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Flugstein

GESAMTAUSGABE

Ein Mellovien-Abenteuer

 

 

von

Maren El Gammal

mit Illustrationen von Monika Klettner

 

 

 

 

 

 

Für Flora

 

 

 

Impressum

Cover: Monika Klettner – Maren El Gammal - Karsten Sturm

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-306-1

MOBI ISBN 978-3-95865-307-8

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Inhalt

1. Vorboten

2. Schlaflos

3. Unerwarteter Besuch

4. Der Fledergleiter

5. Plötzliches Erwachen

6. Das Klopfen

7. Mellovien!

8. Bruchlandung

9. Horch, was läuft im Wald umher

10. Bitte einen Pilz

11. Die Dampfende Hütte

12. Llunas Geheimnis

13. Auf nach Orla

14. Im Wandernebel von Gorgula

15. Aus dem Nebel

16. Alte Legenden

17. Nächtlicher Besuch im Leuchtwald

18. Vorsicht, Kecken!

19. Ein neuer Tag

20. Schlechte Nachrichten

21. Orla

22. Der einäugige Riese

23. Das Meisterstück

24. Freund oder Feind

25. Gleiter

26. Verfolgung

27. Befreiung

28. Die summenden Mollusken

29. Geschichten aus dem Nachtwald

30. Fiegelangriff

31. Die Waldläufer

32. Aufbruch

33. Vorbereitungen

34. Abflug

35. Durch die Zeit

36. Epilog

Glossar

 

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1. Vorboten

Ein kalter Schauer

 

Bunte Blitze rasten über den Himmel und zogen das Mädchen auf ihrem Fluggerät hinter sich her. Lluna konnte der Verlockung einfach nicht widerstehen und musste dem Farbleuchten folgen bis sie in den Sog seines Luftwirbels geriet.

Ihr Fledergleiter wurde vom Wind wild durcheinander gerüttelt. Das Fluggerät bestand zwar nur aus Holzverstrebungen und Leinen, doch es war vom besten Flugzeugbauer Melloviens hergestellt worden. Das Gerüst war aus Mangrovenholz gefertigt, glänzend poliert und geölt, wodurch es stabil und biegsam war. Das Segeltuch stammte aus Sempera, und war leicht und widerstandsfähig. Die Seile und Steuertaue waren aus der stärksten sembonischen Seide gedreht und mit Hanf verflochten. Um das Herzstück des Fledergleiters zu halten, war ein kleines Loch aus dem Bugholz gebohrt. Darin lag der Flugstein. Das magische runde Mineral, das tote Materie in ein schwebendes Fluggerät verwandelte. Es leuchtete in pulsierendem Blau vor Lluna auf, die fest an den Sattel geklammert versuchte, ihren Flederflieger unter Kontrolle zu bringen.

Schon oft hatte sie Flugübungen im Sturm gemacht. Doch heute schien etwas anders zu laufen. Das Farbleuchten, dem sie hinterhergejagt war, hatte sich zu einem wilden Sturm entwickelt und sie weit von ihrer Route abgetrieben. Dabei war sie in den Solarwirbel geraten, dem farbigen Windloch, das seit tausenden von Jahren an verschiedenen Orten Melloviens immer wieder auftauchte. Noch nie zuvor war sie ihm so nahe gekommen. Bis heute. Noch hatte sie keine Ahnung wie weit sie der Sturm tatsächlich abgetrieben hatte.

 

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Flora stand mit ihrer Mutter auf dem Balkon im ersten Stock und betrachtete den Himmel. Oft erkannten sie in den Wolken Paradiesvögel, riesige Drachen oder manchmal einfach nur Hasen. Wenn der Himmel besonders einfallslos zu sein schien, blies er nur Schäfchen von Osten nach Westen.

Flora stellte sich vor, dass sich der Himmel all die Formen der Wolken ausdachte und machte stets ihn verantwortlich, wenn es mal langweilig wurde. Sie bevorzugte Drachen mit Lanzen schwingenden Reitern, geflügelte Pferde oder andere Wolken in phantastischen Formen. Heute war der Himmel fast wolkenlos, nur in der Ferne drehten sich Schleierwolken zu einem Trichter zusammen und schimmerten in allen Farben.

„Seltsam!“, sagte Floras Mutter. „Das gibt es sonst nur im Norden zu sehen. Und dann nennt man das Polarlicht.“

„Sieht toll aus!“, meinte Flora.

Die beiden sahen der Lichterscheinung eine Weile schweigend zu, dann sagte Floras Mutter: „Wenn große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen, könnten sich dann vielleicht Abenteuer mit seltenen Lichterscheinungen ankündigen?“

„Das wäre ja cool!“, meinte Flora.

„An was für ein Abenteuer hättest du denn gedacht?“, fragte Mama.

„Keine Ahnung, ich hab’ nur so ‘n Kribbeln im Nacken ...“

„So wie wenn man in einem spannenden Buch liest und es kaum erwarten kann, bis der Bösewicht aus seinem Versteck springt?“

„Ja, ungefähr so.“

„Wer weiß? – Und nun ab ins Bett! Morgen ist wieder Schule!“

„Ach, Mann!“, maulte Flora und trollte sich vom Balkon. Sie schlenderte so langsam wie möglich durch das Schlafzimmer ihrer Eltern, spielte mit ihrer Katze Marie und fand somit einen Grund, sich außerhalb des Badezimmers aufzuhalten. Schließlich lauerten dort Zahnpaste und -bürste.

„Zähneputzen und ins Bett!“, rief Mama etwas energischer vom Balkon nach drinnen. Sie betrachtete noch einen Moment nachdenklich den Himmel und verschwand dann auch im Schlafzimmer.

Nachdem Flora ausgiebig mit Marie gespielt, noch rasch etwas gegessen hatte und dringend ein neues Schild für ihre Zimmertür malen musste, fiel ihr wieder ein, dass sie die Zähne putzen sollte. Na ja. Ein letzter Blick auf den Himmel konnte ja nicht schaden. Mama klapperte inzwischen in der Küche mit dem Geschirr und war offensichtlich mit dem Abwasch beschäftigt. Also schlich sich Flora zurück durch das Schlafzimmer auf den Balkon. Es dämmerte bereits, doch in der Ferne blitzten immer noch bunte Lichter auf. Flora sah nach unten. Marie, Floras Katze, saß unter dem Balkon im Garten und jagte, wie immer um diese Zeit, irgend einem Insekt hinterher. Marie war eine „Glückskatze“. So nannte man dreifarbige Katzen. Ihr Bauch und ihre Beine waren weiß, der Schwanz und der Rücken grau gestreift und über die Schultern lief ein rot getigertes Band. Gerade drückte sie ihren Oberkörper flach auf den Boden und wackelte gleichzeitig mit ihrem Hintern. Ein sicheres Zeichen für einen bevorstehenden Angriff. Ihr Schwanz schlug hektisch hin und her. Und zack – mit einem Satz sprang sie einen ganzen Meter nach vorne und landete auf ihrem Opfer. Offensichtlich konnte dieses fliegen und entkam unter ihren Pfoten. Brummend flog es in die Höhe, umkreiste den Fliederbusch im Nachbargarten und flog über das Gartenhäuschen davon.

Marie sah ihm noch einen Moment hinterher. Mama hatte gerade die Terrassentür von innen geschlossen, worauf Marie sich sofort umdrehte und ihr nach rannte, als würde ihr Leben davon abhängen.

Nichts lockte Marie schneller nach drinnen als das Geräusch einer sich schließenden Tür! Und das wussten alle Bewohner des Hauses im Hortensienweg Nr. 8. Also war es leicht, Marie nachts ins Haus zu locken. Mama konnte die Terrassentür gerade noch rechtzeitig öffnen, bevor Marie gegen die Glasscheibe prallte.

„Na, meine Süße? Hast es wohl mit der Angst bekommen?“, hörte Flora Mama unter sich sagen. „Also wirklich, als würde ich dich jemals draußen vergessen!“

Marie antwortete mit einem vorwurfsvollen „Miaaack, mack!“

Flora sah noch einmal zum Himmel. Ob das wirklich ein Polarlicht war? Seltsam. Vielleicht war es auch Wetterleuchten? Davon hatte sie auch schon gehört, es aber noch nie selbst gesehen.

Wind kam auf. Das Sonnensegel auf der Terrasse flatterte laut. Flora stellte sich vor, dass die Segel eines Bootes auf hoher See so klingen müssten, wenn der Wind hineinblies.

Der Wipfel des Baumes in ihrem Garten schwang wild hin und her. Alles rauschte. Nicht ein Grashalm stand still, und Flora hätte es nicht gewundert, wenn selbst die Häuser ganz langsam davon getrieben wären. Ein Blitz ließ Flora zusammenzucken. Der Donner folgte nur einen Augenblick später. Ein Gewitter ohne Regen! Es roch nach Elektrizität. Flora lief ein kalter Schauer über den Rücken. Endlich war mal was los! Die letzten Wochen waren ihr monoton und langweilig vorgekommen. Überhaupt fand sie die beiden Monate vor den Sommerferien immer ganz besonders lahm, die Zeit zog sich wie alter Kaugummi und es passierte nichts Aufregendes. Doch jetzt lag ein ganz besonderer Duft in der Luft.

Sie lief zu Papa und sagte ihm mit einem dicken Schmatzer gute Nacht, dann rannte sie in ihr Zimmer. Wie jeden Abend hatte Mama gehört, wie Flora mit Schwung in ihr Bett gesprungen war, und kam kurz darauf in Floras Zimmer um ihr auch gute Nacht zu sagen.

Wenn große Ereignisse ihre Schatten vorauswerfen, könnten sich dann nicht auch große Abenteuer mit besonderen Lichterscheinungen ankündigen?, dachte Flora, bevor sie einschlief.

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Lluna wurde hin und her gewirbelt. Der Sturm schüttelte den Flederflieger wie ein Herbstblatt im Wind. Lluna verlor für kurze Zeit die Kontrolle über ihr Fluggerät. Das sollte ihr nicht noch mal passieren. Sie riss das Steuer herum und fing ihren Gleiter im Sturzflug ab. Eine weitere steile Kurve und sie hatte ihn wieder fest im Griff. Die nächste Sturmböe rüttelte an den Segeln. Lluna stabilisierte den Flug, indem sie geschickt an den Steuertauen zog. Sie war eine der besten Fliegerinnen Melloviens. Doch der nächsten Böe war nicht zu entkommen. Der Flederflieger wurde herumgewirbelt und trudelte kopfüber in die Tiefe. Lluna riss am Steuertau. Zu spät. Durch die Schüttelei hatte sich der Flugstein gelöst und rutschte aus seiner Halterung. Der Flederflieger verlor jeglichen Auftrieb. Wie ein totes Stück Holz stürzte er in die Tiefe.

Lluna, steif vor Entsetzen, starrte dem Flugstein hinterher, während sie ihm im Sturzflug folgte. Der Boden kam unaufhörlich näher. Je tiefer sie flog, umso dunkler wurde es um sie herum. Unter ihr tauchte zuerst nur ein Flecken Grün auf, der rasend schnell anwuchs. Schon waren einzelne Halme zu erkennen. Lluna löste sich endlich aus ihrer Starre. Sie zog ein letztes Mal am Steuerruder und hob dabei den Bug des Gleiters, der mit einem langsameren Sinkflug reagierte. Lluna landete rau auf einer Wiese.

„Wo sind wir denn hier gelandet?“, fragte sie sich.

 

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2. Schlaflos

Es musste mitten in der Nacht sein. Der Wind hatte die letzten Stunden ununterbrochen an Floras Rollo gerüttelt. Geregnet hatte es jedoch nicht. Flora wachte auf. Es war nicht der Lärm des klappernden Rollos, der sie geweckt hatte, sondern die plötzliche Stille!

Flora stand auf und ging zu ihrem Fenster. Sie zog das Rollo ein kleines Stück nach oben. Es war immer noch finster. Das Zimmer lag im ersten Stock. Von dort konnte man direkt in die Nachbargärten und auf das Baumhaus von Adrian und Kilian, der beiden Jungen von gegenüber, sehen.

Flora stellte sich vor, dass sie als Einzige wach war, während der Rest der gesamten Menschheit schlief! Nur um sicherzugehen, dass in der Nähe nicht doch noch jemand wach war, zog sie das Rollo weiter hinauf und stemmte sich auf die Fensterbank. Im Vorgarten unter ihrem Fenster war nichts zu sehen. Alles ruhig und bewegungslos.

Auf Floras Fensterbank stand ein Holzteller mit Halbedelsteinen. Schon seit frühester Kindheit gefielen ihr die bunten Dinger. Doch nicht nur Achate, Rosenquarze, Bergkristalle, Karneole oder Turmaline zogen sie an, auch schön geformte Steine, glatte, runde Bachkiesel oder interessant gemaserte Pflastersteine waren für Flora kleine Schätze. Schon im Kindergarten wog Flora beim Abholen mindestens ein halbes Pfund mehr als am Morgen, da sie im Garten unzählige winzige Kiesel gesammelt und in ihren Hosentaschen gehortet hatte. Das hatte sich auch über die Jahre nicht geändert.

Flora war inzwischen elf, doch ihre Begeisterung für Steine und Süßes war seit ihrem dritten Lebensjahr ungebrochen. Das waren wohl zwei weitere Leidenschaften, die sie mit ihrer Mutter teilte. Eines konnte man mit Sicherheit von der Familie im Hortensienweg Nummer 8 behaupten. Sie war steinreich!

Flora ging zurück in ihr Bett und nahm sich vor, wieder einzuschlafen. Vielleicht sollte sie ihr Kissen packen und zu ihren Eltern ins Bett krabbeln? Das langsame Schnarchen ihres Papas und das leise, rhythmische Atmen ihrer Mutter wiegte sie immer rasch in den Schlaf. Aber sie konnte es ja zuerst mal mit Marie versuchen. Das Schnurren ihrer Katze hatte fast die gleiche Wirkung. Sie schlich aus ihrem Zimmer.

„Marie!“, rief sie leise. „Mariehie!“

Flora stieg die Stufen zum Wohnzimmer hinunter. War Marie vielleicht doch noch draußen? Sie schaute durch das Wohnzimmerfenster in den Garten. In der Mitte des Rasens leuchtete etwas.

Vielleicht würde sie jetzt, mitten in der Nacht, ein seltenes Glühwürmchen entdecken, das nur nach Mitternacht flog? Und dann werde ich in der Käfer-Fachliteratur als große Entdeckerin gefeiert!, dachte Flora.

Sie öffnete leise die Terrassentür und schlich sich vorsichtig nach draußen. Der Rasen war feucht und kühl unter ihren Füßen. Sie näherte sich mit langsamen Schritten, um das Insekt nicht zu verscheuchen. Kurz vor ihr hörte das Leuchten auf. Flora bückte sich und strich mit den Händen über die Grashalme. Mit den Fingerspitzen stieß sie auf etwas Glattes, Rundes. Es steckte in der Erde fest. Das war mit Sicherheit kein Glühwürmchen! Gerade als Flora den Gegenstand aufheben wollte, huschte Marie um ihre Füße und schmuste mit dem Kopf an ihren Beinen entlang.

„Hast du mich erschreckt!“, sagte Flora, zog das runde Ding aus dem Boden und ging zurück ins Haus.

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„Ich glaube, wir sind nicht mehr in Mellovien!“, sagte Lluna und strich mit ihrer Hand zärtlich über das Holz ihres Fledergleiters.

Ihr Fluggerät hatte den Absturz schadlos überstanden. Sie griff in ihre lederne Umhängetasche und nahm einen Kompass heraus. So, jetzt suchen wir zu allererst mal meinen Flugstein, dachte sie. Sie zog den Fledergleiter an den Rand der Wiese. Die Haselsträucher kamen ihr gerade recht. Der Fledergleiter ließ sich vollständig unter den ausladenden Ästen verstecken.

Lluna warf einen Blick auf ihren Kompass. Die rote Nadel zeigte nach Norden, die blaue nach Süd-Osten. Lluna überquerte die Wiese und lief in die Richtung, in der sie eine ganze Siedlung eng stehender Häuser sah.

Zum Glück war es Nacht! Alle Lichter waren erloschen und der starke Wind hatte die Bewohner von nächtlichen Spaziergängen abgehalten. So hatte sie die Hoffnung, niemandem zu begegnen. Sie überquerte eine Straße und folgte dem Kompass weiter in Richtung der blauen Nadel. Sie zeigte auf eines der Reihenhäuser. Diese seltsamen Häuser waren anders als alles, was Lluna bisher gesehen hatte. Überhaupt war hier alles anders! Es roch so fremd! Straßen und Häuser waren gerade und eckig, wie mit dem Lineal gezeichnet und exakt nachgebaut. Einfach unheimlich! Wer würde sich so etwas nur ausdenken? Und darin auch noch wohnen? Unmöglich.

Aber wer weiß, vielleicht sahen die Häuser ja von innen etwas gemütlicher aus, dachte Lluna, obwohl sie heftig daran zweifelte. Sie warf einen Blick in den nahen Garten. Eine Katze drehte gerade ihren Kopf in ihre Richtung. Lluna zog sich blitzschnell zurück. Kurz darauf hörte sie, wie sich eine Tür schloss. Hier war äußerste Vorsicht geboten! Das Letzte, was sie heute noch brauchte, war ein unerfreuliches Treffen mit übellaunigen Menschen. Jemand, der in solchen einfallslosen Häusern lebte, alle gleich und eng aneinander gequetscht, konnte wohl kaum freundlich sein! Sie wartete zur Sicherheit noch eine Weile und kundschaftete die Nachbargärten und die Umgebung aus.

 

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Marie stand im Garten und starrte auf das Gartentürchen. Hatte sie dort jemanden entdeckt?

Das Geräusch der sich schließenden Terrassentür lenkte Marie ab. Sofort schoss sie Flora hinterher und verschwand mit ihr im Haus. Flora zog die Tür hinter sich zu.

Heute Nacht würde Marie sich nicht auf ihren Lieblingsplatz zum Schlafen legen, sondern sich auf das Fensterbrett setzen und in den Garten starren. Sie würde Wache halten.

 

Alfred, der Hamster des Hauses, wurde munter. Er drehte seine gewöhnliche Runde im Käfig und suchte nach Joghurt-Drops. Flora legte abends immer welche für ihn bereit. Sein Käfig stand nahe am Fenster und da er von Natur aus nachts aktiv war, bemerkte er als Erster die Gestalt, die über das Türchen in den Garten sprang. Marie war auf der Fensterbank eingenickt. Als sie aufwachte, nahm sie nur noch einen Schatten wahr, der über den Zaun in den Nachbargarten huschte.

„Mack!“, sagte sie.

 

Flora lag in ihrem Bett. Sie hatte die Nachttischlampe eingeschaltet. Zwischen ihren Fingern drehte sie den Gegenstand, den sie im Garten gefunden hatte. Das muss ein besonders wertvoller Edelstein sein!, dachte sie. Den hätte Mama nie absichtlich dort liegen gelassen. Bestimmt hat ihn jemand verloren.

Flora drehte sich auf den Bauch und hielt ihn gegen das Licht. Der Stein war oval geschliffen, aber rund im Querschnitt. Er passte perfekt in Floras Hand. Angenehm, ihn so zu halten, fand Flora. Wieder nahm sie ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt ihn vor ihre Lampe. In seinem Inneren war etwas eingeschlossen. Ein Insekt vielleicht? Ein langer, dünner Körper und vier filigrane Flügel. Eine Libelle! Cool! So etwas Ähnliches hatte sie bisher nur im Naturkundemuseum gesehen. Und da waren es Mücken in versteinertem Baumharz. Dieser Stein war viel schwerer als Bernstein.

Und er war blau.

Als Flora auf die Uhr schaute, stand der dicke Zeiger genau auf der Zwei. Sie knipste ihre Nachttischlampe aus und drehte sich auf die Seite. Als sie endlich einschlief hielt sie den Stein immer noch fest in ihrer Hand.

 

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3. Unerwarteter Besuch

Der Dieb

 

Als Lluna zu dem Garten zurückkehrte, lag alles still. Der Wind hatte nachgelassen. Im Haus auf der Fensterbank schlief die Katze, deren Blick sie vorhin gerade noch entkommen war. Sie sprang über das Gartentürchen und suchte den Boden ab. Zweimal kontrollierte sie ihren Kompass, der eigentlich ein Intentiometer war. Es zeigte neben den Himmelsrichtungen mit der roten Nadel auch noch magische Kräfte oder Steine mit der gelben Nadel und luftmagische Objekte mit der blauen Nadel an. Und diese begann, je mehr sie sich dem Haus näherte, zu kreiseln. Sie hatte sich nicht geirrt! Ihr Flugstein musste irgendwo hier in der Nähe sein.

Lluna sprang über den Zaun in den Nachbargarten. Die blaue Nadel ihres Intentiometers beruhigte sich wieder und zeigte nun eindeutig wieder zum Haus mit der Nummer 8. Sie musste sich unbedingt Zugang verschaffen. Notfalls mit Gewalt. So lange sie ihren Flugstein nicht zurückbekäme, würde sie hier festsitzen. Ihr Leben hing davon ab! Lluna sprang zurück über den Zaun, ging auf die Terrasse zu und untersuchte die Tür. Aha, sie war nicht abgesperrt. Jemand hatte sie nur hinter sich zugezogen. Mit leichtem Druck ging sie nach innen auf!

Lluna versuchte so leise wie möglich das Haus zu durchsuchen. Es war offensichtlich bewohnt. Und auf jeden Fall wollte sie vermeiden, jemand über den Weg zu laufen. Eine Bodendiele quietschte unter ihrem Fuß. „Mist!“ Nach einem weiteren Schritt spürte Lluna, wie sie von hinten angestarrt wurde. Instinktiv griff sie zu ihrem Messer und drehte sich um.

Eine Katze lag auf der Fensterbank. Ihre Augen durchbohrten sie, mit ungehemmter Neugierde.

Lluna machte einen Schritt auf die Katze zu.

 

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Als Flora das nächste Mal in dieser Nacht aufwachte, war es nicht das Rauschen des Windes oder die plötzliche Stille, die sie weckten, sondern etwas anderes. Es war lauter als das Geräusch das Marie machte, wenn sie mit den Tatzen über den Parkettboden im Wohnzimmer lief, aber viel leiser als die Schritte, die Papa oder Mama machten.

Flora lag im Bett und dachte nach. Sie hatte einige Filme gesehen und auch Bücher gelesen, in denen sich die Heldin oder der Held der Geschichte im Nachthemd oder Pyjama, unbewaffnet und mitten in der Nacht, auf die Suche nach dem Eindringling, Dieb oder sogar Mörder machten. Tausendmal hatte sie gedacht, dass kein vernünftiger Mensch jemals sein Zimmer, ja nicht einmal sein Bett verlassen würde, um sich im Dunkeln nach einem Eindringling umzusehen!

Noch während sie ihr Bett verließ, um nachzusehen, woher das Geräusch kam, gingen ihr zwei Gedanken durch den Kopf: Erstens, seltene Lichterscheinungen gehen großen Abenteuern voraus und zweitens, Neugierde ist stärker als jede Vernunft.

Flora schlich langsam die Treppe zum Erdgeschoß hinab. Den wundersamen Stein, den sie im Garten gefunden hatte, hielt sie dabei wie ein Wurfgeschoss in der Hand. Vorsichtig stieß sie die Tür zur Küche auf. Niemand da.

Sie schlich zurück in den Flur. Im Dunkeln stand ihr ein Mädchen gegenüber und für den Bruchteil einer Sekunde dachte Flora, sie würde jeden Moment einen Stein an den Kopf geworfen bekommen. Erst dann erkannte sie ihr eigenes Bild, das der große Wandspiegel im Flur von ihr zurückwarf. Wie konnte sie sich nur so erschrecken?

Als Nächstes war das Wohnzimmer an der Reihe.

 

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„Na, was bist du denn für eine Süße? So spät noch wach?“, flüsterte Lluna.

„Mau!“, antwortete die Katze. Lluna streichelte über das dreifarbige Fell. Als das Tier laut zu schnurren begann, nahm Lluna es auf ihren Arm.

 

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Flora erinnerte sich an diverse Western und Krimis, die sie gesehen hatte. Oft heimlich. Mama hatte es lieber, wenn sie las oder spielte. Doch mit elf Jahren hatte man schon ein paar Tricks auf Lager, mit denen man auch mal einen Film zu sehen bekam, den die Eltern nicht erlauben würden. Jedenfalls nicht, wenn man sie vorher gefragt hätte.

Sie lehnte sich flach mit dem Rücken an die Wand und tastete mit der linken Hand vorsichtig nach der Türklinke zum Wohnzimmer. Den Stein, den sie seit sie ihn gefunden hatte nicht mehr losließ, hielt sie dabei immer noch wurfbereit in der rechten Hand. Der Kommissar im Krimi hätte selbstverständlich einen Revolver schussbereit gehalten.

Mit einem Satz stieß sie die Tür auf und sprang ins Zimmer. Die Überraschung gelang, denn der Eindringling erschrak und drehte sich ruckartig zu ihr um.

Flora erstarrte. Was machte ein fremdes Mädchen mitten in der Nacht in ihrem Wohnzimmer? Und noch viel schlimmer: Warum hielt sie Marie, ihre Katze, im Arm? Zu allem Überfluss schnurrte die kleine Verräterin auch noch!

Flora betrachtete die Fremde. Sie war etwa elf oder zwölf Jahre alt, trug ihr rotes Haar in einem langen geflochtenen Zopf und hatte altertümliche Kleidung an. Nichts Hippes oder Flottes, was man in Floras Schule so trug, sondern enge lederne Hosen, ein grob gewebtes Leinenhemd und eine eng anliegende Weste. An ihrem Gürtel hing ein Messer. Sie hatte einen ledernen Beutel umgehängt. Flora kam sich jetzt in ihrem rosaroten Frottee- Schlafanzug mit dem himbeerfarbenen Herz auf der Brust reichlich albern vor.

„Was willst du hier?“, war das Erste, was Flora zu sagen einfiel.

„Ich will meinen Stein!“, kam Lluna sofort auf den Punkt.

„Welchen Stein?“

„Den, den du in deiner Hand hältst!“

„Das ist meiner!“, sagte Flora.

„Nein, ist er nicht!“

„Doch, den habe ich in unserem Garten gefunden, also gehört er mir!“

„So ein Quatsch!“, sagte Lluna. „Er gehört mir und ich habe ihn verloren!“

„Und jetzt ist er meiner!“

„Ach!“, sagte Lluna. „Wenn ein Freund bei dir auf Besuch ist und beim Spielen seinen Schuh verliert, gibst du ihn dann auch nicht mehr zurück?“

Flora dachte nach. Natürlich wäre das etwas anderes! Doch irgendwie hatte das Mädchen Recht. Aber so leicht wollte sie ihren Schatz nicht herausrücken.

„Wozu brauchst du ihn denn so dringend?“

„Zum Fliegen!“

Jetzt wurde die Sache interessant! Flora musste grinsen. Höchst unglaubwürdig, diese Behauptung. Lluna merkte an dem Gesichtsausdruck des Mädchens, dass sie ihr wohl nicht glaubte. Es würde alles nichts nützen. Sie musste den Stein zurückhaben. Sie ließ Marie zu Boden gleiten und stürzte mit dem nächsten Schritt auf Flora zu, um ihr den Stein zu entreißen. Flora machte blitzschnell einen Schritt zur Seite und stieß dabei an das Metalltischchen im Wohnzimmer. Der Kerzenleuchter schepperte.

„Schschscht!“, zischten die beiden Mädchen gleichzeitig.

„Jetzt gib schon her!“, sagte Lluna.

„Mach ich nicht!“

„Er gehört mir!“

„Tut er nicht!“

„Tut er doch, und ich kann’s beweisen!“

Flora zog die Augenbrauen hoch. „Echt? – Na dann lass mal sehen!“

„O.k.! Komm mit!“, sagte Lluna und ging auf die Terrassentür zu. Es hatte alles keinen Zweck. Sie würde dem Mädchen ihren Fledergleiter zeigen. Der Flugstein passte genau in das Loch im Bug.

„Halt, halt! Nicht so schnell. Wo willst du hin?“

„Na auf die Wiese da drüben.“

„Und was sollen wir da?“

„Du wirst schon sehen!“

Ein weiterer Moment folgte, in dem Flora über ihre eigene Reaktion erstaunt war. Jetzt würde sie sogar mitten in der Nacht das Haus verlassen! Wie dumm kann man eigentlich sein?, fragte sie sich selbst. Nicht dumm, abenteuerlustig!, antwortete sie ihrem Gewissen. Sie zog sich Schuhe an, streifte eine Jacke über und folgte dem fremden Mädchen nach draußen.

 

Alfred sah aus dem Fenster. Na, heute Nacht bekam er wirklich etwas geboten! Erst ein fremder nächtlicher Besucher im Garten und nun lief die Fremde mit Flora, auch noch im Pyjama, durch die Gegend. Marie folgte ihnen.

 

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4. Der Fledergleiter

Ausflug

 

Lluna schob ein paar Äste des Haselstrauchs zurück, unter dem sie ihren Fledergleiter versteckt hatte. Gott sei Dank, er war noch da! Mit einer Hand zog sie den leichten Gleiter unter dem Strauch hervor.

Flora betrachtete sich das Ding genau. Es erinnerte sie an eines der Fluggeräte, das sie mit ihren Eltern im Museum bei einer Ausstellung über Leonardo da Vinci gesehen hatte, nur viel eleganter. Lluna streckte Flora auffordernd die Hand entgegen.

„Was?“, fragte Flora.

„Na mein Flugstein! Gib ihn mir bitte!“

Widerwillig reichte Flora dem Mädchen den Stein. Lluna hielt ihn knapp über das Loch im Bugholz. Mit einem leisen „Fump“ glitt er in die Vertiefung und steckte wieder fest im Holz. Der Stein begann zu leuchten und der Fledergleiter reagierte, indem er sich mit einem Satz vom Boden erhob. Lluna stellte mit Genugtuung fest, wie beeindruckt Flora war. Und Flora wusste, wann man sich geschlagen geben musste.

„O.k. Er gehört dir. – Tut mir leid!“, sagte Flora.

„Angenommen!“

„Das sieht toll aus!“

„Danke! – Ich bin selbst sehr stolz auf ihn!“

„Ihn?“

„Auf meinen Fledergleiter.“

Ja, Fledergleiter schien ein passender Name zu sein. Die fledermausartigen Flügel waren Flora gleich aufgefallen.

„Lust auf einen Ausflug?“

„Wie? – Jetzt? Ich weiß ja noch nicht mal, wie du heißt, geschweige denn wo du überhaupt her kommst! Und dieses Ding da, wie funktioniert das eigentlich“, sagte Flora und zeigte auf das Fluggerät.

„Oh, Verzeihung! Mein Name ist Lluna.“ Sie streckte Flora die Hand entgegen. Flora schlug ein.

„Ich heiße Flora.“

„Hallo Flora! Ich komme aus Mellovien. Das ist mein Flugstein, der steckt im Fledergleiter und lässt ihn schweben. – Und, wie sieht’s jetzt aus, fliegen wir ’ne Runde oder willst du lieber wieder zurück ins Bett?“

Flora zögerte, wenn auch nur kurz. Wann würde sich jemals wieder die Gelegenheit bieten mit einem Fluggerät wie diesem zu fliegen? Noch dazu war das eben fast eine Herausforderung! Sie, und zurück ins Bett! Pah! Als wäre sie eine Kleinkind! Und schließlich war das endlich das Abenteuer auf das sie schon seit Ewigkeiten gewartet hatte! Vorgestellt hatten sie sich ja inzwischen auch schon!

„Also gut!“

„Na dann, spring auf!“

Flora nahm hinter Lluna Platz. Mit einem Ruck erhob sich der Fledergleiter vom Boden und schon schwebten sie in einigen Metern Höhe. Das nächste Lüftchen, das daherkam, trug das Fluggerät samt Besatzung weiter nach oben. Der Flugstein begann blau zu glühen. In Windeseile stiegen sie hinauf und unter ihnen wurde die Welt immer kleiner.

Flora erkannte selbst aus dieser Perspektive jede Einzelheit ihrer Umgebung wieder. Da war das Wäldchen, durch das sie mit Papa immer mit dem Fahrrad zum Eisessen fuhr.

Dort war der Feldweg, der durch die Maisfelder in die Stadt führte. Ein großer, schwarzer, streunender Hund lief gerade einer Katze hinterher und verlor ihre Spur, als sie durch ein Loch im Zaun verschwand. Der Hund blickte auf und entdeckte Lluna und Flora weit über sich. Er schickte ihnen ein lautes „Jahuuuuul!“ hinterher.

Da kam schon die Hauptstraße mit den vielen schönen Geschäften. Wo wohl der Eisladen sein mochte? Komisch, von oben sah alles ganz anders aus. Der Brunnen in der Hauptstraße war nur noch ein kleiner schwarzer Punkt. Da tauchte schon der Fluss unter ihnen auf, den sie täglich auf dem Weg zur Schule überquerte. Jetzt lag er wie eine lange, gewundene, dunkelgrüne Schlange unter ihnen, die gerade ein Nilpferd verspeist hatte. Das war ungefähr auf der Höhe des Stauwerkes, wo der Fluss breiter wurde.

Schon kamen die Berge in Sicht. Manchmal waren ihre Gipfel das ganze Jahr mit Schnee bedeckt. Auch dieses Jahr lag noch ein wenig Schnee. Lluna zog das Steuer weiter nach oben und Flora klammerte sich fester um das Bugholz, auf dem sie saß. Schon flogen sie am Fuß des Berges hinauf und darüber hinweg! Sie machten ein waghalsiges Flugmanöver, indem sie eine enge Kurve flogen und dabei fast den Berggipfel streiften. Hinter ihnen wirbelten Schneeflocken in den Himmel.

„Juchuuuuuuu!“, rief Flora.

„Juchuuuuuuu!“, rief Lluna und freute sich, dass das Fliegen Flora offensichtlich genauso viel Spaß machte wie ihr. Der Wind wurde kälter, Lluna drehte ab und flog wieder tiefer. Flora fror.

Komisch, dachte Flora für sich, jetzt fliege ich zum ersten Mal in meinem Leben auf einem Fledergleiter, noch dazu mit einer fast Fremden, und trotzdem habe ich keine Angst! Manchmal hatte Flora das Gefühl, als würde die Zeit stillstehen. Dann stellte sie für den Bruchteil einer Sekunde fest, wie seltsam die Situation war, in der sie sich gerade befand. In solchen Momenten fühlte sie sich lebendiger als sonst. Alle ihre Sinne waren auf höchstem Empfang. Sie hörte, roch und fühlte intensiver. Der Wind zerzauste ihre Haare. Es roch nach Schnee.

Doch für diese Nacht sollte das Abenteuer bald ein Ende nehmen. In einem schwungvollen Bogen flogen sie den Abhang hinunter und sausten am Fuß des Berges knapp über das Dach eines Bauernhauses. Durch den Luftzug drehte sich der Wetterhahn und quietschte ihnen hinterher.

Die beiden hatten eine gemeinsame Leidenschaft entdeckt, und das war außergewöhnlich, denn den meisten Menschen in Mellovien wurde auf dem Rücken eines Fledergleiters fürchterlich schlecht. Lluna drehte sich zu Flora um. Ein Blick verriet ihr, dass Flora begeistert war, obwohl ihre Zähne vor Kälte laut klapperten. Es war höchste Zeit, zurückzukehren.

Als Lluna Flora direkt in ihrem Garten absetzte, empfing sie Marie und schmuste den beiden um die Beine.

„Wirst du wiederkommen?“, fragte Flora zum Abschied.

„Mal sehen“, sagte Lluna, „als Erstes muss ich mal wieder nach Hause.“ Sie zwinkerte Flora zu, stieg auf ihr Fluggerät und hob ab.

„Wo liegt dieses Mellovien eigentlich?“, rief Flora ihr so leise wie möglich nach.

„Da hinten!“, rief Lluna und zeigte in die Richtung in der Flora am Abend das seltsame Farbspiel am Himmel entdeckt hatte.

Noch bevor Flora weitere Fragen stellen konnte war Lluna verschwunden.

Schlaftrunken, völlig übermüdet, ausgelaugt und halb durchgefroren stieg Flora die ersten Stufen zu ihrem Zimmer hoch, dann hielt sie an. Mit schnellen Schritten war sie wieder im Wohnzimmer und schloss dieses Mal die Terrassentür richtig zu. Schon kam Marie aus dem Garten geschossen. Flora ließ die Katze herein und lief bibbernd hoch in Ihr Zimmer. Kaum lag Flora unter ihrer kuschlig weichen Bettdecke, hörte das Zähneklappern auf. Ein letzter Blick auf die Uhr. Es war vier Uhr Nachts. Gedanken rasten durch Floras Kopf. Was für einen Begegnung! Sie schloss die Augen und bald verwandelten sich ihre frischen Erinnerungen in farbenprächtige Träume. Warm eingehüllt unter ihrer Bettdecke war sie eingeschlafen.

 

Lluna stieg immer höher auf ihrem Fledergleiter. Sie war sich ganz sicher, dass sie die richtige Richtung eingeschlagen hatte! Doch in der Ferne konnte sie das Leuchten des Solarwirbels nicht mehr finden. Die Wolken hatten sich zu einer dichten, dunklen Decke zusammengezogen und ließen nichts mehr erkennen. Es würde alles nichts nützen. Sie saß hier so lange fest bis sich die Wolken lichten würden. Nun musste sie sich ein sicheres Versteck suchen.

 

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5. Plötzliches Erwachen

Zweifel

 

Flora schlug die Augen auf. Mit einem Mal war sie hellwach. Sie rieb sich den Schlafsand fort und blinzelte. Verwundert schaute sie in ihrem Zimmer umher und suchte nach einem Anhaltspunkt! Aber wofür? Hatte sie geträumt? An was konnte sie sich zuletzt erinnern?

Sie kannte dieses Gefühl. Wenn sie bei Freunden übernachtet hatte, dann dauerte es am Morgen auch ein bisschen länger, bis sie wusste, wo sie war. Heute fühlte sie sich ähnlich, obwohl sie in ihrem eigenen Bett aufwachte.

Wieder rieb sie sich die Augen. War alles nur ein Traum gewesen? Sie stand auf und schlappte, immer noch schlaftrunken, ins Badezimmer. Auf der Toilette dachte sie scharf nach. Das alles konnte kein Traum gewesen sein, oder doch? Lluna! Wo war Lluna? Sie ging zum Fenster und schaute hinaus.

Nichts!

Das Baumhaus war unverändert, im Vorgarten war alles beim Alten. Auf der Straße war nichts zu sehen und hier in ihrem Zimmer fand sie auch nichts Ungewöhnliches. Kein Zeichen vom Fledergleiter, kein Hinweis auf eine nächtliche Flugstunde.

Flora war verwirrt und zweifelte an sich selbst. Und da tat sie das einzig Vernünftige, was man in so einem Fall machen konnte. Sie ging rüber ins Schlafzimmer der Eltern, kroch zu Mama und Papa ins Bett und schlief wieder ein.

Etwa eine halbe Stunde später klingelte der Wecker. Der folgende Tag verlief ereignislos und als Flora mit Papa abends wieder von der Schule nach Hause kam, hatte sie die Erlebnisse der letzten Nacht schon fast vergessen.

Flora trug ihren Schulrucksack auf dem Rücken. Irgendwie schien er heute schwerer zu sein als sonst. Oder fühlte es sich nur so an? Normalerweise kehrten zu Hause, hatte sie erstmal ihr Zimmer betreten, auf erstaunlich schnellem Weg alle Lebensgeister zurück. Heute war es anders. Sie war todmüde.

Im Wohnzimmer wartete Marie auf sie.

„Und, hab ich das alles nur geträumt?“

Marie sah Flora ungerührt an.

„Ach, das kannst du mir wohl auch nicht sagen“, meinte Flora.

Marie stand auf und lief zur Terrassentür. Flora ging ihr nach und öffnete die Tür. Sofort sauste sie in den Garten. „Und was ist mit mir?“, fragte Flora.

Mit einem lang gezogenen „Miauuu“ lockte Marie das Mädchen nach draußen.

Die Katze saß vor einem Loch im Rasen. Es war so groß, dass ein Hühnerei hineingepasst hätte. Genau hier hatte Flora in der vergangenen Nacht den Flugstein gefunden.

Flora grinste breit. Ihre Lebensgeister waren zurückgekehrt!

Mit großen Schritten sauste sie in ihr Zimmer. Mellovien, schoss es ihr durch den Kopf. Sie suchte in ihrem Bücherregal und zog einen alten Weltatlas heraus. Im Index suchte sie nach Mellovien.

Melawi, Melbourne, Mella, Melmoth, Mekka, Meran, aber kein Mellovien! Rasch lief sie ins Büro ihrer Mutter. Der Computer war an. Schnell tippte sie „Mellowien“ in das Suchfeld und durchforstete das Internet. Keine Ergebnisse. Sie versuchte es noch mit ein paar weiteren Schreibweisen: Melowien, Melluvien, Mellovien. Nichts.

 

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6. Das Klopfen

Nächtlicher Besuch

 

Flora lag im Bett. Sie hatte sich das Loch im Rasen noch mehrmals angesehen und war es mit ihren Fingern nachgefahren. Es war ganz glatt und so tief, wie es ein, aus großer Höhe heruntergefallener, Flugstein hinterlassen hätte. Dennoch zweifelte sie inzwischen daran. Wahrscheinlich hatte sie doch nur einen lebhaften Traum gehabt. Und das Loch? Vielleicht hatten sie einen Kieselstein beim Spielen hineingetreten, den Papa später beim Rasenmähen entfernt hatte? Flora drehte sich im Bett hin und her. Sie hasste kaum etwas mehr als Ungewissheit!

„Flora! Mach das Licht aus!“, rief ihre Mutter.

„Jaha!“, rief Flora.

„Das Licht ist ja immer noch an!“, rief Mama kurz darauf.

„Jaha!“, antwortete Flora,

„Hast du eigentlich die Zähne schon geputzt?“

„Klar!“

„Soll ich nachsehen?“

„Nö!“

„Also hast du oder hast du nicht?“

„Was denn?“

„Na, die Zähne geputzt?“

„Hab ich, hab ich doch gesagt!“

„Ich muss also nicht nachschauen?“

„Also gut, ich geh ja schon!“, antwortete Flora mürrisch. Man konnte es ja mal versuchen!

Als Flora zurück in ihr Zimmer kam, saß Mama schon an ihrem Bett.

„Was ist denn los mit dir, mein Schatz?“

„Weiß nich’.“

„Du scheinst mir in den letzten Tagen irgendwie bedrückt zu sein! Was geht dir denn durch den Kopf? “

„Nichts.“

„Wollen wir mal hoffen, dass du nichts ausbrütest. Ich hole gleich das Fieberthermometer!“

„Neee, echt nicht.“

„O.k., du weißt, wenn’s was ist, wobei ich dir helfen kann, meldest du dich, ja?“

„Mach ich, versprochen.“

„Na dann, gute Nacht, Spatz.“

„Gute Nacht, Mama. – Hab dich liehieb.“

„Ich dich auch! Schlaf gut und träum was Schönes!“

Mama schloss die Tür hinter sich.

Fast wäre es Flora am liebsten gewesen, wenn alles nur ein Traum gewesen wäre. Dann hätte sie ihren Eltern davon erzählen können und gemeinsam hätten sie sich weitere tolle Geschichten ausgedacht. Papa wäre natürlich der Fledergleiter gewesen, auf dem Flora dann durch den Garten geritten wäre. Aber jetzt plagte sie die Frage, ob Lluna jemals wieder auftauchen würde.

Konnte man sich eigentlich schon als Freunde bezeichnen, wenn man nur kurze Zeit miteinander verbracht hatte? War es die Dauer oder die Intensität der gemeinsamen Zeit, die einen zu Freunden machte? Denn intensiv war ihr erstes Treffen allemal gewesen!

Toll, dieser Flederflieger. Wie gerne würde sie selbst einen besitzen! Ein magischer Flugstein! Wo mochte Lluna jetzt wohl sein? Und wo kam sie eigentlich wirklich her? Mellovien gab es jedenfalls nicht. Und die seltsame Kleidung? Ich bin doch sonst so clever! Warum habe ich sie nicht darauf festgenagelt?

„Denk, denk, denk!“, flüsterte Flora und trommelte mit den Fingern ihrer linken Hand an ihre Stirn. Je mehr sie nachdachte, desto müder wurde sie. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.

Es war etwa elf Uhr, als das Licht im gesamten Haus ausging und eine halbe Stunde später schliefen wirklich alle, bis auf Alfred, der in seinem Käfig nach Joghurtdrops suchte.

Etwa gegen halb eins wachte Flora auf. Hatte sie ein Klopfen geweckt? Sie war sofort hellwach! Da klopfte es wieder leise an ihr Fenster. Ihr Zimmer lag doch im ersten Stock! Lluna und der Fledergleiter, schoss es ihr durch den Kopf.

Sie schlüpfte unter der Bettdecke hervor und schlich sich zum Fenster. Mit einem lang gezogenen „Ratsch“ zog sie das Rollo hoch und lauschte sofort Richtung Zimmertür, ob auch ja niemand aufgewacht sei. Gott sei Dank! Im Haus blieb alles still.

Flora starrte in die Nacht hinaus. Hatte sie sich getäuscht? Sie konnte niemanden entdecken. Leise öffnete sie das Fenster und lehnte sich so weit es ging hinaus, um auch in den Vorgarten zu sehen. Keiner da!

Sie zog den Kopf wieder ein und wollte gerade das Fenster schließen.

„Na, das hat aber gedauert!“, sagte eine vertraute Stimme direkt über ihr. Flora rutschte vor Schreck vom Fensterbrett.

„Mann, hast du mich erschreckt!“ Von oben schwebte Lluna auf ihrem Fledergleiter herunter und blieb direkt vor Floras Fenster in der Luft stehen. Die Kraft des Flugsteins verlieh dem Gleiter den nötigen Auftrieb. Flora freute sich, Lluna zu sehen, aber anmerken lassen wollte sie es sich nicht.

„Was willst du denn schon wieder hier?“

„Ich kann ja wieder gehen!“

Flora dachte kurz nach.

„Kommt ja überhaupt nicht in Frage!“

„Ach?“

„Immerhin hast du immer noch meinen Stein!“

„Diese Nummer schon wieder?“

„Nö, war nur Quatsch, komm schon rein!“

Flora grinste von einem Ohr zum anderen. Lluna grinste zurück, band ihr Fluggerät am Fenster fest und kletterte herein.

Als Flora Lluna betrachtete, stellte sie fest, dass Lluna immer noch genau die gleichen Sachen trug wie bei ihrem letzten Zusammentreffen und sie selbst hatte wieder den albernen Frottee-Pyjama an.

Lluna schaute sich neugierig in Floras Zimmer um. Rosarote Wände (ein Überbleibsel aus Floras Prinzessinnen-Phase), heller Holzfußboden, weiße Schränke, ein Schreibtisch, ein Stuhl auf Rollen, ein weißes Bett und kuschelige Bettwäsche. Das Bett sah wirklich einladend aus. Lluna hatte die letzte Nacht kaum geschlafen.