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KURT TUCHOLSKY

wurde am 9. Januar 1890 in Berlin als Sohn eines jüdischen Kaufmanns geboren, studierte in Berlin und Genf Jura und promovierte 1915 in Jena. Seit 1913 war er Mitarbeiter der »Schaubühne« und späteren »Weltbühne«, nach Siegfried Jacobsohns Tod zeitweilig auch ihr Herausgeber. 1930 verlegte er seinen Wohnsitz nach Schweden. Am 10. Mai 1933 verbrannten die Nationalsozialisten seine Bücher und bürgerten ihn am 22. August aus – gemeinsam mit 32 weiteren Personen, darunter u. a. Lion Feuchtwanger und Heinrich Mann. Aus Verzweiflung über den Sieg des Nationalsozialismus nahm er sich am 21. Dezember 1935 in Hindas, Schweden das Leben.

Zum Buch

Kurt Tucholsky besaß das Talent, die Welt nicht nur mit einem Paar Augen zu betrachten: Von allen Seiten, Ebenen und Blickwinkeln beobachtete er das Geschehen als schmunzelnder Beobachter, feixender Provokateur, mahnender Weiser und hin und wieder ein Stück seiner Seele Preisgebender. Der Facettenreichtum seines dadurch entwickelten Talents intensiviert sich in seiner Lyrik, die mal politisch, mal philosophisch, mal spöttisch, mal liebend, dann wieder verabscheuend die Auswüchse des Lebens kommentiert.

Dieser Band versammelt Tucholskys schönste Gedichte in chronologischer Anordnung.

Seine Bücher wurden von den Nationalsozialisten verbrannt, er selbst begeht aus Verzweiflung über den Nationalsozialismus Selbstmord – Kurt Tucholskys Leben endet tragisch. Der Welt hinterließ er ein wertvolles Werk, das es gerade vor dem Hintergrund seiner Vita zu würdigen gilt. Dieser Band kommt dem nach, indem er die schönsten, bissigsten, nachdenklichsten, rührendsten, weisesten Gedichte des talentierten Lyrikers versammelt. Tucholskys Poesie lädt dazu ein, andere Blicke als sonst auf das Leben, auf Werte und Normen zu werfen, dabei zu philosophieren, zu verspotten, zu schmunzeln und zu schlucken, wenn einem das Lachen immer wieder im Halse stecken bleibt.

Kurt Tucholsky

C’est la vie –! Ssälawih –!

Kurt Tucholsky

C’est la vie –!

Ssälawih –!

Gedichte

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Alle Rechte vorbehalten

© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014

Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014

Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH

Hamburg Berlin

Bildnachweis: © fotolia

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0467-7

www.verlagshaus-roemerweg.de/Marix/

»Erst habe ich gemerkt, wie es ist.

Und dann habe ich verstanden, warum es so ist.

Und dann habe ich begriffen, warum es nicht anders sein kann.

Und doch möchte ich, daß es anders wird.«

Kurt Tucholsky

INHALT

EIN SÜNDHAFT BLAUER TAG!
1913

Kritik

Auftakt

Parkett

Schöner Herbst

Schall und Rauch

MAL GEHTS UNS GUT
1914–1918

Vorfrühling

Bund der Landwirte

Kleines Gespräch mit unerwartetem Ausgang

Wetterhäuschen

Der Kriegslieferant

Auf Urlaub

Auf die Weltbühne

Wünsche

An Peter Panter

Professoren

Der alte Fontane

Kolonne

Die arme Frau

Namensänderung

UND PLÖTZLICH WURDE DIE ZEIT WIEDER KLEIN
1919

Das Lied vom Kompromiß

Eisner

Der zwanzigjährigen ›Fackel‹

Osterspaziergang

Das Königswort

Sehnsucht nach der Sehnsucht

Preußische Presse

Die Schule

Nach fünf Jahren

An ihren Papa

Klagelied eines Einsamen

Versunkenes Träumen

Kino-Atelier

Mit einem japanischen Gott

An unsre Kleine

Erweckung

Silvester

Lebensmittel! Lebensmittel!

BERAUSCHT – ACH, DASS ICH STETS SO BLIEBE!
1920

Absage

Wider die Liebe

Rechts und links

Dantons Tod

Die Dame mit ’n Avec

Namensänderung

An den deutschen Mond

Preissturz?

Abschied von der Junggesellenzeit

Zum nächsten Putsch!

Mikrokosmos

Sommerlied

Heimg’funden

Löwenliebe

Steuerabzug

Nichts anzuziehen –!

IN DEN BERLINER STRASSEN
1921–1922

An ihr

Abschiedsgesang

Führerhunde

Berliner Sonntag

Vorn an der Rampe

An die Berlinerin

Schaufenstermoral

Auf ein Frollein

Merkt ihr nischt –?

Händler und Helden

Couplet für die Bier-Abteilung

EINMAL WAREN WIR BEIDE GLEICH
1923–1924

An einen Bonzen

Deutsches Lied

Figurinen

Nur die Ruhe

Zu tun! Zu tun!

Place des Vosges

Gebet für die Gefangenen

DÉJÀ VU –?
1925

Ruhe und Ordnung

Gefühle

Pariser Vorort

Prolet vor Gericht

Besetzt! Bitte, später rufen –!

Farbenklavier

Frauen von Freunden

Deutsche Pleite

Die fünf Sinne

SAG AN, MEIN HERZ, SAG AN
1926

Angestellte

Das alte Vertiko

Was brauchen wir –?

Nächtliche Unterhaltung

Flaggenlied

Bei näherer Bekanntschaft

An meinen Sohn

Feldfrüchte

Wenn jener wiederkäme

Angst des Kapitalisten vor der Einigkeit der Arbeiter

Wo bleiben deine Steuern –?

Altes Volkslied

Der schlimmste Feind

HABEN. SEIN. UND GELTEN.
1927

Geschworene

Einigkeit und Recht und Freiheit

Finish

Subkutan

Pfeifen anrauchen

Heimgefunden

Der Pfau

Der Rhein und Deutschlands Stämme

Das Ideal

Saxo-Borussen

Bei uns in Europa

Lied der Kupplerin

Flaggenfriede

All People on Board!

Alfred Kerr

Illustrierte Welt

EINMAL HIN UND EINMAL HER
1928

Horoskop 1928

Die Leibesfrucht

Nebenan

Ehekrach

Für Maxim Gorki

Deine Welt

Meine Flieger – deine Flieger

Sonntagsmorgen, im Bett

Konjugation in deutscher Sprache

Aus der Ferne

Olympiade

Gesang der englischen Chorknaben

Wenn die Igel in der Abendstunde

Träumerei auf einem Havelsee

Sie schläft

Berliner Herbst

Glück im Unglück

Liebespaar am Fenster

Das Sozialistengesetz 1878

Don’t Gish Me –!

Das Lächeln der Mona Lisa

Beschluß und Erinnerung

Oller Mann

C’EST LA VIE –! SSÄLAWIH –!
1929

Lied fürs Grammophon

Chanson für eine Frankfurterin

Was ist im Innern einer Zwiebel –?

Media in Vita

Die Kinderstube

Guter Neurath ist teuer

Der Meineid

Junge Autoren

Lehrgedicht

Mutterns Hände

Einkehr

In aller Eile

Diskretion

Berolina … Claire Waldoff

Heinrich Zille

Ja, Bauer, das …!

Holder Friede

Das Gesetz

Unerledigte Konten

Die Tagung

Hej –!

Der verrutschte Hut

Deutsche Richter von 1940

Aussperrung

Das Parlament

Lied der Steinklopfer

Bürgerliche Wohltätigkeit

Ideal und Wirklichkeit

DER SÜSSE KITSCH MIT ZUCKER-EI
1930

Aus!

Kirche und Wolkenkratzer

Theorie der Leidenschaft Berlin N 54

Frage

Die freie Wirtschaft

Augen in der Großstadt

Danach

Deutschland erwache!

Zwei alte Leute am 1. Mai

Das dritte Reich

Nur

Kleines Operettenlied

Fahrgäste

Die Mäuler auf!

S. J

Abendlied

Wahre Liebe

Marschlied nach den Wahlen

Die Redensart

Aussage eines Nationalsozialisten vor Gericht

Der Neurotiker

Der andre Mann

Wo ist der Schnee

Aufgewachsen bei

Malwine

Stationen

Karrieren

Diese Häuser

Zuckerbrot und Peitsche

Ballade

Oh Frau!

Dein Lebensgefühl

TROTZ KOPPWEH, ÄRJA, NOT UN SCHMERZ
1931

Die Frau spricht

Eine Frage

Gestoßener Seufzer

Rußland

Schepplin

Parteimarsch der Parteilosen

Das Persönliche

An das Publikum

Der Mitesser

Goethe-Jahr 1932

An das Baby

Sie, zu ihm

Media in Vita

NA, NU WISSEN SE – NU IST ZU ENDE
1932

Das Lied von der Gleichgültigkeit

Europa

Recht muß Recht bleiben –!

Singt eener uffn Hof

Altes Lied 1794

EIN SÜNDHAFT BLAUER TAG!

1913

KRITIK

Da oben spielen sie ein schweres Drama

mit Weltanschauung, Kampf von Herz und Pflicht:

Susannen attackiert ein ganz infama

Patron und läßt sie nicht.

Ich sitze im Parkett und zücke den Faber

und schreibe auf, ob alles richtig sei;

Exposition, geschürzter Knoten – aber

ich denk mir nichts dabei.

Mein Herz weilt fromm bei jenem lieben Kinde,

das lächelnd eine Kindermagd agiert:

ich streichle ihr im Geiste sehr gelinde,

was sie so lieblich ziert.

Nun sieh mal einer diese süßen Pfoten,

dies Seidenhaar mit einem Häubchen drauf –

es gibt da sicher manch geschürzten Knoten:

ich löst ihn gerne auf.

Wer sagte da, daß ich nicht sachlich bliebe?

(Nu sieh mal einer dieses schlanke Bein!)

Begeisterung, Freude am Beruf und ›Liebe‹ –:

So soll es sein!

AUFTAKT

Thalia stürzt sich in die Winterrobe

und macht sich bis zum Rückenwirbel bloß …

Ab wirft sie ihren Schmoddergown – ick jloobe,

jetzt geht es los.

Das Winterfieber packt die kleinsten Schmieren,

der Mime schwärzt den alten Schappohklapp,

der Direktöhr läßt das Theater renovieren

und staubt die Hypotheken ab.

Der Spielplan steigt: man wird Modernes geben,

Bongs Klassiker, Band eins bis hundertzehn,

und Ibsen, Shakespeare und Herrn Schönherrleben –

ihr werdets sehn!

Man ist erregt bis in die tiefsten Tiefen –

selbst nachts brennt Licht im Direktionsbüro.

Schon hört man unsern Holzbock interwiefen …

Rideau!

Rideau!

PARKETT

Das Stück hat Weltanschauung. Neben mir Ottilchen

hat weit die grauen Augen aufgemacht:

Der, nach dem Spiel, erhofft ein Kartenspielchen,

der eine Nacht …

Der Diener meldet die Kommerzienräte,

die Gnädige empfängt, ein Sektglas klirrt.

Ich streichle ihre Hand, die sonst die Hüte nähte …

Ob das was wird?

Da oben gibt es Liebe und Entsetzen,

doch so gemäßigt, wie sichs eben schickt.

»Ottilie«, flüstre ich, »vermagst du mich zu schätzen?!«

Sieh da: sie nickt.

Nun läßt mich alles kalt: die ganze Tragik

ist jetzt für mich verhältnismäßig gleich.

Und nimmt Madameken ihr Gift, dann sag ick:

»Ich bin so reich …«

SCHÖNER HERBST

Das ist ein sündhaft blauer Tag!

Die Luft ist klar und kalt und windig,

weiß Gott: ein Vormittag, so find ich,

wie man ihn oft erleben mag.

Das ist ein sündhaft blauer Tag!

Jetzt schlägt das Meer mit voller Welle

gewiß an ebendiese Stelle,

wo dunnemals der Kurgast lag.

Ich hocke in der großen Stadt:

und siehe, durchs Mansardenfenster

bedräuen mich die Luftgespenster …

Und ich bin müde, satt und matt.

Dumpf stöhnend lieg ich auf dem Bett.

Am Strand wär es im Herbst viel schöner …

Ein Stimmungsbild, zwei Fölljetöner

und eine alte Operett!

Wenn ich nun aber nicht mehr mag!

Schon kratzt die Feder auf dem Bogen –

das Geld hat manches schon verbogen …

Das ist ein sündhaft blauer Tag!

SCHALL UND RAUCH

Der Name ists, der Menschen zieret,

weil er das Erdenpack sortieret –

bist du auch dämlich, schief und krumm:

Du bist ein Individuum.

Hier sieht man nun den Dichter walten.

Er schafft nicht nur die Dichtgestalten,

nein, er benamset auch sein Kind –

und nennt es Borkman oder Gynt.

Wie aber, wenn er in den Dramen

gediegne bürgerliche Namen

benutzt und jener Bürger klagt,

damits der Richter untersagt?

»Du wirst dich von dem Namen trennen!

Mußt du ihn grade Barnhelm nennen?«

Der Richter schüttelt das Barett:

»Der Name macht den Kohl nicht fett!«

Und kurz: Wir werden was ertragen!

Schon sieht man Doktor Tassow klagen,

mit ihm in trautestem Verein

den Grünkramhändler Wallenstein.

Dem Dichter fällt in seine Leier

auch der Apotheker Florian Geyer –

dem Dichter grausts mit einem Mal:

Er numeriert sein Personal.

Wie nennt man nun die Rechtsgelehrten,

die uns mit diesem Spruch beehrten?

Wie nennt man also dies Gericht?

Hier weiß ich keinen Namen nicht.

MAL GEHTS UNS GUT

1914–1918

VORFRÜHLING

Sieh da: nun ist der fette Dichter wieder

von seinem Winterschläfchen aufgewacht,

und er entlockt der Harfe heitre Lieder,

ti püng – die Winde wehn, der Himmel lacht.

Er schauet sanft verklärt, und eine Putte

hält über seinem Kopf den Lorbeerkranz.

Vorfrühling nähert sich, die junge Nutte,

und probt, noch schüchtern, einen kleinen Tanz.

Das Barometer droht mit seinem Zeiger:

»Nicht immer feste druff! Ich falle bald.«

Selbst Barometer schwätzen. Große Schweiger

sind selten in dem Land des Theobald.

Noch immer Zabern und Theaterpleiten,

und wie man wieder auf den Fasching geht,

Protestbeschlüsse, andre Lustbarkeiten –

und alles red’t und alles red’t.

Und wenn man dieses Deutschland sieht und diese

mit Parsifalleri- und -fallerein

von Hammeln abgegraste Geisteswiese –

ah Frühling! Hier soll immer Winter sein!

BUND DER LANDWIRTE

Des Morgens speit er auf die Berolina,

des Abends macht er sichs bei ihr bequem;

auf seiner Klitsche geht er mit die Hihna

zu Bett – und hier mit anderswem.

Und in den Sektlokälern stellen

sie sich wie Eichen auf, so fest und stark:

»Wat, Kuhlow, det sinn hier Marjellen?

Und Rasse ham se …!« (Zwanzig Mark.)

Am nächsten Morgen sitzt er, stramm gerötet

und gut rasiert (die Äuglein noch verklebt),

im Zirkus, wo man seine Feinde tötet

»Die roten Juden!« – und die Sitzbank bebt.

Der ganze Stall scharrt stürmisch mit den Hufen,

es schnaubt und wiehert jeder dicke Gaul,

und alles glotzt von jenen Zirkusstufen

dem alten Schimmel Oldenburg ins Maul.

… Des Morgens speit er auf die Berolina,

des Abends greift er ihr ans volle Bein.

Und das sind unsre Herrscher und Verdiener …

Ich bin ein Preuße, will ein Preuße sein!

KLEINES GESPRÄCH MIT UNERWARTETEM AUSGANG

Der Herrgott saß auf Wolkenkissen

und sah sich seine Erde an.

Was braust herauf? Sieh da, das is ’n

Aeroplan.

Ein Offizier grüßt freundlich lächelnd.

»Gestatten! Schwaben Nummer Vier!«

– und die Propeller surren fächelnd –

»Wir sind nu hier! –

Was sagen Sie zu unserm Siege?

Wir brachen spielend den Rekord.

Wozu? Wir brauchen das zum Kriege …«

»Zum Krieg? Zum Mord!«

»Erlauben Sie, Sie sind zu schwächlich …«

»Und wer gab euch das viele Geld –?«

»Das Volk! Das Volk war es hauptsächlich

vom Rhein zum Belt.«

»Das Volk? Hat es so krumme Nacken?

Ist denn bei euch das Volk so dumm?«

Hier lachte Gott aus vollen Backen.

Man kippte um.

WETTERHÄUSCHEN

Mal gehts uns gut. Dann brüllt der Chor der Rache.

Die Weltenunterjocher werden wild.

Der Bizeps steigt. Der Kluge ist der Schwache.

Nur Macht ist Recht, die Mannessehne schwillt –

Mal gehts uns gut.

Mal klappts nicht so. Sieh da: die Idealen

zitieren Luther, Goethe und von Kleist.

Ein Krämervolk nur pocht auf seine Zahlen,

und man besinnt sich plötzlich auf den Geist –

Mal klappts nicht so.

Und jenachdem der Stand schlecht oder bene,

drehn sich aus ihrem kleinen Haus von Holz

Mars aus Papiermaché, Pallas Athene,

ein jedes unumschränkt und stolz –

Ganz jenachdem.

Sieh ohne Ehrfurcht auf die bunte Puppe;

sie ist beweglich, drum erkenn daraus:

Wer vorne steht, ist ja wohl gänzlich schnuppe –

der Himmel machts … und nicht das Wetterhaus!

DER KRIEGSLIEFERANT

Du wohntest irgendwo am Friedrichshaine.

Auf deiner Ehe ruhte Gottes Segen

(sechs Kinder). Deine säuerlichen Weine

ernährten nebst Versicherungsverträgen,

den Renntips, auch wohl einem Spielchen ›Meine

und deine Tante‹ dich noch allerwegen.

Bald hattst du nichts, bald hattst du blaue Scheine.

Oft sah man deine Frau die Treppen fegen.

Doch als der Welt vor Angst die Pulse stocken,

wirfst du dich auf die Marke ›Suppenkraft‹ –

da stieg dein Stern! In der Gemahlin Locken

blitzt die Agraffe auf im Band von Taft.

Von Paulchen Thumann, Stöwer und Van Gocken

hast du dir schnell das Nötigste errafft.

Und läuten einmal uns die Friedensglocken:

Was kost’t Berlin? Du hast das Ding geschafft!

AUF URLAUB

Die Residenz!

Gu’n Tag, du Metropole!

Da ist auch schon der Alexanderplatz …

Verstatte, daß ich mich das Schneuztuch hole,

das Herz schlägt stürmisch unterm Busenlatz.

Du gute Spree mit dem geduldigen Rücken,

der Ruderklubs und der Mamsells Entzücken –

ich seh dich still und mächtig dreckig ziehn …

Berlin!

Die Weiche knackt. Der Zug zischt an den Hallen

der Stadtbahn lang. Da liegt der dicke Dom.

Die pfui! die Friedrichstraße will mir recht gefallen,

am Charitéhaus grünt ein Appelboom.

Die Völker auf den Straßen sind nicht ohne:

dem Gang nach lauter Jrafens und Barone.

Es riecht nach Geld. Prozente, Mensch, verdien!

Berlin!

Charlottenburg. Da steht die lange Claire,

den Bastard meiner Liebe an der Hand.

Ob auch die Rationierung an uns zehre –

der Knochenbau hält allen Feinden stand.

Das wird die rechte Wiedersehensfeier!

Ich hab (im Rucksack) fünfundsiebzig Eier –

Da hält der Zug! Die Kümmernisse fliehn …

Berlin! Berlin!

AUF DIE WELTBÜHNE

Mein gutes Blatt! Wie hast du dich verändert!

Den Musentempel schließt du beinah zu;

mit Politik, Kunst, Wirtschaft dicht bebändert,

so geht dein Vorhang auf: auch du, mein Kind, auch du?

Du willst dich gleichfalls in den Strudel stürzen?

Randstaaten? Westfront? Die Veränderungswahl?

Nur eines kann mir meinen Kummer würzen:

Es war einmal …

Es war einmal … da glaubten wir noch beide

an Kunst und an Kultur, an Menschentum –

an deine ziegelrote Wand schrieb ich mit Kreide

die Namen meiner Lieben an zum Ruhm.

Wir dachten: essen und organisieren

sind Selbstverständlichkeiten, tief im Tal –

und auf den Bergen gehen wir spazieren …

Es war einmal …

Du lieber Gott, wie hat sich das gewandelt!

Wir schuften, bis dem Land die Schwarte knackt.

Und kein Professor, der nicht gerne handelt

mit weichem Klitschebrot, das er sich backt.

Es war einmal … Glück auf zur neuen Reise!

Eng wars einmal – heut bist du bunt und weit.

Doch kehr noch manchmal dich zurück im Kreise

zur alten Zeit!

WÜNSCHE

Die gnädige Frau ist hell und blond,

von sommerlichem Licht durchsonnt –

sie scheint sich schlechtgeraten.

Braun will sie sein, das dumme Kind,

braun, wie Zigeunerweiber sind –

und läßt am Strand sich braten.

Jung-Deutschlands Dichter gehn zur Zeit

in Fritz von Schillers Schülerkleid –

(der war nicht so behende).

Vom Recken wird man noch nicht groß;

bleibt ruhig noch auf Mutterns Schoß:

sie hat die klügern Hände.

Alt-Deutschland macht in Politik

und zieht Bilanz aus diesem Krieg:

Indien muß badisch werden!

Ägypten her! die Ostsee auch!

Wir treten alle vor den Bauch

mit sieghaften Gebärden!

Und so hat jeder was zu schrein.

Der Neger will ein Weißer sein,

der Fußfantrist ein Reiter …

Wir wollen aufrecht stehn, mein Kind,

und bleiben, was wir selber sind!

Ich glaub, das ist gescheiter.

AN PETER PANTER

Peter Panter, Mitarbeiter!

Steig doch auf die hohe Leiter!

Singe doch von aktuellen

Zeitgenossenzwischenfällen!

Laß die Liebe, laß die Damen

mit den freundlich blonden Namen;

laß die bunten Busentücher –

und vor allem: laß die Bücher!

Laß sie Bücher schreiben, drucken –

wozu da hinuntergucken!

Frisch! hinein ins volle Leben!

Aktuell mußt du dich geben!

Sieh mich an! Fast jede Woche

pfeif ich auf dem Flötenloche:

Reichstag, Wahlrecht, Osten, Westen,

Presse, Orden, Schweinemästen –!

Tanz die nationale Runde!

Kennst du das Gebot der Stunde?

Höcker macht das viel gewandter,

Peter Panter, Peter Panter!

Du mußt aktueller schwätzen,

und man wird dich höher schätzen!

Lerne du im Hurraschrein:

man darf nicht beschaulich sein.

PROFESSOREN

Er ging durch alte Winkelgäßchen,

im schlappen Hut, in faltigem Rock.

Ein kleines Bäuchlein wie ein Fäßchen

… nicht jung mehr … graues Stirngelock …

Vergaß er auch sein Regendach,

man raunte: »Der versteht sein Fach!«

Ein stilles, manchmal tiefes Gewässer:

der alte Professor.

Und heut? Im lauten Weltgebrause

bewegt sich der Privatdozent.

Er redet in und außerm Hause

von Politik mit viel Talent.

Beziehungen zur Industrie

sind sehr beliebt, drum hat man sie.

Wild fuchtelnd fordert den Krieg bis aufs Messer

der neue Professor.

Man sagt, weltfremd sei er gewesen.

Wie sind sie heute so gewandt!

Man sagt: er konnte nichts als lesen.

Wie wäscht sich heute Hand und Hand!

Der lehrt nicht mehr. Der propagiert.

Und wer erzieht den, der studiert?

Ich kann mir nicht helfen, er war doch viel besser:

der alte, deutsche, zerstreute Professor.

DER ALTE FONTANE

Damals, so in den achtziger Jahren,

ist man noch nicht mit dem Auto gefahren;

alles ging seinen ruhigen Schritt,

und der alte Fontane ging ihn mit.

Ein stilles Antlitz hatten die Tage:

Frühmorgens bei Kroll, auf der Brunnenwaage

dann die Tiergartenpromenade

(»Kannten Sie Strousberg? Schade, schade!«),

dann ins Geschäft oder ins Büro,

und das ging alle Vormittage so.

Mittag zu Hause, friedliche Zeiten,

die Kinder machen Schularbeiten,

ein kleines Nickerchen mit der Zigarre,

und dann wieder in die geschäftliche Karre.

Und war der Tag besonders schön,

hieß es: »Ich habe den Kaiser gesehn!« –

Alles so sauber und preußisch und karg:

der alte Fontane und seine Mark.

Aber Fontane und alle die Alten

konnten sich auch nicht ewig halten.

Wollten noch so vieles erleben,

mußten doch gen Walhalla schweben.

Bis hin vor die Weltenesche sie ziehn,

da lagern sie sich um Vater Odin.

Tick, tick,

dreißig Jahre sind ein Augenblick.

Und als nun Michaelis den Abschied nahm,

eine Sehnsucht über Fontane kam,

und er sprach: »Herr, laß mich auf Urlaub gehn,

ich möchte die Spree noch einmal sehn.

Die Spree, die Havel, die Nette, die Nuthe,

den Schlachtensee und die Räuberkuthe;

ich kenne mich aus, und habe ich Glück,

bis Donnerstag bin ich wieder zurück.«

Odin hat huldvoll sich verneigt –

der Alte zur Erde niedersteigt.

Und zunächst in der Neumark, in der Nähe von Bentschen,

landet er. »Himmel, was sind das für Menschen!«

Und er spricht hinter Schwiebus und hinter Zielenzig:

»Dickköpfe, Hamster! und so was nennt sich

nun Märker – wir wollen westwärts ziehn!«

Und so westwärts kommt er nach Berlin.

Da ist ein Schleichen und Drehen und Schieben,

wo ist das alte Berlin geblieben?

Einer drängt immer den andern weg:

»Ham Se nich greifbaren Schweinespeck?«

Und ein Dicker steht mitten auf dem Damm

und philosophiert über Pökelkamm.

Sie treten sich an die Schienenbeine,

die jüngeren Herren spielen ›Meine – Deine‹,

sie verkaufen Frauen und Gold und Eier

und alles um die paar lumpigen Dreier.

Golden leuchtet ein Kirchturmknopf –

Und der Alte schüttelt schweigend den Kopf,