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NIKOLAUS VON KUES (ca. 1401–1464) hieß eigentlich Nikolaus Chryfftz oder Krebs und stammte aus dem heutigen Bernkastel-Kues. Er promovierte in Rom zum Doktor des kanonischen Rechts und gehörte bald zu den bedeutenden Humanisten. Berühmt wurde er durch die Entlarvung der »Konstantinischen Schenkung« als Fälschung. Als Kardinal war er mit höchsten diplomatischen Aufgaben betraut, unter anderem mit Gesprächen zur Wiedervereinigung mit der Ostkirche. Als Nikolaus von Kues als Bischof von Brixen starb, hinterließ er ein bis heute faszinierendes philosophisches Werk.

Der Herausgeber

DR. BRUNO KERN, geboren 1958, studierte Theologie und Philosophie in Wien, Fribourg, München und Bonn; er lebt zurzeit in Mainz und arbeitet als selbstständiger Lektor und Übersetzer. Für den marixverlag übersetzte er Marguerite Poretes Der Spiegel der einfachen Seelen.

Zum Buch

»Wir nehmen an, kein Stern sei unbewohnt.«

NIKOLAUS VON KUES

Nikolaus von Kues gilt als der erste Philosoph der Renaissance und des Humanismus. Gerade sein Hauptwerk Über die belehrte Unwissenheit markiert einen Epochenbruch und weist in vieler Hinsicht auf die Moderne voraus. Unser Wissen bleibt immer hinter dem zurück, was gewusst werden kann. Der Erkennbarkeit der Wirklichkeit an sich setzt von Kues seine »Kunst der Mutmaßungen« entgegen. Damit wird er zum Wegbereiter Descartes’, Kants und der modernen Wissenschaftstheorie. Bereits vor Kopernikus bestreitet er, dass die Erde Mittelpunkt des Universums sei, und wagt den kühnen Gedanken von der Unendlichkeit der Welt. Die Philosophie des Kusaners eröffnet den Raum, die Welt in ihrem »reinen Weltlichsein« zu erkunden. Einer bloß instrumentellen Ratio setzt er jedoch seine »schauende Vernunft« entgegen. Der zentrale Gedanke eines »Zusammenfalls der Gegensätze« in Gott ist die wohl bedeutendste und wirkmächtigste Einsicht seines Hauptwerks. Kein Geringerer als Hegel meinte, dass diese Idee den eigentlichen Gehalt alles Philosophierens überhaupt ausmache.

Als »ersten Denker der Renaissance« hat man den Kusaner immer wieder bezeichnet, und dies nicht zu Unrecht. Die großen Philosophen der Renaissance, allen voran Giordano Bruno, stehen erkennbar im Bann seines Denkens. Über den Aristotelismus der Hochscholastik ist Nikolaus von Kues in entscheidender Hinsicht hinausgegangen, und zentrale Einsichten seines Denkens verweisen auf die neuzeitliche Subjektphilosophie und die modernen Naturwissenschaften. Denker des Übergangs, wie es der Kusaner in eminentem Sinne war, sind immer besonders anregend. Die Festigkeit von Denksystemen beginnt sich aufzulösen, alte Gewissheiten zeigen Risse, ein Paradigmenwechsel kündigt sich an und lässt sich wenigstens im Rückblick nachvollziehen. Wahrscheinlich macht genau dies die aktuelle Faszinationskraft des Kusaners aus.

Nikolaus von Kues

Über die belehrte Unwissenheit

Nikolaus von Kues

Über die belehrte
Unwissenheit

In der Übersetzung von Anton Scharpff

Eingeleitet von Bruno Kern

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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
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eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0470-7

www.verlagshaus-roemerweg.de/Marix/

»Und doch ist selbst die größte Sammlung des Weltgeistes,
das Zusammentragen der wichtigsten Gedankengüter,
nur ein lächerlicher Ausschnitt aus der Unendlichkeit
des Geistes selber.
Also bedenke in Demut, mein Freund.«

Nikolaus von Kues

INHALT

Nikolaus von Cusa – Denker an der Epochenschwelle

Einleitung von Bruno Kern

Über die belehrte Unwissenheit / De docta ignorantia

Nicolaus von Cusa an den hochehrwürdigen Kardinal Julian, seinen Lehrer

Erstes Buch

1.–26. KAPITEL

Zweites Buch

1.–13. KAPITEL

Drittes Buch

1.–12. Kapitel

NIKOLAUS VON CUSA
DENKER AN DER EPOCHENSCHWELLE

Als »ersten Denker der Renaissance« hat man den Kusaner immer wieder bezeichnet, und dies nicht zu Unrecht. Die großen Philosophen der Renaissance, allen voran Giordano Bruno, stehen erkennbar im Bann seines Denkens. Über den Aristotelismus der Hochscholastik ist Nikolaus von Kues in entscheidender Hinsicht hinausgegangen, und zentrale Einsichten seines Denkens verweisen auf die neuzeitliche Subjektphilosophie und die modernen Naturwissenschaften. Denker des Übergangs, wie es der Kusaner in eminentem Sinne war, sind immer besonders anregend. Die Festigkeit von Denksystemen beginnt sich aufzulösen, alte Gewissheiten zeigen Risse, ein Paradigmenwechsel kündigt sich an und lässt sich wenigstens im Rückblick nachvollziehen. Wahrscheinlich macht genau dies die aktuelle Faszinationskraft des Kusaners aus.

Nikolaus von Kues (Cusanus ist die latinisierte Herkunftsbezeichnung) wurde im Jahr 1401 als Nikolaus Chryfftz (= Krebs) an der Mosel, im heutigen Bernkastel-Kues, geboren. Sein Vater war als Schiffer ein relativ wohlhabender Kaufmann, und darüber hinaus ermöglichten adelige Gönner die wissenschaftliche Laufbahn des Cusanus. Diese begann zunächst in Heidelberg mit dem Studium der artes liberales, der »freien Künste«, wo er unter anderem nominalistisches Denken rezipierte.* In Padua wurde er zum Doktor des kanonischen Rechts promoviert, wo vor allem der Kontakt zu den italienischen Humanisten prägend für ihn wurde, und lehrte schließlich an der Universität zu Köln Kirchenrecht. Parallel zu seiner wissenschaftlichen Laufbahn begann die klerikale Karriere des Cusaners mit der Priesterweihe (etwa um 1440), seiner Teilnahme am Konzil von Basel, seinen diplomatischen Missionen im Auftrag des Papstes (zunächst in Deutschland, dann unter anderem in Konstantinopel bei der seit dem Schisma von 1054 von Rom getrennten orthodoxen Kirche), seiner Ernennung zum Bischof von Brixen und seiner Erhebung in den Kardinalsstand. Abgesehen von seinem philosophischen Werk erwarb sich Nikolaus von Kues Verdienste, indem er die sogenannte »Konstantinische Schenkung« aufgrund von philologischen Untersuchungen als Fälschung entlarvte. Zukunftsweisend ist auch seine religiöse Toleranzidee, die er im Gefolge von Raimundus Llullus vertrat. Seine intensive Auseinandersetzung mit dem Koran ist bis heute beispielgebend für jeden ernsthaften Religionsdialog.

Für das Verständnis seines philosophischen Denkens ist der Einfluss des Neuplatonismus, näherhin des Proklos und des (Pseudo-)Dionysius Areopagita nicht zu unterschätzen. Der Neuplatonismus war in der Spätantike höchst einflussreich, was ja schließlich kein Geringerer als der Kirchenvater Augustinus beweist. Es wäre allerdings verfehlt, von einer neuplatonischen Verfälschung des jüdisch-christlichen Glaubens zu sprechen. Trotz aller aus heutiger Sicht durchaus problematischer Auffassungen bewahrt Dionysius die wesentlichen christlichen Grundauffassungen etwa bezüglich des Schöpfungsglaubens. Alles Seiende, die gesamte Welt der Erscheinungen, fließt aus dem göttlichen Einen, dem ungeteilten Urgrund, hervor, der sich dabei aber nicht selbst verliert, sondern in diesem Ausströmen bei sich bleibt, da er dieses Aussich-Heraustreten gerade wesentlich ist. Den platonischen Gedanken von der Emanatio der Welt aus dem göttlichen Einen verbindet Dionysius mit der christlichen Grundeinsicht, das Gott die Liebe ist. Die sich aus Liebe verströmende Allursache ist der Grund der Schöpfung. Dieser göttliche Eros, aus dem alles hervorgeht, zieht die Schöpfung wieder an sich. Dionysius vermeidet jede pantheistische Deutung, er vermeidet jede gnostische Abwertung der Materie, er kennt kein mit Gott konkurrierendes böses Prinzip, sondern versteht das Böse als Mangel an gutem (privatio boni), und er bedarf auch keines Demiurgen, keines Zwischenwesens, um die Schöpfung zu erklären, ohne die Einheit des göttlichen Einen zu gefährden. Von hier aus lässt sich eine direkte Linie zum Verständnis des Gott-Welt-Verhältnisses ziehen, wie es Cusanus erläutert: Das in der Unendlichkeit Gottes Eingefaltete (complicatio) und mit Gott Identische faltet sich aus (explicatio) und wird so zum Sein der verschiedenen Seienden. Die Welt bzw. das Universum versteht er als die erste Ausfaltung der Unendlichkeit Gottes und die kontrahierte Wesenheit aller einzelnen Seienden. Noch in einer zweiten Hinsicht folgt der Cusaner dem Dionysius Areopagita: Dieser hatte in seiner Schrift Über die göttlichen Namen eine »negative« bzw. apophatische« Theologie begründet, welche von der Grundeinsicht ausgeht, dass von Gott nur angemessen in der Weise der Negation aller endlichen Eigenschaften gesprochen werden kann, die allerdings wiederum durch eine Negation der Negation überschritten werden muss.

De docta ignorantia ist nicht nur das erste, sondern auch das grundlegende philosophische Werk des Cusanus, in dem im Keim bereits die Grundkonturen seines Denkens insgesamt vorhanden sind. Die leitende Einsicht dieses Werkes von der coincidentia oppositorum, dem Zusammenfall aller Gegensätze in letzter Einheit, führt er selbst in der epistola auctoris auf eine Art Erleuchtungserlebnis zurück, das er genau datieren kann: »Als ich aus Griechenland zurückkehrte, erfuhr ich auf hoher See – ich glaube durch ein Geschenk von oben, vom Vater des Lichtes, von dem alle gute Gabe kommt – jene Wegweisung, dass ich das Unbegreifliche unbegreifenderweise umfasste in wissendem Nichtwissen […]. In diesen Tiefen muss alle Bemühung unseres menschlichen Geistes dahin gehen, sich zu jener Einheit zu erheben, in der die Gegensätze zusammenfallen

Die Erkenntnisphilosophie des Kusaners ist eine deutliche Abkehr von der hochscholastischen, an Aristoteles orientierten. Wenn Thomas von Aquin die Wahrheit noch als die adaequatio rei et intellectus (De veritate, I, 1), also als die Übereinstimmung von Sache und Verstand, definieren kann, so liegt dies in der Überzeugung von der Intelligibilität alles Seienden begründet, hat also einen ontologischen Grund. Das Wahre gehört zu den sogenannten Transzendentalien, zu den mit dem Sein selbst gegebenen letzten Bestimmungen: ens et verum convertuntur. Hier vollzieht Cusanus eine Wende hin zum erkennenden Subjekt, dem sich das Seiende als gewusstes Seiendes fügt: »Unser Geist ist begriffliche Kraft. Dieser Kraft entsprechend, verwandelt er alle Dinge in ein begriffliches Sein. Daher ist die Wahrheit sein Objekt, und wenn er seine Begriffsbildung dieser Wahrheit angleicht, besitzt er alle Dinge im Begriff und die Dinge werden dann Gedankendinge genannt. So ist der Stein im Begriff des Geistes kein wirkliches, sondern ein gedankliches Seiendes.« (De ludo globi, lib. II-III) Kants »kopernikanische Wende« zum Subjekt, die die Erkenntnisphilosophie, also die Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis im Subjekt selbst, zur »ersten Philosophie« anstelle der Metaphysik macht, scheint hier im Ansatz vorweggenommen.

Die absolute Wahrheit entzieht sich Nikolaus von Kues zufolge unserem endlichen Verstand. Dies macht unsere unüberwindbare Unwissenheit aus. Die gelehrte Unwissenheit ist eben diese Einsicht in die grundsätzlich für unseren endlichen Verstand nicht erreichbare absolute Wahrheit. Letztere ist dem Begreifen des Verstandes deshalb entzogen, weil es in ihrem Bereich kein »Mehr« und kein »Weniger«, keine messbare Verhältnismäßigkeit, gibt. Ausgehend vom Endlichen ist uns aber durch einen Akt des »Überstiegs«, des transcensus, eine Annäherung an das Unendliche möglich. Das uns durch und durch Bekannte, von dem wir ausgehen können, sind die unserem Geist entspringenden geometrischen Figuren. Der Zusammenfall der Gegensätze lässt sich gerade von diesem Ausgangspunkt aus im Sinne eines mathematischen Grenzbegriffs anschaulich nachvollziehen: Ein Kreis, also die gekrümmte Linie, wird, denkt man sich seinen Radius unendlich, zur Geraden.

Der Gedanke vom Zusammenfall der Gegensätze ist nicht vereinbar mit der aristotelischen Logik und deren zentralem Satz vom Widerspruch, demzufolge »unmöglich dasselbe demselben in derselben Hinsicht zugleich zukommen und nicht zukommen kann«. Nikolaus von Kues besteht aber beharrlich darauf, dass die ratio, der den Gesetzen der Logik folgende Verstand, im Menschen überboten wird durch den intellectus, das heißt durch die zu Synthese, zur Zusammenschau fähigen menschlichen Vernunft. Gott als der absolute Grund, als das Eine, in dem alle Gegensätze zusammenfallen – und täten sie es nicht, so wäre Gott nicht Gott, denn etwas außerhalb seiner, das er nicht umfasste, höbe sein Gottsein auf – kann niemals Gegenstand des diskursiven Denkens sein, sondern kann sich nur dieser schauenden Vernunft zu erkennen geben.

Die Kosmologie, die Nikolaus von Kues in seinem grundlegenden Werk entfaltet, hat mit dem kühnen Gedanken von der Unendlichkeit der Welt eine umwälzende wissenschaftshistorische Bedeutung erlangt. Auf rein spekulativem Wege entfaltet Cusanus die Einsicht, dass es keinen Körper gäbe, der den Mittelpunkt der Welt darstelle, dass die Welt keine Grenze habe, der Sternenhimmel also nicht ihre Peripherie bilde, dass die Erde ein Stern unter vielen und nicht in vollkommenem Ruhezustand sei. Sogar die Möglichkeit außerterrestrischen Lebens deutet er zumindest an. Kepler wird sich ausdrücklich auf Cusanus beziehen. Wissenschaftsgeschichtlich ebenso bedeutsam war die von ihm begründete »Mutmaßungslogik«, mit der er das hypothetische Verfahren der wissenschaftlichen Welterschließung vorwegnahm. Die Auflösung der an der in sich stehenden Substanz orientierten aristotelischen Metaphysik bei Cusanus, dessen Denken die funktionelle Verwiesenheit alles Seienden herausstellt, nimmt ein relationales Weltverständnis vorweg, das erst in jüngster Zeit durch ein neues, vorläufig noch heterodoxes kosmologisches Denken allmählich eingeholt wird.

De docta ignorantia ist als die philosophische Hauptschrift des Cusaners hervorragend dazu geeignet, sich das reichhaltige Denken dieses Universalgelehrten insgesamt und damit zugleich einen entscheidenden Epochenwandel der abendländischen Denkgeschichte zu erschließen.

Bruno Kern

*Der Streit zwischen Nominalismus und Realismus war eine der wichtigsten philosophischen Auseinandersetzungen des Hochmittelalters. Es ging dabei um die Frage, ob die Begriffe lediglich Konstrukte unseres Verstandes, bloße »Namen« (daher die Bezeichnung »Nominalismus«), seien, oder ob sie eine ontologische Entsprechung hätten, ob ihnen im Seienden selbst etwas korrespondiere. Der Nominalismus war vor allem innerhalb der franziskanischen Denktradition beheimatet (etwa William von Ockham). Der berühmte Roman von Umberto Eco, Der Name der Rose, spielt bereits im Titel auf diesen philosophischen Streit an.

Über die belehrte Unwissenheit /
De docta ignorantia

NICOLAUS VON CUSA
AN DEN HOCHEHRWÜRDIGEN
KARDINAL JULIAN,
SEINEN
LEHRER

Deinen großen und gepriesenen Geist wird es mit Recht befremden, daß ich, indem ich aus dem Barbarenlande meine Albernheiten (meas barbaras ineptias) allzu unüberlegt zu veröffentlichen wage, dich um ein Gutachten ersuche (te arbitrum eligo), als hättest du bei deiner Stellung am apostolischen Stuhle als Kardinal und bei der angestrengtesten Tätigkeit im öffentlichen Dienste noch einige Muße übrig, oder als könnte dich, den feinsten Kenner der gesamten lateinischen und nun auch der griechischen Literatur, das Ungewöhnliche des Titels für diese meine vielleicht ganz ungereimte Schrift gewinnen. Meine Geistesrichtung ist dir längst hinlänglich bekannt. Ich gebe mich der Hoffnung hin, daß nicht so sehr der Gedanke, hier bisher Unbekanntes zu finden, als vielmehr das Befremden über die Kühnheit, mit der ich mich an eine Abhandlung über die Wissenschaft des Nichtwissens gewagt, deine große Wißbegierde zum Einsehen meiner Arbeit bewegen werde. Die Naturlehre sagt uns, dem Appetite gehe eine unangenehme Empfindung im Gaumen vorher, auf daß die Natur bei ihrem Selbsterhaltungstriebe hierdurch angereizt neue Kräfte sammle. So geht wohl auch mit Recht das Staunen, das uns zum Philosophieren anregt (admirari, propter quod philosophari), dem Wissenstriebe vorher, damit unsere Vernunft, der das Begreifen ihr Sein ist, im Streben nach Wahrheit zur Vollkommenheit gelange. Das Seltene fesselt uns, wenn es auch abenteuerlich (monstra) ist.

So glaube denn, mein einziger Lehrer! in deiner Humanität, daß hier etwas deiner Würdiges verborgen sei, und nimm dieses wie immer gestaltete Philosophem eines Deutschen über göttliche Dinge wohlwollend auf! Die große Mühe, die ich darauf verwendet, hat es mir zu einer äußerst lieben Beschäftigung gemacht.

Erstes Buch

ERSTES KAPITEL

Unser Wissen ist Nichtwissen

Als Gabe Gottes liegt in allen Dingen, wie wir sehen, ein natürliches Verlangen, auf eine bessere Weise zu existieren, wie es ihr natürlicher Zustand zuläßt. Für dieses Ziel sind besonders diejenigen Wesen tätig und mit den geeigneten Hilfsmitteln versehen, denen der Verstand angeboren ist, entsprechend dem Zwecke des Erkennens, auf daß jenes Verlangen nicht ein vergebliches sei, sondern in dem Gegenstande des Verlangens durch den Zug (pondere) der eigenen Natur seine Ruhe finde. Geht es etwa anders, so kann dies nur akzidentiell sein, z. B. wenn Kränklichkeit den Gaumen oder die Meinung den Verstand in die Irre führt. Daher sagen wir, die gesunde und freie Vernunft erkenne das Wahre, das sie in einem ihr angeborenen unersättlichen Suchen, alles durchforschend, zu erreichen strebt, wenn sie es in liebendem Umfassen ergreift (Quamobrem sanum liberum intellectum verum [quod insatiabiliter indito discursu, cuncta perlustrando attingere cupit], apprehensum amoroso amplexu cognoscere dicimus), und wir zweifeln nicht, vollkommen wahr sei das, dem kein gesunder Verstand widersprechen kann. Alle Forschung ermißt aber das Ungewisse durch proportionale Vergleichung mit etwas vorausgesetztem Gewissen. Jede Forschung ist mithin eine vergleichende (comparativa est omnis inquisitio), mittelst einer Proportion. Läßt sich das Gesuchte in naheliegender Proportion mit dem vorausgesetzten Gewissen in Verbindung bringen, so ergibt sich das (die Wahrheit) erfassende Urteil auf leichte Weise, bedarf es aber einer vielfachen Vermittlung (multis mediis), dann entstehen Schwierigkeiten und Mühe. Bekannt ist dies von der Mathematik, wo die ersten Lehrsätze auf die ersten und ganz bekannten Prinzipien leichter zurückgeführt werden, die späteren Lehrsätze aber schwieriger, weil es nur durch die Vermittlung jener möglich ist. Jedes Forschen bewegt sich also in einer leichten oder schwierigen vergleichenden Proportion nach einem Unendlichen hin, das als Unendliches, indem es sich jeder Proportion entzieht, unbekannt ist. Da die Proportionen ein Zusammenstimmen in einem gewissen einen und zugleich ein Anderssein ist, so läßt sie sich ohne Zahl nicht denken. Die Zahl schließt somit alles Proportionale in sich. Nicht also bloß in der Quantität ist die Zahl, sondern in allem, was wie immer substantiell oder akzidentiell zusammenstimmen und differieren kann. Deshalb hat wohl Pythagoras gelehrt, alles werde durch die Kraft der Zahlen geordnet und erkannt. Indessen eine präzise Kombination im Körperlichen und eine kongruente Anreihung des Unbekannten an das Bekannte geht über den menschlichen Verstand, weshalb Sokrates meinte, er wisse nichts, außer daß er nichts wisse. Der weise Salomo sagte, alle Dinge seien schwierig und nicht durch Worte zu erklären. Und ein anderer Mann voll des göttlichen Geistes sagt, verborgen sei die Weisheit und die Stätte der Erkenntnis vor den Augen aller Lebenden. Wenn dem so ist, wie auch der tiefdringende Aristoteles in seiner »ersten Philosophie« sagt, daß selbst in den von Natur ganz unbekannten Dingen uns dieselben Schwierigkeiten begegnen wie der Eule, wenn sie die Sonne sehen will, so geht offenbar, da der Erkenntnistrieb nicht umsonst in uns ist, unser Verlangen dahin, zu wissen, daß wir nichts wissen. Bringen wir dieses Verlangen zur Vollendung, so erlangen wir die Wissenschaft des Nichtwissens (doctam ignorantiam). Auch der Wißbegierigste kann es in seiner Bildung zu keiner höheren Vollkommenheit bringen, als wenn er über die Unwissenheit, die dem Menschen eigen ist, recht unterrichtet erfunden wird (in ipsa ignorantia doctissimum reperiri). Zu dem Ende habe ich mir die Mühe genommen, über eben diese Wissenschaft des Nichtwissens einiges zu schreiben.

ZWEITES KAPITEL

Einleitender Überblick des Ganzen

Die Erörterung über das größte Nichtwissen erfordert allererst eine Erläuterung der Natur des Größten.

Das Größte ist das, über welches hinaus es nichts Größeres gibt. Die höchste Fülle (abundantia) kommt aber der Einheit zu. Es koinzidiert also mit dem Größten die Einheit, die auch das Sein (entitas) ist. Da diese Einheit von allem Verhältnis und allem Konkreten (contractione) ganz und gar frei ist, so hat sie offenbar keinen Gegensatz. Das absolut Größte ist daher eine Einheit, die alles ist und in der alles ist, weil es das Größte ist. Weil es keinen Gegensatz hat, so koinzidiert mit ihm das Kleinste, es ist daher auch in allem. Weil es absolut ist, so ist es in Wirklichkeit (actu) alles mögliche Sein, ohne durch die Dinge beschränkt zu sein, da alle Dinge von ihm sind.

Dieses Größte, das im einstimmigen Glauben aller Nationen Gott genannt wird, werde ich im ersten Buche in nicht begriffsmäßiger Weise, über den menschlichen Verstand hinausgreifend (supra humanam rationem incomprehensibiliter inquirere laborabo) zu erforschen suchen, unter der Leitung dessen, der allein in einem unzugänglichen Lichte wohnt.

Wie das absolute Größte das absolute Sein ist, durch welches alles ist, was ist, so gibt es auch eine universale Einheit des Seins aus jener, die das absolut Größte ist. Sie existiert konkret (contracte) als Universum, dessen Einheit in konkreter Vielheit besteht, ohne welche sie nicht sein könnte. Obwohl dieses Maximum in seiner universalen Einheit alles umfaßt, und alles, was aus dem Absoluten stammt, in ihm ist und es in allem, so hat es doch seinen Bestand nicht außer dem Bereiche der Vielheit, da es nicht ohne konkrete Beschränkung (contractione) besteht, von der es sich nicht losmachen kann. Von diesem Maximum, dem Universum, werde ich im zweiten Buche einiges sagen.

Konsequent wird sich dann das Maximum der dritten Betrachtung herausstellen. Denn da das Universum nur ein beschränktes Sein in der Vielheit hat, so werden wir aus dem vielen ein Größtes heraussuchen, in dem das Universum auf die größte und vollkommenste Weise aktuell, als in seinem Ziele, Subsistenz findet. Dieses muß sich mit dem Absoluten, das der Höhepunkt des Universums (terminus universalis) ist, vereinen, weil es das vollkommenste Ziel sein soll, über alle menschliche Fassungskraft. Von diesem Größten, das zugleich konkret und absolut ist, das wir Jesus, den ewig gepriesenen nennen, will ich im dritten Buche einiges, soweit mich Jesus selbst hierzu erleuchtet, beifügen.

Wer aber meinen Sinn erforschen will, muß über die Wortdeutung hinaus sich zum geistigen Verständnis erheben und nicht an der eigentlichen Bedeutung der Worte hängen bleiben (oportet potius supra verborum vim intellectum efferre, quam proprietatibus vocabulorum insistere), die zur Bezeichnung solcher Mysterien des Geistes in ihrer gewöhnlichen Bedeutung nicht ausreichen (quae tantis intellectualibus mysteriis proprie adaptari non possunt). Auch Vergleichungen aus der Sinnenwelt muß man zur Anleitung anwenden, indem man sie auf das Geistige überträgt, auf daß der Leser leichter sich zur einfachen Vernunfterkenntnis (ad intellectualitatem simplicem) erhebt. Den Weg hierzu bemühte ich mich auch gewöhnlichen Talenten so deutlich als möglich, mit Vermeidung aller Härte der Darstellung zu zeigen. Zu dem Ende werde ich sogleich zu dem Wurzelbegriff der Wissenschaft des Nichtwissens – die Unmöglichkeit einer präzisen Erfassung der Wahrheit, übergehen.

DRITTES KAPITEL

Die präzise Wahrheit ist unerfaßbar

Da es an und für sich klar ist, daß das Unendliche und Endliche in keiner Proportion zu einander stehen, so ist auch das ganz klar, daß man da, wo sich Ausschreitungen (excedens et excessum) finden, auf ein einfach Größtes nicht kommt, weil die Ausschreitungen endlich sind, das Größte aber als solches notwendig unendlich ist. Nimmt man also irgendeinen Gegenstand, der nicht das schlechthin Größte selbst ist, so läßt sich immer ein größerer auffinden. Und da die Gleichheit eine stufenmäßige ist, so daß etwas dem einen gleicher ist, als dem anderen, nach der generischen, spezifischen, räumlichen, zeitlichen etc. Übereinstimmung und Verschiedenheit, so erhellt, daß nicht zwei oder mehrere so ähnlich und gleich sich finden lassen, daß sie nicht unendlich ähnlicher sein könnten. Zwischen dem Maß und dem Gemessenen wird bei der größten Gleichheit immer noch eine Differenz übrig bleiben. Der endliche Verstand kann mithin die Wahrheit der Dinge durch Aufsuchung der Ähnlichkeit (per similitudinem) nicht präzise erkennen. Denn die Wahrheit ist ein nicht Mehr und nicht Weniger, ein gewisses Unteilbare, was von allem, das nicht die Wahrheit selbst ist, nicht präzise gemessen werden kann, so wenig, was nicht Kreis ist, den Kreis, dessen Sein in einem gewissen Unteilbaren besteht, messen kann. Unser Verstand, der nicht die Wahrheit ist, erfaßt daher die Wahrheit nie so präzise, daß nicht ein unendlich präziseres Erfassen möglich wäre, er verhält sich zur Wahrheit wie das Polygon zum Kreise. Mögen auch der Winkel noch soviele gemacht werden, so wird doch das Polygon nie dem Kreise gleich, bis es sich in die Identität mit demselben auflöst. Wir wissen somit von der Wahrheit nichts anderes, als daß sie in präziser Weise unerfaßbar ist. Sie ist die absoluteste Notwendigkeit, die nicht mehr und nicht weniger ist, als sie ist, unser Verstand ist die Möglichkeit. Das Was (quidditas) der Dinge, das die Wahrheit des Seienden ist, bleibt in seiner Reinheit unerreichbar. Alle Philosophen haben es gesucht, aber keiner, wie es an sich ist, gefunden. Je gründlicher aber unsere Überzeugung von diesem Nichtwissen ist, desto mehr werden wir uns der Wahrheit selbst nähern.

VIERTES KAPITEL

Das absolut Größte wird nur als unbegreiflich erkannt.
Mit ihm koinzidiert das absolut Kleinste
.

Das einfach und absolut Größte erfassen wir, da es zu groß ist, als daß es von uns begriffen werden könnte, weil es die unendliche Wahrheit ist, nicht anders, denn als unbegreiflich (non aliter quam incomprehensibiliter attingimus). Denn da es nicht von der Natur der Dinge ist, welche Ausschreitungen zulassen, so geht es über alles das hinaus, was wir begreifen können. Was wir nämlich durch Sinne, Verstand (ratione) oder Vernunft (intellectu) erfassen, ist unter sich gegenseitig so verschieden, daß keine präzise Gleichheit stattfindet. Die größte Gleichheit, die von nichts verschieden ist, geht somit über allen Begriff.

Da das absolut Größte alles das ist, was sein kann, so ist es ganz und gar Wirklichkeit (in actu). Wie es nicht größer sein kann, so auch aus demselben Grunde nicht kleiner, da es alles das ist, was sein kann. Das Kleinste ist, was nicht mehr kleiner sein kann. Da das Größte eben das ist, so ist klar, daß das Größte und Kleinste koinzidieren. Dies wird dir deutlicher, wenn du beide Begriffe auf das Gebiet der Quantität herüberträgst. Die größte Quantität ist die am meisten (maxime) große, die kleinste – die am meisten kleine. Denke nun die Quantität hinweg, so bleibt das Größte, der Superlativ, in beiden gleich … Gegensätzehishisnicht im absolut Größtenüber aller Bejahung und Verneinung