1 Neue Ansätze zur Jugenddelinquenz: Neurowissenschaften und Entwicklungspsychiatrie

Hans Steiner, Niranjan S. Karnik, Belinda Plattner,
Melissa Silverman und Richard Shaw

„Jedes Kind beginnt sein Leben als ein
asoziales Wesen, in dem es darauf besteht,
dass seine Wünsche erfüllt werden, ohne die
Wünsche und Forderungen seiner
Mitmenschen zu berücksichtigen. Dieses
Verhalten wird für das junge Kind als normal
angesehen, jedoch als asozial oder dissozial,
wenn das Kind älter wird. Das Kind muss zu
einem Zustand der prosozialen Anpassung
erzogen werden; diese Aufgabe kann nur
erfüllt werden, wenn die emotionale
Entwicklung des Kindes normal verläuft.“

Verwahrloste Jugend,
August Aichhorn (1930)

Einleitung

Jugenddelinquenz ist und verbleibt ein zentrales soziales Problem auf dem ganzen Globus. Unabhängig von den spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten kämpfen die Gemeinschaften mit den Methoden, um ihre Kinder angemessen zu sozialisieren, so dass sie produktive und beitragende Mitglieder der Gesellschaft werden. Die Delinquenz kann als ein fehlangepasster Pfad der Entwicklung betrachtet werden, der in antisozialem und kriminellem Verhalten bei Kindern münden kann, so dass sie sich selbst, andere oder die Gemeinschaft im weiteren Sinne schädigen. Delinquente nach der Art ihrer Verbrechen und anderer kriminologischer Kriterien zu gruppieren, erbrachte nur einen geringen Erfolg bei den Bemühungen um Rehabilitation und Prävention der ungünstigen Verläufe sowie der Wiederholungstaten. Diese Erfahrung macht es notwendig, neue Ansätze für das Thema der fehlangepassten Aggressionen bei Jugendlichen zu entwickeln. Ebenso ist es relativ erfolglos, Delinquente als eine solide psychopathologische Gruppe zu verstehen, denn das führt zu einer sehr breiten und heterogenen Kategorie, die nur geringe prädiktive Validität hat, wenn man den lang- und kurzfristigen Verlauf vorhersagen will (Steiner und Cauffmann 1998). Der Blick auf die Delinquenz durch die Linsen der Kriminologie hat insofern einigen Vorteil und muss als solcher bewahrt bleiben, als er die Gemeinschaft schützt und die Einrichtung von speziellen Einrichtungen für Haft und Rehabilitation ermöglicht. Ergänzend dazu ist jedoch die folgende Perspektive, die wir vorschlagen: Zunehmend kann ein Konsensus beobachtet werden, dass Delinquenz und Kriminalität Untergruppen eines breiteren antisozialen und aggressiven Verhaltensmusters darstellen. Umgekehrt kann die fehlangepasste Aggression und Psychopathologie am besten als eine Untergruppe von allgemeinen delinquenten Verhaltensmustern betrachtet werden (vgl. Abb. 1.1).

Hier erweitern wir die Argumente von Adrian Raine, die Kriminalität als eine Form von Psychopathologie zu betrachten (Raine 1993), und wenden diese auf Kinder und Jugendliche an. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen ergeben sich neue Perspektiven, die diejenigen der Kriminologie ergänzen und erweitern und zu ganz neuen Fragestellungen mit neuen Behandlungsmethoden kommen (s. Abb. 1.2).

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Abb. 1.1: Antisoziales Verhalten, Delinquenz und fehlangepasste Aggression

Ein vielversprechender neuer Weg des Verständnisses für diese Phänomene stammt aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaften und der Entwicklungspsychiatrie. Die hier entwickelten Erkenntnisse postulieren verschiedene Subtypen der Aggression auf der Basis verschiedener zugrundeliegender neurowissenschaftlicher und psychologischer Mechanismen und ermöglichen ein Verständnis dieser Prozesse sowohl in Begriffen der Evolution als auch der Klinik. Besonders attraktiv an diesem Ansatz ist die Möglichkeit einer Verbindung zu spezifischen Ansätzen und Behandlungen.

These 1: Delinquenz kann im allgemeinsten Sinn psychopathologisch klassifiziert werden, weil delinquente Jugendliche hohe Prävalenzraten für psychische Störungen aufweisen.

Delinquente können auf der Basis der zugrundeliegenden Psychopathologie klassifiziert werden und dadurch unter die Perspektive der Seelischen Gesundheit gestellt werden, zumal verschiedene methodisch angemessene Studien die außerordentlich hohen Raten und zahlreichen Formen psychischer Störungen nachgewiesen haben (Cocozza et al. 2005; Steiner et al. 2003a; Teplin et al. 2002; Vermeiren et al. 2000; Wasserman et al. 2003). Die Forschung hat zunehmend den Beweis erbracht, dass viele psychische Störungen neurobiologische und genetische Wurzeln haben. Während diese nicht notwendigerweise direkte ursächliche Pfade in Richtung Delinquenz darstellen, können sie jedoch ein Bündel von Umständen darstellen, welche die Wahrscheinlichkeit für bestimmte Verhaltensweisen und Kognitionen erhöhen, welche Jugendliche für delinquentes Verhalten anfällig werden lassen. Die Berücksichtigung einer psychopathologischen Perspektive in der Rehabilitation und Behandlung von Delinquenten impliziert den Einsatz effektiver Interventionen einschließlich Psychotherapie, Psychopharmakologie und Soziotherapie, um die spezifischen Prozesse und Symptome anzugehen. Diese These ermöglicht auch die direkte Untersuchung des gegenwärtigen Systems der strafenden Intervention bei prä-delinquenten und delinquenten Populationen und ermöglicht eine Erklärung dafür, warum die gegenwärtigen Straf- und Behandlungseinsätze bei diesen Individuen oft versagen.

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Abb. 1.2: Delinquenz durch die Linse der Psychopathologie

Ergebnisse der California Youth Authority Survey (Steiner et al. 2001) erbrachten Prävalenzraten von mehr als 90 % für externalisierende Störungen (wie z. B. disruptive Verhaltensauffälligkeiten und Substanzmissbrauchsstörungen) in Anstalten sowohl für männliche als auch weibliche Jugendliche. In derselben Studie wurde gefunden, dass weibliche Jugendliche (64 %) zweimal so häufig internalisierende Störungen wie männliche Jungendliche (29 %) mit Depression und Angst als Hauptdiagnosen hatten. Ferner waren komorbide Störungen sowohl bei männlichen als auch bei weiblichen Jugendlichen mit mehr als 80 % die Norm, wobei drei oder mehr psychische Störungen vorlagen (vgl. Abb. 1.3). Schaut man sich diese Befunde genauer an, so sind zwei unterschiedliche Subtypen der delinquenten Persönlichkeiten zu beobachten. Wenn man die Anzahl der Diagnosen mit psychologischen Messverfahren für Belastung und Selbstbeherrschung vergleicht, wird eine bedeutsame Beziehung zwischen Komorbidität und dem Ausmaß des Leidens deutlich. Möglicherweise noch interessanter ist der Befund, dass Delinquente mit einem Verhaltensmuster hoher Selbstbeherrschung signifikant niedrigere Raten für eine Wiederinhaftierung haben als Individuen mit niedriger Selbstbeherrschung (vgl. Abb. 1.4). Funktional sind Individuen mit niedriger Selbstbeherrschung weniger in der Lage, ihre aggressiveren und impulsiven Tendenzen zu kontrollieren und einzudämmen und sind damit eher in der Gefahr, kriminelle Handlungen zu begehen, welche sie erneut in das Strafvollzugssystem für Jugendliche bringen. Hingegen haben Individuen mit hoher Selbstbeherrschung ein größeres Ausmaß der Selbstregulation und Selbstkontrolle und haben damit eine geringere Wahrscheinlichkeit, erneut inhaftiert zu werden. Die Anerkennung dieser Unterschiede beleuchtet die Notwendigkeit, unterschiedliche Ansätze zur Behandlung dieser zwei verschiedenen delinquenten Subpopulationen zu entwickeln.

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Abb. 1.3: Anzahl komorbider Diagnosen (in Prozent)

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Abb. 1.4: Wiederholte Gefängnisstrafen auf der Basis der Selbstbeherrschung

Abbildung 1.4 ist eine vereinfachte Darstellung einer 1999 veröffentlichten Arbeit, in der wir zeigten, dass die Rückfallraten von inhaftierten Delinquenten als eine Funktion ihrer Selbstbeherrschung dargestellt werden kann. Wenn wir die Stichprobe in Delinquente mit hoher und niedriger Selbstbeherrschung einteilen, dann ergeben sich signifikante Unterschiede in den Inhaftierungsraten in den nächsten 4,5 Jahren (Steiner, Cauffman und Duxbury 1999). Auf der anderen Seite haben wir auch gezeigt, dass die Anzahl der vorhandenen Diagnosen, also die Extensivität der Psychopathologie negativ mit der Selbstbeherrschung korreliert: je höher die Anzahl der erfassten Diagnosen ist, desto niedriger ist der Wert der Selbstbeherrschung (Steiner et al. 2001).

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Abb. 1.5: Das Sonnen-System-Modell für die Beziehungen zwischen dem Justiz-System und Seelischer Gesundheit

Der Blick durch die Linsen der Psychopathologie auf die Delinquenz führt zu einer sehr unterschiedlichen Betrachtung des Justizsystems und seiner Beziehungen zur seelischen Gesundheit im Kindesalter. Im Versorgungsmodell der Gegenwart gibt es nur disparate und kleine Schritte, welche außerhalb und gelegentlich im geringen Umfang auch innerhalb des Justizsystems für Jugendliche umgesetzt werden. Dieser Ansatz kann in Analogie zum Sonnensystem mit dem Justizsystem für Jugendliche im Zentrum und Fragmenten oder Planeten der seelischen Gesundheitsfürsorge im Umkreis des Systems dargestellt werden (vgl. Abb. 1.5).

Um diese Struktur zu ersetzen, schlagen wir einen Wechsel in der Betrachtung des Justizsystems für Jugendliche vor. Wir plädieren für eine Sicht, die eine herausragende Rolle für die ätiologischen Wurzeln der Aggression betont und sich von kriminologischen Kriterien entfernt. Eine derartige Perspektive würde sich von Typologien wie Diebstahl, Schwänzen und Körperverletzung entfernen und sich stattdessen um ein Verständnis für die treibenden Kräfte hinter diesen Handlungen bemühen. Eine psychopathologische Perspektive könnte eine Handlung des „Angriffes mit einer todbringenden Waffe“ dahingehend verstehen, dass sie aus Wut in der Hitze einer Auseinandersetzung gespeist war und dass eine andere ähnliche Handlung als geplant und proaktiv betrieben wurde. Aus einer psychopathologischen Perspektive sind diese beiden treibenden Kräfte sehr verschieden und führen zu weitgehend verschiedenen langfristigen Verläufen und Behandlungsansätzen.

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Abb. 1.6: Das integrierte Modell für das Justiz-System für Jugendliche und Seelische Gesundheit

Durch den Einsatz von standardisierten, evidenzbasierten Praktiken, welche in Untersuchungen an inhaftierten Jugendlichen entwickelt und validiert wurden, kann das Justizsystem für Jugendliche in eine Verbindung mit den modernen Versorgungsansätzen gebracht werden. Ein derartiger Ansatz würde unrealistische Erwartungen an das System vermindern, während gleichzeitig die vorhandenen Ressourcen maximiert und wiederum den Einsatz neuer Ressourcen ermöglichen würden. Ein derartiges System wäre ein stärker integriertes System der Strafverfolgung und seelischen Gesundheit bei Jugendlichen mit überlappenden, integrierten und koordinierten Funktionen (vgl. Abb. 1.6).

These 2: Delinquente sind als psychopathologisch zu betrachten, weil sie sich in Beziehung zu psychosozialen Kräften und Umwelteinflüssen entwickeln, welche die normale Sozialisation der Aggression verhindern.

Dank der Pionierarbeit von August Aichhorn haben wir gelernt, die Entwicklung delinquenter Jugendlicher im sozialen Kontext der Welt, die sie bewohnen, zu betrachten. Kinder entwickeln sich innerhalb einer komplexen psychosozialen Umwelt, welche bisweilen einen Bruch der normalen Entwicklungslinien zur Folge haben und die Kinder in ein Leben führen, dass durch Aggression und Störungen des Sozialverhaltens gekennzeichnet ist (Garbarino 1992, 1995, 1999, 2006; Garbarino et al. 1998). Innerhalb dieser Kontexte kann die Ausformung von Aggression einer Form der Bewältigung darstellen (Bandura 1973, 1977) oder in der Konditionierung von Furcht enden. Der zuletzt genannte Prozess kann in eine fehlangepasste Ausdehnung von Furcht und Angstreaktionen auf Reize münden, die denen ähnlich sind, welche die ursprünglichen Furchtreaktionen provoziert haben (Charney 2004a, b). Ferner hat die Neuroforschung gezeigt, dass die Endprodukte in diesen Kontexten ein Muster emotionaler Differenzierung sind, in denen Angst, Trauer, Furcht und aggressives Verhalten nicht mehr dem evolutionären Zweck dienen, für die sie entwickelt waren, und stattdessen unter unangemessenen Umständen oder in einem exzessiven Ausmaß ausgelöst werden (Plattner et al. zur Veröffentlichung eingereicht). Das Ergebnis ist eine Kaskade unregulierter Emotionen mit potentiell ungünstigen Verläufen, sowohl für den Urheber als auch das Ziel der kindlichen Aggression.

Das National Institute of Child Health and Human Development (NICHD Early Child Network 2004) hat die Ergebnisse einer Studie an 1100 Kindern berichtet, die prospektiv mit der Child Behavior Checklist (CBCL) untersucht worden waren, und gefunden, dass sie insgesamt eine Rückbildung der Aggression vom Kleinkindalter bis in das Schulalter zeigt. Die Prädiktoren für abnehmende Aggression waren hoch ausgeprägte familiäre Ressourcen und stärker feinfühlig ausgeprägtes Erziehungsverhalten der Eltern. Eine persistierende Aggression sagte ungünstige soziale und schulische Verläufe voraus. Die Persistenz für fehlangespasste Verhaltenszüge in der Adoleszenz folgt keinem linearen Pfad und zahlreiche disruptive Ereignisse können zu ungünstigen Verläufen führen. So steht bei vielen Jugendlichen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) als Folge von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung im Vordergrund und ist als ein Risikofaktor für die Jugendlichendelinquenz ermittelt worden (Carrion und Steiner 2000; Ruchkin et al. 2002; Steiner et al. 1997; 2003a). Diese allgemeinen Befunde sind in einer Serie innovativer Studien weiter spezifiziert worden. Ruchkin und Mitarbeiter (2002) haben 1973 männliche russische Delinquente mit einem mittleren Alter von 16,4 (s = 0,9) Jahren untersucht. Sie fanden, dass 42 % ihrer Probanden voll und 25 % teilweise die Kriterien für eine PTBS auf der Basis eines strukturierten Interviews (K-SADS-PL) erfüllten. Nach diesem Bericht waren 74 % der Stichprobe zumindest einmal und 59 % mehrfach einem gewalttätigen Ereignis ausgesetzt gewesen. Die häufigsten Ereignisse betrafen häusliche Gewalt (72 %), Beobachtung eines Gewaltverbrechens (51 %), körperliche Misshandlung (48 %) und Opfererfahrung bei einem Gewaltverbrechen (32 %). In einer unlängst durchgeführten Studie zu PTBS unter Jugendlichen in Strafanstalten in Österreich berichteten Plattner und ihre Kollegen Raten von 72 % für weibliche und 22 % für männliche Jugendliche (Steiner et al. 2003b). Nimmt man diese Studienergebnisse zusammen, so besteht eine besonders bemerkenswerte Beziehung zwischen psychiatrischem Trauma und der Bereitschaft eines Kindes, sich fehlangepasst aggressiv zu entwickeln, wie ursprünglich von Aichhorn angenommen. Die exakten Mechanismen dieser Verbindung müssen weiter untersucht werden; wir nehmen jedoch an, dass die Konditionierung von Furcht, ein Auslösermodell für Furcht und Aggression und psychosoziales Lernen am Modell wichtige zu berücksichtigende Faktoren sind.

These 3: Neue Einsichten der Neurowissenschaften machen es auch möglich, neue Typologien für die gestörte Aggression zu entwickeln und diese mit spezifischen Interventionen zu verbinden.

Bis dato haben wir über die unangepasste und gestörte Aggression im Zusammenhang mit anderen mobilisierenden Psychopathologien gesprochen. In diesem letzten Teil unserer Diskussion wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf neue Ergebnisse der Neurowissenschaften und in der Entwicklungspsychiatrie lenken, die uns dazu verhelfen sollen, eine neue Taxonomie für spezifische Störungen der Aggression zu schaffen. Wir verstehen unter diesen spezifischen Störungen solche, bei denen die Aggression aufgrund ihres Ausmaßes, ihrer Heftigkeit und Häufigkeit im klinischen Mittelpunkt steht und unsere vollkommene Aufmerksamkeit verlangt. Es handelt sich um primäre Störungen im klinischen Sinn nach der ICD. Die existierenden Diagnosegruppen (oppositionelles Trotzverhalten, Störungen des Sozialverhaltens, antisoziale Persönlichkeit etc.) sind in diesem Zusammenhang nicht sehr nützlich, weil sie uns nur sehr selten zu spezifischen Behandlungsmethoden führen. Sie sind also keine Krankheiten im engeren Sinne, sondern nur Syndrome mit „großer Heterogenität“ und unvollkommener Abgrenzung, wie ja ihre hohen Komorbiditätsraten anzeigen (Steiner 1997; Steiner und Remsing 2006). Auf der anderen Seite benötigt man klare und hilfreiche Einteilungen, wenn man mit Delinquenten arbeitet, denn es ergibt sich oft, dass die schwersten Formen der Aggressionsstörungen hier vorgefunden werden (Steiner und Karnik 2004).

Um diese neuen Kategorien zu schaffen, können wir uns einiger Erkenntnisse der Neurowissenschaften bedienen, die direkte Relevanz haben. Wir haben diese Diskussion in einer Serie von Arbeiten dargestellt, die von der Stanford/Howard Workgroup on Juvenile Impulsivity and Aggression (Connor et al. 2006; Blair et al. 2006; Steiner et al. 2006) zusammengestellt wurden. Im Folgenden skizzieren wir unseren Ansatz.

Für die Erfassung und das Verständnis der Aggression sind zahlreiche Ordnungssysteme vorgeschlagen worden. Tab. 1.1 führt diese zahlreichen Subtypen auf, die vorgeschlagen und auf empirische Studien gestützt sind. An dieser Tabelle fällt auf, dass viele Autoren offensichtlich ähnliche Phänomene mit unterschiedlichen Begriffen beschreiben. Eine genauere Analyse dieser Subtypen legt nahe, diese in zwei größeren Subklassen der Aggression zusammenzufassen. Für diese Klassifikation gibt es weitere Unterstützung aus neueren Befunden der neurowissenschaftlichen Literatur (Blair et al. zur Veröffentlichung eingereicht). Diese zwei Subklassen lassen sich folgendermaßen bezeichnen (Steiner und Saxena et al. 2003).

Tab. 1.1: Empirisch gestützte Subtypen der Aggression

Taxa/Subtypen

Autor

offen

oppositionell

verdeckt

(Loeber 1991)

reaktiv

proaktiv

(Dodge und Coie 1987; Dodge und Lochman et al. 1997)

affektiv

räuberisch

(Vitiello und Behar et al. 1990; Vitiello und Stoff 1997)

defensiv offensiv

(Blanchard, Hori et al. 1987; Blanchard und Blanchard 2003; Blanchard und Blanchard 2005)

sozialisiert untersozialisiert

(Quay, Routh et al. 1987; Shapiro und Quay et al. 1988; Lahey und Loeber et al. 1998)

impulsiv kontrolliert

(Megargee 1966; White und McAdoo et al. 1973)

feindselig

instrumentell

(Atkins und Stoff 1993; Atkins und Stoff et al. 1993)

impulsiv vorsätzlich

medizinisch

(Barratt und Stanford et al. 1999)

Blair et al. (zur Veröffentlichung eingereicht) haben mehrere Male und überzeugend nachgewiesen, dass diese beiden Formen der Aggression durch sehr unterschiedliche Neuro-Architekturen unterstützt werden. Die kalte PIP Aggression – wie vieles anderes instrumentelles Verhalten – läuft nicht in bestimmten neuronalen Funktionsschleifen und steht auch unter erheblicher persönlicher Kontrolle. Im Gegensatz dazu ist die heiße RADI-Aggression auf engste Weise mit den Funktionsschleifen für die Erkennung von Bedrohung und Furcht verbunden, ist also auf ganz gewisse Bahnen beschränkt und steht viel weniger unter persönlicher Kontrolle mit viel weniger Spielraum für persönliche Planung und Kontrolle im Ablauf der Aggression. Diese Unterschiede werden schon seit Jahrhunderten in den Gesetzen der meisten modernen Zivilisationen beachtet und anerkannt: Mord und Totschlag haben zwar das gleiche Resultat, involvieren aber sehr unterschiedliche kausale Mechanismen.

Diese Ergebnisse der Neurowissenschaften führten unsere Gruppe zu der Frage, ob es möglich sein könnte, phänomenologische Merkmale dieser Untertypen der Aggression bei normalen Jugendlichen und bei inhaftierten Delinquenten zu finden. Wir verwandten dazu den breit eingesetzten Youth Self-Report von Achenbach (1991), um Jugendliche auf der Basis dieser beiden Subtypen von Aggression zu identifizieren. Zwei unabhängige Experten beurteilten die Merkmale der Skalen des YSR zur Erfassung von Aggression und Delinquenz und ordneten sie den Kategorien RADI, PIP oder „unsicher“ zu. Der Übereinstimmungskoeffizient Kappa war mit 0.75 hochsignifikant (p<0.0001) und die interne Konsistenz betrug gemäß Cronbach’s Alpha für die neuen Skalen für RADI und PIP 0.85 und 0.80. Diese neue Skala differenzierte zuverlässig zwischen Jugendlichen mit RADI und PIP Subtypen der Aggression.

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Abb. 1.7: Vergleich von PIP- und RADI-Problemen bei Oberschülern und jugendlichen Inhaftierten auf der Basis von expertenbeurteilten YSR-Merkmalen (obere 2 Prozent)

Diese revidierte Skala wurde dann in einer Pilotstudie an inhaftierten Jugendlichen mit Extremwerten in den oberen 2 % für den YSR-Gesamtwert und einer Kontrollgruppe von Highschool-Schülern eingesetzt (vgl. Abb. 1.7). Während die Kontrollpersonen niedrigere Werte in der YSR-Skala für Aggression hatten, wiesen die Delinquenten hohe Werte auf. Weniger als 10 % der Delinquenten konnten in den Untertyp RADI der Aggression und 10 % in den Untertyp PIP klassifiziert werden, während fast 50 % einen kombinierten Typ mit sowohl PIP als auch RADI-Aggression zeigten (Sims et al. 2005).

Also erscheint es ganz so, als ob die Untertypen der Aggression, wie sie durch die Neurowissenschaften vorgeschlagen werden, zu konkreten Ergebnissen bei zwei großen Stichproben von Jugendlichen führen. Die Untertypen unterscheiden delinquente und normale Jugendliche und resultieren in Extremformen, die sich gut voneinander unterscheiden, obwohl kombinierte Störungen gehäuft auftreten, wenn der klinische Störungsgrad ansteigt. Diese Ergebnisse bauen auch eine Brücke zu den Ergebnissen im Schulkindalter bei Jungen (Tremblay et al. 2001; Vitaro et al. 2001; Dodge und Coie 1994), erweitern aber die Ergebnisse auf Jugendliche und beide Geschlechter. Am wichtigsten aber ist die Differenzierung dieser Typen der Aggression bei den inhaftierten Delinquenten, d. h. einer Stichprobe von höchster ökologischer Validität.

Diese ermutigenden Ergebnisse haben unsere Gruppe dazu geführt, die gegenwärtige Einteilung der Aggression zu überdenken und ein neues Verständnis für das Spektrum der Aggression zu entwickeln (vgl. Abb. 1.8). Wir schlagen vor, die diagnostischen Kriterien für die Störung des Sozialverhaltens so zu reformulieren, dass diese Diagnose zu einer typologischen Störung der kalten PIP-Aggression wird. Die Störung mit oppositionellem Trotzverhalten sollte entsprechend verändert werden, so dass diese Diagnose einer Störung der heißen RADI-Aggression entspricht. Beide Diagnosen sind Teil eines diagnostischen Entwicklungsspektrums.

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Abb. 1.8: Vorgeschlagene Spektra von Aggressionsstörungen

Individuen in diesem Spektrum beginnen mit einem fehlangepassten Muster der Aggression und entwickeln in jedem Fall eine von mehreren kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnosen mit fortschreitendem Verlauf. Wenn dieses Muster sich trotz Interventionsbemühungen verschlechtert, können sich die betroffenen Individuen in eine von zwei Formen der Aggression verteilen – einen chronischen Typ und einen akuten Typ. Individuen, die auf dem PIP-Pfad sind, zeigen immer Frühzeichen einer fehlangepassten „kalten“ Aggression, die geplant und verdeckt ist, wie oben beschrieben wurde. Wenn dieses Verhaltensmuster anhält, entwickelt das Kind sehr wahrscheinlich die Diagnose einer Störung des Sozialverhaltens. Wenn dieses Muster bis in das Erwachsenenalter anhält, dann erhält dieses Individuum sehr wahrscheinlich die Diagnose einer antisozialen Persönlichkeitsstörung, speziell in Fällen, bei denen das Muster der Aggression chronisch ist, oder das betroffene Individuum erhält die Diagnose einer Psychopathie in Fällen, in denen das aggressive Verhalten eher akut ist.

Bei der Betrachtung des „heißen“ oder RADI-Subtyps der Aggression, muss man die im Diagnostic and Statistical Manual-IV-Trainings-Revision (DSM-IV-TR) enthaltene Diagnose der Störung mit oppositionellem Trotzverhalten (OTV) berücksichtigen. Kriterien für diese Diagnose haben eine bedeutsame Überlappung mit dem RADI-Muster der Aggression und speziell deswegen, weil die DSM-IV-TR Kriterien für OTV fordern, dass die aggressiven Handlungen unter dem Einfluss von starken und negativen Emotionen erfolgen, welche den aggressiven Handlungen vorausgehen oder diese unterhalten. Die Kriterien spezifizieren außerdem, dass die aggressiven Handlungen in zahlreichen Kontexten auftreten und einen adaptiven Zweck verfolgen wie zum Beispiel den Einsatz von Gewalt, um sich selbst während Krieg oder Kampf zu verteidigen. Schließlich spezifizieren die Kriterien, dass das Auftreten des Verhaltens nicht ausschließlich aus sozialen Umweltbedingungen abgeleitet werden kann, wie es zum Beispiel in Situationen der häuslichen Gewalt vorliegt.

Auf der Basis dieser Überlegungen würde die RADI-Aggression mit einem fehlangepassten Typ der reaktiven oder emotionalen Aggression beginnen, die primär einen negativen Affekt hat. Wenn das Muster bis in die Kindheit anhält, müsste die psychiatrische Diagnose einer Störung mit OTV gestellt werden. Wenn das Muster der Aggression bis in das Erwachsenenalter fortschreitet, würden die betroffenen Individuen die Diagnose einer irritablen Persönlichkeitsstörung chronischer Ausprägung oder einer intermittierend explosiven Störung in der akuten oder schädlichen Form erhalten.

Diese zwei neuen Klassen der Aggression führen zu sehr unterschiedlichen Ansätzen für die Behandlung dieser Störungen. Wir glauben, dass der RADI-Subtyp besser auf psychopharmakologische und psychotherapeutische Interventionen anspricht, während der PIP-Subtyp stärker strukturierte Umgebungen erforderlich machen dürfte, welche Methoden der Verhaltensmodifikation ebenso wie modifizierte Formen der Psychotherapie einschließen. Diese Form spricht möglicherweise nicht so gut auf Pharmakotherapie an wie der RADI-Subtyp (Soller et al. 2006), weil diese Art der Aggression aus geplantem Verhalten and nicht explosiver Emotion besteht.

Schlussfolgerungen

Dieses Kapitel hat verschiedene Konzepte für die Jugenddelinquenz auf der Basis der neurowissenschaftlichen Forschungsliteratur, der Entwicklungspsychiatrie und der Epidemiologie untersucht. Jede dieser Domänen ergänzt einander und hat hochgradig spezifische Implikationen für die Identifikation und Diagnose und schließlich für die Behandlung und Rehabilitation. Jede Domäne verspricht, unsere Effektivität im Umgang mit diesen schwierigen Jugendlichen zu verbessern. So könnten wir in der Behandlung von reaktiv aggressiven Jugendlichen in der Lage sein, Techniken für die Ärgerbewältigung einzusetzen und auch Medikamente zu verbessern, welche hinsichtlich der Affektstabilisierung und Impulsreduktion hilfreich sind, wie zum Beispiel die Antikonvulsiva und Anxiolytika. Hingegen könnten wir bei der Behandlung von Jugendlichen mit PIP stärker einsichtsorientierte und an der Verhaltensmodifikation orientierte Methoden innerhalb eines geschützten Rahmens einsetzen, so dass diese Kinder lernen, moralische Entscheidungsfähigkeit zu entwickeln und ihre Neigung zu reduzieren, für ihre eigenen persönlichen Bedürfnisse andere zu verletzen.

Wir haben die hohen Prävalenzraten der psychiatrischen Morbidität unter jugendlichen Delinquenten und potentielle Pfade und Beziehungen zum sozialen Umfeld dargestellt. Auf der Basis dieser Hypothesen haben wir argumentiert, dass Delinquente aus einer psychopathologischen Perspektive betrachtet werden sollten, welche darauf hinausläuft, dass die Intervention eher aus einer therapeutischen statt aus einer strafenden Perspektive angegangen werden sollte.

Wir schlagen außerdem ein neues Ordnungssystem der Aggression vor, welches unser sich herauskristallisierendes Verständnis der Aggression auf einer neurowissenschaftlichen und psychologischen Ebene integriert. Wir haben ferner dafür plädiert, Spektrumsdiagnosen einzusetzen, welche die neurowissenschaftliche Basis der Aggression aufnehmen und anerkennen und die Klassifikation in zwei Subtypen, nämlich einen „heißen“ Typ der RADI und einen „kalten“ Typ der PIP berücksichtigen. Damit werden weitere differentielle Ansätze der Behandlung und Rehabilitation im Juvenilen Strafsystem nahegelegt. Ein fehlendes Verständnis für diese unterschiedlichen Entwicklungsverläufe impliziert das Risiko des Ignorierens der Psychopathologie, für die es schon jetzt effektive und evidenzbasierte Behandlungsinterventionen gibt. Ein derartiges Defizit würde die betroffenen Individuen einem Leben mit wiederholter Aggression, Gewalt und unzulänglichen Sozialfunktionen und einem Fokus auf ausschließlich strafenden Behandlungsansätzen ausliefern. Es hat sich klar gezeigt, dass derartige häufig im jugendlichen Strafvollzug zu beobachtende Ansätze nicht wirksam sind, für das Sozialsystem kostspielig sind und zahlreiche Probleme erneut hervorbringen, welche eigentlich eingedämmt werden sollten.

Unsere wissenschaftliche Basis für die Erklärung von Delinquenz und Aggression erlaubt uns nun, diese schwer zu behandelnden Jugendlichen sehr differenziert zu sehen, wie es bis dato nicht möglich war. Wir sind daher in der Lage, vollkommen neue Ansatze zur Behandlung vorzuschlagen, die dann hoffentlich als wirksames Gegenmittel zu dem weit verbreiteten Pessimismus dienen, mit dem die Behandlung dieser sehr schwierigen Krankengruppe so oft angegangen wird.

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2 Screening und Diagnostik bei delinquenten Jugendlichen1

Theo Doreleijers, Matthias Jäger und Daniel Gutschner

Einleitung

Gemäß der internationalen Konvention über die Rechte des Kindes haben Jugendliche, die verdächtigt werden, eine Straftat begangen zu haben, einen Anspruch auf Hilfeleistung. Falls es sich um eine akute Indikation handelt wie bei Suizidalität oder einer Psychose, muss unverzüglich eine diagnostische Untersuchung und eventuell eine Behandlung in die Wege geleitet werden.

Neben einem akuten Bedarf für psychiatrische Hilfeleistung werden häufig von gerichtlichen Instanzen forensische Gutachten in Auftrag gegeben, durch die festgestellt werden soll, ob bei dem Jugendlichen zum Zeitpunkt der Straftat eine psychische Störung vorlag und ob diese eine Rolle beim Zustandekommen der Tat gespielt hat. Außerdem ist die Justiz daran interessiert, welche Möglichkeiten zur Senkung der Rückfallrate zur Verfügung stehen und wie dem Jugendlichen im Allgemeinen geholfen werden kann, um seine Entwicklung zu fördern. Es geht hierbei also um langfristige Behandlungsindikationen. In westeuropäischen Ländern wird im Gegensatz zu den USA die Prozesserstehungsfähigkeit des Jugendlichen nicht durch fachkundige Gutachten beurteilt. Ebenso wenig wird geprüft, ob der Jugendliche in der Lage ist, die Inhalte des Strafverfahrens zu erfassen. Die Feststellung einer eventuellen geistigen Behinderung könnte dazu beitragen, dass das Gericht mögliche Einschränkungen u. a. in der Auffassungsfähigkeit mehr berücksichtigen kann.

Forensische Gutachten dienen also verschiedenen Zwecken und müssen hohen Anforderungen genügen. Trotzdem gibt es in den meisten europäischen Ländern kaum Richtlinien für die Erstellung derartiger Gutachten und kaum Anforderungen an die Ausbildung der Gutachter. Außerdem gibt es in den meisten Ländern keine Qualitätsprüfungen der Gutachten. Dies ist vor dem Hintergrund zu betrachten, dass es sich bei jugendlichen Straftätern nach den Erkenntnissen von mehreren Studien oftmals um psychisch labile Menschen handelt.

2.1 Risikofaktoren für psychische Störungen und Delinquenz bei Jugendlichen

In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Faktoren dargestellt, welche die Anfälligkeit von Jugendlichen für eine psychische Erkrankung erhöhen. Auf neurophysiologischer und neurochemischer Ebene sind einige wichtige Faktoren bekannt, die zum Teil genetisch determiniert sind und zum Teil im Laufe der Schwangerschaft, Geburt und frühen Kindheit zustande kommen. Kinder mit hyperkinetischen Störungen sind beispielweise gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Impulsivität, welche u. a. mit einem niedrigen Serotoninspiegel in Zusammenhang zu bringen ist. Der Serotoninhaushalt wird durch genetische Faktoren beeinflusst, im Falle einer Störung wird ein Missverhältnis zwischen dem freien Serotonin und der Rezeptordichte in den Synapsen angenommen. Bei hyperaktiven Kindern ist daher die „Bremsfunktion“ nicht ausreichend ausgebildet, wodurch sie handeln ohne nachzudenken und höhere kognitive Funktionen wie die Gewissensfunktion unzureichend arbeiten.

Ein anderer neurobiologischer Faktor findet sich in der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse, die für den Kortisol-Spiegel verantwortlich ist. Menschen, die in Stress oder beängstigende Situationen geraten, haben in der Regel einen erhöhten Kortisolspiegel, welcher als Puffer gegen eine nicht mehr zu bewältigende Angst dienen soll. Bei skrupellosen Menschen wie auch bei Menschen mit gefährlichen Berufen und bei Jugendlichen, die wenig ängstlich sind, hat man in Untersuchungen herausgefunden, dass die neurochemische Achse zu niedrig eingestellt ist, was zu einer verminderten Ängstlichkeit führt.

Schließlich muss noch die Funktion des autonomen Nervensystems genannt werden, d. h. der Teil des Nervensystems, der nicht willentlich beeinflussbar ist und der z. B. bei Gefahr durch eine Erhöhung der Herzfrequenz warnt. Hierdurch werden verschiedene Organe einschließlich des Gehirns vermehrt durchblutet. Das autonome Nervensystem scheint bei Menschen mit einem Risiko für delinquentes Verhalten zu niedrig eingestellt zu sein, man spricht von einem niedrigen Arousal-Niveau. Derzeit wird angenommen, dass Menschen, die mit diesen Faktoren geboren werden, von Natur aus die Neigung haben, sich in gefährliche Situationen zu bringen, um das Arousal anzuheben und eine angenehme Spannung zu empfinden.

Die psychologischen Risikofaktoren, die für eine erhöhte Anfälligkeit für psychische Erkrankungen bei jungen Menschen verantwortlich sein können, sind nicht vollständig von den biologischen Faktoren zu trennen, da viele psychologische Faktoren auf ein biologisches Substrat zurückzuführen sind. Dies ist bekannt bei Phänomenen wie Einschränkungen der Intelligenz, der Lese- und der Rechenfähigkeiten und bei einem Mangel an Empathievermögen. Bei einer eingeschränkten Sozialkompetenz und einem negativen Selbstbild wurde bisher keine biologische Grundlage entdeckt, daher sprechen wir hier von psychologischen Risikofaktoren. Eine ursächliche Kombination von neurobiologischen und psychologischen Faktoren findet sich bei den meisten psychiatrischen Störungen.

Die hyperkinetischen Störungen werden zu 70–80 % genetisch determiniert. Die wichtigsten Merkmale von hyperkinetischen Störungen sind Impulsivität und Konzentrationsstörungen. Das Substrat beider Komponenten liegt in Einschränkungen bei den exekutiven Funktionen, z. B. Planungsvermögen und der Fähigkeit, Dinge und Informationen zu ordnen. Auch die Störungen aus dem Autismusspektrum sind in hohem Maße genetisch begründet. Klinisch sind sie gekennzeichnet durch schwerwiegende Kommunikationsprobleme, Kontaktschwierigkeiten und stereotype Handlungen. Als drittes Beispiel kann die Depression genannt werden, ebenfalls eine Erkrankung, deren Entstehung teilweise genetisch bedingt ist. Falls eine Depression in frühem Lebensalter beginnt, ist deren Prognose eingeschränkt, v. a. wenn sie nicht adäquat behandelt wird. Bei der Entwicklung und Persistenz einer Depression spielen psychologische Faktoren wie die erlernte Hilflosigkeit ebenfalls eine wichtige Rolle.

Bei jugendlichen Delinquenten trifft man häufig auf Komorbiditäten, d. h. das Vorliegen von mehreren Störungen zur gleichen Zeit. Komorbidität führt zu einem schlechteren Funktionsniveau und einer größeren Behandlungsnotwendigkeit. Die Behandlung gestaltet sich schwieriger und die Prognose ist meist schlechter als bei einer singulären Störung. Die internationale Forschung hat mittlerweile eine hohe Prävalenz psychopathologischer Symptome bei jugendlichen Delinquenten nachgewiesen. In den Niederlanden werden Untersuchungen auf verschiedenen Stufen des strafrechtlichen Ablaufs durchgeführt. Eine Studie bei 12- bis 18-jährigen Jugendlichen, die mit der Polizei in Kontakt gekommen waren, erfasste in 30 % der Fälle ernsthafte Probleme. Bei Jugendlichen, die angezeigt wurden und es zu einem Kontakt mit gerichtlichen Instanzen kam, fand man bei 65 % der Jugendlichen psychische Störungen. Hierzu sei angemerkt, dass in den Niederlanden jeder dritte Jugendliche mit einer Vorladung vor den Richter psychiatrisch untersucht wird. Bei dieser Untergruppe wurde sogar bei 70 % der Jugendlichen eine psychische Erkrankung diagnostiziert. Schließlich ergab eine Studie unter verurteilten Jugendlichen in Jugendstrafanstalten, dass hier bei 90 % psychische Störungen vorlagen, unabhängig davon, ob die Jugendlichen eine therapeutische Maßnahme oder ein Haftstrafe verbüßten.

Diese Ergebnisse legen nahe, dass man unter Jugendlichen mehr psychopathologische Auffälligkeiten findet, je weiter sie im strafrechtlichen Prozedere voranschreiten. Ohne dass dies in den Niederlanden untersucht wurde, kann man vermuten, dass derselbe Befund auch bei der Prävalenz geistiger Behinderungen zu finden sein dürfte.

Neben diesen intrinsischen Faktoren spielen in den meisten Fällen von schwerwiegender Jugenddelinquenz auch kontextuelle oder extrinsische Faktoren eine Rolle. Innerhalb der Familie können u. a. folgende Faktoren zur Entstehung von Jugenddelinquenz beitragen: Kindesmissbrauch, intrafamiliäre Gewalt, psychiatrische Störungen der Eltern, restriktive Erziehungsmethoden, Mangel an Aufsicht und andere Merkmale. Außerhalb des familiären Rahmens sind ebenfalls einige kontextuelle Faktoren zu finden, wie z. B. schlechter Einfluss im Freundeskreis oder zu wenig Aufsicht in der Schule. Als weitere Faktoren auf etwas abstrakterem Niveau sind die Verfügbarkeit von Alkohol und Drogen, Pornographie und Gewalt im Fernsehen zu nennen.

Zusammenfassend finden sich ausreichend Gründe, um alle Jugendlichen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, mit einem Screening zu erfassen und auf der Basis des Screeningergebnisses die Indikation für eine diagnostische Untersuchung zu stellen.

2.2 Verschiedene Parteien bei einem strafrechtlichen Gutachten

Das Hauptmerkmal eines strafrechtlichen Gutachtens besteht in der Tatsache, dass nicht der Patient oder dessen Angehörige Auftraggeber sind, sondern das Gutachten vom Gericht in Auftrag gegeben wird. In den Niederlanden kann in einigen Fällen auch das Jugendamt ein strafrechtliches Gutachten anfordern. In jedem Fall sind mehrere Parteien am Gutachten beteiligt: gerichtliche Instanzen, das Jugendamt, der Jugendliche, seine Eltern und deren Anwalt, der Bewährungshelfer oder die Jugendstrafanstalt inklusive der Schule, die der Jugendliche besucht. Aus niederländischen Studien geht hervor, dass alle Parteien daran interessiert sind, durch das strafrechtliche Gutachten das Funktionieren des Jugendlichen zu verstehen und eine Erklärung für sein Fehlverhalten zu bekommen. Alle Beteiligten wollen einen nützlichen Rat, der sich logisch aus der diagnostischen Untersuchung erschliessen muss. Ferner wollen die gerichtlichen Instanzen Antworten auf Fragen erhalten, die für die strafrechtliche Prozedur wichtig sind (Zurechnungsfähigkeit, Rückfallrisiko, strafrechtliche Maßnahmen). Die späteren Therapeuten und Betreuer wollen gerne Einschätzungen zu den weiteren Entwicklungsmöglichkeiten des Jugendlichen. Die Therapeuten gehen davon aus, dass der Diagnostiker einen Überblick über die Möglichkeiten hat, die das therapeutische Arbeitsfeld bietet. Außerdem ist eine ausführliche Besprechung des Gutachtens mit dem Jugendlichen und seinen Eltern erwünscht.

Die Ambivalenz der Eltern bezüglich der Mitarbeit an der Begutachtung zeigt sich in der Kooperationsbereitschaft mit dem Gutachter und der Bereitwilligkeit, Informationen über den Jugendlichen und die Familiensituation zu geben. Die meisten Eltern zeigen große Sorgen um ihr Kind und fürchten eine Verurteilung, v. a. wenn die drohende Verurteilung repressiver Art ist und den Jugendlichen in seinen Entwicklungsmöglichkeiten zu Hause, in der Schule und im Freundeskreis einschränken könnte. Die Jugendlichen selbst betrachten den Gutachter häufig in erster Linie als verlängerten Arm des Gerichts. In vielen Fällen sind besondere Fähigkeiten des Gutachters erforderlich, möglichst viele Informationen zu erhalten und dem Jugendlichen gleichzeitig zu verdeutlichen, dass diese Informationen für die Strafsache verwendet werden.

Dieses Spannungsfeld kommt nicht ausschließlich während der strafrechtlichen Prozedur zum Tragen, sondern tritt erneut bei der Risikoabschätzung während der Behandlung auf, wenn z. B. beurteilt werden muss, ob der Jugendliche Ausgang bekommen kann oder ob eine Verlängerung der Maßnahme indiziert ist.

2.3 Das strafrechtliche System in den Niederlanden