaute mich um. Doch Oma und ich waren alleine im Park. Sogar Mops und Superwoman waren nicht mehr da. Die Sonne warf ihre Strahlen zwischen die Bäume und durch ihre Kronen. Kleine Fliegen und Käfer tanzten darin. Die Vögel jubilierten, als gäbe es dafür einen Preis zu gewinnen. Alles war friedlich. Eigentlich. Trotzdem spürte ich diese seltsame Bedrohung.

»Nanu, wer ist denn dieser seltsame Mann da neben uns?«, fragte Oma in diesem Moment.

Ach du grüne Neune! Ich hatte es gewusst! Erschrocken schaute ich zur Seite. Da war aber niemand. Jedenfalls kein seltsamer Mann.

»Oma, das ist nur ein Hydrant«, sagte ich erleichtert.

Oma lachte. »Da hat mich wohl die Sonne geblendet. Für einen Moment dachte ich, da würde jemand neben unserer Bank stehen und uns anstarren.« Sie erhob sich ächzend. »Kurtchen, lass uns nach Hause gehen und deinen Eltern frische Brötchen bringen.«

Und das machten wir dann.

Am Nachmittag traf ich mich mit Sandro und Tilda auf dem Containerdach, unserem geheimen Treffpunkt im Park. Sandro kletterte erst einmal den Baum hinauf, dessen Blätter uns vor den anderen Parkbesuchern verbargen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte die Prinzessin. Wenn Sandro nicht stillhalten kann, macht er sich über irgendetwas Großes Gedanken. Oder große Gedanken über irgendetwas.

Die Prinzessin und ich lagen auf dem Bauch. Ich machte Hausaufgaben. Sie war damit schon fertig und spitzte ihre Buntstifte. Obwohl sie nur mit dem blauen geschrieben hatte, spitzte die Prinzessin alle Stifte. Sie konnte es einfach nicht ertragen, wenn sie nicht gleich lang waren.

»Warum benutzt du keinen Kugelschreiber oder Tintenstifte?«, fragte ich sie.

»Darum«, sagte die Prinzessin und hielt mir den perfekten Kreis einer Anspitzerblume entgegen.

Ich wusste natürlich, dass das nicht der wirkliche Grund war. Wenn die Prinzessin keine Holzstifte zum Spitzen hätte, würde sie woanders Unordnung sehen, die sie vielleicht nicht ordnen konnte. Und das würde sie ganz verrückt machen.

Sandro kletterte wieder vom Baum herunter. »Heute ist ein komischer Tag«, sagte er und zappelte etwas herum.

»Das stimmt«, sagte ich.

Ich blickte auf Sandros Brust, wo eine Kette mit Schildern baumelte. Auf jedem Schild standen Worte oder Sätze, die man am Tag sehr oft benutzt. So eine Kette hatte Sandro früher immer um den Hals getragen. Damals stotterte er und hielt die Schilder hoch, wenn die Worte darauf ins Gespräch passten. Aber seine alte Kette hatte er in den Sommerferien im Dschungel verloren. Außerdem stotterte er gar nicht mehr.

»Du hast eine neue Schilderkette«, stellte die Prinzessin fest.

Sandro nickte. »Und du trägst wieder einen rosa Rock mit angenähten rosa Bändern dran«, sagte er.

Das war mir natürlich auch gleich aufgefallen. Ich wollte aber nichts dazu sagen. Eigentlich hatte die Prinzessin nämlich ihre rosafarbenen Kleider schon vor einer ganzen Weile zum Secondhand-Laden gebracht.

»Ich hatte das Gefühl, ein rosa Rock wäre heute genau richtig«, murmelte die Prinzessin. »Gefallen euch die Bänder nicht?«

»Na ja«, sagte ich. »Wir sind Jungs …«

»… und Jungs haben es nicht so mit rosa Bändern, weißt du?«, sagte Sandro.

Die Prinzessin lachte. »Klar weiß ich das. Aber es beruhigt mich, wenn ich die Bänder annähe.«

»Es liegt irgendetwas Bedrohliches in der Luft«, murmelte ich und schaute mich nach allen Seiten um.

»Das finde ich auch«, sagte die Prinzessin.

Ich erzählte den beiden von dem komischen Gefühl, das ich am Morgen hatte.

Sandro setzte sich endlich zu uns. »Vielleicht gibt es einen Sturm oder ein schlimmes Gewitter«, überlegte er. »Dann ist die Luft manchmal elektrisch aufgeladen und das kann man spüren.«

»Vielleicht«, murmelte die Prinzessin.

So richtig glaubten wir das allerdings nicht. Es war nämlich nicht das kleinste Wölkchen am Himmel zu sehen. Natürlich konnten wir da noch nicht ahnen, wie groß die Bedrohung tatsächlich war, die über uns schwebte.

Der Brillendieb

Wir blieben nicht so lange wie sonst im Park, sondern machten uns ziemlich schnell auf den Heimweg. Gerade liefen wir die Straße entlang, in der ich wohne, als etwas Supermerkwürdiges passierte. Eigentlich war das Ganze nicht nur merkwürdig, sondern sogar richtig schlimm. Besonders für Sandro.

In unserer Straße gibt es ein schreckliches Haus. Es fällt echt auf in dieser prächtigen Straße aus dem 19. Jahrhundert, in der alle Gebäude schön saniert sind. Das schreckliche Haus aber steht leer und verfällt. Die Fenster und Türen sind herausgerissen und manche Wohnungen sind rabenschwarz ausgebrannt. Die Haustür ist mit Brettern vernagelt, damit niemand hineingehen kann. Es ist nicht schade um das Haus, denn es sah sowieso niemals so schön aus wie die anderen. Zumindest soweit ich mich erinnern kann. Es ist ein grauer Kasten, der irgendwann in die Lücke gebaut wurde, die eine Bombe im Krieg gerissen hatte. Merkwürdig ist, dass sich niemand darum kümmert. Warum wurde das alte Ding nicht längst abgerissen und ein neues Haus gebaut? Darüber wurde schon öfter in der Zeitung geschrieben. Aber niemand kann etwas machen, weil der Eigentümer es nicht will. In der untersten Etage des danebenliegenden Hauses befindet sich ein Geschäft. Es ist der einzige Laden in unserer Straße. Man kann dort Klaviere und Flügel kaufen. Die braucht man nicht alle Tage, darum sieht es auch immer so aus, als sei der Laden zu.

Gerade als wir daran vorbeilaufen wollten, öffnete sich jedoch die Tür. Ich zuckte vor Schreck zusammen, weil ich das noch nie gesehen hatte. Heraus kam ein sehr wundersamer Mann. Er stakste wie ein Storch mit großen, aber vorsichtigen Schritten. Als hätte er Angst, in etwas Ekliges zu treten.

»Der will keine Hundekacke an seine komischen Schuhe kriegen«, wisperte die Prinzessin.

Solche Schuhe hatte ich wirklich noch nicht gesehen. Sie waren mit vielen kleinen Knöpfchen besetzt und zogen sich bis über die Knöchel hoch. Vielleicht war der Typ unterwegs ins Theater oder zu einer anderen Aufführung und trug schon mal sein Kostüm. Neben den Schuhen hatte er einen altmodischen Anzug mit Weste und goldener Uhrenkette an. Außerdem trug er einen Zylinder auf dem Kopf. Wir blieben stehen, um ihn vorbeizulassen. Doch er dachte gar nicht daran, an uns vorbeizulaufen. Der Mann kam direkt auf uns zu.

Plötzlich wurde mir furchtbar schwindelig. Ich musste erst einmal tief durchatmen und das sausende Karussell in meinem Kopf wieder anhalten. Vielleicht konnte darum passieren, was dann passierte.

»Gib mir dieses kleine Ding!«, herrschte der Mann Sandro an. »Schnell! Ich habe nur noch zwei Minuten Zeit.«

Wir starrten ihn an.

»Meinen Sie das hier?«, fragte Sandro und hielt ihm hin, womit er die ganze Zeit herumgespielt hatte.

Es war eine Eichel, die er im Park aufgehoben hatte. Die Prinzessin kicherte.

Ärgerlich zog der Mann seine Stirn in Falten. »Bitte jetzt keine Scherze, Tilda«, knurrte er. »Die Situation ist mehr als ernst.«

Dann griff er plötzlich nach Sandros Tasche, öffnete den Reißverschluss und wühlte darin herum.

»Was fällt Ihnen ein?«, schrie Sandro überrascht.

Endlich war der Schwindel vorbei und ich konnte in die Ausgangsstellung gehen. Ich setzte einen wohlgezielten Tritt auf den Hintern des Mannes. Jedenfalls wollte ich das. Aber als hätte er das geahnt, sprang der Typ ein Stück zur Seite und ich wäre vor lauter Schwung fast vornübergefallen. Sandro hatte inzwischen nach seiner Tasche gegriffen und zog daran. Der Mann zerrte an der anderen Seite und wühlte dabei weiter darin herum.

»Verkrustete Teetasse! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Der Typ beklaut uns einfach!«, rief die Prinzessin. Ihr Gesicht leuchtete grün, als stünde sie noch unter den Bäumen im Park.

Bevor ich mich umdrehen und einen nächsten Angriff starten konnte, hatte der Mann wohl gefunden, wonach er gesucht hatte. Er ließ Sandros Tasche los und wandte sich mir zu. Dann fasste er von hinten über meinen Kopf und zog mir die Brille von der Nase!

»Das ist ja wohl das Allerletzte!«, schrie die Prinzessin außer sich. »In letzter Zeit sind ja viele Leute superseltsam drauf. Aber das geht echt zu weit. Sie können doch einem Kind nicht die Brille klauen!«

Perplex versuchte ich etwas zu erkennen, aber ich brauche meine Brille wirklich. Ohne sie bin ich quasi halb blind.

Die ganze Szene hatte nur wenige Augenblicke gedauert. Da lief der Typ mit seinen langen Storchenschritten schon wieder in den Laden zurück. Als wir uns von unserer Überraschung erholt hatten und uns wieder bewegen konnten, rannten wir ihm nach. Doch er verschloss die Tür vor unserer Nase, bevor wir ihn packen konnten. Wütend klopften wir gegen die Scheibe.

»Hey, machen Sie die Tür wieder auf! Sofort!«, rief Sandro.

Aber die Tür blieb verschlossen. Den seltsamen Mann konnten wir im Inneren des Ladens auch nicht mehr sehen. Stattdessen öffnete sich ein Fenster im ersten Stock.

»Was schreit ihr Kinder denn hier herum?«, keifte eine alte Frau. »Wollt ihr etwa die Scheibe einschlagen? Hört sofort auf damit!«

»Der Typ da drinnen hat uns gerade beklaut«, rief ich zu ihr hoch.

»Was denn für ein Typ?«, schrie sie zurück. »Das ist mein Laden und der ist abgeschlossen. Da kann überhaupt niemand sein. Auch kein Typ.«

»Doch, da ist jemand drinnen. Schnell, kommen Sie herunter und schauen Sie nach!«, rief die Prinzessin.

»Unverschämte Gören!«, schimpfte die alte Frau und schloss ihr Fenster.

Wir warteten eine Weile.

»Sie kommt nicht«, stellte ich schließlich fest.

»Lasst uns bei ihr klingeln«, schlug Sandro vor.

Erst hatte ich Sorge, dass wir nicht wissen würden, wo wir klingeln sollten. Aber die Sorge war unbegründet. Es gab nur ein Klingelschild: Emmi Bäcker.

»Die wohnt hier ganz alleine im Haus«, stellte die Prinzessin fest.

Wir klingelten Sturm. Doch die Alte öffnete nicht und kam auch nicht herunter.

›Vielleicht hat sie die Klingel abgestellt‹, dachte ich.

»Wahrscheinlich hat sie die Klingel abgestellt«, sagte Sandro.

»Und was machen wir nun?«, fragte die Prinzessin.

»Am besten hole ich meine Mutter«, sagte Sandro.

»Vielleicht nimmt die alte Frau eine Erwachsene ernster.«

Kurz dachte ich daran, Oma um Hilfe zu bitten. Vielleicht kannte sie die Alte sogar. Außerdem musste ich sowieso nach Hause und meine Ersatzbrille holen. Aber vielleicht war es besser, wenn Oma sich da raushielt. Sie hatte heute so eine gefährliche Laune.

»Was hat der Typ dir denn überhaupt geklaut?«, fragte ich.

»Mein iPhone«, sagte Sandro traurig.

Ich hatte gar nicht gewusst, dass Sandro seit Neuestem Besitzer eines iPhones war. Aber das war er nun ja auch nicht mehr.

Über diese ganze Sache vergaß ich zu fragen, was die Prinzessin eigentlich Bedrohliches gespürt hatte und warum Sandro seine Schilderkette wieder trug. Außerdem war da noch etwas. Ich konnte nicht sagen, was es war. Aber noch etwas war gerade sehr, sehr seltsam gewesen.

Gefahr liegt in der Luft

Am nächsten Tag saßen die Prinzessin und ich nachmittags auf dem Dach und warteten auf Sandro. Er war mit seiner Mutter zur Polizei gegangen, um Anzeige zu erstatten. Die Prinzessin hatte ein kleines Nähzeug dabei und nähte Bänder an ihren Rock.

»Du nimmst jetzt auch Grün und Blau«, stellte ich fest.

»Rosa ist ja wirklich nur was für Prinzessinnen«, sagte sie.

Ich grinste. »Stimmt.« Tilda konnte ja nicht wissen, dass ich sie heimlich immer noch Prinzessin nannte. So wie früher in der Grundschule.

Ich hielt meinen alten umgebauten DS in den Händen und schaute Nachrichten.

»Und, was ist so los in der Welt?«, fragte die Prinzessin.

»Gestern gab es an verschiedenen Orten zur selben Zeit wieder kleine Beben. Das stärkste war hier in der Nähe«, erzählte ich. Nachrichten dieser Art hatte ich schon seit einigen Tagen verfolgt. Es wurde nämlich seit etwa einer Woche von vielen Menschen gemeldet, dass sie seltsame Erschütterungen und Beben in der Luft spürten, bei denen ihnen schwindelig wurde. Manche brachen sogar zusammen. »Man konnte die Beben mal wieder nicht mit Seismografen messen. Die Wissenschaftler vermuten Störungen in der Atmosphäre. Sie nennen sie atmosphärische Beben.«

»Was sind Seismografen?«, fragte die Prinzessin.

»Erdbebenmesser«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe eins der Beben auch bemerkt. Mir war nämlich gestern mal kurz schwindelig.«

»Mir auch!«, rief die Prinzessin aufgeregt. »Als dieser Typ Sandros Handy und deine Brille klaute. Sonst hätte ich den doch niemals abhauen lassen. Verwackelter Rompelschnurz! Wie kann denn ein Erwachsener einem Kind die Brille klauen! Au!« Sie steckte ihren Finger in den Mund, weil sie sich mit der Nadel gestochen hatte. »Ob solche atmosphärischen Beben gefährlich sind?«, fragte sie lutschend.

Das hatte ich mich auch gerade gefragt.

Da kam Sandro zu uns auf das Dach geklettert. Die Schilder an seiner Kette klimperten.

»Mann, hat das lange gedauert«, stöhnte er. »Der Polizist wollte einfach nicht kapieren, wie der Typ aussah. Ich musste es ihm hundertmal beschreiben.«

»Vielleicht wollte er dir aber auch nicht glauben«, sagte die Prinzessin und lutschte an ihrem Finger.

»Der hat mir ganz sicher nicht geglaubt«, brummte Sandro. »Erst recht nicht, nachdem er die Frau vom Klavierladen angerufen hatte, die ihm versicherte, dass sie schon den ganzen Monat geschlossen hat und niemand in dem Laden gewesen sein kann. Na ja, und das mit der Brille hat ihn auch nicht wirklich überzeugt.«

Kein Wunder. Meine Brille ist ja auch nichts Besonderes. Das Gestell ist alt und sogar schon einmal geklebt. Wer klaut denn so etwas und warum?

»So was Blödes«, sagte ich.

»Das lassen wir aber nicht auf uns sitzen, das ist klar«, schimpfte die Prinzessin.

»Auf keinen Fall«, sagte Sandro.

»Wir holen das Handy und die Brille wieder zurück«, bestimmte die Prinzessin.

»Also werden wir den Laden überwachen, oder was?«, fragte ich.

»Natürlich«, sagte die Prinzessin und packte ihr Nähzeug zusammen. »Wir lassen uns doch nicht von einem unverschämten Dieb in einem albernen Kostüm an der Nase herumführen.«

Ich war froh, dass wir endlich etwas tun konnten. Denn ich hatte immer noch das merkwürdige Gefühl, dass um mich herum irgendeine Gefahr lauerte. Ständig drehte ich mich um, weil ich den Eindruck hatte, jemand würde hinter mir stehen oder mich beobachten. Das machte mich ganz kribbelig.

Wir kauften uns ein Eis und setzten uns damit gegenüber vom Klavierladen auf den Bürgersteig. Im Laden rührte sich nichts und niemand.

»Eigentlich müssten wir einen 24-Stunden-Wachposten einrichten«, überlegte Sandro. Er zappelte die ganze Zeit mit den Füßen. Das war nicht unbedingt beruhigend.

»Das stimmt«, sagte die Prinzessin. »Wahrscheinlich passiert genau dann etwas, wenn keiner von uns hinschaut. Aber meine Eltern würden mir nie erlauben, nachts draußen zu sein.«

»Mhm«, machte ich. Meine würden das auch nicht erlauben. Und heimlich abhauen und stundenlang in der Dunkelheit hocken fand ich auch nicht so toll. Aber mir kam langsam, aber sicher eine Idee.

»Auf was warten wir eigentlich?«, fragte ich zerstreut.

»Na, auf irgendwas«, sagte Sandro. »Vielleicht kommt der Typ wieder heraus oder jemand geht hinein.«

»Klar, weil man hier neuerdings auch supergünstige Handys und gebrauchte Brillen kaufen kann«, sagte die Prinzessin.

»Wirklich?«, fragte ich, weil ich mit meinen Gedanken ganz woanders war.

»Ähm, Kurt?«, machte die Prinzessin und Sandro schaute mich besorgt an.

»Schon klar. Hab’s kapiert«, sagte ich und grinste.

Die Prinzessin lächelte. Doch dann senkte sie die Stimme und fragte: »Ist da irgendjemand hinter mir?«

Ich drehte mich um. Doch da war keiner. »Nein, niemand.«

»Ich habe auch die ganze Zeit das Gefühl, dass mich jemand beobachtet«, sagte Sandro.

Ich nickte. Ja, das kannte ich. Aber es war wirklich niemand zu sehen.

»Ich flitze mal schnell nach Hause«, sagte ich. »Ich habe eine Idee für die Nachtwache.«

»Okay«, sagte Sandro. »Kannst du uns irgendwas zum Essen mitbringen?«

»Klar.«

»Und ein Spiel? Karten oder so?«

»Mache ich«, sagte ich und sprang auf.

Zum Glück war Papa zu Hause. Zwar glaube ich ganz fest daran, dass ich eines Tages den tollsten Computer der Welt entwickeln werde. Aber es war gut, dass Papa mir mal schnell bei meiner Idee half. Er ist ein absoluter Technikfreak und Computercrack. Darum dauerte es auch nicht lange, bis wir ein Aufnahmeset zusammengebastelt hatten. Eine kleine Kamera mit einer Speicherkarte für eine 12-Stunden-Aufnahme und ein altes Smartphone, auf dem man verfolgen konnte, was die Kamera aufnahm. Ein Auge in der Nacht. Wie immer stellte Papa keine Fragen. Ich glaube, er geht da einfach von sich aus. Das Interesse an der Bastelei genügt ihm. Dass man die Dinge auch zu irgendetwas benutzen kann, ist ihm nicht wichtig. Während wir beim Zusammenbauen des Aufnahmesets also nur das Nötigste redeten, interviewten sie im Radio irgendeinen berühmten Wissenschaftler zu den atmosphärischen Beben.

»So ein Quatsch«, brummelte Papa. »Atmosphärische Beben. Die wissen einfach nicht, was es ist.«

Erst als ich wieder bei Sandro und der Prinzessin ankam, merkte ich, dass ich vergessen hatte, ihnen etwas zu essen und das Kartenspiel mitzubringen.

»Cool«, sagte Sandro trotzdem.

Wir versteckten die Kamera im Gebüsch und stellten sie an. Dann lief ich probeweise bis zu unserem Haus.

»Die Übertragung ist perfekt«, sagte ich der Prinzessin und Sandro, als ich wieder bei ihnen war.

»Allerdings werde ich in der Nacht gegen zwei Uhr morgens zur Kamera schleichen müssen, um den Akku zu wechseln.«

»Hast du deswegen Angst?«, fragte Sandro.

Ich habe keine Angst vor Dingen, die ich sehen kann und gegen die ich zur Not kämpfen könnte. Immerhin habe ich den roten Gürtel im Hapkido. Eine Gefahr, die man jedoch nur spürt, aber nicht sieht, ist etwas ganz, ganz anderes. Ich wollte schon lügen, aber das wäre blöd gewesen. Sandro und die Prinzessin sind meine Freunde.

»Ich hätte furchtbare Angst«, wisperte die Prinzessin. »Irgendwie ist in letzter Zeit alles so bedrohlich. Obwohl ich nicht weiß, wieso.«

Das hieß eine ganze Menge. Denn die Prinzessin sieht sonst immer sehr genau, wenn sich etwas verändert. Und auch was. Sogar kleinste Kleinigkeiten.

»Vielleicht sind das doch diese atmosphärischen Beben«, sagte ich. »Vielleicht kann man die ja nicht sehen oder messen, aber spüren.«

Auf einmal sah mich die Prinzessin mit einem strahlenden Lächeln an. Sie holte ein Blatt Papier aus ihrer Tasche. Das faltete sie ganz ordentlich in der Mitte und noch einmal und noch einmal. Dann riss sie vorsichtig den achten Teil des Blattes an der Falzkante ab. Darauf schrieb sie eine Nummer und gab mir den Zettel.

»Ich nehme heute Nacht das Handy meiner Mutter mit ins Bett. Wenn du losgehst, rufst du mich an, und ich bleibe die ganze Zeit am Telefon, okay?«

Ich nickte. Das war eine gute Idee. Sandro biss sich auf die Lippe. Dann nickte er auch.

Wir saßen noch zwei Stunden mit knurrenden Mägen auf dem Bürgersteig und erzählten uns Geschichten. Gegenüber im Laden passierte überhaupt nichts. Schließlich musste ich ins Hapkidotraining. Sandro und die Prinzessin blieben auf dem Bürgersteig sitzen. Bevor ich zum Dojang aufbrach, kaufte ich ihnen noch schnell zwei Pomdöner.

Nach dem Training lief ich zu unserem Wachposten zurück.

»Da bist du ja endlich«, stöhnte die Prinzessin.

Sie hatte aus lauter Steinchen, Blättern und kleinen Papierfetzen ein tolles Muster auf den Boden gelegt.

»Das sieht schön aus«, sagte ich.

»Danke. Sandro sagt, es ist ein indisches Mandala«, murmelte die Prinzessin.

»Aha«, sagte ich und beschloss, zu Hause gleich mal zu googeln, was ein indisches Mandala ist.

»Sandro musste schon los.« Die Prinzessin stand auf und streckte sich. »Ich gehe jetzt auch. Mach’s gut, Kurt. Bis heute Nacht.«

Sie beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Wange, wie sie es seit einer Weile tut. Mir ist das ja immer ein bisschen peinlich.

»Warte, Tilda. Ich komme mit und bringe dich noch bis zur nächsten Ecke.«

Ich stellte schnell die versteckte Kamera an. Da wurde plötzlich das Fenster über dem Laden aufgerissen.

»Verschwindet endlich, ihr Gören«, schrie die alte Frau herunter.

Oh, verdammt! Sie hatte uns bestimmt die ganze Zeit gesehen. Kein Wunder, dass im Laden nichts passiert war. Hatte sie die Kamera etwa auch entdeckt?

Da hörte ich auch noch ein Kichern hinter mir. Ich drehte mich um. Irgendwie wusste ich aber schon, dass dort niemand sein würde. War es auch nicht. Nur eine Fratze aus Stein, die über dem Eingang des alten Hauses prangte.

»Hast du das auch gehört?«, wisperte die Prinzessin.

»Meinst du die Alte? Na, das war ja kaum zu überhören«, sagte ich und hoffte, sie würde die alte Frau meinen, die inzwischen ihr Fenster wieder zugeschlagen hatte.

»Nein«, flüsterte die Prinzessin, »da war eben so ein komisches Kichern hinter uns. Aber da ist keiner.«

»Doch, dieser Typ mit dem offenen Mund an der Fassade«, sagte ich, als sei das alles superwitzig. Dabei hatte ich eine Gänsehaut.

»Kurt, ich sage dir, da stimmt irgendetwas überhaupt nicht«, sagte die Prinzessin.

Ich glaubte ihr sofort. Denn wenn die Prinzessin sagt, dass irgendetwas nicht stimmt, dann stimmte irgendetwas nicht.

Atmosphärische Beben

Ich wachte auf, weil ich flog. So fühlte ich mich jedenfalls. Ich tastete nach meiner kleinen Leselampe neben dem Bett und knipste sie an. Es half nichts, ich flog immer noch. Ich setzte meine Brille auf, starrte an die Decke und konnte einfach nicht landen. An der Decke waren zwei Flecken. Wie waren die eigentlich da hingekommen?

Endlich schob sich das Bild vom rechten Fleck über das vom linken und ich konnte wieder scharf sehen. Na klar, da oben war nur ein Fleck. Ein Tintenfleck, und ich wusste genau, wie der da hingekommen war. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.