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Roger Reyab

Interview mit dem Bösen

oder das Wesen der kleinen Dinge





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

 

„Erlauben Sie mir, dass ich mich vorstelle. Ich bin ein Mann von Welt und Stil

Mich gibt es schon seit tausend Jahren

Ich stehle Seelen und kenne kein Mitgefühl

Ich war da, als Jesus Christus zweifelte und Pilatus seine Hände in Unschuld wusch

 

Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen

Ich hoffe Sie erraten meinen Namen

Aber was Sie irritieren wird

Ist der Sinn meines Spiels

 

Ich war in St. Petersburg

Als ich meinte, es wäre Zeit für einen Wechsel

Ich tötete den Zar und seine Minister

Anastasia schrie umsonst

Ich fuhr einen Panzer im Rang eines Generals

Als der Blitzkrieg tobte und die Leichen stanken

Ich amüsierte mich, als deine Kaiser und Könige kämpften

In 10 Epochen für die Götter, die wir schufen

Ich machte Aufsehen, als ich schrie: Wer tötete die Kennedys?

Am Ende waren es doch Du und Ich

Ich legte die Fallen für die Troubadours

als sie vor Bombay starben

 

Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen

Ich hoffe Sie erraten meinen Namen

Aber was Sie irritieren wird

Ist der Sinn meines Spiels

 

Wenn Du mich kennenlernst

Habe etwas Sympathie

Etwas Freundlichkeit und etwas Geschmack

Nutze all deine erlernte Höflichkeit

Oder ich vernichte dich

Wie jeder Polizist ein Krimineller ist

Sind alle Sünder Heilige

Wie Kopf gleich Zahl ist

Nenn mich Luzifer

Denn ich mag es, wenn ich unterdrücke

 

Ich bin erfreut, Sie kennenzulernen

Ich hoffe Sie erraten meinen Namen

Aber was Sie irritieren wird

Ist der Sinn meines Spiels.“

 

(The Rolling Stones, Sympathy for the Devil, Keith Richards/Mick Jagger /Translation: Roger Reyab)

 

 

 

 

 

 

I

„Ist es böse, wenn man ein Wesen quält oder mordet?“; begann ich das Gespräch.

„Das ist es nur, wenn Sie es moralisch werten. Es ist gegeben. Sie müssen begreifen, dass alles was gegeben ist auch existiert. Was aber existiert, ist dann nicht gut oder böse. Es ist einfach nur vorhanden. Ich bestreite nicht, dass es die Vorstellung des Guten gibt. Oder des Bösen. Aber das ist genauso nur eine Illusion wie die Vorstellung, dass es einen blauen Himmel gibt. Denn für eine Fliege ist der Himmel nicht blau.“

„Sie werden mir nicht den Sinn von Moral erklären. Es ist doch gerade die Moral, die uns über die Tiere erhebt. Denn wenn wir nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können, sind wir nichts anderes als ein Tier.“

„Glauben Sie das? Manches Tier ist moralischer als Sie denken. Viele Tiere sind den Menschen in Fragen der Moral sogar weit überlegen. Kennen Sie einen Menschen, der alles für seine Gemeinschaft tut, ohne ein einziges Mal an sich zu denken? Ameisen tun so etwas. Kennen Sie einen Menschen, der auf sich selbst verzichtet, nur um das Ganze zu retten?“

„So etwas hat es auch bei Menschen gegeben“, warf ich ein.

„Ja, es hat so etwas gegeben. Aber es geschah wieder aus der Vorstellung von Moral heraus. Eine Ameise tut es nicht, um moralisch zu sein. Sie tut es deshalb, weil es von ihr verlangt wird. Ein Mensch braucht für diese Leistung erst einen ideellen Überbau. Er muss sich eine Moral einreden. Die meiste Moral ist aber doch nichts anderes, als erlerntes und überflüssiges Wissen und Fühlen, das wir dem Menschen eingepflanzt haben. Wir haben dem Menschen die Moral gegeben. Das Gewissen und all diesen Quatsch. Wir haben dem Menschen die zehn Gebote gegeben. Sie sind voller sinnloser Moral. Denn die Menschen sind noch heute unter der Knute dieser Gesetze. Von Gesetzen, die uns genutzt haben.

So wie es die Kirche war, die die Knechtschaft alle Jahrhunderte zu perfider Drangsalierung adelte, so waren es doch die moralischen Gebote, die den Menschen das Gefühl des Bösen gaben. Wir konnten auf dieser Klaviatur endlos improvisieren. Wir gaben dem Menschen mit der Erfindung der Moral erst den Grundstein zu seiner Versklavung. Denn ohne diesen Grundbaustein wäre der Mensch eine Waffe. Er wäre eben nicht wie die Ameise, die schon aus ihren Genen heraus weiß, wie sie zu dienen hat, sondern der Mensch ist ohne Moral eine grausame Bestie.“

„Ich glaube nicht, dass die Moral erfunden wurde. Sie ist Bestandteil unseres Seins. Sie ist Teil unseres Menschseins“, warf ich ein.

„Das können Sie genauso glauben, wie die nur für Sie existierende Vorstellung, dass der Himmel blau ist. Die Moral ist eine Erfindung. Das sehen Sie schon daran, dass das, was gestern noch als richtig und gut empfunden wurde, morgen schon schlecht und böse sein kann. Wäre es also so, dass das Gute Teil des Menschen ist, warum ändern sich ständig die Werte, die das bestimmen? Ich will mit Ihnen nicht philosophieren. Sie können es glauben. Ich aber sage Ihnen, dass Ihre Moral der Zeit unterliegt, den erzieherischen Voraussetzungen, dem Staatswesen, der Gesellschaft, der Kultur und vielen anderer Faktoren, die aus der Moral Knetgummi formen. Sie ändert sich ständig, Ihre Moral. Wenn es im Dritten Reich als moralisch überlegen empfunden wurde, ganze Völker auszurotten, so ist dies heute vielleicht nicht so. Aber es ändert doch nichts daran, dass es für viele Bürokraten ein moralisch unbedenklicher Vorgang war.

Wenn die Römer ihr Imperium durch brachiale Gewalt errichteten, so empfanden sie das wahrscheinlich auch als moralisch geboten. Sie sehen schon an diesen Beispielen, dass die Moral nur dazu gut ist, das Handeln zu rechtfertigen. Der Mensch kann jede Bösartigkeit durchführen, wenn er dazu eine Rechtfertigung hat. Bei dem einen mag das mehr, bei dem anderen mag das weniger ausgeprägt sein. Aber im Kern bleibt es eine Tatsache, dass aus der Rechtfertigung von Moral mehr Leid und Unglück hervorging, als aus der Leugnung von Moral.“

„Sie meinen, dass die Moral nur denen nützlich ist, die sie formen?“

„Sie kommen der Sache näher. Die Moral ist wandelbar. Genau wie die Epoche, in der sie entsteht. Mit der Moral schufen wir aber ein Instrument der Unterdrückung, das effektiv und sauber arbeitet. Das Gewissen ist keine Erfindung des Menschen. Selbst ein Tier hat eine Art Gewissen, denn kein gesunder Hund würde seinen Herrn angreifen. Fast nie. Was auch eine Art von Moral oder Gewissen ist. Der Mensch kann aber, wenn er es denn, vor seinem Gewissen verantworten kann, zu Dingen fähig sein, die ein Tier als böse empfinden würde.“

„Dann gibt es also doch eine Art universelle Moral? Eine natürliche Unterscheidung von Gut und Böse“, warf ich ein.

„Es gibt ein evolutionäres Gesetz. Es beruht auf dem, was wir für das Überleben benötigen. Der Hund hat nicht wirklich ein Gewissen, wenn er den Herrn nicht angreift, sondern er reagiert auf den Instinkt, dass es für sein Überleben notwendig ist. Der Mensch hat ähnliche Instinkte. Er kann auch offensichtlich Böses für absolut gerechtfertigt erachten, wenn er meint, dass es für sein Leben erforderlich ist. Die Moral enthält aber eine Wertung. Diese Wertung ist tatsächlich beim Menschen relativ einzigartig. Zumindest kann die Wertung der Dinge zu Verhaltensweisen führen, die kein Tier als gerechtfertigt erachtet. Nehmen Sie die Massenmörder der Nazis. Viele von ihnen taten dies aus Überzeugung, einige aus tumber Brutalität, andere, weil sie überleben wollten.

Die Motivlage ist gemischt. Die Moral gehört aber zu den besten Argumentationen. Denn sie befreit das Gewissen des Menschen von jeder Restschuld. Der Gehorsam wurde auch oft angeführt, wenn es darum ging, brutale Verbrechen an der Menschlichkeit zu rechtfertigen. Dann war es eben eher der Instinkt, überleben zu wollen. Nehmen Sie aber die ungeheure Brutalität, die Menschen im Umgang mit Tieren anwenden und es damit rechtfertigen, dass sie nichts anderes tun, als das eigene Überleben zu sichern. Wie immer man es also anfängt, ob es die Moral ist, oder das Überleben, oder eine Mischung aus beidem, in jedem Fall wird es aber möglich sein, das Gewissen des Menschen zu korrumpieren.“

„Wie nutzen Sie dann die Moral?“

„Wir nutzen Sie als probates Mittel zur Gehirnwäsche. Bringen Sie schon den kleinsten Kindern bei, dass Stehlen ein Verbrechen ist. Bläuen Sie es der kleinsten Seele ein und sie haben schon einen wirksamen Schutz gegen Delikte, die Ihr Eigentum gefährden. Das Gebot, das man nicht stehlen darf, ist schließlich nichts anderes, als ein wirksamer Schutz für das Eigentum der Reichen. Kein Gesetz wirkt aber derart abschreckend, wie eine moralische Barriere. Diese ist wesentlich wirksamer und erzeugt einen höheren Grad an Abschreckung, als jede Strafe des Gesetzgebers. Wenn also der Dieb in seinem Innern fühlt, dass seine Tat verachtenswürdig ist, dann wird er sein Handwerk nicht mehr mögen und sich selbst für die Taten verachten.

Auch wenn er es dann dennoch tut, ist doch schon der Grundstein dafür gelegt, dass er es an Perfektion der Ausführung mangeln lassen wird. Es gibt Diebe. Es gibt Mörder. Es gibt Menschen, die keine Moral und kein Gewissen an ihren Taten hindern kann. Diese Individuen sind auch gefährlich. Denn ein Mensch, der sich von alldem lossagt und keine Form von Moral oder Gewissen generiert, ist ein Störfall im menschlichen Organismus. Diese Elemente kommen uns allerdings im Wesen näher, als die breite Masse der Menschen.“

„Ihnen ist ein soziopathischer Mörder näher, als die meisten Menschen?“

„Ja, denn der Soziopath wertet nicht. Er wertet, wenn überhaupt, dann auf jeden Fall anders, als so, wie wir es erwarten. Denn wir installieren die jeweilige Moral nicht deshalb, weil sie den Menschen nützt, sondern wir installieren die Moral aus dem Grund, weil sie uns beschützen soll. Sie glauben doch wohl nicht, dass es eine Leichtigkeit ist, 99% der Menschheit über Generationen und Jahrhunderte gefügig zu halten? Dies ist kein leichtes Spiel. Wir müssen sehr flexibel sein. Wir müssen unsere Konstrukte virtuos verteidigen und lebendig halten.

Wir müssen Theorien und Ideologien entwickeln, wir müssen jede Kleinigkeit im Blick haben. Ein kleiner Fehler führt denn auch zu den Rissen in der Geschichte, die dann wiederum von uns im Nachhinein als Fanal eines Neuanfangs gewertet werden müssen. Es gab uns unliebsame historische Entwicklungen, die wir aber allesamt in das System integrieren konnten. Es gab keinen wirklichen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte.

Nehmen Sie doch einen Jesus Christus. Wer hat jemals das umgesetzt, was er den Menschen lehrte? Die Kirche tat dies konsequent seit Jahrhunderten nicht. Im Gegenteil hat die Kirche alles getan, um die Lehren von Jesus Christus zu behindern. Sie wurde geradezu nur gegründet, um den Gedanken von Jesus Christus der Lächerlichkeit anheimzustellen. Die Kirche unterdrückte die Menschen über Jahrhunderte besser, als das die Monarchen taten. In engem Schulterschluss mit den Monarchien tat die Kirche ihr mörderisches und ketzerisches Handwerk.

Es gibt keine Weltreligion, die da anders ist. Wenn man die Lehren eines Jesus wirklich gelebt hätte, dann wären wir in ernsthafter Gefahr gewesen. Denn die Moral der christlichen Botschaft ist für uns im Kern gefährlich. Aber Jesus Christus war von dem Moment an, als er Barrabas unterlag und von Pontius Pilatus gekreuzigt wurde, er war von dem Moment an im Zwielicht der Menschen. Denn es gab doch kein besseres Symbol dafür, was einem Menschenkind blüht, wenn er sich gegen die Obrigkeit stellt.

Glauben Sie doch nicht, dass auch nur ein menschliches Wesen so etwas für erstrebenswert hält. Der Mensch ist nicht zum Märtyrer geboren. Die wenigsten sind das. Die, die es sind, gehören aber zu den absoluten Ausnahmen. Insofern war die Huldigung der Menschen an die Kirche auch immer ein Symbol der Unterwerfung. Man wollte nicht wie Jesus enden. Wäre der Mensch anders konstruiert, dann hätte es doch tausende Menschen geben müssen, die Jesu Beispiel gefolgt wären. Als dann ein Luther antrat, um die mit Ablassbriefen und Dekadenz sich bereichernde Oberschicht der katholischen Kirche zu reformieren, waren es doch wir, die dafür sorgten, dass es in einem Blutbad endete.

Wir haben dafür gesorgt, dass die Spaltung der eh nur unseren Interessen dienlichen Kirche zu einem massenhaften Morden und einem Bürgerkrieg führte. Wir waren es, die mit Genugtuung sahen, dass die Masse der Menschen zu dumm war zu begreifen, dass es nur eine im Kern erneuerte Kirche nach dem Vorbild des Mannes aus Nazareth geben könnte. Dies hätte aber bedeutet, dass die Kirche sich abschafft. Das tat sie aber nicht. Im Gegenteil führte auch die Reformation der Kirche nur dazu, dass es nun zwei Oberschichten gab und bis heute gibt. Der Klerus war immer auf unserer Seite.“

„Aber die Kirche predigt doch Nächstenliebe und Sorge für die Armen“, sagte ich.

„Tut sie das? Jesus sagte einmal, dass man die Menschen an den Taten erkennen soll. Wenn man dies konsequent auf die Kirche anwendet, dann sieht man, dass es eine unsagbare Kette von Leid und Verwüstung gibt, die der Spur der Kirche folgt. Die Kreuzzüge, die Inquisition, die Unterdrückung von Wahrheit und Erkenntnis. Die Moral, die Jesus predigte, kann aber auch gar nicht umgesetzt werden. Denn sie ist dem Menschen ebenso fremd, wie einem Hamster die Bibel. Wir aber stehen befriedigt neben dem Schauspiel, dass es da eine Moral gibt, die eindeutiger nicht sein kann, die aber von niemandem ernst genommen wird.

Denn es müsste doch selbst der einfachste Gläubige erkennen, dass es in den zehn Geboten keine Halbheiten gibt. Man kann doch nicht sagen „Du darfst nicht töten“ und dann im gleichen Atemzug in einen Krieg marschieren. Man kann doch nicht sagen „Du sollst Dir kein Bild von mir schaffen“ und dann im gleichen Moment Reliquien und Kathedralen erschaffen, die Götzen massenhaft erzeugen. Die zehn Gebote sind in sich eine perfekte Moral. Allerdings eine, die niemals vom Menschen umgesetzt wurde und es auch niemals werden wird.“

„Warum werden die zehn Gebote niemals umgesetzt?“

„Weil sie absolut unumsetzbar sind. Weil sie den menschlichen Voraussetzungen widersprechen. Sie würden aus dem Menschen etwas machen, was er nicht ist. Der Mensch hat so etwas wie einen freien Willen. Ich sage bewusst, so etwas. Er hat natürlich nicht wirklich einen freien Willen, denn den könnte er nur haben, wenn er die Alternativen und Optionen kennen würde. Da der Mensch aber von seiner Anatomie und seiner Genesis her verletzlich, selbstbezogen und manipulierbar ist, wird der Mensch immer mehr den Kräften zugeneigt sein, die ihm anscheinend weniger abverlangen. Wir haben uns immer dieser Mechanismen bedient.

Wir haben den Menschen vorgegaukelt, dass es bessere Lebensweisen, als die, der zehn Gebote gibt. Das es Schlupflöcher gibt, die die Menschen nutzen können. Die Spitze dieser Entwicklung waren nicht nur die Ablassbriefe, in denen sich der Mensch von seinen Sünden freikaufen konnte. Es gab viel perfidere Mittel und Methoden, die allesamt auf das Ziel gerichtet waren, die Moral der zehn Gebote zu unterhöhlen. Vom einfachen Liedgut, das den Menschen das Sündigen versüßte, bis hin zu den kleinen Vergebungen, die wir den Menschen verheißungsvoll anpriesen. Die zehn Gebote sind eine Ideologie, die niemals Wirklichkeit werden kann.“

„Vieles in modernen Gesetzen spiegelt aber den Inhalt von Geboten wider. Nehmen Sie das Morden. Das Morden ist in fast allen Gesellschaften verboten. Das Stehlen auch“, sagte ich.

„Das mit dem Morden hatten wir schon. Jeder Krieg ist Mord und Kriege gibt es immer wieder. Das mit dem Stehlen hatten wir auch schon, denn wir haben natürlich darauf akribisch geachtet, dass der Kern, der uns von den zehn Geboten nützlich ist, dass dieser Kern erhalten bleibt. Es ist auch mehr das Zusammenspiel der Gebote, das derart schwer umzusetzen ist. Wäre es möglich, eine Gesellschaft zu errichten, die den zehn Geboten entspricht, dann wäre eine solche Gesellschaft längst entstanden. Die großen Weltreligionen haben alle im Kern idealistische und archetypische Anforderungen, die man anstreben kann, aber nie wirklich leben kann. So erzeugt jede Form von Religion immer ein Gefühl des Mangels, des Unvollkommenseins. Das ist sehr nützlich für uns. Denn wenn der Mensch erkennt, dass er ein Mangelwesen ist, dann wird er viel leichter für unsere Ziele einzusetzen sein. Wenn der Mensch seine Unvollkommenheit erkennt, dann ist er viel besser zu biegen. Die Religionen sind sehr nützlich für uns. Denn es ist doch vollkommen uninteressant, ob man die Micky Maus oder einen Gott anbetet. Es kommt darauf nicht an. Es ist eine Frage, die eher davon abhängt, was die Micky Maus vom Menschen verlangt. Das nennt man dann vielleicht Blasphemie. Aber schon an diesem Beispiel sehen Sie, dass die Blasphemie wieder eine Sache ist, die uns sehr gut ins Konzept passt. Es wird böse Assoziationen wecken. Es werden sich Menschen in ihren religiösen Gefühlen verletzt sehen. Aber das ist doch wunderbar. Das wird sehr viel Hass erzeugen. An diesem Beispiel sehen Sie, dass die Religionen mehr dem Instinkt des Menschen nach Ausgrenzung und Vernichtung des Andersdenkenden dienen, als dem Gegenteil. Die Religionen sind, je fanatischer sie verteidigt werden, ein idealer Nährboden für unsere Interessen. Wir können die Religionen für Kriege nutzen. Wir können sie für Unterdrückung nutzen. Wir können die Religionen für die Behinderung der Wahrheit nutzen. Der Glaube soll geachtet werden. Sagt der Mensch, um im gleichen Atemzug dem Andersgläubigen den Schädel zu zertrümmern.“

„Sie sind ein Zyniker.“

„Es ist nicht zynisch, wenn man die Dinge beim Namen benennt. Die Religionen sind aber auch manchmal einfach überflüssig. Nichts schafft mehr Reibung, als das gleichzeitige Vorhandensein von fanatisch verfochtenen Religionen und dem Gegenteil. Wir haben in den letzten Jahrzehnten sehr viel dafür getan, das Ansehen der Kirchen, die wir so mühsam errichteten, in den Schmutz zu ziehen. Wir haben Kampagnen gestartet und alles diskreditiert, was sich christlich nannte. Dies folgte einem genau überlegten Plan und Konzept. Sehen Sie, die katholische Religion war so lang für uns nützlich, wie sie in einem Europa, das zu diesem Zeitpunkt den wirtschaftlichen Mittelpunkt dominierte, die Verhältnisse ordnete. Zu einem bestimmten Punkt aber hat die Kirche für uns da keinen Sinn mehr erfüllt. Spätestens in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts begannen wir deshalb damit, die Kirche mehr und mehr aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Wir inszenierten eine sexuelle Revolution. Wir erfanden die Gleichheit als totale Variable. Wir setzten die Familienstrukturen unter Druck. Wir säten Hass zwischen den Geschlechtern. Wir gaben dem Menschen das Individuelle. Wir nahmen dem Menschen soziale Kontrolle, indem wir sie in anonyme Großstädte verbannten. Wir setzten Gerüchte in die Welt und diskreditierten die Ordensträger. Aber warum taten wir das? Wir wollten und wollen, dass die Kirchen in Europa möglichst verschwinden.

Die Kirchen sind heute schon derart in Erklärungsnotstand, weil ihre Moral nicht mehr ernst genommen wird. Die Moral wird ständig unterschätzt und als verlogen empfunden. Die Austritte aus der katholischen Kirche sind exorbitant. Dies ist sehr in unserem jetzigen Interesse. Denn es ist in diesen Zeiten nicht mehr vonnöten, dass man eine Kirche hat, die den Menschen Ordnung vermittelt und die Massen im Zaum hält. Das ist längst überholt. Wir benötigen diese Art von institutionalisierter Macht nicht mehr. Wir betreiben im Moment etwas, was auch ein wichtiges Stilelement ist. Wir zerstreuen die Kirche in alle Winde. Wir schaffen Chaos und Auflösung. Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte haben wir solche Phasen benötigt, denn nur durch die Auflösung des Althergebrachten ist ein Neuanfang möglich. Das Chaos ist deshalb für eine neue Ordnung vonnöten. Wir unterscheiden die Geschichte der Menschheit in verschiedene Phasen und Abläufe. Was gestern vielleicht nützlich und sinnvoll ist, kann morgen schon seinen Sinn und seine Berechtigung einbüßen. Die Kirche in Europa ist aber deshalb nicht mehr nötig, weil wir uns in der Phase befinden, die eine totale Entspiritualisierung der Menschheit anstrebt. Dies ist kein leichtes Unterfangen. Denn sehen Sie, der Mensch benötigt auch spirituelle Erhöhung. Aber dazu kommen wir später. Wir arbeiten momentan sehr konsequent an dem Ziel, dem Menschen diesen spirituellen Aspekt zu nehmen. Wir haben dies mit der wissenschaftlichen Empirie ersetzt. Dies ist ein wunderbares Mittel, um alles zu zerstören, was die Menschen über Jahrtausende gedacht haben.“

„Sie benötigen die Kirche nicht mehr? Aber warum?“

„Weil sie antagonistisch ist. Sie widerspricht unseren jetzigen Zielen. Die Menschen sollen durch den Verlust jeder Ordnung, jeder Religion ihren Halt verlieren. Ich will es ihnen mit einem Beispiel erklären. Je primitiver und je rückständiger, je weiter unten auf der Skala eine Gesellschaft ist, je weniger sie entwickelt und vorangeschritten ist, desto mehr benötigen wir eine Religion. Wenn aber eine Gesellschaft an einen Punkt gelangt, in der eine massenhafte Versklavung ohne moralische Werte möglich ist, kann man und muss man diese Chance nutzen.“

„Ich kann Ihnen nicht folgen. Was meinen Sie mit Chance?“

„Die Chance ist, dass wir die Menschen willfährig einsetzen können. Wenn die Menschen erst einmal an nichts mehr glauben, wenn sie davon überzeugt sind, dass sie eigenständige Individuen sind, die nur sich selbst benötigen, dann ist die Macht, die wir über sie besitzen noch viel ausgeprägter. Denn was passiert denn, wenn so ein individualisierter und singularisierter Mensch dann erfahren muss, dass all sein mühsam errichtetes Selbstlügengebäude nicht einen Pfifferling wert ist? Er wird zusammenbrechen und wie Knetmasse in unseren Händen sein. Die Kirchen sind auch deshalb überflüssig, weil sie die Entwicklung der modernen Industrien behindern, die wir zum effizienten Einsatz der menschlichen Ressourcen benötigen. Wir sind in einer Phase angelangt, in der wir die völlige Kontrolle übernehmen. Wir delegieren die Macht nicht mehr in mehrere Einzelsegmente, sondern wir übernehmen die Kontrolle jetzt offensiv. Der kirchliche Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Die Kirchen haben ausgedient.“

„Aber es gibt doch durchaus noch sehr viele andere Religionen, als die der katholischen und der protestantischen“, hakte ich nach.

„Hören Sie mir nicht zu? Ich sagte doch, dass es noch Religionen gibt, die wir benötigen. Aber die erfüllen eine Doppelfunktion. Erstens sind die Produktivkräfte der Gesellschaften, denen wir momentan die Religion belassen noch nicht weit genug entwickelt, um unsere Ziele auf anderem Wege durchzusetzen. Andererseits sind diese verbleibenden Religionen wichtig, um den Untergang der europäischen christlichen Tradition voranzutreiben und zu unterstützen.“

„Inwiefern sollten die anderen Religionen den Untergang der Religion der europäischen Länder fördern?“

„Wenn wir uns die christlichen Traditionen ansehen, dann haben wir darauf hingearbeitet, dass der Glaube der Christen immer austauschbarer wurde. Dass er jegliche Wehrhaftigkeit einbüßte. Sehen Sie sich doch die Kirchen heute an. Die christlichen Kirchen unterwerfen sich jedem, der ihnen die kalte Schulter zeigt. Sie biedern sich an, denn sie spüren, dass sie ein sterbender Schwan sind. Die christliche Kirche ist auf dem absteigenden Ast. Da es aber andere Religionen gibt, die sich von der Entwicklungsstufe her auf einem früheren Stand befinden, entsteht eine nützliche Reibung, die den Druck auf die christlichen Kirchen noch forciert. Es wird zum Untergang der christlichen Kirche führen, weil sie schon jetzt jegliche Allmacht und jeglichen Anspruch auf Omnipotenz verloren hat.“

„Aber es kann doch zu einer Art friedlichen Koexistenz führen.“

„Da sind Sie aber naiv. Die Kirchen sind doch nicht deshalb so mächtig in den Jahrtausenden gewesen, weil sie einen Kuschelkurs mit anderen Glaubensrichtungen angestrebt haben. Im Gegenteil war die Macht der christlichen Kirche doch immer auf den Umstand begründet, dass sie sanktionieren, regulieren, drangsalieren und im Notfall auch ausmerzen konnte. Diese Kraft gehört doch zu den wesentlichen Insignien, die jede Kirche besitzen muss. In dem Moment, an dem die Kirche diese Kraft einbüßt, ist sie hoffnungslos verloren.“

„Was ist dann die nächste Phase?“

„Wenn wir die Kirchen bald so weit haben, dass sie sich selbst aufgeben oder vom wütenden Mob gestürmt werden, dann läuten wir die nächste Phase ein. Eine von der christlichen Kirche befreite Welt wird uns sehr nützlich sein. Denn wir werden den Menschen, die ohne Halt und Seelenheil durch eine technisierte und wissenschaftliche Welt tapern, einen neuen Sinn geben.

Wenn der Sklave all seine Gedanken, all seine Ideen, all seine Kreativität, all sein Sinnen und Trachten uns auf einem goldenen Tablett serviert und uns zu allem Überfluss sogar noch dafür bezahlt, dass wir ihm alles Eigene nehmen, dann sind wir ebenfalls erfolgreich gewesen.

„Was sind Sie nur für ein kranker Mensch. Sie haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank. Sagen Sie mal, das ist doch nichts als Spinnerei. Niemand dient Ihnen. Wie kommen Sie darauf? Die technische Entwicklung gehört nunmal zur modernen Welt. Dies bedeutet aber doch nicht, dass alle Ihre Arbeitssklaven sind“, sagte ich erzürnt.

„Sie sind kalt und unberechenbar. Ich glaube Ihnen Ihre Matrix nicht.“

Ich kann auch mit einem Schimpansen reden, was mich nur unwesentlich weniger langweilen würde. Denn das man mit dem modernen Menschen immer bei Adam und Eva beginnen muss, weil er einfach gar nichts mehr weiß, macht die Unterhaltung nicht angenehmer. Denn Sie verstehen vielleicht nicht, dass es proportional zum falschen Denken, dass der moderne Mensch aufgeklärt ist, genau im Gegenteil so ist, dass der moderne Mensch zu den dümmsten Exemplaren Homo sapiens zählt, den die Menschheitsgeschichte hervorbrachte. Es ist ein geradezu antagonistischer Widerspruch, dass der Mensch sich zurückentwickelt.“

„Sie haben vernommen, dass ich von der Computerisierung der Welt sprach. Sehen Sie, es gab Jahrtausende, in denen Menschen lebten, die durchaus ohne einen Computer und ohne ein Internet leben konnten. Wenn Sie heute einen Bus besteigen, werden Sie ein Phänomen beobachten können. Sie werden sehen, dass es nur noch gebückte Gestalten gibt, die nebeneinander her gammeln und auf ihre Tablets und Handy starren. Obwohl diese Menschen nebeneinandersitzen, entgeht Ihnen die Option, dass es vielleicht viel anregender wäre, sich mit dem Nachbarn zu unterhalten, als auf einen anonymen Kontakt im Internet zurückzugreifen. Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr dies mich befriedigt. Wir haben es vermocht, was kein Leichtes war, den Menschen der Kommunikation zu berauben. Nun hat der Mensch sich immer viel auf die Fähigkeit eingebildet, sprechen zu können, aber nun sehen Sie sich den Menschen an. Wir haben den Menschen jeden Kontakt genommen. Denn wir haben richtig analysiert, dass der Mensch bei einem überbordenden Angebot an Kommunikation bald keine mehr haben wird. Dieser anscheinende Widerspruch ist aber integraler Bestandteil unserer Strategie. Der Mensch kann sich in seinem Kurzzeitgedächtnis maximal sechs Dinge gleichzeitig merken. Nun aber ist der moderne Mensch derart von Reizen überflutet, ist derart von Kommunikation vollgestopft, dass er sich an gar nichts mehr erinnert. Er weiß nicht mehr, dass ein menschlicher Kontakt auch Wärme vermittelt, denn mit der Zunahme von virtueller Kommunikation ist der Mensch es immer mehr gewohnt, dass es auch ohne menschliche Wärme geht. Sie müssen nämlich wissen, dass der Mensch sehr lernfähig ist, was die Anpassung an Umstände angeht, die ihm Bedürfnisse beschneiden. Fast einem Opfer gleich, das sich aus Angst und Verwirrung zum Täter hinwendet, reagiert auch der moderne Mensch auf unsere Verknappung seiner Lebensressourcen mit Dankbarkeit. Er beginnt sogar, diese Bedürfnisse zu vergessen. Wir stehen noch am Anfang dieser Entwicklung, denn noch ist der moderne Mensch nicht ganz da angekommen, wo wir ihn gerne haben wollen. Deshalb müssen wir Kompromisse fahren. Wir geben ihm noch den Eindruck, dass es eine Welt außerhalb der virtuellen Realität gibt. Bald wird aber auch diese Verbindung nicht mehr nötig sein. Denn es ist das Ziel, das am Ende dieser Entwicklung steht, dass wir dem Menschen auch diese Welt nehmen werden. Am Ende wird er nur noch einen virtuellen Raum kennen. Von der Geburt an werden wir dem Menschen diese Realität als die echte verkaufen. Denn erinnern Sie sich. Ich sprach von der Fliege, die den Himmel auch nicht kennt. Zumindest nicht so, wie wir ihn kennen. Bald wird der Mensch vergessen haben, dass es einen Himmel gibt. Und er wird diesen Himmel auch nicht vermissen oder benötigen. Dann haben wir den Menschen dort, wo wir ihn verlanden wollen. Er ist nur noch menschliche Ressource. Nur noch Material.“