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Titelseite

 

Noch vor dem Anfang war das Tor.
Und die fünf Torwächter … Kinder.
Vier Jungen. Ein Mädchen. Es steht geschrieben …
Die Nacht der unendlichen Dunkelheit bricht herein.
Das Tor wird sich öffnen.
Die Torwächter müssen zurückkehren.

DAS LAGERHAUS

Matt wusste, dass es ein Fehler war.

Er saß auf einer niedrigen Mauer vor dem Bahnhof von Ipswich. Es war sechs Uhr abends und der Pendlerzug aus London war gerade angekommen. Hinter ihm strömten die Fahrgäste aus dem Bahnhof. Auf dem Vorplatz wimmelte es von Autos, Taxis und Fußgängern. Die Ampel sprang von Rot auf Grün, aber der Verkehr kam trotzdem nicht voran. Eine Hupe ertönte und das nervtötende Geräusch hallte durch die feuchte Abendluft. Matt schaute kurz auf. Aber im Grunde waren ihm die Menschenmassen gleichgültig. Er gehörte nicht zu ihnen. Er hatte nie zu ihnen gehört und manchmal glaubte er, dass das auch nie der Fall sein würde.

Zwei Männer mit Regenschirmen hasteten vorbei und warfen Matt missbilligende Blicke zu, als hielten sie ihn für einen Schwerverbrecher. Die Art, wie er dasaß – breitbeinig und mit krummem Rücken –, in einem grauen Kapuzensweatshirt, einer formlosen Jeans und Turnschuhen mit ausgefransten Schnürsenkeln, ließ ihn irgendwie älter und gefährlicher als vierzehn wirken. Er hatte breite Schultern, einen kräftigen Körper und leuchtend blaue, intelligente Augen. Seine schwarzen Haare waren sehr kurz geschnitten. Man konnte sich gut vorstellen, dass er in fünf Jahren entweder Fußballspieler oder Model sein würde – oder auch beides.

Sein Vorname war Matthew, aber er selbst nannte sich immer nur Matt. Seit sein Leben aus den Fugen geraten war, hatte er auch seinen Nachnamen immer seltener erwähnt, bis er irgendwann gar nicht mehr richtig zu ihm zu gehören schien. Freeman war der Name, der im Schulregister und auf der Schulschwänzerliste stand und unter dem er beim Jugendamt bekannt war. Aber Matthew schrieb ihn nie auf und nannte ihn nur selten. Matt reichte vollkommen. Der Name passte zu ihm. Schließlich traten sich, seit er sich erinnern konnte, die Leute die Füße an ihm ab wie an einer Fußmatte.

Er beobachtete, wie die beiden Männer mit den Regenschirmen die Brücke überquerten und in Richtung Stadtzentrum verschwanden. Matt war nicht in Ipswich geboren. Man hatte ihn hierher geschleppt und er hasste den Ort. Es war nicht einmal eine richtige Stadt – dafür war es zu klein. Wenn es wenigstens den Charme eines Dorfs oder Marktfleckens gehabt hätte. Aber nein, Ipswich war im Grunde nur ein riesiges Einkaufszentrum mit denselben Geschäften und Supermärkten, die es überall gab. Man konnte ins öffentliche Schwimmbad gehen oder sich einen Film im Multiplex-Kino ansehen und für die, die es sich leisten konnten, gab es auch einen künstlichen Skihang und eine Kartbahn. Und das war es auch schon. Das Kaff hatte nicht einmal eine anständige Fußballmannschaft.

Matt hatte gerade mal drei Pfund in der Tasche, die er auf seiner Zeitungstour verdient hatte. Zu Hause hatte er weitere zwanzig Pfund, versteckt in einer Dose unter seinem Bett. Er brauchte Geld aus demselben Grund wie jeder andere Teenager in Ipswich auch: nicht nur weil seine Turnschuhe auseinanderfielen und seine Computerspiele hoffnungslos veraltet waren. Geld war Macht. Geld bedeutete Unabhängigkeit. Matt hatte weder das eine noch das andere und er war an diesem Abend hier, um es sich zu beschaffen.

Doch er bedauerte längst, dass er sich darauf eingelassen hatte. Es war falsch. Es war idiotisch. Warum hatte er nur Ja gesagt?

Er sah auf seine Uhr. Zehn nach sechs. Sie waren für Viertel vor verabredet gewesen. Er hatte lange genug gewartet. Matt sprang von der Mauer und ging auf den Ausgang zu. Doch schon nach wenigen Schritten tauchte ein älterer Junge wie aus dem Nichts auf und versperrte ihm den Weg.

„Du gehst schon, Matt?“, fragte er.

„Ich dachte, du kommst nicht mehr“, antwortete Matt.

„Wieso denn das?“

Weil du fast eine halbe Stunde Verspätung hast. Weil mir kalt ist. Weil auf dich noch nie Verlass war. Das alles hätte Matt gern gesagt, doch die Worte kamen nicht. Also zuckte er nur mit den Schultern.

Der andere Junge lächelte. Sein Name war Kelvin, und er war siebzehn, groß und dünn mit blonden Haaren, heller Haut und unzähligen Pickeln. Er trug teure Designerjeans und eine weiche Lederjacke. Auch als er noch zur Schule gegangen war, hatte Kelvin immer die besten Klamotten gehabt.

„Ich wurde aufgehalten“, sagte er.

Matt sagte nichts.

„Du willst doch nicht aussteigen, oder?“

„Nein.“

„Sei ganz cool, Matt. Das wird ein Spaziergang. Charlie hat mir erzählt …“

Charlie war Kelvins großer Bruder. Matt hatte ihn nie kennengelernt, was nicht weiter verwunderlich war, denn Charlie saß im Gefängnis. Kelvin sprach nicht oft über ihn, aber es war Charlie, der von dem Lagerhaus gehört und Kelvin davon erzählt hatte.

Anscheinend lag es fünfzehn Minuten vom Bahnhof entfernt in einem Industriegebiet. Ein Lagerhaus voller CDs, Videospiele und DVDs. Erstaunlicherweise hatte es keine Alarmanlage und nur einen einzigen Wachmann, einen pensionierten Polizisten, der die meiste Zeit halb schlafend mit hochgelegten Füßen dasaß und eine Zeitung vor der Nase hatte. Charlie wusste das alles, weil ein Freund von ihm dort gewesen war, um irgendwelche Elektroarbeiten auszuführen. Charlie zufolge reichte eine aufgebogene Büroklammer, um reinzukommen, und dann konnte man beladen mit Zeug, das mindestens ein paar Hunderter brachte, wieder gehen. Es war total einfach – der Kram wartete nur darauf, dass ihn jemand mitnahm.

Deshalb hatten sie verabredet, sich hier zu treffen. Matt hatte zugestimmt, als Kelvin ihm davon erzählt hatte, aber eigentlich nur, weil er sicher war, dass Kelvin es ohnehin nicht ernst meinte. Die beiden hatten schon andere krumme Dinger gedreht. Unter Kelvins Anleitung hatte Matt im Supermarkt geklaut und einmal waren sie auch in einem fremden Auto herumgefahren. Aber Matt war klar, dass das, was sie jetzt vorhatten, viel schlimmer war. Es war Einbruch. Ein richtiges Verbrechen.

„Bist du sicher, dass wir das tun sollen?“, vergewisserte sich Matt.

„Klar bin ich sicher. Wo liegt das Problem?“

„Und wenn wir erwischt werden?“

„Werden wir nicht. Charlie sagt, dass die nicht einmal Videoüberwachung haben.“ Kelvin stellte einen Fuß auf die Mauer. Matt sah sofort, dass er nagelneue Nikes trug. Er hatte sich schon oft gefragt, wie Kelvin sich die teuren Sachen leisten konnte. Jetzt wusste er es wohl.

„Komm schon, Matt“, drängte Kelvin. „Was ist denn schon dabei?“

Kelvin sah ihn abschätzig an und in diesem Moment wurde Matt klar, dass er keine Wahl hatte. Wenn er nicht mitging, würde er seinen einzigen Freund verlieren. Als er damals auf die neue Schule in Ipswich gekommen war, hatte Kelvin sich um ihn gekümmert. Die anderen Schüler hatten ihn für einen Spinner gehalten oder versucht, ihn zu quälen. Doch Kelvin hatte ihn beschützt. Und es war sehr praktisch, dass Kelvin nur ein paar Türen von Matt entfernt wohnte. Wenn es zu Hause bei seiner Tante unerträglich wurde, wusste Matt immer, wohin er gehen konnte. Außerdem musste er zugeben, dass es ihm schmeichelte, einen Freund zu haben, der drei Jahre älter war.

„Nichts ist dabei“, sagte er. „Ich komme mit.“

Und das war alles. Die Entscheidung war gefallen. Matt hatte Angst, doch er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Kelvin schlug ihm anerkennend auf den Rücken und sie machten sich auf den Weg.

Es wurde schnell dunkel. Obwohl es schon fast Ende März war, war der Frühling noch nicht in Sicht. Es hatte den ganzen Monat fast pausenlos geregnet und die Nacht schien früher hereinzubrechen, als sie sollte. Als sie das Industriegebiet erreichten, gingen die Straßenlaternen an und warfen hässliche orangefarbene Lichtkreise auf den Boden. Rund um das Gelände standen Schilder, auf denen „Privatbesitz“ stand, aber der Zaun war verrostet und voller Löcher und das einzige weitere Hindernis waren hohes, dürres Gras und trockene Disteln, die dort wucherten, wo der Asphalt endete. Quer über das Gelände verlief eine Bahnlinie auf gemauerten Stützen. Als sich die beiden Jungen in ihrem Schatten anschlichen, donnerte über ihren Köpfen ein Zug nach London vorbei.

Insgesamt waren es rund ein Dutzend Gebäude. Kelvins Lagerhaus war ein rechteckiger Klotz mit Wänden aus Wellblech und einem schrägen Dach. Es stand ein wenig abseits von den anderen und überall lag Müll herum – zerbrochene Flaschen, alte Kartons und Autoreifen. Nirgendwo rührte sich etwas. Das ganze Gelände sah aus, als hätten die Besitzer es längst vergessen.

Der Haupteingang des Lagerhauses, eine große Schiebetür, lag an der Vorderfront. Es gab keine Fenster und Kelvin führte Matt zu einer kleineren Seitentür. Die beiden liefen jetzt geduckt und auf Zehenspitzen. Matt versuchte, sich zu entspannen und den Kitzel des Abenteuers zu genießen. Es war doch ein Abenteuer oder nicht? In einer Stunde würden sie darüber lachen – mit den Taschen voller Geld. Aber er war trotzdem nervös, und als Kelvin ein Messer herausholte, krampfte sich sein Magen zusammen.

„Was willst du damit?“, flüsterte er.

„Keine Panik. Damit mache ich uns nur die Tür auf.“

Kelvin schob die Klinge in den Türspalt und zog sie nach unten. Matt sah ihm schweigend zu und hoffte insgeheim, dass sich die Tür nicht öffnen würde. Das Schloss machte einen stabilen Eindruck, es schien unmöglich, dass ein Siebzehnjähriger es mit etwas so Gewöhnlichem wie einem Messer öffnen konnte. Doch plötzlich klickte es und Licht fiel nach draußen, als die Tür aufschwang. Kelvin wich zurück. Matt sah, dass er genauso überrascht war wie er, wenn er sich auch große Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen.

„Wir sind drin“, sagte er.

Matt nickte. Einen Moment lang fragte er sich, ob Charlie vielleicht doch recht hatte. Vielleicht würde das hier wirklich so leicht werden, wie Kelvin behauptete.

Sie schlüpften durch die Tür.

Das Lagerhaus war riesig – viel größer, als Matt erwartet hatte. Als Kelvin ihm davon erzählt hatte, hatte er mit ein paar Regalen voller DVDs in einem ansonsten leeren Lagerhaus gerechnet. Aber die Halle, in der sie standen, nahm kein Ende. Es waren Hunderte von Regalen, alle nummeriert und in einem komplizierten Rastermuster aufgestellt. Von der Decke hingen riesige Lampen herab, die alles in ein grelles Licht tauchten. Und es gab nicht nur Videospiele und DVDs, sondern auch Kartons mit Computerteilen, Gameboys, MP3-Playern und sogar Handys, alles in Plastik verpackt, bereit für die Auslieferung an die Geschäfte.

Matt schaute nach oben und blickte sich suchend um. Es gab tatsächlich keine Überwachungskameras, genau wie Kelvin gesagt hatte.

„Geh du da lang“, sagte Kelvin und zeigte in einen der Gänge. „Nimm nur das kleine, teure Zeug. Wir treffen uns dann wieder hier.“

„Warum bleiben wir nicht zusammen?“

„Nur die Ruhe, Matt. Ich verschwinde schon nicht ohne dich!“

Sie trennten sich. Matt landete in einem schmalen Gang mit DVDs. Tom Cruise, Johnny Depp, Brad Pitt … Er nahm sich eine Handvoll, ohne darauf zu achten, was es war. Sicher gab es in diesem Lager wertvollere Dinge, aber das war ihm egal. Er wollte nur wieder raus.

Doch plötzlich ging alles schief.

Es begann mit einem Geruch, den er auf einmal in der Nase hatte.

Es roch nach verbranntem Toast.

Dann hörte er eine Stimme. „Beeil dich, Matthew, sonst kommen wir zu spät.“

Ein farbiger Blitz. Eine leuchtend gelbe Wand. Schränke aus Kiefernholz. Eine Teekanne, geformt wie ein Teddybär.

Der Geruch sagte ihm, dass etwas nicht stimmte – wie ein Hund, der bellt, bevor die Gefahr da ist. Matt hatte so etwas schon öfter erlebt, aber er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen. Es war eine besondere Fähigkeit … eine Art Instinkt. Eine Warnung. Doch diesmal kam sie zu spät.

Bevor er wusste, wie ihm geschah, landete auch schon eine schwere Hand auf seiner Schulter, wirbelte ihn herum und eine Stimme rief: „Was zum Teufel hast du hier zu suchen?“

Matt spürte, wie ihn alle Kraft verließ. Die DVDs fielen ihm aus den Händen und prasselten zu Boden. Er starrte einem Wachmann ins Gesicht und wusste sofort, dass dies nicht die alte Schlafmütze war, die Kelvin ihm beschrieben hatte. Das hier war ein großer, ernster Mann in einer schwarz-silbernen Uniform mit einem Funkgerät, das in einer Art Halfter an seiner Brust hing. Der Mann war etwa Mitte fünfzig, aber er sah so fit aus wie ein Rugbyspieler.

„Die Polizei ist schon unterwegs“, sagte er. „Du hast den Alarm ausgelöst, als du die Tür geöffnet hast. Also mach keinen Blödsinn, hörst du?“

Matt konnte sich nicht bewegen. Er stand unter Schock. Sein Herz hämmerte so heftig in seiner Brust, dass er kaum Luft bekam. Plötzlich fühlte er sich wieder sehr jung.

„Wie heißt du?“, fragte der Wachmann streng.

Matt sagte nichts.

„Bist du allein?“ Diesmal klang die Stimme etwas freundlicher. Anscheinend hatte der Mann erkannt, dass Matt keine Bedrohung für ihn darstellte. „Wie viele von euch sind noch hier?“

Matt holte tief Luft. „Ich …“

Und in diesem Augenblick, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und die ganze Welt auf den Kopf gedreht, begann der wirkliche Horror.

Der Wachmann richtete sich ruckartig auf, seine Augen wurden größer, sein Unterkiefer klappte herunter. Er ließ Matt los und wankte zur Seite. Matt sah an ihm vorbei und sein Blick fiel auf Kelvin, der ein benommenes Lächeln im Gesicht hatte. Zuerst begriff Matt nicht, was los war. Aber dann sah er den Messergriff, der aus dem Rücken des Wachmanns ragte. Der Mann sah nicht verletzt aus – nur verblüfft. Er fiel langsam auf die Knie und kippte dann vornüber.

Eine ganze Ewigkeit schien zu vergehen. Matt war wie erstarrt. Er hatte das Gefühl, in ein schwarzes Loch zu fallen. Dann packte Kelvin ihn.

„Lass uns abhauen“, drängte er.

„Kelvin …“ Matt versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. „Was hast du getan?“, flüsterte er. „Warum hast du das gemacht?“

„Was hätte ich denn sonst tun sollen?“, erwiderte Kelvin. „Er hat dich gesehen!“

„Ich weiß, dass er mich gesehen hat. Aber du hättest ihn nicht niederstechen dürfen! Ist dir überhaupt klar, was du da gemacht hast? Weißt du, was du bist?“

Matt war fassungslos vor Entsetzen. Bevor er begriff, was er tat, stürzte er sich auf Kelvin und stieß ihn in eines der Regale. Kelvin rappelte sich schnell wieder auf. Er war größer und stärker als Matt. Er sprang vor, ballte die Faust und schlug Matt an die Schläfe. Matt taumelte rückwärts.

„Drehst du jetzt völlig durch?“, fauchte Kelvin ihn an. „Was ist dein Problem?“

Du bist mein Problem! Warum hast du das getan? Bist du vollkommen verrückt geworden?“ Matt schwirrte der Kopf. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Ich hab es doch nur für dich getan.“ Kelvin zeigte wutentbrannt mit dem Finger auf ihn.

Der Wachmann stöhnte. Matt zwang sich, auf ihn herabzusehen. Er lebte noch, aber er lag in einer Blutlache, die von Sekunde zu Sekunde größer wurde.

„Weg hier!“, zischte Kelvin.

„Nein. Wir können ihn nicht alleinlassen.“

„Was?“

„Wo ist dein Handy? Wir müssen Hilfe holen.“

„Spinnst du?“ Kelvin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Du kannst von mir aus bleiben. Ich verschwinde.“

„Das kannst du nicht machen!“

„Wetten doch?“

Und dann verschwand er in Richtung Tür. Matt sah ihm nicht nach. Der Wachmann stöhnte wieder und versuchte, etwas zu sagen. Matt war schlecht, doch er hockte sich neben ihn und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Nicht bewegen“, sagte er. „Ich hole Hilfe.“

Doch die Hilfe war schon da. Matt hörte die Sirenen kurz vor dem Quietschen der Reifen, das ihm verriet, dass die Polizei gekommen war. Sie mussten schon in dem Moment losgefahren sein, als Kelvin die Tür aufgebrochen hatte. Matt verließ den Wachmann und trat auf die freie Fläche vor den Regalen. Plötzlich wurde das große Eingangstor zur Seite geschoben. Draußen flackerte blaues Licht. Drei Polizeiwagen standen vor dem Eingang. Ein Scheinwerfer wurde eingeschaltet, und grelles Licht blendete Matt, sodass er nur die Umrisse der Polizisten erkennen konnte, die im Halbkreis vor dem Tor standen.

Sie hatten Kelvin schon gefasst. Er wurde heulend und schluchzend von zwei bewaffneten Männern abgeführt. Dann entdeckte er Matt, drehte sich um und zeigte auf ihn.

„Ich war’s nicht!“, schrie er mit schriller Stimme. „Er war’s! Er hat mich dazu gezwungen! Und er hat den Wachmann umgebracht!“

„Keine Bewegung!“, brüllte jemand, und zwei Beamte stürmten auf Matt zu.

Matt blieb, wo er war, und hob langsam die Arme. Im Licht der Scheinwerfer fiel ihm auf, dass seine Handflächen rot glänzten. Sie waren mit Blut bedeckt.

„Er war’s! Er war’s! Er war’s!“, kreischte Kelvin.

Die beiden Polizisten warfen Matt um. Sie drehten ihm die Arme auf den Rücken und legten ihm Handschellen an. Dann rissen ihn die Polizisten auf die Füße und stießen ihn hinaus in die Nacht. Er leistete keinen Widerstand.

GEFANGEN

Sie brachten Matt in ein Gebäude, das kein Gefängnis war und auch kein Krankenhaus, sondern irgendetwas dazwischen.

Der Wagen fuhr auf einen asphaltierten Hof, der von hohen Mauern umgeben war. Als er hielt, schloss sich ein Stahltor hinter ihnen mit einem lauten elektrischen Summen. Matt hörte, wie das Schloss einrastete. Das Geräusch hallte in seinem Kopf. Er fragte sich, ob er die Welt jenseits dieses Tores wohl jemals wiedersehen würde.

„Raus!“ Die Stimme schien körperlos zu sein. Sie sagte ihm, was er zu tun hatte, und Matt gehorchte. Es regnete und einen Moment fühlte er die Tropfen im Gesicht und war fast dankbar dafür. Er wollte sich waschen. Das Blut an seinen Händen war getrocknet und fühlte sich klebrig an.

Sie schoben ihn durch eine Doppeltür in einen hell erleuchteten Flur, in dem es nach Urin und Desinfektionsmittel roch. Leute in Uniform kamen ihnen entgegen. Erst zwei Polizisten, dann eine Krankenschwester. Matt trug noch immer Handschellen. Im Fernsehen hatte er schon oft gesehen, wie jemand verhaftet wurde, aber erst jetzt wusste er, was für ein Gefühl es ist, wenn einem jede Freiheit genommen wird. Er war vollkommen wehrlos.

Die beiden Polizisten blieben vor einem Schreibtisch stehen, an dem ein dritter Mann saß und etwas in ein Buch schrieb. Er stellte ihm ein paar Fragen, doch Matt verstand nicht, was er sagte. Er sah, dass sich der Mund des Mannes bewegte. Er hörte auch die Worte, die gesprochen wurden. Aber sie schienen weit entfernt zu sein und ergaben keinen Sinn.

Dann war er wieder in Bewegung und wurde in einen Fahrstuhl geschoben, für den man einen Schlüssel brauchte. Im zweiten Stock führten sie ihn einen weiteren Flur entlang. Matt hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf seine Füße gerichtet. Er wollte sich nicht umsehen. Er wollte gar nicht wissen, wo er war.

Sie führten ihn in ein Büro mit einem vergitterten Fenster. Davor standen ein Tisch mit einem Computer und zwei Stühle. Sie schlossen die Handschellen auf, und er nahm erleichtert die Arme nach vorn. Seine Schultern taten weh.

„Setz dich“, sagte einer der Polizisten.

Matt tat, was man ihm sagte.

Es vergingen etwa fünf Minuten. Dann ging die Tür auf und ein Mann in einem Anzug und einem bunten Hemd mit offenem Kragen kam herein. Er war schwarz und sehr schlank und hatte freundliche, kluge Augen. Er sah ein bisschen netter aus als die beiden anderen, und er war auch jünger. Matt schätzte ihn auf Ende zwanzig.

„Mein Name ist Detective Superintendent Mallory“, sagte er. Er hatte eine angenehme, kultivierte Stimme, wie ein Nachrichtensprecher im Fernsehen. „Geht es dir gut?“

Die Frage überraschte Matt. „Ja.“

Mallory setzte sich an den Schreibtisch und tippte etwas in den Computer. „Wie heißt du?“, fragte er.

„Matt.“

Mallorys Finger schwebten über der Tastatur. „Ich fürchte, du wirst mir deinen vollen Namen nennen müssen. Ich brauche ihn für meinen Bericht.“

Matt zögerte. Aber ihm war klar, dass er keine Wahl hatte. „Matthew Freeman“, sagte er.

Der Detective tippte seinen Namen ein, drückte die Enter-Taste und las die Informationen, die auf dem Bildschirm auftauchten. „Du hast dir ja schon einen ziemlichen Namen gemacht“, stellte Mallory fest. „Du wohnst in der Eastfield Street 27?“

„Ja.“ Matt nickte.

„Bei einem Vormund. Einer Mrs Davis?“

„Das ist meine Tante.“

„Du bist vierzehn.“

„Ja.“

Mallory sah vom Bildschirm auf. „Du steckst in ernsten Schwierigkeiten“, sagte er.

Matt holte tief Luft. „Ich weiß.“ Er traute sich fast nicht zu fragen, aber er musste es einfach wissen. „Ist er tot?“

„Der Wachmann, den du niedergestochen hast, hat einen Namen – Mark Adams. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.“ Mallory schaffte es nicht, seine Wut zu verbergen. „Er ist im Krankenhaus und wird dort eine ganze Weile bleiben müssen. Aber er wird nicht sterben.“

„Ich habe ihn nicht niedergestochen“, sagte Matt. „Ich wollte nicht, dass jemand verletzt wird. Davon war nie die Rede.“

„Dein Freund Kelvin sagt aber etwas anderes. Er sagt, dass es dein Messer und dein Plan war und dass du derjenige warst, der in Panik geriet, als ihr erwischt wurdet.“

„Er lügt.“

Mallory seufzte. „Ich weiß. Ich habe schon mit dem Wachmann gesprochen und er hat mir erzählt, was passiert ist. Er hat euch streiten gehört und weiß, dass du derjenige warst, der bleiben wollte. Aber du bist trotzdem mitverantwortlich, Matthew. Du wirst als Mittäter angeklagt werden. Weißt du, was das bedeutet?“

„Werden sie mich ins Gefängnis stecken?“

„Du bist vierzehn. Das ist zu jung fürs Gefängnis. Aber es ist gut möglich, dass du in ein geschlossenes Heim eingewiesen wirst.“ Mallory verstummte. Er hatte schon Dutzenden von kriminellen Jugendlichen gegenübergesessen. Sie waren teils aufsässig, teils verheult und voller Selbstmitleid. Aber diesen gut aussehenden, stillen Jungen, der ihm jetzt gegenübersaß, hatte er noch nicht durchschaut. Matt war irgendwie anders und Mallory fragte sich, was ihn hierher gebracht hatte. „Jetzt ist es zu spät, um über alles zu reden“, sagte er. „Hast du Hunger?“

Matt schüttelte den Kopf.

„Brauchst du sonst etwas?“

„Nein.“

„Versuch, nicht allzu viel Angst zu haben. Morgen früh sprechen wir ausführlicher über die Sache. Jetzt musst du erst einmal aus deinen Klamotten raus. Es tut mir wirklich leid, aber jemand wird dabei sein müssen, wenn du dich ausziehst – deine Sachen sind Beweismittel. Dann kannst du duschen und danach wird dich ein Arzt untersuchen.“

„Ich bin nicht krank. Ich brauche keinen Arzt.“

„Das ist nur Routine. Er wird sich dich kurz ansehen und dir vielleicht etwas geben, damit du schlafen kannst.“ Mallory sah einen der Polizisten an. „Also los.“

Matt stand auf. „Können Sie ihm sagen, dass es mir leidtut?“, fragte er. „Dem Wachmann. Mark Adams. Ich weiß, dass es keinen Unterschied macht und dass Sie mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben. Aber es tut mir leid.“

Mallory nickte. Der Polizist nahm Matt am Arm und führte ihn zurück auf den Flur.

Er brachte ihn in einen weiß gefliesten Umkleideraum mit harten Holzbänken. Matts Kleider wurden in einen Plastiksack gestopft, der zugeklammert und beschriftet wurde. Dann duschte er. Er hatte keine Privatsphäre, aber das hatte Mallory ihm ja gesagt.

Obwohl die ganze Zeit ein Polizist dabei war, gelang es Matt, das Duschen zu genießen – das heiße Wasser, das auf seinen Kopf und seine Schultern prasselte und das Blut und die Angst der letzten Stunden wegwusch. Nur allzu schnell war es vorbei. Er trocknete sich ab und zog ein graues T-Shirt und Boxershorts an, die so flach gebügelt waren wie Papier.

Schließlich führte man ihn in einen Raum, der aussah wie ein Zimmer in einem Krankenhaus. Vier Metallbetten und vier identische Tische – sonst nichts. Der Raum fühlte sich an, als wäre er fünfzig Mal hintereinander geputzt worden. Sogar die Luft schien sauber zu sein. Offenbar war er der einzige Bewohner des Zimmers.

Matt ging ins Bett, und bevor irgendein Arzt kommen konnte, war er eingeschlafen. Der Schlaf kam so schnell, wie ein Zug in einen Tunnel einfährt. Er schloss einfach die Augen und ließ sich fallen.

Zur gleichen Zeit saß Mallory ein Stockwerk tiefer einer ältlichen, mürrisch blickenden Frau gegenüber, die es schaffte, gleichzeitig missbilligend auszusehen und zu gähnen. Die Frau war Gwenda Davis, Matts Tante und Vormund. Sie war klein und unattraktiv, mit mausgrauen Haaren und einem verkniffenen Gesicht. Mrs Davis trug kein Make-up und hatte große Tränensäcke unter den Augen. Gekleidet war sie in einen alten schäbigen Mantel, der vielleicht einmal sehr teuer gewesen, doch jetzt an den Rändern ausgefranst war. Wie die Frau, die ihn trägt, dachte Mallory. Er schätzte sie auf ungefähr fünfundvierzig. Sie wirkte nervös, als wäre sie die Beschuldigte, nicht ihr Neffe.

„Und wo ist er?“, fragte sie. Ihre dünne, weinerliche Stimme ließ die Frage wie eine Beschwerde klingen.

„Ihr Neffe ist oben“, sagte Mallory. „Er war eingeschlafen, bevor der Arzt ihn sich ansehen konnte, aber er hat ihm trotzdem ein Beruhigungsmittel gegeben. Es ist gut möglich, dass er unter Schock steht.“

„Er steht unter Schock?“ Gwenda Davis lachte kurz auf. „Ich bin diejenige, die unter Schock steht, das kann ich Ihnen sagen! Mitten in der Nacht angerufen und herzitiert zu werden! Ich bin eine anständige Frau. Und nun diese Geschichte! Das ist die Höhe!“

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, leben Sie mit einem Mann zusammen.“

„Brian.“ Mrs Davis fiel auf, dass Mallory einen Stift in die Hand genommen hatte. „Brian Conran“, fuhr sie fort und sah zu, wie der Detective es notierte. „Er schläft. Und er ist nicht mit dem Jungen verwandt – warum also sollte er wegen ihm mitten in der Nacht aufstehen? Er muss schon früh genug raus.“

„Was arbeitet er?“

„Was geht Sie das an?“ Doch dann zuckte sie die Schultern. „Er ist Milchmann.“

Mallory zog ein Blatt Papier aus einer Akte. „Ich entnehme Matthews Akte, dass seine Eltern gestorben sind“, sagte er.

„Ein Autounfall.“ Gwenda Davis schluckte. „Er war acht Jahre alt. Die Familie hat in London gelebt. Seine Mutter und sein Vater kamen ums Leben. Er saß nicht mit in dem Auto.“

„Keine Geschwister?“

„Er war ein Einzelkind. Und er hatte auch keine Verwandten. Niemand wusste, was aus ihm werden sollte.“

„Sind Sie mit seiner Mutter verwandt?“

„Ich bin ihre Halbschwester. Ich habe sie nur selten gesehen.“ Mrs Davis richtete sich auf und verschränkte die Arme. „Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen – sehr freundlich waren die nie zu mir. Für sie war ja alles in Ordnung. Nettes Haus, gute Nachbarschaft. Ein schickes Auto. Alles vom Feinsten. Aber für mich hatten sie nie Zeit. Und nach diesem blöden Unfall … Also, ich weiß nicht, was aus Matthew geworden wäre, wenn Brian und ich nicht gewesen wären. Wir haben ihn aufgenommen. Wir mussten ihn ganz allein großziehen. Und wie dankt er es uns?“

Mallory warf einen weiteren Blick in die Akte. „Wie ich sehe, hatte er früher nie Schwierigkeiten“, sagte er. „Mit dem Schuleschwänzen hat er erst angefangen, als er nach Ipswich kam. Und von da an ging es nur noch bergab.“

„Geben Sie etwa mir die Schuld?“ Zwei rote Flecken erschienen auf Gwenda Davis’ Wangen. „Dafür kann ich doch nichts! Das war dieser Junge, Kelvin Johnson … Er lebt in der Nachbarschaft. Er hat Matthew verdorben!“

Es war elf Uhr abends. Der Tag war lang gewesen und Mallory reichte es. „Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mrs Davis“, sagte er. „Wollen Sie Matthew sehen?“

„Das hat wohl nicht besonders viel Sinn, wenn er schläft, oder?“

„Vielleicht möchten Sie dann morgen früh wiederkommen. Dann wird jemand vom Jugendamt hier sein. Und Matthew wird einen Anwalt brauchen. Aber wenn Sie um neun Uhr kommen –“

„Um neun geht es nicht. Ich muss Brian Frühstück machen, wenn er von seiner Runde heimkommt. Ich komme danach.“

„Gut.“

Gwenda Davis stand auf und ging. Mallory sah ihr nach. Er empfand nicht das Geringste für sie. Aber der Junge, der oben schlief, tat ihm leid.

Matt wachte auf.

Das Zimmer mit den vier Betten war menschenleer. Im ganzen Gebäude herrschte absolute Stille. Er spürte ein Kissen unter seinem Kopf und fragte sich, wie lange er geschlafen hatte. Es gab keine Uhr im Zimmer, aber draußen war es stockdunkel, das konnte er durch das vergitterte Fenster sehen. Der Raum war schwach erleuchtet. Wahrscheinlich schalteten sie das Licht nie ganz aus.

Er versuchte, wieder einzuschlafen, aber er war hellwach. Plötzlich sah er die Ereignisse des Abends wieder vor sich. Die Bilder tauchten vor seinen Augen auf wie Spielkarten, die vom Wind umhergewirbelt wurden. Da war Kelvin vor dem Bahnhof. Dann das Lagerhaus, die DVDs, der Wachmann, das Messer, wieder Kelvin mit diesem blöden Grinsen, die Polizeiautos und seine eigenen, blutverschmierten Hände. Matt kniff die Augen zu und versuchte, die Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben.

Es war heiß im Zimmer. Die Fenster waren geschlossen und die Heizung lief. Matt fühlte, wie die Hitze ihn umflimmerte. Er hatte Durst und sah sich um. Vielleicht konnte er jemanden rufen. Doch er konnte keinen Rufknopf finden.

Da fiel sein Blick auf einen Krug mit Wasser und ein Glas auf einem Tisch am anderen Ende des Raums. Er hob die Hand, um die Decke zurückzuschlagen und aufzustehen, aber sie war zu schwer. Das war doch nicht möglich! Er spannte die Muskeln an und versuchte, sich aufzurichten. Er konnte sich kaum bewegen. Schließlich begriff er, dass der Arzt da gewesen sein musste, als er geschlafen hatte. Er hatte ihm irgendwas gespritzt – ein Beruhigungsmittel. Und jetzt konnte er sich nicht bewegen.

Beinahe hätte Matt geschrien. Die Panik drohte ihn zu ersticken. Was würden sie mit ihm machen? Warum war er nur zu diesem Lagerhaus gegangen? Wie hatte das alles passieren können? Er ließ seinen Kopf wieder aufs Kissen fallen und kämpfte gegen die Verzweiflung, die ihn zu überwältigen drohte. Er konnte nicht fassen, dass ein Mann fast zu Tode gekommen war – wegen einer Handvoll DVDs. Wie hatte er so dumm sein können, Kelvin als seinen Freund zu betrachten? Er war’s! Er war’s! Kelvin war ein Jammerlappen. Schon immer gewesen.

Das Wasser …

Im Zimmer wurde es immer heißer, als hätten die Polizisten die Heizung aufgedreht, um ihn zu quälen. Matts ganze Konzentration war auf den Glaskrug gerichtet. Er sah den perfekten Kreis, den die Wasseroberfläche darin bildete. Er versuchte, sich zum Aufstehen zu zwingen, und als das misslang, wurde ihm auf einmal bewusst, dass er dem Krug befahl, zu ihm zu kommen. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Mund war wie ausgedörrt. Einen Moment lang glaubte er, etwas Verbranntes zu riechen. Der Krug war so nah – nur ein paar Meter entfernt. Seine Gedanken griffen nach ihm.

Der Krug zerbrach.

Er schien förmlich zu explodieren, aber wie in Zeitlupe. Für einen Sekundenbruchteil hing das Wasser in der Luft, dann platschte es auf den Tisch und tropfte hinunter auf die Glasscherben.

Matt war verblüfft. Er hatte keine Ahnung, was passiert war. Er hatte den Krug nicht zerbrochen. Der Krug hatte sich selbst zerbrochen. Es war, als wäre er von einer Kugel getroffen worden, aber Matt hatte keinen Schuss gehört. Er hatte gar nichts gehört. Matt starrte auf die Scherben und das Wasser, das vom Tisch tropfte. Hatte die Hitze im Zimmer den Krug platzen lassen? Oder hatte er das getan? Hatte sein Durst auf irgendeine unerklärliche Weise den Krug zum Explodieren gebracht?

Die Erschöpfung überwältigte ihn zum zweiten Mal, und er fiel in einen unruhigen Schlaf. Als er am nächsten Morgen aufwachte, waren die Scherben verschwunden. Auf dem Tisch standen ein Glaskrug mit Wasser und ein einzelnes Glas, genau an derselben Stelle wie am Abend zuvor. Matt entschied, dass das Ganze nur ein verrückter Traum gewesen war.

EIN NEUES LEBEN

Vier Leute sahen Matt von der anderen Seite eines langen Tisches aus prüfend an. Es war einer von diesen Räumen, in denen Leute heirateten – oder sich scheiden ließen. Nicht ungemütlich, aber nüchtern und formell, mit holzgetäfelten Wänden, an denen Porträts von vermutlich längst toten Leuten hingen. Matt war in London, wo genau, wusste er nicht. Auf der Fahrt hatte es so sehr geregnet, dass er nichts gesehen hatte, und der Wagen hatte direkt vor der Tür eines modernen, unscheinbaren Gebäudes gehalten. Matt hatte keine Zeit gehabt, sich umzusehen.

Seit Matts Verhaftung war eine Woche vergangen. In dieser Zeit hatte man ihn verhört, untersucht und viele Stunden allein gelassen.

Er hatte unzählige Fragebögen ausfüllen müssen, die ihn an Klassenarbeiten erinnerten, aber vollkommen sinnlos schienen. „2, 8, 14, 20 … Welches ist die nächste Zahl in dieser Zahlenfolge?“ Und: „Wie viele Schreibfehler findest du in diesem Satz?“ Verschiedene Männer und Frauen – Ärzte und Psychologen – hatten ihn aufgefordert, über sich zu sprechen. Sie hatten ihm Farbkleckse auf Papier gezeigt. „Wonach sieht das für dich aus? Woran musst du denken, wenn du diese Form siehst?“ Und sie hatten Spiele mit ihm gemacht – Wortspiele und solches Zeug.

Schließlich hatten sie ihm gesagt, dass er abreisen würde. Ein Koffer mit seinen Sachen war aufgetaucht, den seine Tante für ihn gepackt haben musste. Und nach einer zweistündigen Fahrt in einem ganz normalen Auto – nicht einmal einem Polizeiwagen – war er hier gelandet. Der Regen prasselte immer noch gegen die Fensterscheiben und nahm ihm jede Sicht nach draußen. Er hörte, wie die Tropfen gegen die Scheibe hämmerten, als verlangten sie Einlass.

Es kam ihm vor, als hätte sich die gesamte Außenwelt aufgelöst und nur die fünf Leute in diesem Raum wären übrig geblieben.

Ganz links saß seine Tante, Gwenda Davis. Sie betupfte sich die Augen mit einem Taschentuch und verschmierte dabei ihre Wimperntusche. Ein schmutzig brauner Mascara-Streifen zog sich quer über ihr Gesicht. Neben ihr saß Detective Superintendent Mallory und sah demonstrativ in die andere Richtung. Die dritte Person am Tisch war eine Richterin, die Matt heute zum ersten Mal sah. Sie war ungefähr sechzig Jahre alt, sehr korrekt gekleidet, trug eine Brille mit Goldrand und machte einen ernsthaften Eindruck. Im Laufe der Jahre schien sich ein missbilligender Blick tief in ihr Gesicht eingegraben zu haben. Rechts von ihr saß Matts Sozialarbeiterin Jill Hughes, eine grauhaarige Frau, die etwa zehn Jahre jünger war als die Richterin. Sie war für Matt zuständig, seit er elf Jahre alt war.

Die Richterin sprach.

„Matthew, hör mir genau zu. Du musst begreifen, dass das ein überaus feiges Verbrechen war, bei dem es außerdem noch zu einer Gewalttat gekommen ist“, sagte sie. Sie hatte eine sehr präzise und knappe Art zu sprechen. „Dein Mittäter, Kelvin Johnson, wird vor Gericht gestellt werden und mit ziemlicher Sicherheit in einer Jugendstrafanstalt enden. Er ist siebzehn. Du dagegen bist jünger, hast aber dennoch das Alter der Strafmündigkeit erreicht. Wenn du angeklagt würdest, müsstest du damit rechnen, für etwa drei Jahre in eine Besserungsanstalt oder in ein geschlossenes Heim für schwer erziehbare Kinder zu kommen.“

Die Richterin verstummte und öffnete eine Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Das Umblättern der Seiten kam Matt in der plötzlichen Stille sehr laut vor.

„Du bist ein intelligenter Junge“, fuhr sie fort. „Ich habe hier die Ergebnisse der Tests vorliegen, denen du in der vergangenen Woche unterzogen wurdest. Obwohl deine schulischen Leistungen zu wünschen übrig lassen, scheinst du im Rechnen und Schreiben gute Anlagen zu haben. Dem psychologischen Bericht zufolge bist du kreativ und hast ein rasches Auffassungsvermögen. Deshalb bin ich erstaunt, dass du dich für die Kriminalität entschieden hast.

Aber natürlich müssen wir deine unglücklichen Familienverhältnisse in Betracht ziehen. Du hast deine Eltern plötzlich und in sehr jungen Jahren verloren, was dich vermutlich aus der Bahn geworfen hat. Ich denke, uns allen ist klar, dass deine Probleme auf dieses tragische Ereignis zurückzuführen sind. Trotzdem musst du die Kraft finden, diese Probleme zu überwinden, Matthew. Wenn du weiterhin dem Weg folgst, für den du dich entschieden hast, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du im Gefängnis enden wirst.“

Matt hörte der Richterin kaum zu. Er versuchte es, aber die Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen und nichts weiter zu bedeuten – wie die Durchsage auf einem Bahnhof, die einen Zug ankündigte, mit dem er ohnehin nicht fahren wollte. Er hörte lieber dem Regen zu, der an die Fensterscheiben prasselte. Doch plötzlich wurde er aufmerksam.

„Es gibt ein neues Programm der Regierung, das speziell für junge Leute wie dich entworfen wurde“, sagte die Richterin gerade. „Die Wahrheit ist, dass wir junge Menschen wie dich, Matthew, nicht in unseren Besserungsanstalten haben wollen. Das würde uns viel Geld kosten und außerdem gibt es nicht genug freie Plätze. Aus diesem Grund hat die Regierung das FED-Programm ins Leben gerufen. FED steht für Freiheit, Erziehung, Disziplin. Du wirst zu einer Pflegemutter kommen und bei ihr ein neues Leben beginnen.“

„Ich hatte schon eine Pflegemutter …“ Matt warf seiner Tante, die auf ihrem Stuhl zusammenzuckte, einen Blick zu, „… und es war nicht gerade ein Erfolg.“

„Das ist wahr“, bestätigte die Richterin. „Und ich fürchte, dass sich Mrs Davis auch nicht länger imstande sieht, für dich zu sorgen. Ihr reicht es.“

„Ach, tatsächlich?“, sagte Matt verächtlich.

„Ich habe getan, was ich konnte!“, rief Gwenda Davis und drückte sich das Taschentuch gegen die Augen. „Und du hast es mir nie gedankt. Du warst nie ein netter Junge. Du hast es nicht einmal versucht.“

Die Richterin hüstelte. Mrs Davis schaute auf und verstummte. „Leider empfindet deine Sozialarbeiterin, Miss Hughes, dasselbe“, fuhr die Richterin fort. „Das bedeutet, dass dieses Programm deine einzige Chance ist. Dir bleibt keine andere Wahl.“

„Was ist das für ein Programm?“, fragte Matt. Er wollte nur noch aus diesem Raum heraus. Es war ihm egal, wohin sie ihn schickten.

„Du kommst erst einmal zu einer Pflegemutter“, erklärte Jill Hughes. Sie war eine sehr kleine Frau, die fast von dem Tisch verdeckt wurde, an dem sie saß. Für ihren Job hatte sie eindeutig die falsche Größe. „Wir verfügen über eine ganze Reihe von Leuten, die in abgelegenen Teilen des Landes leben –“

„Auf dem Land ist die Versuchung geringer“, mischte sich die Richterin ein.

„Alle wohnen weit entfernt von städtischen Regionen“, sprach Jill Hughes weiter. „Sie nehmen junge Leute wie dich auf und bieten ihnen ein altmodisches Familienleben. Sie sorgen für Nahrung, Kleidung, Zuwendung und, was am wichtigsten ist, für Disziplin. Das F in FED steht für Freiheit – aber die musst du dir erst verdienen.“

„Deine neue Pflegemutter darf dich zu leichten körperlichen Tätigkeiten heranziehen. Stell dich also schon mal darauf ein“, sagte die Richterin.

„Soll das heißen, ich muss arbeiten?“, fragte Matt angewidert.

„Was ist dagegen einzuwenden?“, fuhr ihn die Richterin an. „Die Arbeit auf dem Land ist gesund und viele Kinder wären froh darüber, draußen bei den Tieren und auf den Feldern sein zu können. Niemand zwingt dich, am FED-Programm teilzunehmen, Matthew. Du musst dich freiwillig dafür entscheiden. Aber ich kann dir sagen, dass dies eine echte Chance für dich ist, die dir sicher mehr zusagen wird als die Alternative.“

Drei Jahre eingesperrt sein. In der Besserungsanstalt. Oder im Heim. Das meinte sie damit.

„Wie lange werde ich dort draußen auf dem Land bleiben müssen?“, fragte er.

„Mindestens ein Jahr. Danach werden wir deinen Fall noch einmal prüfen.“