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DER FLATBOOTMANN

 

1. Die Landung

 

Den breiten, mächtigen Mississippi belebte im Monat Juni des Jahres 1850 eine außergewöhnlich große Anzahl von Booten, die alle die Produkte des Nordens den südlicher gelegenen Städten, wie der Hauptstadt Louisianas, New Orleans, entgegenführten.

Der Sommer rückte weiter und weiter vor und die unbehilflichen ‚Flatboote‘, breite, lange, viereckige Kästen, die ganz von der Strömung abhängen, beeilten sich so viel als möglich, den Fluss hinabzukommen, um die südlichen Plätze noch vor dem Eintreten der ungesunden Jahreszeit zu erreichen und wieder verlassen zu können. Hier und da kamen die Boote einzeln herunter, die Leute faul auf dem leicht gerundeten Deck ausgestreckt und die Stunden in lässiger Ruhe verträumend. Dann und wann sah man aber auch ganze Trupps, von Weitem einer Anzahl Schachteln nicht unähnlich, die von eines mutwilligen Knaben Hand dem Wasser preisgegeben worden. Und doch bergen diese von ungehobelten Planken roh genug hergestellten Fahrzeuge oft die wertvollsten Ladungen, von ihren Eigentümern leichtsinnig dem tückischen Strom anvertraut. Versichert war wenigstens keins derselben, und kamen sie glücklich an den Ort ihrer Bestimmung, so blieb ihm ein reicher Verdienst ziemlich gewiss. Hatten sie aber unterwegs ein Unglück, ei nun, so war das eben ein Fall, den niemand ändern konnte, und der frühere Eigentümer kehrte in seine Heimat zurück und begann dort mit seiner Arbeit von Neuem, bis er ein anderes Boot unter den nämlichen Verhältnissen beladen konnte.

Die Eigentümer dieser Boote sind teils Händler aus dem Norden, die von Farmern oder Kaufleuten die Waren und Produkte erst aufkaufen und dann eins oder mehrere dieser Boote zusammen den Strom viele hundert Meilen hinabführen; teils sind es aber auch die Farmer selber, die in ihrer Nachbarschaft nicht hohen Preis genug für ihr Getreide, oder was sie sonst gewonnen, lösen konnten, sich dann gewöhnlich selber ein solches Fahrzeug zusammenzimmern und nun vertrauensvoll dem Süden entgegenschwimmen.

Sind es wirklich die Farmer, so laden sie gewöhnlich nur, was sie selber auf ihren Farmen erbaut oder produziert: Mais, Tabak, Kartoffeln, Äpfel, Pökelfleisch, Whisky, getrocknetes Obst, Zwiebeln usw., oft sogar lebendiges Vieh wie Rinder, Schweine und Schafe.

Die Händler dagegen begnügen sich nicht mit diesen Gegenständen. Außer solchen Produkten, die sie von den Farmern kaufen und bei denen der Whisky nicht selten eine Hauptrolle spielt, nehmen sie gewöhnlich noch Kattune, buntfarbige wollene und seidene Tücher, wollene Decken, Strohhüte, Pulver und Blei, ja nicht selten auch heimlicherweise Waffen mit, um sie im Süden an die Neger zu verkaufen. Allerdings ist es streng untersagt, den Sklaven Waffen und Munition wie auch Whisky zu überlassen, aber verbotener Handel bleibt auch fast stets der einträglichste, und das wussten die Yankee-Händler denn recht gut.

Bargeld besaßen die Neger aber selten oder nie und als Ausgleich für die erhaltenen Waren schleppten sie herbei, was sie ihr eigen nannten: Ferkel, Hühner, Truthühner, Eier usw., und was sie nicht selber hatten, stahlen sie eben in der Geschwindigkeit. Um einen Ausweg sind sie nur selten verlegen.

Solch ein Händlerboot, das zum Unterschied von den übrigen eine kleine rotgrüne Fahne vorn an der Spitze führte, war denn auch gegen Abend in Sicht einer größeren Pflanzung am Mississippi gekommen und der Ruf des Steuernden weckte die Schläfer an Deck. Solange diese Art Fahrzeuge der Strömung ruhig folgen und nichts Außergewöhnliches in ihrem Weg liegt, haben die Leute an Bord im breiten Strom wenig zu tun. Manchmal nur müssen sie wohl einer vorspringenden Landspitze oder einer Insel ausweichen, dann und wann vielleicht einmal aus dem Fahrwasser eines Dampfers zu kommen suchen oder im Strom selber angeschwemmte und gefährliche Stämme vermeiden. Sonst bietet die Schifffahrt auf dem unteren Mississippi ihnen aber nicht viele Hindernisse und nur abends, wenn sie anlegen wollen, bedarf es einiger Arbeit, um das schwerfällige Boot mit seinem breiten Bug gegen das Land zu und an einen sicheren, geschützten Platz zu rudern.

Das geschah denn auch jetzt. Am rechten Ufer wurde eine große, weit ausgedehnte Plantage sichtbar, die mit ihrem weißen, wohnlichen Herrenhaus und einer Anzahl kleiner Negerhütten im Schatten fruchtschwerer Orangen- und Nussbäume lag, und der Yankee hatte sich bald einen Platz ausersehen, der ihm für seine verschiedenen Zwecke entsprechend schien.

Auf diesen Booten sind lange, schwere Ruder angebracht, die nur aus einer Stange mit einem daran befestigten Brett bestehen und an Bord selber festgemacht werden. In diese legten sich die Bootsleute jetzt und ziemlich willig dazu, denn hier, wussten sie recht gut, kamen sie erst in zwei oder drei Tagen wieder fort und konnten sich an Land von der monotonen Wasserfahrt erholen.

„Wetter noch einmal, Bill“, sagte ein baumlanger, kräftig gebauter Bursche aus Illinois mit blonden Haaren und gutmütigen blauen Augen, „wie verdammt hübsch das da drüben am Land ausschaut. Sieh nur die Apfelsinen da drüben – ein ordentlicher Wald; mir läuft das Wasser schon dabei im Maul zusammen.“

„Pah“, brummte Bill, sein Kamerad, der mit ihm an einem Ruder lehnte, „nicht so viel geb ich für das sauersüße Zeug, da ist mir ein Becher Whisky und ein alter, ehrlicher Ohio-Apfel lieber als alle Apfelsinen von ganz Louisiana. Fühle mich überhaupt nicht wohl hier unten zwischen den Wollköpfen und wollte, dass wir schon wieder auf dem Heimweg wären. Hol der Teufel das Bootfahren, wenn er Lust hat!“

„Munter, munter, ihr Leute – greift da besser ein – ihr beide da, Bill und Jack!“, rief in diesem Augenblick der Eigentümer des Boots, der sich an seinem eigenen Bord gern ‚Kapitän‘ nennen hörte. „Wir missen wahrhaftig die Landung, und wenn ihr das Boot nachher stromauf ziehen müsst, wisst Ihr, was das heißt.“

Poleridge, wie der Eigentümer hieß, war eine wetterbraune Gestalt mit eisenharten Zügen und kleinen, grauen, aber nicht ungemütlichen Augen. Ein Yankee von Geburt, hatte er sich fast ein Lebensalter in den verschiedenen Staaten der Union herumgetrieben und endlich in Ohio vorläufig das Land zu finden geglaubt, in dem er sich bleibend niederlassen könne – bleibend heißt das, was derartige Leute eben unter dem Namen verstehen, und wie verschieden ist darin der amerikanische Charakter von dem deutschen. Wo sich der Deutsche einmal niederlässt, wo er sich sein Haus baut und das Land urbar macht, da gedenkt er für seine Lebenszeit auszuhalten. Da düngt und da schafft er und bessert und richtet sich mit jedem Jahr wohnlicher ein; baut Scheunen und Ställe und gewinnt zuletzt den Platz so lieb, dass er von einem Verlassen desselben nichts mehr hören mag. Der Amerikaner dagegen kauft nur immer, um wieder zu verkaufen – ihm ist alles feil. Sein Pferd, sein Hund, sein Gewehr, der Rock – das Hemd, das er auf dem Leibe trägt; wenn ihm jemand einen annehmbaren Preis dafür bietet, zieht er’s, wo er steht, herunter. Ebenso der Platz, auf dem er sich heimisch gemacht, ob er ihn nun ein oder zehn Jahre bewohnt. Anhänglichkeit an die Scholle kennt er nicht; der Boden ist ihm ebenso gut Ware wie irgendetwas anderes, und bietet ihm heute jemand einen guten Preis, so packt er morgen, was ihm geblieben, wieder auf und sucht sich eben einen neuen Ort.

So war der Alte auch schon ein tüchtiges Stück durch die Staaten gezogen; erst mit dem Packen auf dem Rücken, seine Waren durch das Land hausierend; dann, als er sich etwas verdient, mit einem Wägelchen; zuletzt mit zweispännigem Geschirr bald hier, bald da, auf alles rücksichtslos, nur nicht auf den eigenen Vorteil. Ein Vermögen hatte er auch schon in seinem vierundzwanzigsten Jahr gewonnen, und im nächsten musste er wieder mit dem Hausieren beginnen, weil er zu viel auf die einzige Spekulation gewagt und alles verloren – aber was tat’s? Er fing eben wieder von vorne an, verdiente noch einmal, verlor wieder und begann zum dritten Mal, um wieder alles auf ein einziges Flatboot und den tückischen Strom zu setzen. Glückte ihm die Fahrt, so hatte er sein Vermögen verdoppelt, vielleicht verdreifacht – glückte sie ihm nicht – ei, Amerika war groß, und tausend Hilfsquellen und Wege gab es nach allen Richtungen hin für einen unternehmenden Kopf!

Unzählige solche Menschen wohnen dort drüben in dem wunderlichen Land, für Tausende in unserer Heimat das Ziel ihrer Sehnsucht, ihres Hoffens; zähe Naturen alle, die wohl zu biegen, aber nicht zu brechen sind, wie der Hickory ihrer Wälder sich dem Sturm beugen und ihn über sich dahinbrausen lassen muss, um im nächsten Moment wieder so fest und sicher zu stehen wie je.

Das Terrain hier, in das der alte Poleridge jetzt sein Boot gebracht, kannte er ebenfalls genau. Wie oft schon war er hier gewesen und hatte hier mit allem gehandelt, was eben feil sein konnte – vom Neger hinab bis zum Frucht- und Eiermarkt. Auch die Plantagen kannte er, mit wenigen Ausnahmen, wie sie am Mississippi lagen, und wenn er dabei auch nicht mit den Pflanzern selber verkehrte, stand er sich desto besser mit den ‚Aufsehern‘ und – den Negern. Welcher Gefahr er sich dabei aussetzte, wusste er recht gut, aber eben weil er es wusste, fürchtete er sie nicht und ging dem gesetzlichen wie ungesetzlichen Verkehr hier geradeso ruhig entgegen, als ob er daheim auf seiner Farm eine Ladung Mais an einen Nachbar verkauft hätte.

Auf dieser Plantage, der sich das Boot jetzt langsam näherte, war er allerdings seit langen Jahren nicht gewesen, aber mit kundigem Blick hatte er sich, schon vom Strom aus, die ihm am besten scheinende Stelle zum Landen ausgesucht, und wenn das jetzt auch seinen Leuten nicht gerade die bequemste schien, wusste er selber doch recht gut, was er tat und – was er wollte.

Bill, ein echter Flatbootmann, der den Mississippi schon seit fünfzehn Jahren befahren und trotzdem, dass er jedes Mal schwur, dies solle seine letzte Reise sein, doch immer nicht von dem Leben lassen konnte, hatte selber einen vortrefflichen Blick für einen sicheren Landeplatz und schon eine Weile den Kopf geschüttelt, dass ihr ‚Alter‘ so hoch ansteuerte. Weiter unten wäre der Landeplatz für sie jedenfalls passender gewesen. Er mochte aber nichts sagen, bis das Steuer, das ihr ‚Kapitän‘ in Händen hielt, den Bug des Boots fast stromauf drehte und sie der Gefahr aussetzte, durch die Strömung auf ein paar weiter unten aus dem Wasser ragende Stämme getrieben zu werden.

„Hol’s der Teufel, Kapitän“, rief er da, „fallt doch ein wenig ab und gebt dem verdammten Holz da unten Raum. Da drüben in der Gegenströmung liegen wir doch, beim Teufel, besser als hier unter der hohen Bank!“

„Du könntest Recht haben, mein Bursche“, lachte aber der Alte störrisch vor sich hin. „Wenn ich eben nicht gerade dort hinauf wollte. Fest, Burschen, fest – legt euch in die Ruder, wir treiben sonst wahrhaftig auf und ihr habt nachher die halbe Nacht zu arbeiten, um wieder loszukommen!“ Es war auch wirklich nicht viel Zeit mit Reden zu verlieren, denn wie der Bug des Boots nun einmal gehalten wurde, brauchten sie alle ihre Kräfte, die gefährliche Stelle zu vermeiden. Bill selber sah das am allerbesten ein und legte sich mit vortrefflichem Willen in sein Ruder. Das hinderte ihn indessen nicht, die gotteslästerlichsten Flüche dabei auszustoßen und alle ungeschickten Menschen, von dem Erzvater Abraham an bis herab zu Jonathan Poleridge, zu verdammen.

Der Alte am Steuer hörte das wohl, kümmerte sich aber entsetzlich wenig darum. Solange die Leute auf seinem Boot nur ihre Schuldigkeit taten, mochten sie reden, was sie wollten – dass sie aber taten, was ihnen oblag, dafür wusste er schon zu sorgen. Nach harter Arbeit gelang es ihnen auch wirklich, den Platz zu erreichen, den der Alte zu ihrer Landung bestimmt hatte. Mit den Rudern würden sie es aber trotzdem nicht erzwungen haben, denn die Strömung setzte gerade hier ziemlich stark ein, wäre nicht Bill, keck und tollkühn wie diese Leute immer sind, mit dem vorn aufgerollten und an Bord befestigten Tau, ganz rücksichtslos um seine eigenen Gliedmaßen und gerade im entscheidenden Augenblick, auf einen dort in den Strom gestürzten Baum gesprungen. Allerdings konnte er auf dem sein Gleichgewicht nicht bewahren und stürzte auf der anderen Seite ins Wasser; unter dem Baum aber durchtauchend, gelang es ihm, das Tau darumzuschlingen. Im nächsten Moment hing das Boot fest und mit einer zum Ufer gebrachten Leine wurde es ihnen jetzt nicht schwer, den unbehilflichen Kasten sicher und fest dorthin zu bringen, wohin ihn ihr ‚Alter‘ haben wollte.

Dieser hatte den tollkühnen Sprung seines Bill, ohne eine Silbe dabei zu äußern, ohne eine Miene zu verziehen, mitangesehen. Er half dabei mit dem Steuer so viel als möglich nach und gab mit lauter Stimme die jetzt nötigen Befehle. Die Ruder wurden dann aus- und an Bord gehoben und Bill kam triefend von Wasser und Schlamm wieder aufs Deck zurück.

„Das habt Ihr einmal gescheit gemacht“, rief er dabei, mit einem Kernfluch zwischen den zusammengebissenen Zähnen durch, „und wenn das nicht der ungeschickteste Platz am ganzen Mississippi für eine Landung ist, will ich mein Leben lang Wasser saufen wie eine Kuh!“

Der Alte lächelte still vor sich hin und sagte dann:

„In deiner Art magst du Recht haben, Bill, und wärst du nicht wie ein tüchtiger Flatbootner, der du bist, da so zur rechten Zeit über Bord gesprungen, hätte die Sache auch am Ende schiefgehen können. Ich glaubte selber nicht, dass die Strömung hier so scharf niederkäme. Dass ich trotzdem auf dem rechten Platz angelaufen bin, wirst du vielleicht später einsehen. Jetzt aber, da ich weiß, dass gerade du nicht gern Wasser trinkst, so zieh dir erst einmal trockene Kleider an und dann geh hinunter an die Steinkruke und ‚hilf dir selber‘, der Zucker steht auch daneben und du wirst dir die Mischung wohl selber anmachen können. Die Kruke bring nachher mit herauf, wenn du fertig bist, denn den anderen wird ein Schluck ebenfalls keinen Schaden tun.“

„Denke auch nicht“, brummte Bill, jetzt schon wieder in etwas besserer Laune, vor sich hin und sagte dann, während er mit Jack nach vorn ging, wo sie unten im Boot ihr Lager hatten: „Manchmal hat der alte Starrkopf ordentlich lichte Augenblicke und weiß auch sonst mit einem Boot ziemlich vernünftig umzugehen. Diesmal bin ich aber doch neugierig, weshalb er uns hier in das Holz hineingejagt, wo wir dem Teufel seine Arbeit haben werden, wieder ganzbeinig hinauszukommen. Nun – mir kann’s recht sein, aber über Bord spring ich ihm nicht wieder, darauf kann er sich verlassen, und wie der alte Kasten ausgeräumt ist, setze ich mich auf ein Dampfboot und fahre heim. Der Böse soll den Mississippi holen!“

„Na, lass du nur den Alten gehen“, lachte Jack, indem er sich ein frisches Priemchen abschnitt und in den Mund schob, „der weiß gewöhnlich verdammt gut, was er zu tun hat, und macht keinen derartigen dummen Streich umsonst. Das ist freilich erst die zweite Reise, die ich mit ihm zusammen bin, und auf der ersten kamen wir nicht weiter als Randolph, aber so viel hab ich doch bis jetzt herausbekommen, dass er sich nicht gern an einen freien, offenen Landeplatz legt – wo er das nämlich irgend vermeiden kann. Siehst du das Orangendickicht, das hier gleich über uns bis dicht zur Straße hinläuft? Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er mit aller Absicht darauf zugesteuert ist, und zu dem Negernest liegen wir auch hier näher als zum Herrenhaus, das man von hier aus nicht einmal sehen kann.“

„Hm – magst Recht haben, Kamerad“, nickte Bill leise vor sich hin, „aber einen verdammten Dickkopf hat er doch, und wenn ich... Hallo – da bekommen wir schon Besuch“, unterbrach er sich plötzlich, als ein paar schwarze Wollköpfe ihre blendenden Zähne und weißen rollenden Augen zeigten. „Wie die Racker aufpassen, wenn sie den Duft von Whisky in die Nase bekommen.“

Die beiden Neger, die sich da oben wirklich gezeigt, waren aber im nächsten Augenblick schon wieder hinter dem am ganzen Ufer des Mississippi aufgeworfenen Damm verschwunden und zehn Minuten später ritt ein Weißer langsam die breite, vortreffliche Uferstraße herauf und stieg, als er das eben dort gelandete Boot bemerkte, vom Pferd. Es dauerte auch nicht lange, so erschien er oben auf dem Damm, wo er, den rechten Arm in die Seite gestemmt, stehenblieb und das Fahrzeug eine Weile schweigend betrachtete.

Es war der Aufseher der Plantage, ein Bursche von vielleicht drei- oder vierunddreißig Jahren, aber mit scharf markierten, hässlichen und tief gefurchten Zügen, die ihn wenigstens um zehn Jahre älter scheinen ließen. Auch die kleinen farblosen Augen, das linke noch dazu mit einem sogenannten ‚falschen Blick‘, schweiften unstet herüber und hinüber und hafteten eigentlich nie auf dem, mit dem sie sprachen.

Er ging in die gewöhnliche Tracht derartiger Leute gekleidet: weite Hosen und leichter Rock von hellkariertem Zeug, am linken Stiefel einen Sporn, keine Weste und das buntkattunene Hemd von einem blauseidenen Tuch locker zusammengehalten. Den Kopf bedeckte ein breitrandiger Strohhut ohne Band und am rechten Handgelenk hing ihm eine schwere, fest aus Rindsleder gedrehte, sogenannte Negerpeitsche. Eine lange Bronzeuhrkette und ein paar große Ringe an den Fingern vollendeten mit der nie fehlenden Zigarre den Mann, der, so gute Eigenschaften er auch sonst vielleicht haben mochte, durch sein Äußeres keineswegs dahin empfohlen wurde.

Der alte Poleridge hatte indessen unten seine ‚Ufertoilette‘, wie er’s nannte, beendet, das heißt, ein reines Hemd und Schuhe und Strümpfe angezogen, denn an Bord gingen die Männer in dem warmen Klima meist barfuß. Langsam, die Hände in den Taschen, kam er oben aufs Deck, als der Aufseher vom Damm aus sein Boot betrachtete, und schien ganz mit seinem eigenen Fahrzeug beschäftigt, keine Notiz von dem Mann am Land zu nehmen. Gesehen hatte er ihn aber nichtsdestoweniger schon von dem Augenblick an, wo er sich zuerst gezeigt.

Noch ein neuer Insasse des Boots kam zugleich zum Vorschein, und zwar niemand Geringeres als Mrs. Poleridge selbst, die Frau des Kapitäns, die mit einem ziemlich roten Gesicht, das Bonnet etwas zurückgeschoben, einen Blick nach dem vor ihr liegenden Ufer hinaufwarf. Dort unten aber, wo sie stand, konnte sie von dem Land weiter nichts erkennen als den grasbewachsenen, hoch aufgeworfenen Damm. Mit der Aussicht also eben nicht besonders zufrieden, drehte sie sich um, hob einen kleinen braunen Dackel, der neben ihr winselte, auf das höhere Deck hinauf, das er allein nicht erreichen konnte, und verschwand gleich wieder, wie sie gekommen, in dem inneren Raum.

Der ‚Alte‘ hatte sich nicht einmal nach ihr umgedreht; er schaute nach den Tauen, ob die auch gehörig befestigt waren, stieß mit dem Fuß eine im Weg liegende Rolle Leine beiseite und blickte dann über Bord hinunter ins Wasser.

„Hallo, das Boot!“, rief da der Mann vom Ufer aus den Alten an. „Habt Ihr gar keinen schlechteren Fleck am Land hier finden können? Wer soll denn da zu Euch hinunterklettern?“

„Hallo?“, sagte der Yankee, sich langsam nach der Stimme umdrehend. „Wer hat Euch denn schon gesagt, dass jemand hier zu uns herunterklettern soll?“

„Hm“, brummte der Mann oben, über die barsche Antwort etwas erstaunt. „Seid Ihr kein Handelsboot?“

„Handelsboot allerdings“, sagte der Yankee, seinen Tabaksaft weithin über Bord spritzend, „aber mit wenig zu verkaufen, was Ihr hier wahrscheinlich brauchen könnt, und mit einkaufen wird’s hier bei Euch wohl auch dünn aussehen.“

„Habt Ihr Whisky an Bord?“, fragte der Aufseher.

„Whisky? Nein“, sagte der Händler ruhig, „ist welcher hier in der Nähe zu bekommen? Der meinige ist alle und ich möchte gern für die Leute etwas haben.“ Der Aufseher sah ihn zum ersten Mal mit seinem rechten Auge scharf an, während das andere die übrige Mannschaft zu mustern schien. Er mochte dem Mann die trockene Versicherung nicht gleich glauben. Poleridge blieb aber so vollkommen ruhig und gleichmütig dabei, dass er auch wieder anfing, seinen Verdacht fallenzulassen. Doch das bekam er schon noch heraus.

„Kommt Ihr an Land?“, fragte er endlich nach längerer Pause.

„Werde wohl müssen“, sagte der Händler. „Wir haben kein Kochholz mehr an Bord. Gibt’s dort oben trockenes Holz?“

„Wenig genug hier herum“, lautete die Antwort, „wenn Ihr nicht ein Stück zurück, nach dem Sumpf zu geht. Aber Ihr steckt ja da zwischen Holz. Haut Euch doch von dem ab!“

„Sieht so nass aus“, meinte der Yankee, die unterhalb im Strom liegenden Bäume betrachtend. „Kann nicht einer von Euren Negern hier nach Feierabend ein paar Cents verdienen?“

„Hm – das ginge vielleicht – wie lange wollt Ihr da liegenbleiben?“

„Wenn’s hier nichts für mich zu tun gibt, nur bis morgen früh. Aber ich komme ein wenig hinauf; ein paar Dutzend Orangen wird man doch hier wohl kaufen können!“

„Ich will Euch von einem der Leute einige abschlagen lassen“, sagte der Overseer, während der Yankee eine aus dem Damm vorstehende Wurzel ergriff und sich mit deren Hilfe auf festes Land hinüberschwang.

„Habt Ihr guten Tabak an Bord?“, fragte da der Aufseher, als der Händler neben ihm stand und seine beiden Hände wieder sorgfältig in die Taschen schob.

„Sollte es denken“, brummte dieser. „Echten süßen Kentucky – aber nicht viel. Hatte nur ein paar Kisten davon, die ich in Vicksburg absetzte. Die Leute rissen sich ordentlich darum, und was ich zurückbehielt, wollte ich eigentlich selber verbrauchen.“

„Ausgenommen, Ihr bekämt einen guten Preis dafür.“

„Das immer ausgenommen“, sagte der Händler ruhig. „Vom Ein- und Verkaufen leb ich, und wer mir etwas zu verdienen gibt, ist mein Mann.“

„Und kauft Ihr auch für Bargeld?“, fragte der Aufseher, als er sein Pferd am Zügel nahm und langsam mit dem Alten an dem Damm, der sogenannten Levée, hinaufschritt.

Der Händler wusste ganz genau, was die Frage bedeuten sollte. Er kannte den Overseer schon von früher her, wenn sich dieser auch keinesfalls mehr auf sein Gesicht besinnen konnte. Dem Yankee war es aber gar nicht darum zu tun, alle seine Geschäfte hier im Fluge abzumachen. Er wollte vor allen Dingen Zeit gewinnen, drei oder vier Tage an der Stelle liegenzubleiben, und deshalb lag es in seinem Vorteil, den Aufseher hinzuhalten. Sein Hauptplan bestand nämlich darin, mit den Negern heimlichen Branntweinhandel zu treiben, und der konnte nur dann für ihn erfolgreich sein, wenn die Schwarzen Zeit behielten. Sie selber haben selten oder nie Bargeld, stehlen aber dafür alles, was sie in der Nachbarschaft bekommen können. Die eigene und nächste Plantage schonen sie allerdings so viel wie möglich – gerade wie es der Fuchs und Marder auf ihren Raubzügen machen –, sonst aber ist ihnen auch kein Platz zu entlegen, wo sie Hühner, Ferkel, oder was sonst gerade zu bekommen ist, finden können. Unverdrossen laufen sie die ganze Nacht hindurch, ja hetzen nicht selten ihrer Herren Pferde zu Schanden und sind am nächsten Morgen wieder so rüstig und zeitig bei der Arbeit wie nur je. Wenn der Lohn der so streng verbotene Branntwein ist, dünkt ihnen keine Mühe zu groß, kein Weg zu weit.

In ein oder zwei Tagen ließ sich aber kein ordentliches Geschäft mit ihnen machen. Sie brauchten länger, um in der ganzen Nachbarschaft herumzukommen. Nur wenn er vier bis fünf Tage liegenblieb, durfte der Yankee hoffen, seine Zeit bezahlt zu bekommen. Dann freilich war es aber auch geraten, sein Boot wieder loszuwerfen und den freien Strom zu erreichen, denn kam einer oder der andere von den Diebstählen wirklich heraus, hätte es doch unangenehme Erörterungen und Untersuchungen geben können. Denen entging er aber vollständig, sowie er sich nur wieder einmal im Strom befand. Wer wollte sein Boot dann von den anderen unterscheiden, hätten sie ihm selbst folgen mögen!

„Für Bargeld?“, wiederholte er deshalb die Frage, als ob er sich die Sache erst ein wenig überlegen müsse. „Für Bargeld nicht gerade gern – es müsste denn ein entsprechender Gewinn dafür in Aussicht stehen. Am liebsten treib ich Tauschhandel, denn Güter oder Produkte, die ich im Norden wieder gut verwerten kann, sind mir eigentlich fast lieber als Bargeld.“

„Ich fragte Euch, ob Ihr auch Bargeld für Produkte gebt?“, sagte der Aufseher. „Ihr versteht doch Englisch?“

„Hm ja, ein wenig – ja so, in der Art – oh, gewiss, wenn ich einen vorteilhaften Handel machen kann!“

„Und kauft Ihr auch Baumwolle?“

„Nicht gern. Unsereiner kann da nicht mit den Dampfbooten konkurrieren, und so billig bekommt man sie selten, dass das Risiko zugleich gedeckt wäre.“

„Und wenn Ihr sie nun so billig bekämt?“

„Das wär freilich etwas anderes“, schmunzelte der Händler. „Habt Ihr welche? Na, ich will Euch was sagen“, schnitt er aber die Antwort selber ab, als er sah, dass der Aufseher damit zögerte. „Wenn Ihr glaubt, dass sich hier ein mögliches Geschäft machen lässt, bleib ich auch morgen hier liegen. Ich möchte überdies etwas ‚Holz einnehmen‘, wie die Dampfboote sagen, das heißt, so mancherlei Frisches vom Lande holen, und wenn ich das hier bekommen könnte, wär mir’s recht. Bauen Eure Neger keine Wassermelonen, Feigen oder sonstige Sachen?“

„Mehr als genug“, brummte der Aufseher. „Anstatt sich nach Feierabend aufs Ohr zu legen und für den nächsten Tag auszuruhen, kriechen sie oft noch so lange in ihren kleinen Gärten herum und hacken und graben, bis ich sie mit der Peitsche ins Bett jage. Die haben schon derlei, aber – keinen Whisky dafür, Kamerad. – Ihr kennt wahrscheinlich die Strafe, die darauf steht?“

„Whisky? Unsinn“, lachte der Händler. „Ich wollte, ich hätte selber welchen; das einzige Spirituose, was ich an Bord führe, ist Apfelwein. Wenn Ihr ein Freund von dem seid, damit kann ich Euch dienen...“

„Nein, ich danke Euch“, sagte der Aufseher kopfschüttelnd. „Aber – noch eins möcht ich Euch sagen, wenn Ihr denn doch morgen hier liegenbleibt. Lasst Euch nicht mit den Niggern, die Ihr hier oder da trefft, in lange Gespräche ein. Der ‚Alte‘ hat’s nicht gern und ich auch nicht. Die Schufte sind so schon zu übermütig und müssen tüchtig im Zaum gehalten werden.“

„Habt Ihr Not mit Euren Schwarzen?“, fragte der Händler, den das von früheren Zeiten her noch interessierte.

„Not?“, lachte der Aufseher mit einem finsteren Blick, indem er langsam und wie in Gedanken die Peitsche hob. „Not? Wenn jemand Not hat, so sind die’s. In Ordnung wissen wir sie schon zu halten und aufmucksen darf mir keiner, sonst gnade ihm Gott. Seit einiger Zeit aber streicht hier so ein sogenanntes frommes Gesindel im Süden herum und hat den Niggern Ideen in den Kopf gesetzt, die wir die größte Mühe haben, ihnen aus den Rippen wieder herauszupeitschen. Es hieß allerdings einmal, dass eine Verschwörung unter ihnen im Werke sei und dass sie im Sumpf drinnen Waffen versteckt hätten. Das ist aber Larifari, und wie wir erst einmal ein paar von den Dickköpfigen ergriffen, ausgepeitscht und zum guten Beispiel für die anderen aufgehängt hatten, sind sie vernünftig genug gewesen, ihre Dummheit einzusehen.“

„Hm“, sagte der Händler und strich sich mit der Rechten das glattrasierte Kinn. Es war ihm eben nicht besonders lieb, das zu hören, denn wo derartige Sachen vorfielen, wurde gewöhnlich auf die Schwarzen zu scharf aufgepasst, ihnen freie Hand zu lassen. Je stärker der Druck freilich, desto stärker auch der Widerstand, und Poleridge war überhaupt nicht der Mann, sich von einem einmal gefassten Plan abschrecken zu lassen, noch dazu, wenn sein eigener Nutzen im Hintergrund lag.

„Aber was habt Ihr eigentlich zu verkaufen?“, fragte da der Aufseher wieder, der überhaupt gewohnt war, in dann und wann anlegenden Booten die Monotonie seines Pflanzerlebens unterbrochen zu sehen. „Man wird sich die Sachen doch wohl einmal anschauen können?“

„Oh, gewiss – heut Abend ist’s nur zu spät“, sagte der Händler, „kommt aber morgen früh einmal an Bord und wir finden doch am Ende etwas, mit dem wir ein Geschäft zusammen machen können. Ich habe beinahe ein ‚bisschen von allem‘, wie wir Yankees gewöhnlich unsere Fracht einnehmen.“

„Nur keinen Whisky?“

„Aus Grundsatz“, erwiderte Poleridge ruhig. „Ich selber gehöre zum Mäßigkeitsverein und halte es für Sünde, das Gift zu verbreiten. Das veranlasst mich aber nicht, ihn meinen Leuten zu missgönnen, die auch überdies weit besser und williger arbeiten, wenn sie einen Schluck von dem nichtswürdigen Stoff im Leib haben. Die Verantwortung dafür mögen sie auf sich selber nehmen; das geht mich nichts an.“

„Sehr christlich gedacht“, lachte der Aufseher. „Man gibt auch einem Pferd Branntwein auf Bord, damit es besser laufen soll.“

„Und warum nicht?“, brummte der Händler. „Aber wenn’s Euch recht ist, schickt mir nachher was von Euren Früchten herunter. Wie viel Tabak wollt Ihr haben?“

„Ich komme morgen früh an Bord und werde ihn mir ansehen“, lautete die Antwort des Aufsehers, der wieder in den Sattel stieg und sein Pferd rasch beiseite lenkte. Die Straße herauf von dem weiter unten liegenden Herrenhaus kamen vier Reiter, zwei Herren und zwei Damen, angaloppiert und die schnellen Ponys berührten kaum den Boden, über den sie dahinbrausen. Der Aufseher behielt auch eben nur Zeit, auf die Seite zu reiten, wobei er ehrerbietig den Hut abnahm. Der Händler blieb auf dem Damm, die Hände in den Taschen, stehen. Die Herrschaften nickten kaum nach dem Aufseher hinüber, nach dem Fremden drehten sie nicht einmal den Kopf.

„War das der Baas?“, fragte der Yankee, als sie vorüber und in einer hinter ihnen aufwirbelnden Staubwolke verschwunden waren, indem er nur eben mit dem Kopf nach der Richtung nickte.

„Der vorn, ja. Mr. Beauchamps mit seinen beiden Töchtern und einem Besuch aus New Orleans.“

„Ahem! Furchtbar aufgeschwollen, aber...“

„Hat seine Ursache – wenn wir beide das nur im Jahr zu verzehren hätten, was der in jedem Monat allein durchbringt.“

„Phew!“, pfiff der Alte zwischen seinen Zähnen durch, drehte sich ab und schlenderte langsam am Ufer hinaus, sich die Gegend und Gelegenheit ein wenig zu betrachten.

Eine halbe Stunde später kam ein alter Neger und brachte einen Korb voll Apfelsinen und Feigen. Der alte Poleridge nahm ihm die Früchte selber ab und drückte ihm dabei ein Geldstück in die Hand, aber er sprach keine drei Worte mit ihm. Drüben auf dem Damm hielt der Aufseher wieder, der aus dem Feld zurückgekommen war, und sah nach dem Boot hinab.

Ein kleiner Bursche kam etwas später und brachte einen Armvoll Feuerholz, den er, ohne an Bord zu klettern, von der Uferbank hinunterwarf. Als ihm der Alte etwas dafür geben wollte, war er schon wieder hinter dem Damm verschwunden.

In der Pflanzung läutete nämlich die Negerglocke, die den Sklaven ihren heutigen Feierabend verkündete. Hinter dem niederen Waldstreifen, der die nächsten Felder begrenzte und den Sumpf bezeichnete, sank eben die Sonne. Die Dämmerung ist in Amerika nur kurz und bald darauf strichen lange Züge von Wildenten schwirrend über die mit einem leichten Nebel bedeckte Stromfläche. Weit draußen auf der breiten, rasch vorübergurgelnden Flut rief der Loon sein monotones Lied und in den Büschen des benachbarten Orangendickichts flötete der Spottvogel, die amerikanische Nachtigall, ihre leise klagende, liebliche Weise.

 

 

 

Die vorliegenden Erzählungen spielen Mitte des 19. Jahrhunderts.

DER FLATBOOTMANN

 

UND

 

ANDERE ERZÄHLUNGEN

 

 

VON

FRIEDRICH GERSTÄCKER

 

 

 

Mit einem Nachwort

von Thomas Ostwald

 

 

 

 

Herausgegeben von Lothar und Bernhard Schmid

© 1997 Karl-May-Verlag

ISBN 978-3-7802-1665-6

 

 

EDITION USTAD

 

im

 

KARL-MAY-VERLAG

BAMBERG • RADEBEUL

2. Der nächtliche Besuch

 

Es war finstere Nacht geworden. Nur die Sterne blitzten von dem dunklen Firmament herab, aber sie konnten sich nicht einmal im trüben Strom widerspiegeln, auf dem sich der Nebel nach dem Sonnenuntergang nur noch mehr und mehr verdichtet hatte. Unser Flatboot selbst lag so dicht unter der etwa sechs Fuß höheren Uferbank, dass man es selbst vom Damm aus kaum erkennen konnte, während dieser es allen denen, die auf der Straße ab- oder aufwärts gingen, vollständig verdeckte.

Die Leute waren etwa eine Stunde am Ufer gewesen, hatten sich dort, unbekümmert, ob es erlaubt oder verboten sein könne, Orangen, Feigen und Granatäpfel gepflückt und kehrten erst mit einbrechender Nacht an Bord zurück. Der ‚Alte‘ hatte sein Boot aber, seit er seinen kurzen Spaziergang beendet, nicht wieder verlassen.

So verging die Zeit. Drüben aus dem Negerdorf herüber war dann und wann die schwermütige Melodie irgendeines Liedes zu ihnen gedrungen, dem sich, allerdings vereinzelt, auch eine geistliche Hymne beimischte. Die Flatbootleute hatten sich indessen schon in ihre Kojen und unter ihre Moskitonetze zurückgezogen. Die Insekten wurden nach Dunkelwerden und bei der fast gänzlichen Windstille so arg an Deck, dass man es kaum dort oben aushalten konnte. Der alte Poleridge saß nichtsdestoweniger unverdrossen mit dem Dackel neben sich vorn im Bug des Bootes, qualmte aus seinem kurzen Pfeifenstummel vor sich hin und nahm diesen nur zeitweilig aus dem Mund, um nach einem geglaubten Geräusch am Ufer hinzuhorchen. Es war fast, als ob er jemanden erwarte.

Eine reichliche Stunde mochte er so allein gesessen haben und eben stopfte er sich zum vierten Mal die Tonpfeife mit dem feingeschnittenen schweren Tabak, als von der gerade über ihm befindlichen Uferbank Erde herunterbröckelte; der Dackel knurrte leise.

Der Händler drehte allerdings rasch den Kopf nach dem Geräusch, rührte aber sonst kein Glied und blieb, wie er bisher gesessen, vorn auf Deck, bis er hörte, dass eine ziemlich schwere Gestalt die Uferbank herunterglitt und auf die Planke trat, die von dem Boot aus an Land geschoben war.

„Hallo“, rief da der Alte. „Wer kommt da?“

„Pst!“, unterbrach ihn aber der warnende Ton des Kommenden, wer das auch immer war, und der Händler lächelte leise vor sich hin, schwieg aber doch und wartete geduldig, bis sein später Besuch in der Dunkelheit das Deck glücklich erreicht hatte.

„Und wer ist das?“, sagte Poleridge jetzt, aber mit unterdrückter Stimme, während er seinen stärker knurrenden Hund beschwichtigte und vergebens in der Dunkelheit das schwarze Gesicht zu erkennen suchte. Der Neger ließ sich aber hier oben auf keine Erörterungen ein.

Selbst in der Nacht hielt er sich auf dem offenen Deck und so dicht am Ufer nicht für sicher. Hinter dem etwa neun Fuß hohen Damm und auf dem Rasen konnte auch leicht ein Horcher vollkommen geräuschlos und gedeckt anschleichen, und dem mochte sich der Bursche wahrscheinlich nicht aussetzen.

„Kommt hinunter“, flüsterte er und glitt dann, mit einem scheuen Blick nach dem Land zurück, und mit der Konstruktion dieser Art Boot vollkommen gut vertraut, ohne Weiteres die paar Stufen nieder, die in die kleine ‚Kajüte‘ führten.

Der Händler blieb noch eine Weile an Deck, ohne seine Stellung zu verändern, und wie er so ziemlich tief auf seinem Boot saß, bildete der hohe Damm für ihn den Horizont, auf dem hin er jede Erhöhung gegen den helleren Himmel leicht erkennen konnte. Erst als sich nichts weiter dort erkennen ließ, stand er langsam auf, sah sich noch einmal um und sagte dann zu dem aufmerksam neben ihm sitzenden kleinen Hund:

„Pass auf, mein kleiner Bursche, pass hübsch auf!“, und folgte dann dem Neger in das Innere des Bootes. Unten angekommen, kümmerte er sich aber gar nicht um seinen späten Gast, nahm vor allen Dingen aus einem kleinen Seitenfach Schwefelhölzer, entzündete eine Lampe, die auf dem Tisch stand, und sah sich dann erst nach dem Neger um, der mit dem Strohhut zwischen beiden breiten Fäusten an der Tür lehnte. Noch immer konnte er ihn aber nicht erkennen, bis er das ziemlich hell strahlende Licht mit der Hand so weit bedeckte, dass es ihm nicht mehr die Augen blendete, während der Schein voll auf den Schwarzen fiel.

„Aha, Salomo“, nickte er da grüßend zu dem Sklaven hinüber. „Noch so spät, mein Bursche? Nun, wie ist’s die Zeit gegangen?“

„Danke, Massa, danke“, sagte der Mann. „Schlecht genug, wie man’s so nimmt, konnte nicht früher kommen; Massa Hoof überall zwischen den Hütten umhergeschlichen.“

„Massa Hoof? Wer ist Massa Hoof?“

„Der Overseer – wahrer Teufel von einem Menschen. Passt jedes Mal so auf, wenn hier ein Boot anlegt, dass armer Nigger ja nie ein Vergnügen haben soll. Es gibt doch recht schlechte Buckras auf der Welt, Massa Poleridge.“

„Hm, ja, mein Bursche – könntest Recht haben“, sagte der Alte, „und euer Mr. Hoof, wie du ihn nanntest, sieht mir gerade nicht so aus, als ob er zu den besseren gehörte. Aber was bringst du?“

„Heut Abend nichts“, flüsterte der Neger vorsichtig. „Doch kann niemand von der Uferbank herunterkommen?“

„Hab keine Angst“, sagte der Händler, „mein kleiner Hund liegt oben an Deck, und sowie sich nur etwas Fremdes regt, macht er Lärm.“

„Gut – heut Abend bring ich nichts“, wiederholte der Schwarze, jetzt vollkommen beruhigt. „Aber gegen Morgen kommen meine beiden Jungen und noch drei oder vier andere mit Vorrat. Massa Poleridge hat doch den versprochenen Whisky mitgebracht?“

„Mehr, als ihr verbrauchen könnt, Salomo“, lachte der Händler, „da drinnen liegen einige dreißig Fässer echten Monongahelas; habt ihr da genug?“

Der Schwarze zeigte eine Reihe blendend weißer Zähne.

„Sehr gut, Massa“, nickte er vergnügt vor sich hin, „sehr viel gut – Salomo und Sambo werden Krüge und Fässchen bringen.“

„Fässchen? Hallo, mein Schatz, du glaubst wohl, dass ich euch den Whisky nur so einlaufen lasse? Er ist wenigstens um fünfzig Cents die Gallone teurer im Norden geworden, und wenn ihr nicht etwas Ordentliches dafür geben könnt, behalt ich ihn lieber an Bord.“

„Ordentliches?“, wiederholte Salomo erstaunt. „Massa weiß, wir bringen Hühner, Eier, Pecan-Nüsse, süße Kartoffeln.“

„Ja, ich weiß, ich weiß – aber ich will besonders Ferkel haben“, sagte der Händler. „Futter für die hab ich genug an Bord und kann sie am besten wieder weiter unterhalb verkaufen.“

„Ferkel quietschen so“, sagte Salomo ängstlich.

„Quietschen? Den Henker auch!“, lachte der Händler. „Ihr werdet mit ihnen umzugehen wissen, dass sie nicht mehr Spektakel machen, als nötig ist.“

„Ja, da hat sich’s wohl – mit ihnen umgehen“, brummte Salomo. „Ferkel ist ein schrecklich unabhängig Tier und quietscht, wenn Lust hat, ob man’s beim Ohr oder beim Schwanz nimmt, und Massa Hoof ist wie der Böse bei der Hand, wenn er Ferkel quietschen hört.“

„Aber wo schläft Massa Hoof?“

„Gut Stück von hier, gerade vor den Niggerhütten in kleinem Häuschen mit Veranda“, schmunzelte Salomo.

„Nun siehst du, mein Bursche“, sagte der Händler, „das habe ich mir etwa gedacht und bin deshalb so weit hier oben angelaufen, wo ihr mit allem, was ihr mir bringen wollt, durch das Orangendickicht kommen könnt. Also vergiss die Ferkel nicht! Vor Tag werde ich munter sein und euch geben, was ihr haben wollt. Habt ihr kein Bargeld?“

„Bargeld? Ja, Massa, aber nicht viel; Sip hat Bargeld und Lucy – Lucy viel – schlaues Mädchen, die Lucy, aber bös – viel bös – kommt einmal nicht in Himmel, wenn sie stirbt.“

„Das kann uns einerlei sein, mein Junge“, sagte der Händler, „aber schick mir die Mädchen, die Geld haben, morgen Mittag herunter und sag ihnen, ich hätte prachtvolle Tücher und Bänder und eine Menge anderer hübscher Sachen mitgebracht. Vielleicht können sie auch morgen Abend nach Feierabend kommen.“

„Nach Feierabend geht nicht“, sagte Salomo, bedenklich den Kopf schüttelnd. „Massa Hoof lässt niemand nach Feierabend heraus, besonders keins der Mädchen. – Mittag geht eher, müssen aber geschwind machen; ist nur eine Stunde Rastezeit. Jetzt muss ich aber auch wieder fort. – Hm – ist der Whisky diesmal recht gut, Massa?“

„Sollst ihn kosten, alter Bursche“, lachte der Händler, „und wirst mir das andere dann wohl ordentlich besorgen?“

„Gewiss, Massa, gewiss“, rief der Neger mit einem vergnügten Grinsen, während der Yankee eine neben ihm stehende Kruke aufgriff, einen Blechbecher von dem Gesims nahm und ihn halb mit gelbem Branntwein füllte.

Der Neger machte, schon im Vorgefühl des erwarteten und so lange entbehrten Genusses, eine etwas ungeschickte, aber nicht weniger gutgemeinte Verbeugung mit einem halben Kratzfuß, ergriff dann das Blechmaß, das ihm der Händler hinschob, und wollte es eben an die Lippen heben, als oben der Hund anschlug. Erschreckt setzte er es wieder hin und sah den Weißen an, der ebenfalls aufmerksam nach oben horchte. Der Hund war in diesem Augenblick still und Poleridge sagte:

„Trink nur erst einmal deinen Whisky aus, nachher wollen wir sehen, was mein Dackel hat.“

„Wenn das Massa Hoof wäre“, flüsterte der Neger bestürzt, „er brächte armen Nigger um, wenn er ihn hier nachts auf fremdem Boot träfe.“ Wieder horchte er nach oben, dann aber, um wenigstens das Gebotene erst einmal in Sicherheit zu bringen, nahm er den Becher auf, kostete den Inhalt erst und schüttete ihn dann in einem langen Zug die durstige Kehle hinab.

Dem Händler lag indessen selber daran, dass nicht schon jetzt ein Neger heimlich an seinem Bord gesehen wurde. Hatte er erst seinen Handel mit den Burschen gemacht und aus ihnen herausbekommen, was eben zu bekommen war, ei, dann mochte auch seinetwegen der Aufseher erfahren, dass er ihnen verbotenen Branntwein verkauft. Wenn man ihn nicht dabei ertappte, konnte ihm niemand etwas anhaben, und ehe die Sache gerichtlich gemacht wurde, warf er eben seine Taue los und schwamm wieder den Strom hinunter. Mit ein paar Worten ermahnte er deshalb Salomo, sich hier unten ganz ruhig zu verhalten, bis er oben selber einmal nachgesehen hätte, und trat dann vorn in sein Boot hinein, wo er, wenn er sich aufrichtete, mit dem halben Leib über das Verdeck hinausschaute. Ganz an Deck mochte er nicht gehen, denn unten stand Salomo neben der Whiskykruke und allein wollte er die beiden doch nicht miteinander lassen.

Der Hund hatte sich indessen keineswegs beruhigt, und wenn er auch nicht mehr bellte, knurrte er doch noch leise und verdrießlich vor sich hin. Es war jedenfalls am Ufer nicht alles, wie es sein sollte. Poleridge riet auch dem Neger, als er dem Hund ein paar ermunternde Worte gesagt und wieder in seine Kajüte zurückgekehrt war, lieber noch ein wenig zu warten, ehe er an Land ging. Dieser behauptete aber, zurück zu müssen, damit die Sachen noch vor Tag an Bord kämen, denn dann könne man sich fest darauf verlassen, dass ‚Massa Hoof‘ ihnen nicht im Weg wäre.

„Wenn er jetzt auch draußen steckt“, lachte der Neger dabei vor sich hin, „schadet nichts. Salomo ebenso klug wie Buckra. Kann da oben lange stehen, bis er Nigger findet.“

„Was willst du tun, Salomo?“, fragte der Händler erstaunt, als der Neger ohne Weiteres zu dem Tisch ging und die Lampe ausblies. „Was, zum Henker, ist jetzt los?“

„Will an Land, Massa“, kicherte aber der Neger, „good bye! Vor Tag ist Salomo wieder unten.“

Und damit glitt er wie eine Schlange aus der Kajüte, hob sich, ohne seinen Oberkörper über dem Verdeck zu zeigen, vorsichtig auf den vorderen und niederen Rand des Bootes, das dort, wie alle diese Fahrzeuge, eine Art von Ausbau bildete, und war im nächsten Augenblick im Wasser. So geräuschlos verschwand er aber darin, dass selbst der neben ihm stehende Yankee nicht das geringste plätschernde Geräusch hören konnte, und ob er sich auch überbog und ihm nachschaute, es ließ sich nichts weiter von dem Schwarzen erkennen. Unter Wasser war er den Strom hinabgeschwommen. War übrigens wirklich jemand an der Uferbank gewesen, so ließ er sich an dem Abend nicht wieder sehen, und Poleridge suchte jetzt selber sein Lager, um zur rechten Zeit am nächsten Morgen bei der Hand zu sein.