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Psycho – USA 1960
Regie: A. Hitchcock
Paramount Pictures/AIbum/akg-images

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One Flew Over the Cuckoo‘s Nest – USA 1975
Regie: M. Forman
United Artists/Album/akg-images

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The Silence of the Lambs – USA 1991
Regie: J. Demme
Orion Pictures/Album/akg-images

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Eternal Sunshine of the Spotless Mind – USA 2004
Regie: M. Gondry
Focus FeatureslDavid Lee/Album/akg-images

5. Vorlesung
Die Heilung der Seele im Kino: Liebe statt Technik?

Psychotherapie auf der Leinwand und Konsequenzen für die Praxis

Wenn im Film die Persönlichkeit, der Therapeut als Mensch, so viel wichtiger ist als die angewandte Technik oder Theorie, so sollte man vermuten, die Persönlichkeitseigenschaften des Therapeuten seien ein entscheidender Indikator für die Wirksamkeit seiner Arbeit. Dies ist allerdings nicht so! Interessanterweise kann dieselbe Eigenschaft eines Therapeuten im Film seine Arbeit hochgradig effektiv, aber auch nutzlos oder sogar schädlich machen – entscheidend dafür ist die prinzipielle Rollenausrichtung, ob eben dieser Therapeut als „guter“ oder „schlechter“ Heiler dramaturgisch verwendet wird.

So kann betont aktives Vorgehen eines Therapeuten ihn als effektiven, sorgenden und behutsamen – und damit erfolgreichen – Arzt auszeichnen; genauso gut kann diese Aktivität als manipulativ bis kriminell gezeigt werden. Ein skurril-exzentrisches Verhalten kann ihn als menschlich, in seiner Fehlbarkeit liebenswert charakterisieren, kann ihn aber auch als lächerlichen Neurotiker zur Karikatur werden lassen. Ein emotionaler Therapeut kann als leidenschaftlich und einfühlsam und dadurch wirksam gezeichnet werden, seine Emotionalität und Passion kann aber auch auf eine für seine Patienten gefährliche Psychose hindeuten … Die Darstellung eines Psychotherapeuten als sexuell aktiv kann ihn zur oben oft beschriebenen „Liebesheilung“ prädestinieren, im schlechten Fall aber kann er dadurch zum geilen, missbrauchenden Ausbeuter seiner Patienten werden.

Man könnte noch weitere Adjektive mit identischem Ergebnis durchspielen: Die Charaktereigenschaften des Protagonisten erlauben keine Prognose darüber, ob seine Therapie im Film effizient oder wirkungslos sein wird.

Es gibt allerdings sehr wohl gleichbleibende narrative Muster, die bereits ein Jahrhundert überdauern und uns diese Frage beantworten können: Was sind die Charakteristika einer gelungenen Psychotherapie im Film?

  1. Die erfolgreiche Kur ist im Film fast immer kurz und kathartisch! In einem heroischen Ringen – meist in einer entscheidenden Therapiestunde – gelingt dem Patienten gemeinsam mit seinem Therapeuten der „Durchbruch“.
  2. Der Durchbruch wird erreicht durch das Bewusstmachen eines meist monokausalen und real erlittenen Traumas in der Geschichte des Patienten (meistens in seiner Kindheit). In detektivischer Suche wird dieses Trauma aufgespürt, bewusst gemacht – oder oft sogar nochmals erlebt beziehungsweise agiert. Durch diese „Beschwörung“ wird das Trauma-Monster ein für alle Mal beseitigt, sodass der Patient in der Zukunft keine Energie an die nun überflüssigen Symptome verschwenden muss und alle Kraft seiner Persönlichkeitsentwicklung, seinen Beziehungen oder seiner Arbeit widmen kann.
  3. Dies gelingt dem therapeutischen Paar eher durch gemeinsames Agieren als durch Verbalisieren. Oft suchen auch Analytiker und Patient gemeinsam den Ort des traumatisierenden Geschehens noch einmal auf, dort wird der Patient von mächtigen Gefühlen durchflutet, und plötzlich „sieht“ er, „wie es wirklich war“. Dies ist dann keine gemeinsam hergestellte „narrative“ oder subjektive Wahrheit, die weiter bearbeitet werden müsste: Es ist vielmehr die eine definitiv gültige Wahrheit.
  4. Dieser emotional erschütternde Durchbruch gelingt meist nicht durch das dünne, anämische Rinnsal der Übertragungs- und Gegenübertragungsgefühle wie in „normalen“ Therapien, sondern nur durch wirkliche Liebe! Und zwar durch gegenseitige Liebe zwischen Patient und Therapeut, die auch zur mutuellen Rettung führt. Wirklich wirksam kann hier also Therapie nur werden als Rettung durch Liebe. Daher ist die Bedingung für den Erfolg der Psychotherapeuten im Kino immer die Grenzüberschreitung, die Regelverletzung, die ausagierte Gegenübertragungsliebe.
  5. Bezeichnenderweise ähneln die zu Beginn der Filme als Negativfolie gezeigten „normalen“ Therapien oft viel eher unserer klinischen Realität als die verführerischen Bilder von Katharsis und Liebe im Happyend!

Die Wünsche hinter diesen Bildern sind nicht schwer zu erraten. Was aber wird in diesen seit vielen Jahrzehnten fast unverändert gleich bleibenden filmischen Narrativen verleugnet?

Verleugnet und abgewehrt wird im Film primär jeglicher Arbeitscharakter von Therapie: Sowohl therapeutische Arbeit als mühevoller Weg der Symbolisierung (von körperlicher Empfindung zum Bild und zum Gedanken) wird negiert als auch die jeder Therapie leidvoll inhärente Anerkennungsarbeit bezüglich des Machtgefälles zwischen Therapeut und Patient, ja letztlich bezüglich jeglicher Differenz und Getrenntheit der beiden Partner.

Diese Verleugnung ist natürlich nicht nur der dramaturgischen Notwendigkeit geschuldet: In einem Film von neunzig Minuten Dauer kann die mühevolle Realität hunderter Therapiestunden nicht adäquat gezeigt werden. Aber Zweck dieser Verleugnung ist es auch, die Fortdauer psychischer Konflikte und Ambivalenzen zu negieren: Falls im Kino geheilt wird, dann ein für alle Mal! Negiert und entwertet wird in diesen Bildern von Therapie zudem die protektive Funktion der (nicht nur sexuellen) Abstinenz des Therapeuten für seine Patienten.

Ganz zentral scheint mir jedoch Folgendes zu sein: Es wird verleugnet, wie wichtig die innere, subjektive Phantasiewelt des Patienten mit all seinen Ängsten und Wünschen im Vergleich zur äußeren, objektiven Realität ist: Wir hören und sehen viele Phantasien und Ängste in der Gegenwart des Patienten, die ihn ja schließlich in die Therapie gebracht haben. Aber diese Phantasien werden sowohl in Richtung Vergangenheit auf Realität zurückgeführt (das eine, immer exogene Trauma), als auch in der ganz nahen Zukunft, noch vor Ende der Filmhandlung, in Realität verwandelt – durch das Ausagieren der Liebeswünsche und Phantasien der Patienten mit ihren Behandlern! Die Feststellung Sigmund Freuds (schon 1897 im Brief an Wilhelm Fließ), „dass es nämlich im Unbewussten ein Realitätszeichen nicht gibt, das es uns erlaubt, die Realität von der mit Affekt besetzten Fiktion zu unterscheiden“127, wird im Kino konsequent und souverän verleugnet!

Dadurch werden allerdings auch die Eigenverantwortung des Patienten und sein höchstpersönlicher Beitrag zur Erzeugung und Aufrechterhaltung seiner Symptome negiert: Die Ätiologie jeglichen psychischen Leidens im Kino ist praktisch immer eine exogene. Die gegenteilige Position, dass nämlich unser Unbewusstes mächtig genug ist, um Krankheit und immenses Leid herbeizuführen, war und ist wohl für Hollywood zu verstörend.

Möglichkeiten der „Verwendung“ von Filmen in Psychotherapien

Die folgenden Überlegungen beziehungsweise vorgestellten Konzepte beziehen sich auf Filme im Allgemeinen und nicht speziell auf „Therapeutenfilme“.

Fast alle Patienten werden wohl irgendwann in einer Therapiestunde einen Film erwähnen. Wenn dieser bekannt genug ist, wird auch der Therapeut ihn kennen, zumindest aber von ihm gehört oder gelesen haben. Wie kann oder soll man mit diesem Material des Patienten umgehen? Prinzipiell wird es natürlich so viele verschiedene Umgänge wie „therapeutische Paare“ geben: Vorentscheidend ist auch hier neben der Persönlichkeit des Therapeuten seine oder ihre theoretische Ausrichtung. Am einen Ende des Spektrums steht die absolute Priorität der Abstinenz im Sinne der klassischen Psychoanalyse: Für mich wird diese am besten verdeutlicht durch eine apodiktische Bemerkung der großen alten Dame der englischen neo-kleinianischen Psychoanalyse, Betty Joseph, in einer Falldiskussion:

„Wenn der Patient Ihnen von Hamlet erzählt, dann müssen Sie sich als erstes daran erinnern, dass Sie niemals Hamlet gelesen haben!“ 128

Selbst viele Psychoanalytiker würden diese Position wohl heute nicht mehr befolgen wollen – wenn sie es denn überhaupt könnten … Von diesem „klassischen“ Pol gibt es hunderte Zwischenpositionen bis zum anderen Ende des Kontinums: Dieses wird für mich verkörpert durch die extrem pragmatische und der Positiven Psychologie von Martin Seligman nahestehende Position von John und Jan Hesley. In ihrem in den USA bekannten Buch Rent two films and let’s talk in the morning129 verwenden sie bewusst ausgewählte Filme für ihre Patienten als „affektives Lehrmittel“, das sie analog zu einem Medikament „verschreiben“ (dazu später mehr).

Nach längerer Beschäftigung mit dem Thema sowohl in Therapien als auch in Supervisionen möchte ich als Ausgangspunkt für den therapeutischen Umgang mit „Filmmaterial“ eines Patienten die Anwendung der Objektbeziehungstheorie (in diesem Fall nach Otto Kernberg) vorschlagen:

Unser psychisches Leben wird konstituiert durch unendlich viele Mikroeinheiten. Sie bestehen jeweils aus einer Objektrepräsentanz und einer Selbstrepräsentanz, die durch einen Affekt miteinander verbunden sind. Diese Partikel kann man verstehen als Spuren, als Erinnerungsspuren auch sehr früher Interaktionen und unserer Phantasien darüber. Wir erinnern also nicht primär isolierte Objekte, sondern Szenen.130 Nun sind wir gewohnt, beim Begriff der Objektrepräsentanz, des „inneren Objekts“ primär und oft ausschließlich an die „significant others“, also an Menschen zu denken, die uns wichtig waren oder sind (Eltern, Geschwister etc.), und an deren Wichtigkeit für spätere Übertragungsprozesse.

Objekte aber müssen keine Gesichter haben. Ein inneres Objekt, eine mit Bedeutung aufgeladene Erinnerungsspur kann sich auch auf eine Landschaft beziehen, auf ein Tier, auf einen Geruch – und natürlich kann es auch ein „kulturelles Objekt“ sein, eine bedeutungsvolle Erinnerung an ein Buch – oder an einen Film. Literaturkenner denken hier sofort an die berühmte „Madeleine“-Szene von Marcel Proust. Am Beginn der mehrere tausend Seiten langen „Suche nach der verlorenen Zeit“131 taucht ja durch den Geruch des in den Tee eingetauchten Gebäcks die gesamte Kindheit und Geschichte des Erzählers als „mémoire involontaire“, d. h. unfreiwillige Erinnerung, auf. Auf einem bescheideneren Niveau kann auch für uns die Erinnerung an ein Buch, ein Musikstück oder eben auch einen Film die affektive Gesamtsituation wieder ins Gedächtnis rufen, in der wir damals eben diesen Film gesehen haben …

Wenn nun ein Patient in der Stunde über sein Erleben eines Films erzählt, stellt er uns eines seiner inneren Objekte vor. Im Unterschied aber zum Beispiel zu seiner Objektrepräsentanz der Mutter oder des Vaters ist dieses Filmobjekt eines, von dem vielleicht auch der Therapeut eine (natürlich differente) Objektrepräsentanz im eigenen Bewusstsein hat. Falls man jetzt nicht sofort den Abstinenzimperativ nach Betty Joseph („Forget Hamlet!“) befolgt, kann man diese beiden unterschiedlichen Repräsentanzen eines „realen“ Objekts natürlich benutzen, um sowohl vom Patienten und seiner „Bearbeitung“ der äußeren Realität als auch über die Übertragungs-/Gegenübertragungssituation durch die Differenz der beiden Repräsentanzen viel zu erfahren.

Wie bei anderen aktuellen Beziehungserfahrungen unserer Patienten ist ihr Umgang damit, ihre Chance zur Nutzung dieses Filmerlebens zur emotionalen Erfahrung und zur Reflexion über ihr Leben höchst unterschiedlich. Während manche Klienten mit weniger ausgeprägter Symbolisierungsfähigkeit Filme fast analog zu Tranquilizern benutzen, indem sie ihre Filme immer wieder ähnlich wie Fertiggerichte als „Fertigtagträume“ in den DVD-Player schieben, ist im Idealfall auch etwas ganz anderes möglich:

Wie alle kulturellen Objekte können auch Filme als Verwandlungsobjekte im Sinn des Psychoanalytikers Christopher Bollas fungieren. Bollas entwickelte seinen Begriff des „transforming object“132 primär entwicklungspsychologisch. Durch die Affektspiegelung und affektive Feineinstellung in der intensiven dyadischen Beziehung zwischen Mutter und Kind kann die Mutter ihr Kind „verwandeln“ im Sinne einer zweiten, psychischen Geburt, kann ihm den symbolischen Raum öffnen. Sie ist also für das Kind ein „Verwandlungsobjekt“. Analog dazu skizziert Bollas auch die Wirkung einer geglückten Psychotherapie. Als ebenso wichtig und chancenreich beschreibt er aber das intensive, affektive Erlebnis beim Lesen eines Buches, Hören eines Musikstücks oder Sehen eines Films für uns Erwachsene als „verwandelnd“ im Sinne der Erweiterung der emotionalen Erlebnisfähigkeit. Ein solches Verwandlungserlebnis wird uns wohl auch im Kino eher selten zustoßen – trotzdem bleibt die Parallelisierung der Mutter-Kind-Beziehung, der Psychotherapie und des affektiven Erlebens von Kultur interessant.

Viel häufiger dienen Filme und die Beziehungen der Darsteller in den Filmen speziell jüngeren Patienten zur „Probe-Identifizierung“. Analog zum Denken als Probehandeln, also mit Verschiebung kleinerer Energiequanten oder Libidomengen, gibt es beim Filmerlebnis die Möglichkeit des „Probe-Fühlens“. Es wird eine Bühne zum vorsichtigen Ausprobieren neuer Verhaltensweisen, Beziehungs-Anbahnungen und vielleicht auch zur Einübung alternativer Strategien zur Problemlösung geboten. Eine frühe Form davon sehen wir bereits bei kleinen Kindern, die ihre Lieblingsfernsehserien oder Bilderbücher begeistert nachspielen.

Für Erwachsene allerdings ist eine mittlere emotionale Distanz zum gesehenen Film Vorbedingung für dessen erfolgreiche emotionale „Verwendung“. Wenn uns die Kinobilder zu nahe gehen, uns überwältigen, wird die Abwehr hochgefahren, und neue Erfahrungen werden erschwert oder sogar blockiert. Wenn umgekehrt (aus formalen oder inhaltlichen Gründen) ein Film uns kaum oder gar nicht affektiv berühren kann, uns also zu fern bleibt und uns langweilt, gibt es ebenfalls kaum Veränderungspotenzial im positiven Sinne. Nur die mittlere emotionale Distanz ermöglicht die „Regression im Dienste des Ich“, die der Psychoanalytiker und Kunsthistoriker Ernst Kris bereits 1952 als entscheidende Bedingung einer produktiven, bereichernden Rezeption von Kunstwerken und Populärkultur beschrieb.133 Bei einer solchen produktiven Rezeption kann im Idealfall ein Film als „ready made container“ im Sinne von Salman Akhtar uns verändern, kann uns einen „vorgefertigten Behälter“ zur Aufnahme und sogar Bewusstmachung bisher dem Bewusstsein nicht zugänglicher Gefühle bieten.134

Wenn in einer therapeutischen Situation die Patientenerzählung einer Filmszene wohlwollend-interessiert vom Therapeuten aufgenommen wird, kann man die weitere gemeinsame Beschäftigung mit dieser Erzählung auch als „Mikro-Triangulierung“ beschreiben: In vielen Fällen ist die Angst des Patienten vor einem direkten Beschreiben seines eigenen Affekts noch zu groß (oder dieser Affekt noch zu wenig bewusstseinsfähig), aber im Sinne der oben skizzierten Probe-Identifizierung kann der Patient jetzt über die emotionale Reaktion eines anderen, seines Identifikations-Stellvertreters im thematisierten Film, leichter nachdenken und nachfühlen: Zwischen Patient und Therapeut ist hier etwas Drittes zwischengeschaltet, die dyadische Beziehung ansatzweise gelockert, im Idealfall kann eine neue Erfahrung – durchaus auch bezüglich der Übertragungs-/Gegenübertragungssituation – ausprobiert werden.

Neben dem hier skizzierten psychoanalytisch orientierten, vorsichtigen Umgang mit „Filmmaterial“ in der Therapie gibt es natürlich viele andere therapeutische Ansätze mit deutlich aktiverem und direktivem Umgang mit Filmen: Ein solcher extrem pragmatischer Ansatz der „Spielfilmtherapie“ ist das bereits erwähnte „Rezeptbuch“ der Therapeuten John und Jan Hesley, das bereits im Titel das Programm vorgibt: Rent two films and let’s talk in the morning135.

Ein Fall in seiner Praxis brachte John Hesley zum Nachdenken über das therapeutische Potenzial von Spielfilmen: Ein verschlossener und affektiv kaum zugänglicher Patient von ihm hatte in der Übertragung seine Vater-Problematik nicht bewusst erleben können, dementsprechend war die Therapie auch nach Einschätzung von Hesley steckengeblieben. Als der Patient dann aber mehrmals FIELD OF DREAMS (eine für mich eher kitschige Vater-Sohn-Geschichte mit Kevin Costner in der Hauptrolle) angesehen hatte, war er von der Geschichte tief bewegt und konnte die Parallele zu seinem eigenen Leben spüren – die Therapie profitierte ungemein davon! Hesley hatte seinem Patienten den Film, den er selbst kurz davor gesehen hatte, in seiner Ratlosigkeit wegen des Therapiestillstands empfohlen.

Davon ausgehend kamen er und seine Frau auf die Idee „to use movie characters as co-therapists“136. Speziell für jene Patienten, die in ihrer Praxis über die Gleichförmigkeit und emotionale Flachheit ihres Lebens klagten oder aber so etwas wie intensive Emotionen kaum mehr spüren konnten, bauten sie hier auf die emotionale Kraft großer Spielfilme, die überlebensgroße Affekte „erzeugen“. Sie zitieren zustimmend Kenneth Gergen, der den emotionalen „Impact“ von Filmen (im Vergleich zum Kontakt mit realen Mitmenschen) auf die Zuschauer verglich: Für viele Zuschauer würden die Filmbeziehungen die intensivsten emotionalen Erfahrungen der ganzen Woche darstellen …137

In bewusster Analogie zu verschreibungspflichtigen Medikamenten haben sie eine „Film-Hausapotheke“ von über hundertfünfzig Hollywood-Streifen zusammengestellt, die fast alle zu erwartenden Konflikte des durchschnittlichen amerikanischen Lebens abdecken. Schon in ihren Erstgesprächen schließen sie Fragen nach der Bedeutung des Kinos und der Lieblingsfilme in ihre Anamnese und Indikationsstellung ein. Wenn das Kino im kulturellen Leben ihrer Patienten einen genügend großen Raum einnimmt, kann der Patient auf den Einsatz des Films als psychotherapeutische Technik vorbereitet werden. So wird in einer „Spielfilm-Verschreibung“ der wirksame Film zum passenden Zeitpunkt gesucht. Jener Film, der die problematischen oder traumatischen Lebensbereiche des Patienten thematisiert, wird als „Hausaufgabe“ zwischen den Therapiestunden, also als DVD zum Anschauen daheim (idealerweise im Familienkreis) empfohlen. In der nächsten Stunde wird dann über die Eindrücke des Patienten vom Film und über die Parallelen zu seinen Kernkonflikten gesprochen.

Die Autoren versichern, dass der Einsatz von Filmen in der Therapie Hoffnung und Ermutigung ermöglicht sowie das „Reframing“ von Problemen, ein vermehrtes Angebot von Rollenmodellen und auch die Förderung des Ausdrucks von Emotionen. Darüber hinaus haben sie eine Verbesserung der therapeutischen Kommunikation durch ihre Art des Filmeinsatzes und eine Erleichterung der Reflexion über Werte und Prioritäten in der Therapie festgestellt.

Für die Hesleys sind Filme „therapeutische Metaphern“, die es den Menschen ermöglichen, sich von den Ereignissen ihres Lebens und ihren eigenen Erfahrungen hinreichend zu distanzieren und „Protagonisten in der Erzählung ihres eigenen Erlebens“ zu werden. Dadurch wird Problemlösung geübt und Einsicht gefördert. Im Idealfall kann zuvor nicht bewusstseinsfähiges Material durchdacht werden, es kann „freundlich an die Tür des Bewusstseins klopfen und sagen: Hier bin ich“. In der Definition der Hesleys ist eine Metapher eine „Geschichte, die Menschen erlaubt, den Spalt zu überbrücken zwischen dem was ist und dem was sein sollte“.138

Es ist leicht, diesen Ansatz zu belächeln, da das Buch meinem (und wohl nicht nur meinem) Klischee von „amerikanisch“ entspricht – im Sinne von pragmatisch, lösungsorientiert und fast schmerzhaft optimistisch. Der therapeutische Nutzen dieser bewusst und planmäßig eingesetzten „Angebote zur Probe-Identifizierung“ ist für mich jedoch durchaus nachvollziehbar. Entscheidend ist aber die weitere Verarbeitung dieser Erfahrung in der Therapie (und nicht nur das einmalige affektive „Durchreißen“ analog zum kathartischen Erleben). Das Durcharbeiten wird wohl auch den Hesleys und ihren Patienten nicht erspart bleiben.

In ihrer langen „Verschreibungsliste“ von über hundertfünfzig Filmen finden sich auch viele der in diesem Buch vorgestellten Streifen, die eine Psychotherapie thematisieren. So wird zum Beispiel THE PRINCE OF TIDES empfohlen für Paare mit Ehekonflikten, für Männer, die mit ihren Emotionen in Berührung kommen sollen, sowie für Therapeuten zur Diskussion ethischer Fragen …

Auch GOOD WILL HUNTING wird empfohlen – speziell für Patienten mit einer Missbrauchsanamnese. Allerdings warnen Hesley & Hesley in diesem Fall vor einer „Nebenwirkung“. Der Film zeige eine „unbalanced view“ von Psychotherapie! Aber eben diese verzerrte Darstellung des Therapeuten machte diesen Film zum Thema auch für jene Therapeuten, die jegliche „Verschreibung“ eines Films für völlig unvereinbar mit ihrer psychoanalytischen Grundhaltung betrachtet hätten. Aus seiner Erfahrung als Supervisor von psychodynamisch orientierten Therapeuten berichtet Glen Gabbard, dass in zahlreichen Therapien Patienten beeindruckt von diesem Film waren. Zumindest auf der bewussten Ebene wünschten sie sich, dass ihre realen Therapeuten weniger distanziert und abstinent, vielmehr warmherzig und „berührbar“ beziehungsweise sogar sie umarmend wie eben Robin Williams im Film sein sollten! Gabbard beschreibt eine eindeutige Spaltung in der Übertragung zwischen den realen Behandlern und dem idealisierten Therapeuten speziell in diesem Film: Wenn nur ihre eigenen Therapeuten so (be-)handeln würden wie Robin Williams im Film, wäre die Therapie viel wirksamer …139

Auch im deutschsprachigen Raum berichten mehrere Analytiker davon, dass die wichtige Rolle eines Films in der Therapie sie zur intensiveren Beschäftigung mit eben diesen Filmen geführt hätte.140

Lutz Wohlrab (2006) empfiehlt in seiner Einleitung zu einer Sammlung psychoanalytischer Film-Interpretationen, Filme auf der Couch, sogar explizit eine Bereitschaft der Therapeuten, sich selbst einen Film anzuschauen, der für ihren Patienten wichtig war, um die unbewussten Wünsche und Identifikationsneigungen eben dieses Patienten genauer kennenzulernen. Umgekehrt könnte auch der Analytiker selbst einen Film empfehlen, der ihm für einen bestimmten Patienten relevant vorkommt.141 In Filme auf der Couch werden auch mit EMPATHY und INTIME FREMDE zwei Filme zum Thema Psychotherapie interpretiert und bezüglich des Realismus in ihrer Darstellung von psychotherapeutischen Behandlungen befragt.

Die eindrückliche Wirkung von filmischen Darstellungen seelischer Erkrankung und ihrer Behandlung – sei sie nun „balanced“ oder nicht – führte auch zum systematischen Einsatz von Filmen in der Ausbildung von Psychiatern und Therapeuten. Das Standardwerk Movies and mental illness ist wegen seines großen Erfolges bereits in der dritten Auflage erschienen.142 Die Autoren benutzen mehrere hundert Filme als „Lehrmittel“ zur Vermittlung und Verdeutlichung aller Diagnosen des DSM-IV beziehungsweise des ICD-10. In dem Kapitel „Treatment“ stellen sie die filmische Darstellung verschiedenster Therapiemethoden von analytisch orientierter Psychotherapie bis zur Elektrokrampftherapie vor. Die besprochenen Filme werden mit einem System von einem bis fünf Sternchen bewertet nach ihrem künstlerischen Wert und vor allem auch nach der Übereinstimmung der dargestellten Erkrankungen beziehungsweise ihrer Therapien mit der psychiatrisch-therapeutischen Wirklichkeit. Der Schwerpunkt liegt allerdings eindeutig auf der Vermittlung von diagnostischem Wissen und der Psychopathologie. Der psychodynamische Gesichtspunkt ist für die aus dem Umkreis der Positiven Psychotherapie stammenden Autoren kaum relevant.

Trotzdem kommen die Autoren, ebenso wie der Psychoanalytiker Glen Gabbard, zu dem Schluss, dass Filme und Fernsehen – ob wir es nun wollen oder nicht – entscheidend an der Ausbildung der öffentlichen Wahrnehmung sowohl von psychischer Erkrankung als auch deren Behandlung beteiligt sind.143

Movies and mental illness beeindruckt durch die Fülle der über dreihundert „angebotenen“ Filme und zahlreich verwendeten Dialogausschnitte aus den Filmbeispielen. Ohne den enzyklopädischen Anspruch und die Materialfülle des amerikanischen Werkes, jedoch mit vergleichbarer Zielrichtung präsentiert sich ein deutschsprachiges Pendant: Frankenstein und Belle de Jour.144 Auch hier werden alle relevanten ICD-10-Diagnosen an größtenteils bekannten Filmbeispielen abgehandelt, ebenfalls vorwiegend mit didaktisch-diagnostischem Anspruch. Das affektintensive „Lehrmittel“ Film wird zum kontrollierten und wohldosierten Einsatz via DVD empfohlen. In Kleingruppendiskussionen und durch Zeigen von Filmausschnitten in Vorlesungen können die gewünschten Lerninhalte kognitiv vermittelt werden, gefördert durch die Macht der Bilder.

Das klassische Modell des Filmerlebens im dunklen Kinosaal im weichen Polstersessel, zugleich allein und emotional gleichgeschaltet mit hundert anderen, bietet etwas qualitativ anderes: In der „Kinohöhle“ spüren wir die gleichzeitige Einladung zu Regression und Identifikation mit den überlebensgroßen Gefühlen auf der Leinwand. Dabei überlagern sich immer zwei Filme: Der von allen Zuschauern gesehene „objektive“ Film ist nur das Rohmaterial für die individuelle subjektiv-affektive Nutzung. Was geschieht nun beim Zusammentreffen, bei der Paarung der äußeren Filmbilder (Sinnesreize) und unserer inneren Beziehungsbilder? Schon 1923 bemerkte dazu Sigmund Freud: „Das Denken in Bildern ist also ein nur sehr unvollkommenes Bewusstwerden. Es steht auch irgendwie den unbewussten Vorgängen näher als das Denken in Worten und ist älter als dieses.“145 Bilder und speziell unsere inneren Bilder stehen dem Primärprozess nahe: Hier dominiert der Affekt über die Ratio, die Gleichzeitigkeit der – oft widersprüchlichen – Gefühlsregungen steht im Vordergrund gegenüber dem linearen, zielgerichtet-kausalen Denken. Dieses ist das Primat des Sekundärprozesses, charakterisiert durch das Wort. So gesehen steht das Bild für eine frühere, weniger „reife“ Stufe der Symbolisierung – die aber dem sinnlichen Erleben noch näher, dadurch auch lebendiger und weniger „gerichtet“ als das Denken in Worten ist.

So erklärt sich auch der Tagtraumcharakter unserer privaten „director’s cuts“, unserer Aufladung der kollektiv vorgegebenen Bilder mit höchst individueller Bedeutung. Kulturell formatierte Leitbilder von „gelungener“ Beziehung treffen auf vorbewusste Wunschszenarien in unserem Kopf und bewirken ein affektives „Resonanzphänomen“. So können Filme als Katalysatoren, als mentale „Nahrungsmittel“, eine Ahnung von Lebendigkeit vermitteln. Dies gilt besonders für jene Patienten, die in der Therapie oft darüber klagen, dass sie im realen Leben kaum mehr intensive Gefühlsregungen spüren und die vielleicht kaum „klassische“ Symptome aufweisen, sich aber auch kaum mehr lebendig fühlen. Gerade für sie gilt die Beschreibung des Psychologen Ken Gergen:

„Filme können uns schnell und effektiv in Zustände von Angst, Wut, Traurigkeit, Romantik, Lust und ästhetischer Ekstase katapultieren – das alles oft innerhalb von zwei Stunden. Es ist unzweifelhaft, dass Film-Beziehungen viele Menschen mit den aufwühlendsten emotionalen Beziehungen einer durchschnittlichen Woche versorgen.“ 146

So können Filme „emotional vitalisieren“ und in einem sehr bescheidenen Sinn vielleicht auch therapeutisch helfen. Dadurch erscheint auch die Position eines berühmten Filmemachers wie Jean-Luc Godard gar nicht mehr so utopisch:

„Ich würde sagen, dass die Filme mir helfen, zu leben. Ich glaube, dass es nur wenige Filmemacher gibt, die Filme als Heilmittel oder Elixiere machen. Aber die Zuschauer gebrauchen sie dennoch in dieser Weise …“ 147

Von den Erinnerungsspuren dieser Filmeerlebnisse hören wir oft in Therapien: Im Idealfall können die Szenen dann – nochmals gebrochen durch die Linse der Übertragungs-/Gegenübertragungssituation – nachbearbeitet werden. Die vorbewussten Ängste und Wünsche – speziell Beziehungswünsche – können dem Therapeuten helfen, seinen Patienten besser zu verstehen. Wenn sich der Patient dadurch angenommen und verstanden fühlt, kann die „therapeutische Nachbearbeitung“ eines Films, können die Worte über die Bilder dazu führen, dass der Patient sein Verhalten und seine Sehnsüchte auch selbst besser verstehen kann. Nochmals mit den Worten von Jean-Luc Godard:

„Der Film hat so etwas Interessantes an sich: Er erlaubt einem nämlich, nicht zu wissen, aber zu sehen, um dann im Nachhinein zu wissen.“ 148

So kann die Verwendung von Filmeindrücken der Patienten die Schaukelbewegung, das therapeutische Oszillieren zwischen Primärprozess und Sekundärprozess, zwischen emotionaler Nähe und distanzierterem Nachdenken über die Emotionen fördern. Die Energie der Bilder kann als „Wärmestrom“ in Therapien genutzt werden.