Hans Goller
Wohnt Gott im Gehirn?

Hans Goller

Wohnt Gott im Gehirn?

Warum die Neurowissenschaften die Religion nicht erklären

Butzon & Bercker

 

„Orientierung durch Diskurs“

Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-1957-0

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4271-4

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4273-8

E-Pub: ISBN 978-3-7666-4272-1

© 2015 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph M. Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in Germany

Inhalt

Vorwort

I. Gibt es einen göttlichen Teil des Gehirns?

Mathew Alper: Vom Glauben an Gott zum Glauben an den Naturalismus

Die Frage nach Gott

Der göttliche Teil des Gehirns

Ursprung und Funktion des religiösen Erlebens und Verhaltens

Reduktionistische Deutung des religiösen Erlebens und Verhaltens

Was wäre durch eine wissenschaftliche Interpretation des Glaubens an Gott zu gewinnen?

Zusammenfassung

II. Die Suche nach den neurobiologischen Grundlagen des religiösen Erlebens und Verhaltens

Meditation und Hirnaktivität

Warum Gott nicht fortgeht: Experimente Andrew Newbergs

Verändert Meditation das Gehirn?

Wachheit und Aufmerksamkeit während der Meditation: Die Studien von Richard Davidson und Sara Lazar

Neurobiologie religiöser Erfahrung: Die Untersuchung von Mario Beauregard

Wie lassen sich mystische Erfahrungen neurobiologisch untersuchen?

Gehirnaktivität während einer mystischen Erfahrung

Neuronale Korrelate religiöser Erfahrung: Das Experiment von Nina Azari

Schläfenlappenepilepsie und religiöse Erlebnisse

Die Untersuchung von Ogata und Miyakawa

Ramachandrans Untersuchung von Patienten mit Schläfenlappenepilepsie

Gibt es eine hyperreligiöse Schläfenlappen-Persönlichkeit?

Der „Gottes-Helm“: Versuche, religiöse Erlebnisse durch Magnetstimulation zu erzeugen

Die Experimente von Michael Persinger

Die schwedische Studie zur Magnetstimulation

Zusammenfassung

III. Wissenschaftliche Probleme der Neurotheologie

Die Grundthese der Hirnforschung und die Komplexität des Gehirns

Welchen Einblick gewährt uns die Hirnforschung in die Arbeitsweise des Gehirns?

Probleme bei der Suche nach den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins

Kommt unser Bewusstsein zu spät?

Zeiterleben und Traum

Zeiterleben und Gedächtnis

Ist unser Erleben eine vom Gehirn erzeugte Illusion?

Der neurobiologische Konstruktivismus

Kritik am neurobiologischen Konstruktivismus

Begriffsverwirrung in den Neurowissenschaften und in der Neurotheologie

Die besonderen Merkmale des Erlebens

Zusammenfassung

IV. Nahtoderfahrungen

Was sind Nahtoderfahrungen?

Typische inhaltliche Merkmale

Das Paradies kann warten

Die Jenseitsreise eines Neurochirurgen

Nahtodforschung

Sammeln von Berichten über Nahtoderfahrungen

Untersuchungen an Herzstillstandpatienten

Die Frage nach dem genauen Zeitpunkt der Nahtoderfahrung und der Fall Pamela Reynolds

Was könnte die neurobiologische Grundlage der Nahtoderfahrungen sein?

Außerkörperliche Erfahrungen: Ein Rechenfehler des Gehirns?

Nahtoderfahrungen: Eine Folge des Sauerstoffmangels?

Die Aware-Studie

Sterblicher Körper – unsterbliches Bewusstsein

Die These des sterbenden Gehirns

Die Überlebenshypothese: Pim van Lommel und Günter Ewald

Nahtoderfahrungen: Ein unlösbares Problem?

Zusammenfassung

Literatur

Vorwort

Erschuf Gott das Gehirn oder das Gehirn Gott? Ist Gott nur ein vom Gehirn erzeugtes Phantom, das uns helfen soll, mit dem Wissen um den eigenen Tod fertig zu werden? Bringt unser Gehirn lediglich ein Trugbild hervor oder bietet es uns ein Fenster, durch das wir die Wirklichkeit von etwas wahrhaft Göttlichem erahnen können? Sind Nahtoderfahrungen ein Beweis für das persönliche Fortleben nach dem Tod oder bloß die Abschiedsvorstellung eines sterbenden Gehirns?

Die Neurotheologie will religiöse Erfahrungen und spirituelle Erlebnisse von ihrer neurobiologischen Grundlage her verstehen und erklären. Was geschieht im Gehirn, wenn Menschen beten, meditieren, religiöse Rituale vollziehen oder ein Nahtoderlebnis haben? Worin besteht die neurobiologische Grundlage meditativer Zustände und mystischer Erlebnisse? Die meisten Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass das Gehirn das Bewusstsein erzeugt und dass der Tod des Gehirns auch der Tod des Bewusstseins ist. Nahtoderfahrungen von Überlebenden eines Herzstillstandes stellen diese weithin akzeptierte These in Frage.

Das Buch bietet einen Einblick in die Untersuchungsergebnisse der Neurotheologie und Nahtodforschung und deren Deutung durch die jeweiligen Autoren. Kapitel I führt in die Fragen und Probleme der Neurotheologie ein. Kapitel II erörtert die vorliegenden empirischen Untersuchungen und Befunde der Neurotheologie. Kapitel III setzt sich mit den grundlegenden Problemen der Neurotheologie bei ihrer Suche nach der neurobiologischen Basis des religiösen Erlebens und Verhaltens auseinander. Kapitel IV widmet sich den Berichten, Untersuchungen, Deutungen und Erklärungsversuchen von Nahtoderfahrungen. Jedes Kapitel enthält eine Zusammenfassung und Bewertung der wichtigsten Ergebnisse.

Der Einfachheit halber habe ich die männliche Schreibweise verwendet, betone aber, dass bei jedem männlichen Ausdruck natürlich immer auch die weibliche Person mit gemeint ist.

Ich möchte das Buch allen Suchenden, Fragenden und Zweifelnden widmen. Dem Kollegen Markus Moling danke ich für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und den Studierenden in Brixen und Innsbruck für ihr lebhaftes Interesse am Thema Neurotheologie und Nahtoderfahrung. Herzlich danke ich Peppi, Traudl und Marianne für die im Winter gemeinsam erlebten Sonnentage auf Tirols Skipisten, die wesentlich zur Freude am Schreiben dieses Buches beigetragen haben. Herrn Dr. Bruno Kern und Herrn Dr. Berthold Weckmann danke ich für die Anregung, das Thema Neurotheologie einem allgemein interessierten Publikum zugänglich zu machen, und für ihre verlegerische Betreuung.

Innsbruck, im Juni 2014
Hans Goller

I. Gibt es einen göttlichen Teil des Gehirns?

Mathew Alper: Vom Glauben an Gott zum Glauben an den Naturalismus

Warum hat der Mensch so etwas wie Religion entwickelt? Warum ist Religion in allen Kulturen zu finden? Ist sie im menschlichen Gehirn wie eine Art göttliches Zentrum eingebaut? Wohnt Gott ausschließlich in unseren Köpfen und sonst nirgendwo? Ist er lediglich eine vom Gehirn erzeugte Erfindung, die dem Überleben des Menschen dient? Lässt sich religiöses Erleben und Verhalten rein naturwissenschaftlich erklären? Matthew Alper, geboren und aufgewachsen in New York, beschäftigten diese Fragen. Er arbeitete zeitweise als Lehrer und Drehbuchautor. Sein erstmals 1996 erschienenes Buch The „God“ Part of the Brain (Der „göttliche“ Teil des Gehirns) genießt mittlerweile Kultstatus und hat bereits mehrere Auflagen erlebt. Darin schildert er seinen Weg vom Glauben an Gott zum Glauben an den Naturalismus.

Die Frage nach Gott

In allen Kulturen, so Alper, ist Gott etwas Übernatürliches, das den physischen Bereich übersteigt. Es gibt Körperliches und Geistiges. Körperliches ist empirisch fassbar und unterliegt dem Wechsel von Geburt, Tod und Zerfall. Die geistige Wirklichkeit hingegen gilt als unzerstörbar, als ewig, und unterliegt nicht den Gesetzen der Natur. Da alle Kulturen ihre Götter als Ausdruck dessen betrachten, was spirituell ist, kann man sagen, dass der universale Gott das Wesen des Geistigen verkörpert. Er ist die Ursache von allem und durchdringt alles.

Alper behauptet: Entweder existiert Gott als Urgrund des Universums oder es gibt ihn gar nicht. Wenn es ihn gibt, dann bin ich frei von der Bedrohung durch den bevorstehenden Tod, ich bin unsterblich und mein Leben ist voller Sinn und Bedeutung. Wenn es ihn nicht gibt, dann bin ich sterblich, mein Leben endet mit dem Tod, und zwar für immer. Mein kurzer und zweckloser Aufenthalt hier auf Erden ist dann alles, was ich jemals erlebt haben werde. Mit Gott ist alles gerettet, ohne Gott ist alles verloren, einschließlich der Hoffnung. Alper fand es immer schwieriger, an einen allgütigen und allmächtigen Gott zu glauben, der so viel Schmerz, unfassbares Elend und grenzenlose Ungerechtigkeit in seiner Welt zulässt. Ohne eine Antwort auf die Frage nach Gott lag die Zukunft wie eine undurchdringbare Mauer vor ihm. Er wollte herausfinden, ob es handfeste Fakten gibt, welche die Existenz Gottes ein für alle Mal entweder beweisen oder widerlegen könnten. Auf der Suche nach einer Antwort auf seine Fragen begann er eine einsame Reise durch die dunkleren Gefilde des Lebens (vgl. Alper 2008, Prologue).

Zunächst wandte er sich an die Weltreligionen, kehrte diesen jedoch wegen ihrer vielen Widersprüchlichkeiten bald frustriert den Rücken. Er praktizierte transzendentale Meditation, befasste sich mit paranormalen Phänomenen, experimentierte mit bewusstseinserweiternden Substanzen, erlebte fürchterliche Drogentrips und litt über ein Jahr an einer schweren Depression und an Angststörungen. Während dieser Zeit machte er viele Erfahrungen in Bezug auf seine angeblich unsterbliche Seele. Die Tatsache, dass sein bewusstes Selbst sich während der Zeit der Krankheit drastisch verändert hatte, überzeugte ihn davon, dass es nichts Ewiges oder Unsterbliches an ihm gibt. Wie sollte etwas Physisches wie die Chemie einer Droge das Bewusstsein verändern können? Das wäre so, wie wenn man mit Steinen auf Gott werfen könnte. Wenn Bewusstsein etwas ganz Natürliches ist, sagte Alper sich nun, dann geben uns die Naturwissenschaften eine Antwort auf alle unsere Fragen. Den Glauben, den er bisher auf Gott gerichtet hatte, richtete er jetzt auf die Naturwissenschaften. Er eignete sich einen naturalistischen Standpunkt an. Die Wissenschaft könne die Entstehung des Weltalls, des Lebens und des Menschen ohne Gott erklären. Sie werde auch das Rätsel der menschlichen Seele lösen. Es muss eine vernünftige Erklärung für alles geben. Alper gelangte zur Überzeugung, dass das Bewusstsein, von dem er früher annahm, es bilde seine transzendente Seele, nichts anderes ist als die Aktivität seines Gehirns.

Zehn Jahre lang suchte Alper nach einer Antwort auf die Frage nach Gott in den Naturwissenschaften. Danach bemerkte er ernüchternd, dass die Wissenschaft ihn zwar von seiner psychischen Krankheit befreien und ihm das Universum verständlich machen konnte, aber eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens konnte sie ihm nicht geben. Warum bin ich hier? Wozu bin ich hier?

Bevor er seine Hoffnung blind auf den wissenschaftlichen Fortschritt setzen und sich ein Leben lang auf die Suche nach einer wissenschaftlichen Interpretation der Frage nach Gott begeben wollte, musste er klären, was Wissenschaft ist und wie sie funktioniert. Was ist Wirklichkeit und wie nehmen wir sie wahr? Wie ordnen wir die vielen Reize, die über die Sinnesorgane auf uns einströmen, räumlich und zeitlich? Alper argumentiert mit Kant, demzufolge Raum und Zeit Anschauungsformen unseres Verstandes sind, die wir unabhängig von und vor jeder Erfahrung besitzen. Diese spezifischen Weisen der Wahrnehmung sind angeboren. Sie sind die Art, wie unser Gehirn von Natur aus Informationen verarbeitet und wie wir die Realität interpretieren. Die alles entscheidende Frage betreffe deshalb die Art, wie wir Informationen verarbeiten. Die Antwort auf die Frage nach Gott sei nicht draußen im physischen Universum, sondern in uns, in unserem Gehirn, zu finden. Die Wissenschaft könne Gott nicht erfassen, wohl aber das Gehirn (vgl. Alper 2008, Book I).

Der göttliche Teil des Gehirns

Der Glaube an Gott und an ein Leben nach dem Tod habe einen konkreten Ort im Gehirn. Alper nennt diesen Ort den „göttlichen“ Teil des Gehirns. In allen Religionen gebe es Taufriten, Initiationsriten für den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter, Heiratsriten, Bußriten, Sühneriten und Begräbnisriten. Wir Menschen seien von Natur aus dazu prädisponiert, an eine spirituelle Wirklichkeit zu glauben. Alper verweist auf Berichte des Psychiaters Arnold Sadwin über sehr religiöse Menschen, die infolge einer Kopfverletzung religiös indifferent wurden, und über areligiöse Menschen, die nach einer Kopfverletzung hyperreligiös wurden, zwanghaft zu Gott beteten und starke religiöse Gefühle und Bedürfnisse äußerten. Er zieht daraus den Schluss, dass der Glaube an Gott, an eine Seele und an ein Leben nach dem Tod das Produkt unserer kognitiven Evolution sei. Dieser Glaube sei den Anschauungsformen von Raum und Zeit ähnlich. Spiritualität sei ein genetisch bedingtes menschliches Merkmal, das sich evolutionär entwickelt habe, um unser Überleben zu sichern. Für die Entwicklung eines jeden Merkmals gebe es einen vernünftigen Grund. Jedes Merkmal diene dazu, die Überlebenschancen zu vergrößern. Das treffe auch auf die neurobiologischen Grundlagen unseres religiösen Bewusstseins zu. Nur der Mensch habe ein religiöses Bewusstsein entwickelt. Bei allen anderen Arten sei nämlich nichts von Begräbnisriten bekannt (vgl. Alper 2008, Book II, 7).

Mit dem Homo sapiens sei ein Lebewesen entstanden, das sich seiner selbst bewusst wurde. Wer bin ich? Warum und wozu gibt es mich? Werde ich einmal nicht mehr sein? Der Mensch hat vom Baum des Bewusstseins gegessen. Mit dem Bewusstsein um die eigene Existenz sei auch das Bewusstsein um den eigenen Tod entstanden. Wir wissen nicht nur, dass wir sterben müssen, wir wissen auch, dass der Tod uns jeden Augenblick ereilen kann. Verglichen mit der Situation der primitiven Menschen habe sich daran trotz aller Technik und trotz allen Fortschritts in der Medizin nicht viel geändert. Wir leben mit dem sicheren Wissen um unseren bevorstehenden Tod. Diesem Feind können wir weder entkommen noch können wir ihn besiegen. Ebenso stark wie die Angst vor dem eigenen Tod sei die Angst, jene zu verlieren, die wir lieben. Angesichts des unausweichlichen Todes sei das Leben von existenzieller Sinnlosigkeit. Unser Kampf um das Überleben werde zu einer Übung der Vergeblichkeit. Warum heute kämpfen, wenn wir morgen nicht mehr sind? Unter solchen Bedingungen traf das motivierende Prinzip der Selbsterhaltung, welches das Leben Milliarden von Jahren erhalten hatte, auf unsere Art nicht mehr zu. Was konnte diese schmerzliche und hoffnungslose Situation des Menschen erleichtern? Wenn das menschliche Gehirn sich aufgrund natürlicher Selektion entwickelt habe, dann müsse auch der religiöse Glaube durch denselben Mechanismus entstanden sein. Das Wissen um die eigene Existenz und Nicht-Existenz habe zu einer kognitiven Revolution geführt. Die Natur habe die kognitiven Fähigkeiten derart verändert, dass der Mensch trotz seines Wissens um den eigenen Tod in der Lage sei, zu überleben. Ein neuer Selektionsdruck von innen, aus dem eigenen Gehirn, sei entstanden. Der Mensch musste sich an diese neue innere Umwelt anpassen. Wären die selbstbewussteren Individuen unserer Art verschwunden und hätten nur die weniger todesbewussten Exemplare überlebt, dann hätte die Evolution den Menschen dadurch in einen weniger bewussten Zustand zurückversetzt. Es bedurfte einer neuen Strategie, um den Menschen von seinem lähmenden Wissen um den eigenen Tod zu befreien, ohne dabei seine Intelligenz zu opfern. Welche Individuen überlebten? Es waren jene, deren Gehirn eine genetische Mutation aufwies und denen es deshalb am besten gelang, die aus dem Wissen um den eigenen Tod resultierende Angst zu bewältigen. Diese vorteilhafte Anpassung gaben sie an ihre Nachkommen weiter. Damit entstand die religiöse Funktion, und sie änderte die Art und Weise, wie die Menschen die Wirklichkeit wahrnahmen. Das menschliche Gehirn habe nicht nur eine musikalische, eine linguistische und eine mathematische, sondern auch eine spirituelle Intelligenz entwickelt. Das Gewahrwerden des eigenen unausweichlichen Todes habe einen derart starken Druck auf die Gehirnentwicklung ausgeübt, dass die Natur jene Individuen selektierte, die den Glauben an eine transzendente Wirklichkeit, die den physischen Bereich übersteigt, entwickelten. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele habe sie weitgehend von der Angst vor dem ewigen Tod befreit, und mithilfe des religiösen Bewusstseins konnten sie ihr Leben einigermaßen in Ruhe fortsetzen.

Das religiöse Bewusstsein habe für den Menschen eine wichtige Funktion, sonst hätte die Natur es nicht selektiert. Sinn und Zweck der Religion sei es, die Angst des Menschen vor dem Tod zu vermindern. Alper nennt das religiöse Bewusstsein eine Notlüge der Natur, einen natürlichen Abwehrmechanismus gegenüber dem Wissen um den eigenen unausweichlichen Tod. Gott sei keine transzendente Macht, die jenseits und unabhängig von uns existiert, sondern ein Bewältigungsmechanismus, der in Form eines kognitiven Phantoms erscheint, das im Inneren des Gehirns erzeugt wird (vgl. Alper 2008, Book II, 8).

Ursprung und Funktion des religiösen Erlebens und Verhaltens

Wir Menschen sind nach Alper so konstruiert, dass wir durch Tätigkeiten wie Meditieren, Beten, Singen, Yoga, Tanzen und durch religiöse Rituale bestimmte Erlebnisse herbeiführen. Alle Kulturen kennen religiöse Erlebnisse wie das Gefühl der Einheit, der Zeitlosigkeit, der Grenzenlosigkeit, der Heiligkeit, der Ekstase, der Wonne und des tiefen Friedens. Alper nennt außergewöhnliche spirituelle und mystische Erlebnisse, wie den Verlust des Selbstbewusstseins, die Aufhebung der Ich-Grenzen, ein Gefühl der Raum- und Zeitlosigkeit, des tiefen Friedens und der Euphorie. Während derartiger Erlebnisse ziehe der Mensch sich in einen veränderten Zustand zurück, in dem er zwischen Innenwelt und Außenwelt nicht mehr unterscheiden könne. Er fühle sich dann eins mit dem gesamten Universum. Die Tatsache, dass in so vielen Kulturen derartige Erlebnisse mit ähnlichen Worten beschrieben werden, deute darauf hin, dass es sich hier um ein kulturübergreifendes Phänomen, um ein genetisch vermitteltes Merkmal, handelt. Religiöse Erlebnisse werden durch neurophysiologische Mechanismen in unserem Gehirn erzeugt, und man könne sie neurobiologisch erklären.

Der Mensch habe die Tendenz, religiöse Erlebnisse als Beweis für eine göttliche oder transzendente Wirklichkeit zu betrachten. Forschungsergebnisse aus den Neurowissenschaften widersprechen jedoch dieser Deutung. Sie zeigen, dass religiöse Erlebnisse mit bestimmten neuronalen Aktivitäten einhergehen. Diese Erlebnisse seien weder die Folge eines Kontaktes mit dem Göttlichen noch ein Beweis für die Existenz einer transzendenten Wirklichkeit, sondern das Produkt von Hirnmechanismen.

Alper fragt, inwiefern religiöse Erlebnisse dazu dienen, die Überlebenschancen des Menschen zu vergrößern. Er meint, nur ein religiöses Bewusstseins könne uns vom schmerzlichen Wissen um den eigenen Tod befreien. Es sei durchaus möglich, dass unsere Art ohne den palliativen Mechanismus religiöser Erfahrungen nicht überlebt hätte. An eine geistige Wirklichkeit zu glauben sei das Eine, sie zu erleben sei jedoch etwas völlig anderes. Zur Illustration bringt Alper den Vergleich mit einem Gestrandeten, der auf einer einsamen Insel festsitzt und Angst hat, zu verhungern. Nach fünf Tagen ohne Nahrung sieht er ein Schiff auf die Insel zufahren. Das Wissen, dass Nahrung unterwegs ist, befreit ihn vom Großteil seiner Angst. Doch der Glaube, dass Nahrung unterwegs ist, und das Verzehren der Nahrung sind zwei verschiedene Dinge. Erst der tatsächliche Verzehr der Nahrung wird den Hunger des Gestrandeten stillen und ihn von seinen Hungerschmerzen befreien. Ähnliches treffe auf das religiöse Bewusstsein zu. Der Glaube an Gott und an ein Leben nach dem Tod befreie uns von der Todesangst, und wir seien zudem in der Lage, euphorische Empfindungen zu erleben, die unseren Glauben begleiten. Wir setzen bewusst verschiedene Techniken ein, wie das Rezitieren religiöser Texte, das Singen frommer Lieder, Meditation sowie den Konsum bewusstseinserweiternder Drogen, um angstreduzierende religiöse Erlebnisse hervorzurufen. Mit solchen Mitteln der Täuschung vermindern wir unsere Angst selbst dann, „wenn kein Schiff auf unsere Insel zugefahren kommt“. Auch wenn es Gott und ein Leben nach dem Tod nicht gebe: Allein der Glaube daran helfe uns, eine angstmindernde Erfahrung zu machen. Das häufigste Symptom, das mit einer solchen Erfahrung einhergehe, sei die Auflösung der eigenen Ich-Grenzen und des persönlichen Selbst-Sinns. Um diesen Aspekt der religiösen Erfahrung zu verstehen, müsse man zuerst die Natur des menschlichen Ego, des Selbstbewusstseins, erforschen.

Unser Selbstbewusstsein, dem das episodische und autobiografische Gedächtnis zugrunde liegen, sei aufs Engste mit unserer Neurophysiologie verbunden. Alper nennt jene Hirnbereiche, aus denen das Selbstbewusstsein entsteht, die „Ich-Funktion“ oder das Körperkontrollzentrum. Wäre unser Körper ein Schiff, dann wäre das Ich sein Kapitän. Wäre unser Körper ein Tempel, dann wäre unser Ich der Hohepriester. Die Ich-Funktion sei für die Erhaltung des gesamten Körpers verantwortlich. Alper bezeichnet das Ich als den Ort des Erlebens. Nicht die Hand spüre den Schmerz, sondern das Ich spüre ihn in seiner Hand. Das Ich erlebe auch die lähmendste aller Ängste, die Angst vor dem eigenen Tod. Mit der Entstehung des Selbstbewusstseins habe uns die natürliche Selektion einen Mechanismus zur Verfügung gestellt, der es unserer Ich-Funktion ermöglichte, die überwältigende Belastung durch das Wissen um den eigenen Tod zu ertragen. Alper nennt diesen Mechanismus die „transzendente Funktion“.

Während eines mystischen Erlebnisses werde die Ich-Funktion unterdrückt. Ausdrücke wie „Verlust des Selbstbewusstseins“ und „Auflösung der normalen Ich-Grenzen“ beschreiben den Zustand, in dem das Ich vorübergehend abwesend ist. Ist die Ich-Funktion ausgeschaltet, dann gebe es nichts, mithilfe dessen man Schmerz und Angst erleben könnte. Es bleibe ein Gefühl der Ichlosigkeit übrig, ein Zustand, den die Betroffenen als ozeanisch, als grenzenlos und als euphorisch beschreiben. Durch das Ausschalten der Ich-Funktion erhalten wir eine Art Galgenfrist von der Belastung durch die eigene Existenz. Während der spirituellen Erlebnisse befinden wir uns in einem veränderten Zustand. Die Grenzen zwischen Innenwelt und Außenwelt verschwinden, und wir erleben ein kosmisches Bewusstsein, eine Art „Gottes-Bewusstsein“. Unser Kapitän sei dann vorübergehend von seinen Pflichten entbunden, und damit verschwinden auch alle Ängste. In solchen Momenten fühlen wir uns frei von persönlicher Verantwortung, von Sorgen und Befürchtungen und sind immun gegenüber Leid und körperlichem Schmerz. Das sei der Grund dafür, warum spirituelle Erlebnisse häufig als euphorisch, als Verzückung, als Glücklichsein und als tiefer Friede beschrieben werden.

Alper meint, Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die es uns ermöglichen, dem Gehirn bei der Arbeit zuzusehen, würden zeigen, dass das, was wir als spirituell, als mystisch und als transzendent erleben, sich auf Gehirnprozesse reduzieren lasse. Außerdem könne man religiöse Erlebnisse durch Drogen wie Meskalin und Psilocybin erzeugen. Die Azteken nannten Peyote, ein Kakteengewächs, den „göttlichen Boten“ und Psilocybin „Fleisch Gottes“. Es gebe keinerlei Beweise für die Existenz einer geistigen Wirklichkeit, doch es gebe genügend Beweise dafür, dass spirituelle Erfahrungen ihrer Natur nach rein physiologisch sind. Wir besitzen keine unsterbliche Seele, wohl aber ein physisches Gehirn. Dem Neurobiologen Steven Rose zufolge ist es äußerst wahrscheinlich, dass wir eines Tages die „mystische Erfahrung“ mittels der Neurobiologie erklären können; es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, dass die Neurobiologie jemals mittels der „mystischen Erfahrung“ erklärt werden wird (vgl. Alper 2008, 154).

Alper versucht, auch die heilende Kraft des Gebetes rein naturalistisch zu erklären. Es müsse physiologische Mechanismen geben, die dafür verantwortlich sind. Meditation und Gebet seien aufs Engste mit der religiösen Funktion verbunden. Wenn wir beten, richten wir unsere Bitten an Gott oder an eine höhere Macht. Dabei verändere sich die Physiologie unseres Körpers derart, dass Angst und Stress abnehmen und Heilungsprozesse angeregt werden. Es gebe sogar Belege dafür, dass wir durch Gebet die Zeit verkürzen können, die für die Genesung von Krankheiten und chirurgischen Eingriffen notwendig ist. Wir Menschen neigen von Natur aus dazu, an übernatürliche Wesen zu glauben, die eine Macht besitzen, die unsere eigenen Möglichkeiten bei Weitem übersteigt. In Zeiten der Not wenden wir uns an sie um Hilfe. Wenn wir zu Gott beten, dann glauben wir, dass er uns helfen wird, ähnlich wie unsere Eltern uns geholfen haben, für uns da waren, sich um uns sorgten und uns beschützten.

Der bloße Glaube daran, dass unser Flehen und Bitten erhört werden wird, mindere unser Angstniveau, befreie uns weitgehend von psycho-biologischen Belastungen und wirke sich heilend auf unseren gesamten Organismus aus.

Der Ursprung psychosomatischer Krankheiten liege im Gehirn und nicht in den erkrankten Organen. Menschen, die an solchen Krankheiten leiden, werden in der Regel nicht durch herkömmliche Behandlungen und Medikamente geheilt, sondern eher dadurch, dass sie von ihren überstarken Ängsten, die sich negativ auf den Körper auswirken, befreit werden. Wird jemand durch Gebet geheilt, dann ist die Heilung nicht auf ein Wunder zurückzuführen, sondern darauf, dass sein Angstniveau gesenkt wurde. Da alle Kulturen von der heilenden Kraft des Gebets sprechen, nimmt Alper an, dass wir Menschen gebetssensible Mechanismen im Gehirn besitzen. Er bezeichnet sie mit dem Ausdruck „Gebets-Funktion“ (vgl. Alper 2008, Book II, 12).

Wenn es einen göttlichen Teil des Gehirns gibt: Warum gibt es dann Atheisten? Alle genetisch vermittelten Merkmale wie Intelligenz, Musikalität, mathematische Begabung, Körpergröße und die Qualität des Gehirns seien in der Bevölkerung normal verteilt. Es gebe durchschnittliche Menschen, außergewöhnlich Begabte, Menschen mit Behinderungen sowie Menschen, bei denen ein Merkmal völlig fehlt wie bei den Blindgeborenen. Es gebe auch Unterschiede in der Förderung der Begabung durch die Umgebung. Die Umgebung könne eine vorhandene Begabung jedoch nur so weit fördern, als es das angeborene Potenzial gestattet. Spiritualität und Religiosität seien gleichfalls Merkmale, die in der Bevölkerung normal verteilt sind. Am einen Ende der Verteilungskurve gebe es religiös und spirituell sehr Begabte, wie die Zeloten und die Propheten, am anderen Ende solche mit einer unterentwickelten religiösen Funktion. Letztere haben nie das Bedürfnis zu beten, zu meditieren, über Gott, über die Seele oder über ein Leben nach dem Tod nachzudenken. Es sei eher unwahrscheinlich, dass sie jemals spirituelle Erlebnisse haben. Alper nennt sie die religiös Behinderten unserer Gesellschaft. Er postuliert eine neurophysiologische Ursache für die Neigung, Atheist, Ungläubiger, Rationalist oder Säkularist zu werden. Natürlich sei der Atheismus nicht rein genetisch vermittelt, das Aufwachsen in einer atheistischen Umgebung könne die religiöse Funktion verkümmern lassen. Zudem gebe es Menschen, die von der organisierten Religion so enttäuscht sind, dass sie ihre angeborene religiöse Neigung unterdrücken (vgl. Alper 2008, Book II, 14).

In allen Kulturen gebe es nicht nur ein religiöses, sondern auch ein moralisches Bewusstsein. Moralisches Bewusstsein sei die Tendenz des Menschen, jede Handlung danach zu beurteilen, ob sie das Wohlergehen der Gemeinschaft fördert oder behindert. Was für die Gemeinschaft als förderlich gilt, werde als gut, und was für die Gemeinschaft als schädlich gilt, werde als schlecht bezeichnet. Die Unterscheidung von gutem und schlechtem Verhalten zeige sich darin, dass alle Kulturen Regeln und Gesetze entwickelten, um gutes Verhalten zu belohnen und schlechtes zu bestrafen. Wer sich nicht an die Regeln und Gesetze hält, werde bestraft oder aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Ohne die Entwicklung einer moralischen Funktion wäre die Menschheit längst in Anarchie versunken. Ähnlich wie bei der Sprache entwickelten unterschiedliche Kulturen ganz spezifische Gesetze und Regeln. Allen gemeinsam sei das Verbot von Inzest und Mord. Wir Menschen seien so gebaut, dass wir derartige Handlungen als äußerst abstoßend empfinden. Dieses Empfinden deuten wir als Beweis dafür, dass diese Handlungen in sich (inhärent) schlecht sind. Wir betrachten Aussagen wie „Du sollst nicht töten“, „Du sollst nicht stehlen“, als selbstevidente Wahrheiten, von denen wir meinen, sie seien von einer transzendenten Autorität festgelegt worden. Das moralische Bewusstsein sei wie das religiöse Bewusstsein nichts anderes als das Ergebnis eines genetisch vermittelten Merkmals. „Gut“ und „Böse“ gründen nicht in einer transzendenten Wirklichkeit, sondern in der Art und Weise, wie wir aufgrund der Bauweise unseres Gehirns bestimmte Erfahrungen deuten. Menschen mit Schädigungen im Bereich des Stirnhirns (Präfrontalkortex) zeigen asoziales Verhalten. Sie erleben keine Schuldgefühle, die sie dazu brächten, vor bestimmten destruktiven Handlungen zurückzuschrecken. Alper verweist auf Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren, die zeigen, dass eine bestimmte Region im Stirnhirn (Brodmann-Areal 10) bei moralischen Urteilen und Aussagen besonders aktiv ist. Ist diese Region zerstört, dann zeigen die Betroffenen asoziales Verhalten.

Wir neigen dazu, unsere religiösen Einstellungen auf unsere moralischen Einstellungen zu projizieren. Gott sehe mit Wohlgefallen auf Handlungen, die wir als gut bezeichnen. Sie gelten im religiösen Kontext als „fromm“ und „heilig“. Gott verdamme aber böse Handlungen, und diese gelten im religiösen Kontext aller Kulturen als „teuflisch“. Der Glaube an eine teuflische Macht und an teuflische Wesen wie Dämonen sei transkulturell, ebenso die Vorstellung von einem Ort, an dem die bösen Seelen ewige Verdammnis erleiden. Fast alle Kulturen kennen den Glauben daran, dass die guten Seelen mit einem Leben nach dem Tod belohnt werden. Sie kommen in den Himmel, in das Nirwana, in die ewigen Jagdgründe, in die Walhalla oder in die elysischen Gefilde.

Altruistische Tendenzen entstanden zum Ausgleich selbstsüchtiger Neigungen. Wie jedes Merkmal sei auch der altruistische Impuls in der Bevölkerung normal verteilt: Es gibt Kriminelle und Heilige, Egoisten und Altruisten. Die Schuld-Funktion sei ein weiteres Merkmal, das sich entwickelt habe, um den Selbst-Instinkt zu zügeln. Schuldgefühle bringen uns dazu, vor bestimmten destruktiven Handlungen zurückzuschrecken. Sie seien eine Art Selbstbestrafung, eine Internalisierung der Gebote und Verbote der Umgebung. Wie bei allen Merkmalen gebe es auch beim Schuldgefühl individuelle Unterschiede. Soziopathen werden mit einer unterentwickelten Schuld-Funktion geboren. Sie erleben keine Schuldgefühle und besitzen kein moralisches und soziales Bewusstsein. Im Gegensatz dazu gibt es Menschen, die von exzessiven Schuldgefühlen geplagt werden, unabhängig davon, ob sie etwas Schlechtes getan haben oder nicht. Sie zerfleischen sich mit Selbstkritik und verdammen sich selbst. Diese Menschen würden an einer neurophysiologischen Störung leiden.

Wenn wir etwas Verkehrtes tun, dann fühlen wir uns nicht nur den Opfern unserer Missetat gegenüber schuldig, sondern auch gegenüber Gott. In allen Kulturen gebe es die Vorstellung von Sünde und Sühnepraktiken. Übertretungen von Gesetzen und Regeln unserer Gemeinschaft nennen wir Verbrechen, Übertretungen der Gesetze unserer Götter bezeichnen wir als Sünde. In unserem Gehirn gebe es je eigene Schaltkreise für Moral, Spiritualität und Religion. Atheisten seien nicht notgedrungen Psychopathen; viele von ihnen bezeichnen sich als säkulare Humanisten. Religion sei mit Moral ebenso wenig gleichzusetzen wie Atheismus mit Amoral (vgl. Alper 2008, Book II, 18).

Reduktionistische Deutung des religiösen Erlebens und Verhaltens

Die Wirklichkeit an sich werden wir nie erkennen, die absolute Wahrheit und ein absolutes Wissen werden wir nie erreichen. Wenn wir die Wirklichkeit verstehen wollen, so Alper, dann müssen wir zuerst begreifen, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Der in allen Kulturen feststellbare Glaube an Gott, an eine Seele und an ein Leben nach dem Tod sei nichts anderes als die Art, wie wir Menschen Informationen verarbeiten und die Wirklichkeit deuten. Gott sei kein übernatürliches Wesen, sondern ein von unserem Gehirn erzeugtes subjektives Phänomen. Natürlich sei es für viele schwer, eine reduktionistische, evolutionäre und neurobiologische Interpretation des Glaubens an Gott zu akzeptieren. Wenn wir aber erkennen, dass unser religiöses Erleben und Verhalten bloß die Folge der Art und Weise ist, wie unser Gehirn funktioniert – was dann? Wenn uns dämmert, dass die natürliche Selektion uns dazu programmiert hat, an eine geistige Wirklichkeit zu glauben – was dann? Wenn wir begreifen, dass religiöse Erfahrungen nichts anderes sind als die Wirkung eines neuronalen Schaltkreises, der in unserem Gehirn eingebaut ist – was dann? Um seine These zu verdeutlichen, fordert Alper uns zu einem Gedankenexperiment über die Beziehung zwischen Bild und Linse auf:

Stellen Sie sich vor, Sie schauen in einen Spiegel, der Ihnen ein klares und makelloses Bild Ihrer selbst bietet. Nun stellen Sie sich vor, dass zwischen Ihnen und dem perfekten Spiegelbild mehrere unsichtbare Linsen eingebaut sind, die Ihr perfektes Bild verzerren. Da Sie nicht wissen, dass es diese Linsen gibt, haben Sie keine Möglichkeit herauszufinden, dass ihre Wahrnehmung verzerrt ist. Obwohl Sie glauben, ein einwandfreies Bild von Ihnen vor sich zu haben, werden Sie in Wirklichkeit falsch informiert. Solange Sie nicht merken, dass es diese Linsen gibt, und solange Sie diese nicht beseitigen, werden Sie nie ein wahres Bild von sich selbst erhalten. Alper glaubt, die menschliche Spiritualität sei eine solche Linse, die unsere Sicht der Wirklichkeit verzerrt. Sie lasse uns eine geistige Wirklichkeit wahrnehmen, obwohl nichts Derartiges existiere. Interessanterweise verzerre diese Linse die Wahrnehmung der Philosophen und Wissenschaftler ebenso wie die aller anderen. Was wäre, wenn uns bewusst würde, dass es eine solche Linse gibt? Was wäre, wenn wir diese Linse beseitigten, unsere Wahrnehmung von spirituellen Verzerrungen befreiten und uns eine klarere Sicht der Wirklichkeit leisteten? Das spirituelle Bewusstsein sei eine Notlüge der Natur, eine eingebaute Fehlwahrnehmung, die uns Menschen helfen soll, unsere Angst vor dem Tod zu verringern. Würde die Natur tatsächlich so etwas tun, so eine Programmierung vornehmen? Die Natur kümmere sich lediglich darum, Organismen mit einer größeren Überlebenschance zu erzeugen. Richard Dawkins, der Autor des Buches Das egoistische Gen, drückt es so aus: „Wir und alle anderen Tiere sind von unseren Genen konstruierte Maschinen. Wir sind Überlebensmechanismen, Roboterfahrzeuge, blind darauf programmiert, die Moleküle zu erhalten, die als Gene bekannt sind.“ (zit. nach Alper, 2008, 230) Alper fragt, ob irgendetwas zu gewinnen sei durch ein Leben der bewussten Verleugnung unserer wahren Umstände. Liege es nicht in unserem besten Interesse, die Realität unserer Situation anzuerkennen? (vgl. Alper 2008, Book II, 19)

Was wäre durch eine wissenschaftliche Interpretation des Glaubens an Gott zu gewinnen?

Nehmen wir an, es gibt keinen Gott und alle unsere Vorstellungen von ihm sind nur kognitive Phantome, die in unser Gehirn eingebaut wurden. Wäre in einer gottlosen Welt jeder Sinn notwendigerweise verloren? Wohin könnten wir uns wenden, um einen Sinn für unser Leben zu finden? Ist es möglich, Sinn auf eine neue Weise zu entdecken und ihn dazu zu nutzen, um unsere Existenz zu verbessern? Was wäre durch eine wissenschaftliche Interpretation des Glaubens und der Religion zu gewinnen? Um diese Fragen beantworten zu können, meint Alper, müssen wir uns zuerst darüber klar werden, was wir gewinnen wollen und welches Ziel wir im Leben erreichen möchten. Gibt es ein universelles Lebensziel, und wenn ja, kann dieses unabhängig von der Existenz Gottes erreicht werden? Alper beruft sich auf die Aussage des griechischen Philosophen Aristoteles, dass jeder Mensch nach dem höchstmöglichen Glück im Leben strebt. Dieses Prinzip habe seine Gültigkeit, und zwar unabhängig davon, ob es Gott gibt oder nicht. Ohne Gott sei folglich nicht alles verloren. Ziel alles menschlichen Handelns sei es, das höchstmögliche Glück zu erreichen und Leid und Schmerz zu minimieren. Wie könnten wir dieses Ziel in einem gottlosen Universum erreichen? Der Schlüssel zum Glück liege im Erwerb von Wissen. Darin würden alle Philosophen übereinstimmen. Selbsterkenntnis sei die höchste Form des Wissens. Verstünden wir beispielsweise die neurobiologischen Grundlagen destruktiver Tendenzen besser, dann könnten wir ihre Energien in konstruktivere Bahnen lenken. Vor allem sollten wir uns bemühen, die neurobiologische Grundlage der Spiritualität zu verstehen. Kein Merkmal sei perfekt, auch nicht die religiöse Funktion. Negative Folgen der Religion seien z. B. Menschenopfer, Rassenhass, Kinderopfer, Kannibalismus und religiöse Kriege. Kinderopfer und Kannibalismus seien in den gegenwärtigen Hauptreligionen und ihren Riten nicht mehr zu finden. Jeder Religion wohne aber die Ablehnung anderer Religionen inne. Wenn mein Gott der wahre Gott ist – wie kann es dann der deine sein? Jedes Glaubenssystem empfinde andere Glaubenssysteme als Bedrohung. Wenn wir begriffen, dass unsere religiös bedingte Angst und Antipathie nur die Wirkung eines angeborenen Impulses sind, dann könnten wir diesen Impuls, der zu so vielen religiösen Kriegen geführt hat, zügeln. Es sei „hoch an der Zeit, Spiritualität und Religiosität den Philosophen, Metaphysikern und Theologen aus der Hand zu nehmen und diese Phänomene zu biologisieren“ (Alper 2008, 239). Es gehe nicht darum, Spiritualität auszurotten, sondern sie aus einer wissenschaftlichen Perspektive zu betrachten. Der religiöse Impuls besitze eine wichtige Funktion für uns, sonst hätte die Natur ihn nicht selektiert. Er helfe uns, die Angst zu vermindern und unsere Gesundheit zu verbessern; doch seine Exzesse stellen eine Bedrohung dar.

Nehmen wir an, wir seien bloße Körperwesen, Zufallskombinationen von Molekülen, ohne jeden Zweck und ohne jede Bedeutung, und der Tod sei in der Tat das Ende unseres Bewusstseins. In welcher Form auch immer die Materie, aus der wir zur Zeit bestehen, nach unserem Tod im unermesslichen All verstreut sein wird, ob als Erde, als Gas oder als kosmischer Staub: Sie wird niemals mehr in einer Beziehung zu dem stehen, was oder wer wir heute sind. Wir werden niemals in genau der gleichen Molekülzusammensetzung existieren. Folglich werden wir auch nie mehr die gleichen bewussten Erfahrungen machen. Wenn die Teile nicht mehr funktionieren, dann funktioniert auch das Ganze nicht länger. Der Tod, ob wir das glauben oder nicht, ist höchstwahrscheinlich das Ende unserer persönlichen Identität, und zwar für immer. Es gebe für uns nur zwei Möglichkeiten: entweder alles zu tun, um das Leben zu erhalten, oder es zu zerstören. Wir haben die Mittel, das Leben zu zerstören. Haben wir auch die Kraft, es zu erhalten? Es gebe bereits den Vorschlag, man möge den „göttlichen Teil“ des Gehirns chirurgisch entfernen, um die negativen Folgen der Religion zu beseitigen – eine Methode, die den Namen „Godectomy“ trägt (Alper 2008, 246). Vielleicht stehen uns eines Tages sogar Medikamente zur Verfügung, um die exzessiven religiösen Impulse chemisch zu bändigen. Alper meint allerdings, Diplomatie, Geduld und Vernunft seien wohl die besten Mittel, um dieses Problem zu lösen.

Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte, so Alper, verfügen wir über eine rationale Erklärung des Glaubens an Gott. Unsere alten religiösen und metaphysischen Paradigmen können wir berechtigterweise als illusionäre Hindernisse auf dem Weg zu mehr Fortschritt und Wohlstand über Bord werfen. Wir sollten uns als das akzeptieren, was wir sind, und das Beste daraus machen. Es gebe keinen Gott, keine Seele und kein Leben nach dem Tod. Vielleicht hilft uns diese Erkenntnis, die Prioritäten vom Jenseits auf das Diesseits, auf das Hier und Jetzt, zu verlagern, zukünftige Kriege zu vermeiden, Schmerz und Leid zu lindern und die Chance zu erhöhen, für alle das größtmögliche Glück zu erreichen. Dies erhofft Alper sich mehr als alles andere von einer neurobiologischen Interpretation der Spiritualität und des Glaubens an Gott (vgl. Alper 2008, Book II, 20).

Hier, resümiert Alper, endet meine lebenslange Suche nach Gott. Obwohl ich für die Möglichkeit offen bleibe, dass es eine transzendente Wirklichkeit gibt, vertraue ich in der Zwischenzeit auf die Lösung, die ich für mich gefunden habe. Ich hätte es vorgezogen, wenn ich auf meiner Suche einen Beweis für die Existenz Gottes, für einen transzendenten Bereich, in dem mein bewusstes Ich ewig leben würde, gefunden hätte. Natürlich hätte ich die Unsterblichkeit dem unausweichlichen Tod vorgezogen. Doch wie sicher bin ich? Möchte ich tatsächlich unsterblich sein? Was würde es bedeuten, ewig zu leben? Es wäre wie ein Rennen ohne Ende, wie ein Kampf ohne Gewinner und Verlierer, Existenz bloß um der Existenz willen. Vielleicht ist es besser so: lieber schnell und hell verbrennen als für immer dahindämmern.

Also, was nun? Ich weiß, ich bin dazu bestimmt, alt zu werden, zu sterben, alles zu verlieren, was ich je besaß und liebte, auch mich selbst. Manchmal frage ich mich, wozu überhaupt weiterleben, warum nicht einfach Schluss machen, hier und jetzt.

Wenn es mir nicht gut geht, tröste ich mich mit dem Gedanken: Wenn es tatsächlich keinen Gott, keine Seele und auch kein Leben nach dem Tod gibt, dann habe ich die ganze Ewigkeit dafür, nicht zu existieren und die Launen dieses Lebens nicht ertragen zu müssen. Mit solchen Überlegungen im Hinterkopf sage ich mir: Warum nicht das Beste aus den flüchtigen Erfahrungen machen, die wir Leben nennen, solange es mir noch zur Verfügung steht? Vielleicht ist die bloße Tatsache, dass wir überhaupt in der Lage sind, etwas zu erleben, Grund genug zum Feiern. Wie viele andere Kombinationen von Materie können das? Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass wir bloß geistlose Atome sind, die im Leeren herumschwirren, so sind wir immerhin die höchste, die komplexeste Form der Materie, ihre Crème de la Crème. Welche anderen Atomverbindungen besitzen die Fähigkeit zu lieben, zu lachen, zu fragen, Kunst zu bewundern, Literatur und Musik zu schaffen, über die eigene Existenz nachzudenken, zu hoffen und zu träumen? Selbst wenn das, was wir Glück nennen, nur neurophysiologische Prozesse sind: Erleben wir Glück deshalb weniger intensiv? Ob ich sterblich, unsterblich, ein geistiges Wesen oder eine geistlose organische Maschine bin: Sind das nicht meine Erlebnisse? Übrigens: Die bloße Tatsache, dass ich niemals weiß was die nächsten Augenblicke bringen werden, bedeutet, dass mein Leben, so mechanisch es auch sein mag, immer ein staunenswertes und schönes Geheimnis bleibt (vgl. Alper 2008, Epilogue).

Zusammenfassung

Für Alper sind religiöse Erfahrungen ihrer Natur nach rein biologische Vorgänge, die sich mit den Begriffen der Neurobiologie erklären lassen. Sie sind die Folge der Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet. Alper vergleicht das religiöse Bewusstsein mit einer „Linse“, die unsere Sicht der Wirklichkeit trübt und uns spirituelle Phänomene wahrnehmen lässt, die es gar nicht gibt. Es sei hoch an der Zeit, Spiritualität und Religiosität den Theologen, Philosophen und Metaphysikern aus der Hand zu nehmen und diese Phänomene zu biologisieren.

Gegen Alpers Thesen lassen sich mehrere Fragen und Einwände erheben: Ist seine eingeschränkte biologische Deutung religiöser Erfahrungen nicht auch die Folge der Art, wie sein Gehirn Informationen verarbeitet? Verzerrt eine „reduktionistisch-materialistische Linse“ nicht auch seine Sicht der Wirklichkeit? Was spricht dagegen, dass seine Thesen ebenfalls bloß kognitive Phantome sind, die von einem in seinem Gehirn eingebauten organischen Programm erzeugt werden?

Alpers Deutung blendet die reiche Erlebnisvielfalt religiöser Erfahrungen aus. Diese sind, wie alle Erfahrungen, keine Merkmale, die Wissenschaftler von außen am Gehirn beobachten und messen könnten. Mit seiner neurobiologischen Deutung religiöser Phänomene erweckt Alper den Eindruck, es handle sich um eine wissenschaftliche Erklärung. In seinem Buch finden sich jedoch keinerlei Hinweise darauf, wie objektiv beschreibbare Gehirnmechanismen subjektive Erlebnisse wie ein Gefühl der Heiligkeit, der Wonne und des Friedens hervorbringen. Alper scheint sich auch des Problems nicht bewusst zu sein, dass wir nicht die leiseste Ahnung davon haben, wie aus elektrochemischen Vorgängen im Gehirn Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle und natürlich auch religiöse Erlebnisse entstehen. Es klafft stets eine Erklärungslücke zwischen dem bewussten Erleben auf der einen und den Hirnprozessen, die damit einhergehen, auf der anderen Seite. Erst dann, wenn wir wüssten, warum und auf welche Weise Hirnprozesse bewusste Erlebnisse erzeugen, könnten wir diese Erklärungslücke schließen. Dieses bis heute ungelöste Problem bildet die größte Herausforderung für die Neurowissenschaften (vgl. Goller 2003). Es gibt keinen empirischen Beweis für die Annahme, dass das Bewusstsein und damit auch religiöse Erfahrungen und spirituelle Erlebnisse nur neurobiologische Phänomene sind.

Um die These, religiöses Bewusstsein sei rein biologischer Natur, wissenschaftlich beweisen zu können, müsste Alper zunächst zeigen, dass die Erlebnisvielfalt religiöser Erfahrungen sich mit den Begriffen der Neurobiologie genauso gut, wenn nicht sogar treffender, beschreiben ließe als mit den religiösen Begriffen unserer Alltagssprache. Er müsste außerdem erklären, warum jemand notgedrungen ein religiöses Erlebnis hat, wenn sein Gehirn sich in einem bestimmten Zustand befindet. Zudem müsste er das schwierigste Problem des Bewusstseins lösen, indem er für die Erlebnisqualität religiöser Erfahrungen, für die Art, wie diese sich für die erlebende Person anfühlen, eine rein neurobiologische Erklärung vorlegt. Mit dem bloßen Hinweis, es gebe einen göttlichen Teil des Gehirns oder besondere Schaltkreise für Spiritualität, Gebet, Moral und Religion im Allgemeinen, ist die Frage nach der neurobiologischen Grundlage religiöser Phänomene keineswegs beantwortet. Von einer Biologisierung der Spiritualität und Religiosität kann keine Rede sein.

Religiöse Erfahrungen und spirituelle Erlebnisse sind nicht auf ihre neurobiologische Grundlage reduzierbar. In den ungeheuer komplexen elektrochemischen Vorgängen des Gehirns lässt sich nichts entdecken, was religiösen Überzeugungen, frommen Gefühlen und mystischen Erlebnissen auch nur im Entferntesten ähnlich wäre. Der erlebenden Person sind diese Phänomene jedoch unmittelbar gegeben. Ausgangspunkt jeder Suche nach der neurobiologischen Grundlage religiöser Erfahrungen sind stets die Erlebnisberichte der Betroffenen, und nicht die Aufzeichnungen der elektrischen Aktivität ihres Gehirns oder Aufnahmen mit bildgebenden Verfahren.

Im Epilog seines Buches lässt Alper immerhin verhalten anklingen, dass er Erlebnissen doch eine eigene Form der Wirklichkeit zuerkennt. Er fragt: Selbst wenn Glück etwas rein Biologisches sein sollte – erleben wir es deshalb weniger intensiv? Die bloße Tatsache, dass wir überhaupt etwas erleben, sei Grund genug zum Feiern. Sein Leben bleibe stets ein staunenswertes Rätsel. Dem kann man vorbehaltlos zustimmen.

II. Die Suche nach den neurobiologischen Grundlagen des religiösen Erlebens und Verhaltens

„Neurotheologie“ ist ein Ausdruck, den Aldous Huxley in seinem utopischen Roman „Island“ (1962) als Erster gebrauchte. Im engeren wissenschaftlichen Kontext verwendete James Ashbrook diesen Begriff erstmals 1984 in seinem Aufsatz The Working Brain and the Work of Theology