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GERFRIED
GÖSCHL

Impressum:

1. Auflage

Copyright © 2014

egoth Verlag GmbH

Untere Weissgerberstraße 63/12

1030 Wien

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Abdrucks oder der Reproduktion einer Abbildung, sind vorbehalten.

ISBN: 978-3-902480-90-3

Lektorat: Katharina Martl

Fotos:

Sepp Bachmair: 133, 137 (o., u.)

Karl Fanta: 64 (o.), 106 (o.)

Hans Goger: 80/81, 84, 85 (o.), 86 (o., m., u.), 96 (u.), 132, 135, 138 (o.), 139 (o.), 141 (o.), 144, 145 (u.), 153 (u.)

Cedric Hählen: 235, 237, 239 (m., u.), 243, 244 (o., u.), 245 (o., m., u.), 246, 247 (o., u.), 248, 249 (o., m., u.), 250 (o., m., u.), 255 (o., u.)

Jochen Hemmleb: 28/29, 54 (u.), 55 (o., m.), 64/65, 66/67, 79, 159, 213, 239 (o.)

Alfred Klafl: 23

Wolfgang Kölblinger: 134 (u.)

Manfred Lubensky: 24

Ali Muhammad: 260/261, 266/267, 270/271

Louis Rousseau: 113 (u.), 116/117, 122, 127 (u.), 139 (m., u.), 140, 141 (m., u.), 142/143, 145 (o., m.o., m.u.), 146 (u.), 148 (o., m.), 150/151m 152, 153 (o.), 154, 155 (o., u.), 160 (m.,u.), 163, 164/165, 166 (o., m.), 167 (u.), 189 (o., m.), 190/191, 192 (o.), 194, 195 (o.), 204/205, 206 (o., u.), 217 (o., u.), 220, 221 (o.), 222, 223 (o.), 230/231

Elmar Steiner: 26 (o., m.)

Günther Straub: 12 (o.), 50, 110/111, 114 (m., u.)

Günther Unterberger: 74 (o.), 115 (u.), 119 (o.), 120/121, 124/125, 134 (o.), 136 (o., u.), 137 (m.), 218, 219 (o.), 226 (o.)

Kilian Volken: 104, 106/107, 119 (m.), 123 (u.), 126, 241 (o., m., u.)

Hans Wenzl: 227 (u.)

Gerfried Göschl / Servus TV: 251 (o., m., u.), 252 (o., m., u.)

Stefan Zechmann: 214, 215 (o., m., u.), 216, 221 (u.), 227 (o.)

Alle übrigen Fotos stammen von Gerfried Göschl, Heike Göschl-Grünwald, Käthe, Rainer und Wolfgang Göschl.

Coverfotos: Louis Rousseau & Karl Fanta (Portrait)

Grafische Gestaltung und Satz:

Clemens Toscani – studio.toscani.at

Printed in the EU

Gesamtherstellung:

egoth Verlag GmbH

Mit freundlicher Unterstützung von KWIZDA

Sollte trotz intensivem Bemühens ein Rechteinhaber von Abbildungen nicht oder falsch aufgeführt worden sein, danken wir für entsprechende Hinweise an den Verlag. Allfällige Ansprüche werden gerne nachträglich abgegolten.

JOCHEN HEMMLEB

GERFRIED
GÖSCHL

SPUREN
FÜR DIE EWIGKEIT

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INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

ERÖFFNUNG

VOM GESÄUSE INS KARAKORUM

POSITIONSSPIEL

SHISHA PANGMA & MOUNT EVEREST

MEISTERPARTIE

KÖNIGSWEG AM NANGA PARBAT

PATT

SCHEITERN UND VORBEREITUN AM HIDDEN PEAK

ENDSPIEL

DER LETZTE WEG

Vorwort von Hanns Schell

Mai 1979: Mit Gerfried Göschls Vater Rainer steige ich vom Lhotse ab, nachdem wir wegen eines Wettersturzes auf 8300 m umkehren mussten. Rainer ist unruhig, weiß er doch, dass seine Frau Käthe ein Kind erwartet. Zur damaligen Zeit kamen Nachrichten oft einige Wochen verspätet per Postläufer zum Empfänger.

Mit Hilfe von Jugoslawen, die zur gleichen Zeit am Everest unterwegs waren, bauten wir eine damals schier unglaubliche Kommunikationskette auf: Die jugoslawischen Bergkameraden hatten bereits eine so starke Funkverbindung, dass sie Landsleute auf einem im Roten Meer ankernden Schiff erreichen konnten, die unsere Anfrage nach Neuigkeiten von Familie Göschl an ihr Außenministerium in Laibach weiterleiteten. Über die österreichische Botschaft kam eine Verbindung zu Käthe zustande – und so erfuhr Rainer binnen weniger Tage, dass ihm ein dritter Sohn geboren worden war.

Ich war mit Familie Göschl schon seit langer Zeit befreundet und erlebte so natürlich auch das Heranwachsen des Zweitgeborenen. Gerfried ließ schon sehr früh außergewöhnliche Fähigkeiten erkennen. Vor allem zeigte er bereits in jungen Jahren großes organisatorisches Talent und analytisches Denken. Nicht umsonst war er ein begehrter Schachpartner und Steirischer Jugendmeister.

Zum Höhenbergsteigen kam er erst als Student. Zunächst mit seinem Vater und seinem älteren Bruder Wolfgang. Gemeinsam standen die Brüder auf dem Cho Oyu und dem Gasherbrum II. Gerfried aber wollte noch mehr! Nachdem er 2005 erfolgreich eine Gruppe auf den Shisha Pangma geführt hatte, fuhr er alleine zum Mount Everest und bestieg diesen ohne künstlichen Sauerstoff. Es war eine Grenzerfahrung, bei der er nur durch seine außerordentliche Kraft, Erfahrung und Leidensfähigkeit den Rückweg schaffte. Später bestieg er Broad Peak und Gasherbrum I, versuchte sich mehrfach am K2 und beging mit einer leistungsstarken kleinen Mannschaft im Alpinstil eine neue Route am Nanga Parbat.

Obwohl wir nie zusammen eine größere Bergtour unternahmen, nannte Gerfried mich immer seinen alpinen Ziehvater – für mich sehr schmeichelhaft, da ich nie auch nur annähernd an seine Leistungsfähigkeit herankam. Unsere Verbundenheit stützte sich wesentlich auf unsere gemeinsame Vorliebe für alpine Geschichte. Er war der einzige mir bekannte junge Bergsteiger, der sich auf so unglaubliche Weise in der Besteigungsgeschichte von Karakorum und Himalaya auskannte. Für mich war Gerfried nicht nur deshalb eine Ausnahmeerscheinung: Er war zudem menschlich absolut integer. Seine Unternehmungen plante, organisierte und führte er selbständig durch. Auch war er bereit, etwas Neues zu probieren und schaute dabei nicht nur auf sich und seinen Erfolg, sondern war bemüht, so viele Teilnehmer wie möglich auf den Gipfel zu bringen – und das für relativ wenig Geld.

Mit der Zeit erkannte Gerfried, dass er seine alpinen Träume im engen beruflichen Korsett als Erzieher und Lehrer nicht verwirklichen konnte. Er ließ sich karenzieren, wurde Profi und lebte nur mehr für seine beiden Leidenschaften: das Bergsteigen und seine Familie.

So hatte er es sich in den Kopf gesetzt, als erster Mensch im Winter auf einem Achttausender im Karakorum zu stehen – wo die Stürme und die Kälte noch um vieles härter sind als im Himalaya. Sein Ziel wurde der Hidden Peak. Mit der gleichzeitigen Begehung einer Neuroute und der Überschreitung des Gipfels wollte er neue Maßstäbe im Höhenbergsteigen setzen.

In der für ihn typischen Art hatte sich Gerfried gründlich auf das Projekt vorbereitet: Nach einem ersten gescheiterten Versuch im Winter 2010/2011 bestieg er den Berg im Sommer, erkundete dabei den Abstiegsweg für die Überschreitung und deponierte Zelte und Verpflegung. Als dann im Winter 2011/2012 einer kleinen internationalen Gruppe die erste Winterbesteigung eines Achttausenders im Karakorum gelang, konzentrierte sich Gerfried mit noch mehr Biss auf die Neuroute und Überschreitung. Nach erfolgreicher Bewältigung des neuen Wegs bis zum Anschluss an die Erstbesteigerroute über die Südostseite verschwanden Gerfried und seine beiden Begleiter, der Schweizer Cedric Hählen und Nisar Hussain aus Pakistan, wenige hundert Meter unter dem Gipfel im Höhensturm.

Hatte ich 1979 die neuen technischen Möglichkeiten der Kommunikation als Segen empfunden, wurden sie nun zur ungeheuerlichen seelischen Belastung, fast zu einem Fluch. Seine Frau, seine Familie und wir als seine Freunde hofften Tag für Tag auf eine gute Nachricht von Gerfried, auf ein Wunder – obwohl der Verstand sagte, dass ein solches Wunder bei diesen furchtbaren Bedingungen nicht möglich sein konnte.

Schließlich mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass ein außergewöhnlicher Mensch und Bergsteiger nicht mehr zurückkehren und uns mit seinem Lachen erfreuen würde. Ich bin überzeugt, Gerfried hätte noch einiges im Höhenbergsteigen bewegt, wäre er noch am Leben. Nachfolger in Österreich sind dünn gesät. Die Lücke, die er hinterlässt, ist groß.

In seiner Frau und seinen beiden Töchtern, die seine Fröhlichkeit und Sportlichkeit von ihm geerbt haben, lebt er weiter.

Gerfried, mein jugendlicher Freund und Seelenverwandter, du wirst mir unvergessen bleiben!

Hanns

Hanns Schell (*1938) ist neben dem Innsbrucker Wolfgang Nairz der bedeutendste österreichische Expeditionsleiter der 1970er und 1980er Jahre. Bei 13 Expeditionen zu 11 verschiedenen Achttausendern erreichte Schell viermal den Gipfel. Zu seinen herausragenden Leistungen zählen die Erstbegehung einer neuen Route am Nanga Parbat mit einer Kleinexpedition sowie die dritte Besteigung des Hidden Peak. Zudem ist Schell der Bergsteiger mit fünf und somit den meisten Erstbesteigungen von Siebentausendern.

Schell war seit 1969 Gesellschafter des steirischen Eisenwaren- und Sanitärgroßhandels Odörfer und später Alleineigentümer des Bereichs Eisenwaren. Aus seiner privaten Sammelleidenschaft für Schlüssel, Schlösser, Kassetten und Eisenkunstgussobjekten entstand das mit 13.000 Exponaten weltweit größte Spezialmuseum zu diesem Thema, die „Hanns Schell Collection” in Graz (www.schell-collection.com). Mit seiner Frau Lieselotte lebt Hanns Schell in Mariatrost bei Graz.

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Alpiner Ziehsohn und - vater: Gerfried Göschl und Hanns Schell

Die Autoren

Jochen Hemmleb, geb. 1971, wurde vor allem durch seine historischen Spurensuchen im Himalaya und die sensationelle Entdeckung des 1924 verschollenen Everest-Pioniers George Mallory bekannt. Der Diplom-Geologe ist als Buch- und Drehbuchautor, Übersetzer und Fachberater im Bereich Alpinismus für verschiedene Verlage und Filmformate tätig. Sein Dokumentarfilm Der zerfallene Berg – Petit-Dru-Nordwand wurde auf dem Internationalen Berg- und Abenteuer-Filmfestival in Graz 2012 mit der Kamera Alpin in Gold ausgezeichnet. Jochen Hemmleb lebt mit seiner Familie in Lana, Südtirol.

www.jochenhemmleb.com

Heike Göschl-Grünwald, geb. 1978, wuchs im steirischen Wörschach auf.

Die vielseitige Sportlerin (Tennis Landesliga, Schifahren, Laufen, Berg- und Schitouren) ist ausgebildete Volksschullehrerin mit zusätzlicher Qualifikation in Sonderpädagogik und Inklusion. Nach Abschluss des Lehramts 2002 begann sie als Lehrerin in einer sozialen Einrichtung in Admont zu arbeiten, wo sie im Herbst 2002 ihren späteren Ehemann Gerfried kennenlernte. Heike Göschl-Grünwald lebt mit ihren beiden Töchtern Hannah Katharina Sagarmatha (geb.2006) und Helena Agnes Chogori (geb.2010) in Liezen.

Lieber Gerfried,

Mit dem Tod endet alles, hört man häufig. Manchmal beginnt damit aber auch etwas Neues. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass du vom Achttausender Hidden Peak nicht mehr zurückgekommen bist. Nun, wie ich diese ersten Zeilen des Buches über dich schreibe, merke ich, dass es das ist, worüber wir oft gesprochen haben: unsere gemeinsame Expedition.

Nur auf eine etwas andere Art.

Es ist kein leichter Rucksack, den ich damit schultere. Aber das wäre an einem Berg nicht anders gewesen. Und wie dort vertraue ich auch jetzt auf deine Führungsqualitäten und weiß, dass du mir ein starkes Team zur Seite gestellt hast: deine Frau und Kinder, deine Eltern, Schwiegereltern und Brüder, deine Freunde, Bergkameraden und Arbeitskollegen. Sie alle werden mich auf dieser „Klettertour durch dein Leben” leiten und begleiten. Nur auf den letzten Seillängen, der Fertigstellung dieses Buchs, wirst du den Vorstieg an mich und Verleger Egon Theiner abtreten müssen – aber das hattest du ja bereits so geplant, wie ich in Gesprächen und bei der Durchsicht deiner Notizen feststellen durfte …

Aus der Ferne höre ich deinen Ruf: „Nachkommen!”

Langsam strafft sich das Seil.

Ich steige ein.

Jochen Hemmleb

1. AKT

ERÖFFNUNG
VOM GESÄUSE INS KARAKORUM

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„Ich bin dem Ennstal so verbunden, ich möchte nirgends anders wohnen. Ich fahre zwar gerne fort – aber wenn ich dort bin, fahre ich so gerne heim.”

(Gerfried Göschl)

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Heimat: Das steirische Ennstal mit dem Gesäuse am Horizont.

Jeder Weg, jede Tour hat irgendwo einen Anfang. Gerfrieds Lebensweg begann in Hall bei Admont in der nördlichen Obersteiermark.

Es ist kein typisches Dorf. Verstreut liegen die Häuser inmitten weitläufiger Wiesen, beim Gang entlang der Straßen ist der Blick fast immer frei auf den Himmel und die umliegenden Berge. Was dem Ort an kleinräumiger Geschlossenheit fehlt, macht seine großräumige Lage wett: Geborgen in einer trogförmigen Ausbuchtung des Ennstals, kesselartig umschlossen von den kantigen Gipfeln der Haller Mauern im Norden und den zinnengekrönten Wänden des Gesäuses im Osten und Südosten ist es ein Platz, der wie ein Nest wirkt und an dem man sich gleichzeitig frei fühlt.

Wo jemand Wurzeln haben kann, den es in die Ferne und hoch hinaus zieht.

Wurzeln

Über tausend Jahre ist es her, dass Hall als älteste Salzquelle der Steiermark erstmals urkundlich erwähnt wurde. Seitdem hinterlassen Menschen ihre Spuren in der Region – selbst wenn es manchmal nur ganz unscheinbare sind, wie jene Silbermünze, die ein unbekannter Wanderer oder Salzhändler einst verlor und die Gerfried Göschls Mutter Käthe eines Tages beim Umgraben im heimischen Garten fand. Das Prägejahr der Münze: 1672 – genau 300 Jahre vor Gerfrieds Geburt.

Katharina „Käthe” Göschl stammt aus Gstatterboden im Ennstal, östlich von Admont. Ihr Vater war Förster, ihre Mutter Bäuerin. Ihr Großvater väterlicherseits, ein Eisenbahner in Hieflau, hatte trotz eines nicht gerade üppigen Gehalts gemeinsam mit seiner Frau alles darangesetzt, ihren drei Söhnen in den Vorkriegsjahren eine gute Ausbildung zu ermöglichen – „ein für die damalige Zeit bemerkenswerter Weitblick”, meint Käthe anerkennend. Neben der Försterlehre für Käthes Vater ermöglichten sie den anderen beiden eine Ausbildung an der HTL (Höhere Technische Lehranstalt) in Graz. Auch förderten sie die musikalischen und künstlerischen Talente der Söhne.

So sei ihr Vater zum Beispiel zeichnerisch sehr begabt gewesen. Von ihrer Mutter, so Käthe, habe sie vor allem gelernt, „aus wenig viel zu machen”. Bodenständigkeit, Vielseitigkeit, künstlerisches Talent, die Fähigkeit zum Selbermachen und zur Improvisation, Naturverbundenheit – all das lebt und vermittelt Käthe auf inspirierende Weise. Sie ist Keramikmalerin, kocht, backt und bestellt mit Hingabe den ausgedehnten heimischen Obst- und Gemüsegarten. Kaum etwas, das im Haushalt der Familie Göschl auf den Tisch kommt, ist ein Fertigprodukt. Das meiste ist selbst geerntet, eingemacht und zubereitet.

Die Eltern von Vater Rainer Göschl (*1940) stammten aus Donnersbach und Gröbming, südwestlich von Liezen. Er selbst wurde in Frauenberg bei Ardning geboren. Während des Zweiten Weltkriegs war der Vater Stiftsjäger, musste diesen Posten dann aber wegen seiner politischen Vergangenheit aufgeben. So zog die Familie ins Ennstaler Oberland, nach Assach, und später wieder in den Raum Gröbming, wo die Geschwister der Mutter mehrere Bauernhöfe bewirtschafteten. Wie die anderen Familienmitglieder half auch Rainer als Kind bei der Arbeit auf dem Land, genoss aber eine größere Freiheit, die er zu stundenlangen Touren in den Wäldern und im Gebirge nutzte. „Da ich abends stets wieder zu Hause sein musste, gab es nur eine Möglichkeit, den Aktionsradius auszudehnen: durch Schnelligkeit.” Nachdem Rainer bei einem Schulausflug auf den Stoderzinken bei Gröbming im Abstieg alle Klassenkameraden abgehängt hatte, prophezeite ihm die Lehrerin, er werde einmal Bergsteiger. Bereits mit 12 Jahren arbeitete er im Sommer als Hirte auf einer Alm in den Schladminger Tauern. Von der alten, weisen Sennerin habe er damals viel gelernt, erzählt Rainer – insbesondere Ordnung und Organisation. Die Arbeit bestand darin, Ställe auszumisten, zu melken, Vieh zu treiben und das auf den höheren Almen weidende Jungvieh zu betreuen – was bisweilen Zeit und Gelegenheit zu Abstechern auf den ein oder anderen Gipfel gab.

Als Rainer 13 war, bezog die Familie ihr eigenes Haus in Liezen und er wechselte für die letzte Klasse auf die dortige Hauptschule. Es war keine leichte Zeit: Als „Neuankömmling” fand er nur schwer Anschluss, wozu auch eine schwache Legasthenie beitrug. So herrschte nach der Schule oft eine große Leere.

Für Abhilfe und Erfüllung sorgte schließlich der lokale Alpenverein. Jugendführer Rudi Hönigmann aus Graz setzte Vertrauen in seine Schützlinge und führte sie mit der Zeit an immer schwierigere Bergfahrten heran – und mit den Schwierigkeiten wuchsen Selbstsicherheit, Können und Kondition. Mit 17 Jahren konnte Rainer an ersten Fahrten in die Westalpen teilnehmen, damals noch fast eine kleine Expedition. Fünf Jahre später, 1962, durchstieg er mit Viktor Heiss die Nordwand des Matterhorns, eine der drei großen Nordwände der Alpen. Anschließend wechselten beide hinüber ins Montblanc-Gebiet. Ziel: die Nordwand der Grandes Jorasses.

Die Begehung des berühmten Walkerpfeilers wurde für Rainer Göschl zu einem Schlüsselerlebnis. Nach einem Wettersturz gelang es dem 22-Jährigen, sowohl den bedeutend älteren Seilpartner wie auch eine andere Zweierseilschaft bei winterlichen Verhältnissen sicher aus der Wand zu führen. Rückblickend meint er: „Bergsteigen wurde damals zu einem ganz wesentlichen Teil meiner Persönlichkeitsentwicklung. Es stärkte mein Selbstbewusstsein. Beim Bergsteigen hatte ich Erfolgserlebnisse!”

Im folgenden Jahr erhielt Rainer nicht zuletzt aufgrund dieser Leistung eine Einladung zum internationalen Bergsteigertreffen in Chamonix. So entwickelten sich bald erste Pläne für Reisen in die Gebirge der Welt. Nach der Hauptschule war Rainer zunächst als Hilfsarbeiter beim Forstwegebau tätig gewesen, hatte dann eine Lehre als Maschinenschlosser an der Schmiedhütte Liezen abgeschlossen. Gearbeitet wurde im Schichtbetrieb, nicht selten ging es nach einer Frühschicht noch auf Bergtour. Als Facharbeiter konnte Rainer die Abendschule besuchen und erhielt schließlich ein Begabtenstipendium für eine Maschinenbauausbildung an der HTL in Graz – wodurch endlich Zeit für Expeditionen blieb.

1964 reiste Göschl zum ersten Mal in den Hindukusch. 1966 und 1968 dann gemeinsam mit dem jungen Grazer Industriellen Hanns Schell, der zum langjährigen Expeditionspartner werden sollte. Es gelangen die Erstbesteigungen der beiden Siebentausender Akher Chioh (7020 m) und Diran (7266 m).

In dieser Zeit seiner ersten Expeditionen lernten sich Käthe und Rainer kennen. 1969 heirateten sie, noch im gleichen Jahr wurde Sohn Wolfgang geboren. Und auf den Tag genau drei Jahre später, am 3. Oktober 1972, kam Gerfried auf die Welt.

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Gerfrieds Eltern: Rainer und Käthe Göschl

Von Beginn an bildeten die beiden Brüder eine fast untrennbare Allianz, denn, so Wolfgang: „Eigentlich gibt es für mich keine Wahrnehmung ohne ihn. Ich weiß nicht, wie es ohne ihn war.” Bis zum Vorschulalter lebten die beiden Brüder gemeinsam mit den Eltern und den Großeltern in einem Mehrgenerationenhaus im Südwesten von Hall, was Wolfgang rückblickend keineswegs als beengend empfindet, sondern als eine für die Kinder genussvolle Zeit. 1976 – Gerfried war vier Jahre alt – zogen sie dann in das jetzige Elternhaus etwas talaufwärts, welches Käthe und Rainer Göschl in Eigenregie gebaut hatten. Ein Jahr lang lebten die Kinder, abgesehen vom Schlafen und der Schulzeit, auf der Baustelle – ein aufregender Spielplatz der anderen Art. „Würde man unser Haus abtragen”, so Vater Göschl, „fände man im Beton der Grundmauer noch die Fußstapfen von Gerfried!”

Trotz des Umzugs in einen anderen Schulort blieben Wolfgang und Gerfried an der Volksschule in Admont und es war für sie gang und gäbe, die zwei Kilometer dorthin zu Fuß zu gehen. Zwar habe es später auch einen Schulbus gegeben, aber auf dem Fußweg bildeten sich schnell Gruppen, es gab die ersten „Raufereien, Nicht-Raufereien, Sympathien” – kurzum: Es war einfach interessanter!

Gerfried kam als einer der Jüngsten seines Jahrgangs 1978 an die Schule. Während die Älteren wie Wolfgang so manche Differenz auf handfeste Art lösten, hat sich Gerfried durch andere Mittel und Wege „hervortun oder auch wegschwindeln” müssen. „Er war eigentlich immer der Sonnyboy”, meint Wolfgang und fügt schmunzelnd hinzu: „Er hat es schon immer recht gut verstanden, die Tatsache, dass er der Kleinere war, zu seinem Vorteil zu nutzen.”

Auch seine Volksschullehrerin Gerlinde Gössler hat Gerfried aus dieser Zeit eher als „zart” in Erinnerung, als ein Kind mit einem verschmitzten Lächeln, aber ansonsten „eigentlich nicht auffallend”. Angesichts der vielen Expeditionen des Vaters nahm sie schon an, dass Gerfried einmal sehr sportlich werden würde. Er war damals schon ein begeisterter, wenngleich nicht herausragender Skifahrer – kein Rennläufer, sondern ein „Wald-und-Wiesen-Skiläufer”, wie sie es nennt. Bei den anderen Schulfächern habe sie zunächst Bedenken gehabt, ob Gerfried als einer der Jüngsten mit den anderen würde mithalten können. Doch nach anfänglichen Hürden startete Gerfried fulminant durch, lernte in der ersten Klasse bis Weihnachten lesen, und blieb bis in die Hauptschule ein problemloser Schüler – „ein angenehmes Schulkind, für die Lehrer wie für die Eltern.”

Gerfrieds Berufswunsch in diesen ersten Volksschuljahren war – Schauspieler. Deshalb wollte er immer Western im Fernsehen sehen. Einmal gab es jedoch das Problem, dass ein besonders heiß begehrter Film im Vormittagsprogramm lief, während die Kinder die Schulbank drückten. Und so blitzte schon damals das strategische Denken und Planen des späteren Schachspielers und Expeditionsorganisators hervor. Gerfrieds Lösung des Problems: Er ging (wohlgemerkt als Sechsjähriger) alleine zum Zahnarzt, ließ sich einen Zahn ziehen und erhielt so die Erlaubnis, früher aus der Schule nach Hause zu kommen – genau rechtzeitig zum Beginn des Films.

War die Schule vorüber, zog es Gerfried, Wolfgang und die anderen Kinder hinaus ins Freie. Die weiten Wiesen von Hall, die umliegenden Wälder sowie der Eßlingbach und der Hallbach, die das sanft geneigte Plateau zu beiden Seiten begrenzen, boten schier unerschöpfliche Spielmöglichkeiten – für „alles, was Gott verboten hat”, wie es Wolfgang formuliert. „Wir waren immer unterwegs. Man ist heimgekommen, und wenn es nicht gerade eine ganz dringliche Aufgabe zu erledigen gab, sind wir raus und erst wieder nach Hause gekommen, wenn es finster geworden ist.” Rückten die „Gangs” aus, dauerte es keine zehn Minuten, bis irgendwo ein Lagerfeuer brannte und man sich in einem im Unterholz gebauten Versteck zusammenfand. Dabei war es keineswegs unüblich, dass die Kinder Streichhölzer und Messer in der Hosentasche trugen und den Umgang mit beidem früh lernten – Risikomanagement statt Risikovermeidung, könnte man sagen. Wenn die Früchte reif waren, war kein Obstgarten vor ihnen sicher. Und so manches Viehzeug auch nicht. „Unsere Jagdversuche gingen so weit, dass wir mit langen Messern den Rehen nachgestellt sind. Da waren wir aber nur dürftig bis gar nicht erfolgreich. Enger wurde es für die Rehe im Winter, als wir die ersten Langlaufski hatten …”

Natürlich blieben diverse Blessuren bei derartigen Eskapaden nicht aus. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr dürfte Gerfried acht- bis zehnmal irgendwie, irgendwo zusammengeflickt worden sein, schätzt Wolfgang. Einmal endete eine winterliche Rutschpartie an einer Bachböschung mit Risswunden in beiden Pobacken – brüderlich geteilt: bei Wolfgang rechts, bei Gerfried links.

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Erste Schritte im Fels am Seil des Vaters

„Jedes Kind hat das Wilde in sich”, meint Volksschullehrerin Gerlinde Gössler, „und jeder Lehrer ist froh, wenn es dies zu Hause auslebt.” Auch in der Hauptschule, die er von 1982 bis 1986 besuchte, war Gerfried so ein Kind. Seine damalige Deutschlehrerin Dagmar Leitner schwärmt noch fast 30 Jahre später, wie „ausgesprochen charmant und liebenswürdig” er gewesen sei. Sie habe – laut ihr eine Seltenheit – nur positive Erinnerungen an ihn und es falle ihr nicht ein, dass sie ihn jemals traurig oder schlecht gelaunt erlebt habe. Entsprechend beliebt sei Gerfried bei seinen Mitschülern gewesen (vor allem bei Mädchen!), wenngleich er sich nicht als „Anführer” hervorgetan habe. Als besondere Eigenart von Gerfried blieb Dagmar Leitner in Erinnerung, dass er in den großen Pausen – wenn viele der anderen Kinder herumtobten – sehr häufig an seinem Platz saß und in ein Buch vertieft war. „Da sah er nix und hörte er nix.” Er sei sehr wissbegierig gewesen, besonders in Bezug auf geschichtliche Themen.

Auch Gerfrieds Klassenlehrer Fritz Eger, der ihn in Mathematik, Biologie, Werken und Sport unterrichtete, bestätigt die Eindrücke von einem begabten, lebhaften und vielseitig interessierten Schüler. Einen besonderen Ehrgeiz habe er damals noch nicht entwickelt. „Er war einer, der mitgemacht und mitgenommen hat, was leicht ging.” Vom Sozialen her habe er als Jüngster in der Klasse keine Führungsrolle innegehabt, sei aber trotzdem im Mittelpunkt gestanden – als beliebter Mitschüler, der voll integriert war und mit allen gut auskam. Manche Freundschaft, die in dieser Zeit entstand, sollte ein Leben lang halten. Manfred „Lupo” Lubensky kannte Gerfried seit 1977 und meint, eine „wahre” Freundschaft wie die zwischen ihm und Gerfried sei nur schwer in Worte zu fassen, „da wir gemeinsam so ziemlich alles erlebten, was auf dem Weg zum Erwachsenwerden und darüber hinaus alles passieren kann.”

Die Schilderungen aus dem Schulalltag erwecken bisweilen fast den Eindruck, Gerfried sei im regulären Unterricht unterfordert gewesen. Grips und Elan reichten in seinen Lieblingsfächern jedenfalls manchmal sogar für zwei, wie sich Manfred Lubensky erinnert: „Gerfried sagte immer, er habe in Geschichte quasi zwei Einser gehabt, da er nicht nur seine Tests in diesem Fach beherrschte, sondern auch mir ‚half’, einen Einser zu erreichen.” Glücklicherweise bot Fritz Eger neben der Schule noch zwei „unverbindliche Übungen” an: Langlaufen und Schach. Während Gerfried beim Langlauf keinen übermäßigen sportlichen Ehrgeiz an den Tag legte, fiel er beim Schach sehr schnell durch besondere Begabung auf. Einmal in der Woche traf sich die Gruppe, wobei Eger häufig gegen alle anwesenden Teilnehmer simultan spielte. Der Preis war ein Schachbrett für denjenigen, der es schaffte, ihn zu schlagen. „Gerfried war der erste, der ein Schachbrett bekommen hat – und ich glaube, aus der Gruppe auch der einzige.” Bald war er die Nummer eins in der Gruppe, wurde mehrere Male Steirischer Jugendmeister, und die Schule belegte mit ihm in zwei aufeinanderfolgenden Jahren den zweiten Platz bei den Landesmeisterschaften – als einzige Hauptschule neben lauter Gymnasien. Gerfried erhielt Einladungen zu Trainingskursen des Landesverbands. „Da wurde er gefördert und gefordert. Der Unterricht in der Hauptschule war dagegen ein Kinderspiel.” Neben dem Können bewunderte Fritz Eger auch das phänomenale Erinnerungsvermögen seines Schülers. Auf einem Turnier spielte Gerfried einmal eine so bemerkenswerte Partie, dass Eger ihn bat, die Aufzeichnung davon mitzunehmen, da er sie nochmals anschauen und analysieren wolle. Nach zwei oder drei Wochen trafen sie sich wieder und Eger fragte Gerfried, ob er zufällig die besagte Aufzeichnung mithabe. „Nein – aber ich weiß die Partie eh auswendig.” Und Gerfried spielte nicht nur die gesamte Partie nach, sondern legte seinem Lehrer auch alle seine Gedankengänge und Kombinationen dazu dar. Durch das Schachspiel hielt die Verbindung zwischen beiden über die Hauptschulzeit hinaus. Als Gerfried 18 war, holte ihn Eger zurück in den heimischen Schachclub. „Da hatte ich bereits keine Chance mehr gegen ihn. Da hat er mich nach Strich und Faden zerlegt.” Noch bis in die Anfangsjahre seines Studiums investierte Gerfried viel Zeit und Arbeit in das Schachtraining. Schließlich erreichte er ein Niveau, das als Amateur fast nicht mehr zu steigern war. Im internationalen Wertungssystem des Weltschachverbands hatte er weit über 2000 Elo-Punkte, was ihn in den Bereich eines Nationalen Meisters brachte. „Hätte Gerfried an diesem Punkt weitergemacht, hätte er Schachprofi werden müssen.” Auch wenn Gerfried mit dem organisierten Schachspiel aufhörte, blieb er in seiner Freizeit ein begeisterter Spieler. Filmaufnahmen zeigten ihn, wie er selbst noch in 5000 m hoch gelegenen Basislagern simultan gegen mehrere andere Bergsteiger antrat. Und zuletzt war selbst seine E-Mail-Adresse die Kombination aus zwei seiner großen Leidenschaften: „chessmountain”, Schach-Berg.

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Die Bergsteigerfamilie (v.l.n.r.): Rainer, Wolfgang, Sieghard, Käthe und Gerfried

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Fritz Egers Hauptschulklasse 1982, Gerfried sitzend unten rechts

Was aber in den ganzen Erzählungen aus Gerfrieds Jugendjahren nicht auftaucht, ist – Bergsteigen. Ein Grund war wohl das, was seine beiden Brüder unisono als „harte Schule des Vaters” bezeichnen. Vater Rainer ging auf den Skitouren am Wochenende konsequent sein eigenes Tempo „Ich konnte nicht so langsam gehen wie die Kinder”, sagt er, worauf Käthe einwirft: „Ganz ehrlich – du wolltest nicht!”. Wolfgang arrangierte sich damit und folgte einfach so lange in seinem eigenen Rhythmus, bis der Vater mit seinen Partnern von oben zurückkam, und fuhr dann gemeinsam mit ihnen ab. Gerfried hingegen machte als Zwölfjähriger das Spiel ein paar Mal mit und meinte dann: „So nicht!”

Später sorgten neben Schach samstägliche Fußballspiele für eine stark reduzierte sonntägliche Einsatzfähigkeit. „Er musste sich vom ‚Nachspiel’ erholen!”, meint Rainer spitzbübisch. Einmal kam er von einer Skitour zurück und fand seinen rekonvaleszenten Sohn bei schönstem Wetter auf dem Sofa liegend vor. Da konnte eine Rüge nicht ausbleiben: „Gerfried, da so rumzuliegen ist nix. Der Herrgott schenkt dir jeden Tag nur einmal. Und wenn du einen so schönen Tag nicht nutzt …” Daraufhin entgegnete Gerfried nur: „Das geht dich gar nichts an – das ist mein Tag!”

„Wie man es als Eltern auch macht, es ist immer falsch”, sagt Rainer mit gespielter Resignation. „Irgendwann später hieß es dann: ‚Warum hast du mich nicht früher zum Bergsteigen mitgenommen?’!”

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Großes Spiel: Gerfried, der Schach-Stratege

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Wahre Freunde auf Reisen: Manfred »Lupo« Lubensky und Gerfried unterwegs in Korsika.

»Wechseljahre«

„Habe gerade noch ein Zeugnis von Gerfried gefunden. Auf dem steht, dass er das Studium an der Pädagogischen Hochschule bereits am 21.09.1992 begonnen hat und am 3.7.2000 abgeschlossen hat. Demnach hat er zwischendurch den Zivildienst absolviert und auch noch vor Abschluss des Studiums bei der Fa. Meißner zu arbeiten begonnen!!

Er hat also für ein sechssemestriges Studium 8 Jahre gebraucht ;-)))”

Diese E-Mail von Gerfrieds Witwe Heike, die sie mir Mitte Januar 2014 schreibt, sagt sehr viel über Gerfrieds Lebensstil nach dem Ende seiner Schulzeit 1991 aus!

Nach Abschluss der Hauptschule 1986 hatte Klassenlehrer Fritz Eger empfohlen, Gerfried aufgrund seiner vielseitigen Begabung auf das musischpädagogische Realgymnasium nach Eisenerz zu schicken und eine weitere Ausbildung als Lehrer anzupeilen. Dort, in Eisenerz, hat ihn dann aber laut Mutter Käthe „das Jungsein eingeholt”.

Elmar Steiner, ein weiterer Freund Gerfrieds seit Kindergartentagen, weiß zu berichten, dass so manche gemeinsame Fahrt zum Gymnasium in diesen Jahren ihr eigentliches Ziel nicht erreichte: „Es gab einen Zug, der den ganzen Tag zwischen Hieflau und Eisenerz pendelte. Wenn uns die Schule gerade nicht gefreut hat, sind wir einfach im Zug sitzengeblieben und den ganzen Tag zwischen beiden Orten hin und her gefahren. Er hat Schach gespielt, oder wir haben gekartelt. Und wenn dann der richtige Zug von Hieflau zurückgefahren ist, sind wir halt wieder heimgefahren …” Abgeschlossen wurden Schultage – tatsächlich absolvierte wie auch simulierte – gerne durch ausgedehnte Abendsportaktivitäten in den entsprechenden Sportstätten (sprich: Wirtshäusern). Dabei wurde nicht nur der Blick ins Glas tiefer, sondern auch so manche Freundschaft, wie Manfred Lubensky zu erzählen weiß: „Unsere getrennten Ausbildungswege taten unserer Freundschaft keinen Abbruch, im Gegenteil. Es war 1987, als mich Görf, obwohl er jünger war als ich, zum ersten Mal zum ‚Fortgehen’ mitnahm. Eine neue Welt: Alkohol, Zigaretten, Mädls – wir waren in unserer ‚Sturm-und-Drang-Zeit’ angelangt. Es wurde eine sehr intensive Zeit, in der unsere ‚wahre Männerfreundschaft’ noch mehr wuchs. So war es nicht selten, dass einmal Gerfried und einmal ich es nur noch mit Hilfe des jeweils anderen schaffte, nach Hause zu finden …” Und nicht nur ein Abend wurde mit einer „Eierspeise à la Görf” abgerundet, deren Zubereitung im Kollektiv zu nachtschlafender oder frühmorgendlicher Stunde unter Plünderung des gerade vorhandenen Kühlschrankinhalts in Mutter Käthes Küche erfolgte.

Es verwunderte daher nicht, dass Gerfrieds schulische Leistungen in Eisenerz nicht auf luftiger Gipfelhöhe verblieben, sondern eher der Talsohle entgegensteuerten. Eine einjährige Extrarunde war bald die Folge.

Nach der Matura 1991 schrieb sich Gerfried zunächst an der Universität Graz zum Studium der Geodäsie (Landvermessung) ein. Laut Lehrer Fritz Eger hätte er als Mathematiker und aufgrund seines guten räumlichen Vorstellungsvermögens ideale Voraussetzungen für diesen Beruf gehabt – doch Vater Rainer beantwortet die Frage nach den Gründen für Gerfrieds Studienwahl trocken: „Ich glaube, das war damals reine Fantasielosigkeit!” Ein eifriger Student sei Gerfried gewesen – allerdings eher von alpiner Literatur, mit der er sich damals regelrecht „zugedröhnt” habe. Zu dieser Zeit wohnte er in einer Keller-WG in der Wiener Straße, eine Adresse, die damals von vielen Jungs aus Gerfrieds Heimat angesteuert wurde und deswegen inoffiziell die Bezeichnung „Admonter Haus” bekam. Gerfrieds älterer Mitbewohner war ein Kletterpartner seines Bruders Wolfgang: ein gewisser Christian Stangl, der später als Speed-Bergsteiger („Skyrunner”) für diverse Schlagzeilen sorgen sollte. Damit saß Gerfried, was Alpinliteratur betraf, direkt an der Quelle.

Nach zwei Semestern war das Kapitel Geodäsie beendet und Gerfried wechselte im Herbst 1992 für ein Lehramtsstudium an die Pädagogische Akademie (heute Pädagogische Hochschule Steiermark). „Unheimliches Geschick im Umgang mit Kindern, auch mit schwierigen”, attestiert ihm Fritz Eger auf die Frage nach den Gründen für diese Wahl – und erneut liefert Vater Rainer mit hintergründigem Lächeln eine etwas andere Sicht: „Das soziale Verständnis hat er sicher gehabt – aber dass zur Entscheidung, Lehrer zu werden, auch die Möglichkeiten der Ferien eine Rolle gespielt haben, könnte ich mir schon vorstellen!” Es war dies rückblickend die einzige Zeit, in der der Vater Kritik an seinem Sohn äußerte: „Einmal sagte ich ihm: ‚Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich aus den ganzen Fähigkeiten, die du hast, mehr machen!’” Ansonsten war die Erziehung der Söhne eher liberal und auf Selbstverantwortung ausgerichtet. „Wir haben nie versucht, sie in eine bestimmte Richtung zu drängen. Es war nicht wichtig, was sie machten. Natürlich keine krummen Sachen. Aber ansonsten war nur wichtig, dass sie etwas machten.”

Das studentische Lotterleben hinterließ schließlich Spuren. Bilder und Beschreibungen von Gerfried aus dieser Zeit haben nicht viel gemein mit dem drahtigen, gut aussehenden Sportler, der er in seinem letzten Lebensjahrzehnt war: lange Haare, Raucher, Waschbärbauch statt Waschbrettbauch … Als die Dimensionen von letzterem schließlich dafür sorgten, dass Gerfried Schwierigkeiten hatte, seine Schuhe zuzubinden, war der Zeitpunkt für einen radikalen Wandel gekommen. „Schluss mit diesem Leben!”, sagte er zu seinem Spezl Manfred Lubensky. „Wir müssen etwas für unsere Kondition und Gesundheit machen! Die Sturm-und-Drang-Zeit setzen wir auf Sparflamme!”

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Rebel without a cause oder: … denn sie wissen nicht, was sie tun. Impressionen aus Gerfrieds wilden Jahren, mit Elmar Steiner (m.l.).

Gesagt, getan. Die erste Tour wurde gleich, wie es sich bei einem Intensivtraining gehört, mit Zusatzgewicht angegangen – in Form eines mächtigen Katers. „Görf und ich beschlossen, nach einer durchzechten Nacht den Admonter Kalbling [2196 m] von der Oberst-Klinke-Hütte [1486 m] aus zu besteigen. Ein für uns schwieriges Unterfangen, da wir unser ‚Lotterleben’ in allen Gliedern spürten. Gerfried noch mehr als ich. Aber nach unzähligen Pausen und etwa dem Doppelten der veranschlagten Gehzeit war der Berg schließlich unser.”

Vielleicht war es genau der richtige Einstand. Denn ein bekannter Expeditionsbergsteiger sollte einmal zum Thema Training für den Mount Everest sagen: „Geh’ jeden Abend in die Kneipe, rauche und trinke hemmungslos. Dann kriegst du Kopfschmerzen, einen rauen Hals, dir schmerzen die Augen – genauso fühlst du dich da oben auch.”1 So oder so war es ein erster Erfolg – und der erste Schritt auf einer im wahrsten Sinne des Wortes steilen Karriere.

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Gipfel der Leidenschaft: K2 (l.) und Broad Peak (r.) über dem Baltorogletscher im Karakorum.

Bergsteigerbrüder